Bianca Gold Band 54

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IMMER HAB ICH DICH GELIEBT von DIANA PALMER
"Bist du an Weihnachten hier?" Nichts würde Annie glücklicher machen. Aber so sehr sie es liebt, sich nach neun Jahren wieder in Powells Arme zu schmiegen, fürchtet sie doch, es ist zu spät, die vergangenen Fehler und Missverständnisse auszulöschen. Dabei wäre eine zweite Chance so schön gewesen …

NUN IST UNSER GLÜCK VOLLKOMMEN von ARLENE JAMES
Seit Kurzem gehört Laurens ganzes Herz dem süßen Baby, das eine junge Frau in ihrem Hotel heimlich zur Welt gebracht hat, bevor sie verschwand. Als sich ihr Gast Colin Garret dann auch noch als absoluter Traummann entpuppt, scheint ihr Weihnachtsglück perfekt! Sie ahnt nicht, wer er ist …

JETZT WEISS ICH, WAS LIEBE IST von DIANA WHITNEY
Kurz vor Heiligabend. In einem eisigen Schneesturm kämpft sich die hochschwangere Ellie mit letzter Kraft zu Samuel Evans' einsamer Berghütte. Der umsorgt sie voller Zärtlichkeit bei der Geburt ihres Kindes. Und er fragt sich, was er noch tun kann, um dieser hinreißenden Frau zu helfen …


  • Erscheinungstag 22.11.2019
  • Bandnummer 54
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737481
  • Seitenanzahl 447
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Diana Palmer, Arlene James, Diana Whitney

BIANCA GOLD BAND 54

PROLOG

Der Regen trommelte auf das Dach des Hauses, in dem Antonia Hayes’ Eltern lebten. Es war ein kalter Regen, und Antonia dachte, dass sie sehr froh über den Sommer war, weil im frühen Herbst dieser weiche Regen sich in Schneeregen oder Schnee verwandelte.

Während der kalten Jahreszeit war es so gut wie unmöglich Bighorn zu verlassen. Diese Kleinstadt im ländlichen Nordwesten von Wyoming war dann von Eis bedeckt. Und mit seinen nur dreitausend Einwohnern hatte der Ort keinen Flugplatz, sondern nur einen Busbahnhof. Eine Eisenbahnlinie führte zwar hindurch, aber der Zug hielt in so großen Zeitabständen, dass er Antonia wenig nützte.

In einer Woche fing das Semester an, und sie würde an die Universität von Arizona in Tucson zurückkehren, in einen Staat also, wo es nur hoch oben in den Bergen im Winter schneite. Der Wüstenwind wirbelte zwar manchmal den Sand auf, aber es war niemals so schlimm, dass die Bewohner es als allzu unangenehm empfanden. Antonia war außerdem viel zu beschäftigt gewesen, die ersten zwei Semester mit einem guten Abschluss hinter sich zu bringen und ein gebrochenes Herz zu heilen, um das Wetter zu beachten.

Antonia warf einen Blick auf die alte Standuhr. Es war an der Zeit, sich auf den Weg zum Busbahnhof zu machen. Sie tröstete sich damit, dass Barrie Bell, George Rutherfords Stieftochter, ihre Zimmergenossin im Studentenwohnheim sein würde. Sie beide verstanden sich gut.

„Es war schön, dich eine ganze Woche hier bei uns zu haben“, sagte ihre Mutter weich. „Ich wünschte nur, du hättest den ganzen Sommer über hierbleiben können …“

Das Letzte klang ein wenig zögernd, denn Jessica wusste, warum ihre Tochter nicht länger in Bighorn bleiben konnte.

Es war ein trauriger Grund, über den weder sie, noch ihr Mann Ben, noch Antonia jemals sprachen. Es war immer noch zu schmerzlich, und der Klatsch hatte sich immer noch nicht ganz gelegt, obwohl das Ganze mehr als ein Jahr zurücklag. George Rutherfords abrupte Abreise nach Frankreich wenige Monate nach Antonias Fortgehen hatte die Gerüchte nur noch angeheizt.

Trotz alledem was geschehen war, war George für Antonia und ihre Familie ein guter, treuer Freund geblieben. Antonias Studium war ein Geschenk von ihm. Antonia würde ihm jeden Penny zurückzahlen, im Augenblick jedoch war das Geld ein Segen. Ihre Eltern standen sich zwar recht gut, aber für das teure Studiengeld fehlten ihnen die Mittel. George war entschlossen gewesen, Antonia zu helfen, und seine Freundlichkeit hatte sie beide so bitter viel gekostet.

Aber Georges Sohn Dawson und seine Stieftochter Barrie hatten sich schützend vor Antonia gestellt und sie gegen das Gerede verteidigt.

Es war für Antonia tröstlich zu wissen, dass zwei Menschen, die George so nahestanden, dem Gerücht, sie habe sich von George aushalten lassen, nicht glaubten. Und natürlich half es, dass Dawson und Powell Long sich wegen einem Stück Land, das ihre jeweiligen Bighorn Ranches trennte, befehdeten.

George hatte auf seiner Bighorn Ranch bis zu dem Skandal gelebt. Dann hatte er sich in das Familienhaus in Sheridan, das er mit Dawson teilte, zurückgezogen in der Hoffnung, damit den Klatsch einzudämmen. Es war vergeblich gewesen. So war er schließlich nach Frankreich ausgewichen und hatte zwischen Dawson und Powell nur noch größere Bitternis hinterlassen.

Sally Long hatte Antonia in einen so üblen Ruf gebracht, dass Antonia sich nicht vorstellen konnte, jemals wieder in ihrem Heimatort leben zu können, und das trotz Georges Weggehen und trotz des Beistandes von Freunden und ihrer Familie.

Sie schüttelte die Gedanken ab und kam auf die Bemerkung ihrer Mutter zurück. „Ich habe Kurse für das Sommersemester belegt“, sagte sie. „Es tut mir wirklich leid, aber ich finde es so besser. Es war schön, wieder einmal zu Hause zu sein. Ich bin gerne hier bei euch beiden.“

Jessica umarmte ihre Tochter. „Wir werden dich vermissen.“

„Diese Idiotin Sally Long“, murmelte Ben, als auch er seine Tochter umarmte. „Sie verbreitete diese Lügen doch nur, um dir Powell wegzunehmen. Und dieser Idiot Powell Long … ihr das zu glauben, sie zu heiraten. Und genau sieben Monate später ist das Baby da.“

Antonia wurde blass, aber sie lächelte, wenn auch gezwungen. „Komm schon, Dad“, sagte sie leise. „Es ist vorbei. Sie sind verheiratet und haben eine Tochter. Ich hoffe, er ist glücklich.“

„Glücklich! So wie er dich behandelt hat?“

Antonia schloss die Augen. Die Erinnerung war immer noch schmerzhaft. Powell war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass sie zu einer solch tiefen Liebe fähig sein könnte. Powell hatte ihr zwar nie seine Liebe eingestanden, aber sie hatte nicht daran gezweifelt, dass er sie liebte. Jetzt, in der Rückerinnerung, wusste sie, dass er sie niemals wirklich geliebt hatte. Er hatte sie begehrt, natürlich, doch er hatte sich immer zurückgehalten. Lass uns bis zur Hochzeit warten, hatte er gesagt.

Und das Warten war nur gut gewesen, so wie es sich entwickelt hatte.

Damals hatte Antonia sich so verzweifelt danach gesehnt, Powell ganz zu gehören, und doch hatte sie ihn hingehalten. Sogar jetzt, nach mehr als einem Jahr, konnte sie immer noch seine schwarzen Augen und sein dunkles Haar und sein markantes Gesicht vor sich sehen. Sein Bild lebte in ihrem Herzen trotz der Tatsache, dass er die Hochzeit einen Tag vor der Feierlichkeit abgesagt hatte. Eingeladene Gäste, die nicht rechtzeitig benachrichtigt worden waren, hatten wartend in der Kirche gesessen. Antonia schauderte bei dem Gedanken an die Demütigung, die sie hatte ertragen müssen.

Ben murmelte noch immer Unfreundlichkeiten gegen Sally.

„Hör auf, Ben.“ Jessica legte die Hand auf den Arm ihres Mannes. „Das ist Schnee von gestern“, setzte sie entschieden hinzu.

„Ich würde nicht behaupten, dass Powell glücklich ist“, fuhr Ben unbeirrt fort. „Er ist niemals zu Hause, und wir sehen ihn nie mit Sally zusammen in der Öffentlichkeit. Eigentlich sehen wir Sally überhaupt nicht. Falls sie glücklich ist, zeigt sie es nicht.“ Er musterte das blasse Gesicht seiner Tochter. „Am Tag vor Ostern rief sie hier an und fragte nach deiner Adresse. Hat sie dir geschrieben?“

„Das hat sie.“

„Und?“, drängte er neugierig.

„Ich schickte den Brief ungeöffnet zurück“, antwortete Antonia mit angespannter Stimme und niedergeschlagenen Augen. „Warum die Vergangenheit wachrufen?“

„Vielleicht wollte sie sich entschuldigen“, warf Jessica ein.

Antonia seufzte. „Es gibt Dinge, die man nicht verzeihen kann“, erwiderte sie ruhig. „Ich liebte ihn“, fügte sie mit einem schwachen Lächeln hinzu. „Aber er hat mich nie geliebt. Sollte er es doch getan haben, so hat er es mir niemals gesagt. Er glaubte alles, was Sally ihm erzählte. Dann ließ er mich wissen, was er von mir hielt, hat die Hochzeit abgeblasen und kurz darauf Sally geheiratet. Ich musste einfach von hier fortgehen. Wenn ich hiergeblieben wäre, wäre der Schmerz unerträglich geworden.“

„Als ob George diese Art von Mann wäre“, sagte Jessica niedergeschlagen. „Er ist der liebenswürdigste Mann auf der ganzen Welt, und er bewundert dich.“

„Er ist nicht der Mann, der mit jungen Mädchen herumspielt“, stimmte Ben zu. „Diese Idioten, die all das über ihn glauben konnten. Ich weiß, dass dies der Grund war, warum George das Land verlassen hat … Um uns noch mehr Klatsch zu ersparen.“

„Da er und ich von hier fort sind, gibt es keinen Anlass zu mehr Klatsch“, wies Antonia ihren Vater zurecht. Sie lächelte. „Und ich will mein Studium so erfolgreich abschließen, dass George stolz auf mich sein kann.“

„Das wird er sein. Und wir sind es bereits“, sagte Jessica warm.

„Nun, es geschieht Powell Long recht, dass er an diese kleine, hirnlose Egoistin geriet“, beharrte Ben. „Er glaubt wohl, er würde reich werden mit der Rinder-Ranch, aber er ist nur ein Träumer“, spottete Ben. „Sein Vater war ein Spieler, und seine Mutter war nicht mehr als ein Fußabtreter. Stell dir nur vor, er glaubt, genug Verstand zu haben, mit Rindern das große Geld herauszuholen!“

„Er scheint voranzukommen“, hielt ihm seine Frau ruhig vor. „Er hat gerade einen neuen Truck gekauft, und man sagt, dass eine Reihe von Ranches in Montana mit ihm einen Vertrag abgeschlossen haben, die er mit Zuchtbullen beliefern wird. Ben, die Tageszeitungen waren voll von seinem großen reinrassigen Angus Bullen, für den Powell irgend so eine nationale Auszeichnung bekam.“

„Ein Bulle macht noch keinen Staat“, spottete Ben.

Antonia litt unter all diesen Worten. Powell hatte ihr von seinen Träumen erzählt, und sie hatten zusammen den Kauf einer Ranch geplant, hatten darüber gesprochen, den besten Angus Bullen im ganzen Gebiet zu besitzen …

„Könnten wir das Thema fallenlassen? Bitte …“, flehte Antonia. „Es tut immer noch ein wenig weh.“

„Natürlich tut es das. Verzeih uns“, sagte Jessica mit sanfter Stimme. „Wirst du Weihnachten hier sein?“

„Ich werde es versuchen.“

Sie trug ihren kleinen Koffer nach draußen zum Wagen und umarmte ihre Mutter ein letztes Mal, bevor sie neben ihren Vater auf den Sitz glitt. Der Weg zum Busbahnhof war nur kurz.

Es war frühmorgens, aber schon drückend heiß. Antonia stieg aus dem Wagen, nahm ihren Koffer heraus und wartete auf ihren Vater, der im Depot das Ticket für sie holte. Durch die Glastür konnte sie sehen, dass eine Schlange vor dem Schalter anstand. So lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Straße und erstarrte, als sie eine bekannte Gestalt in ihre Richtung kommen sah. Ein Gespenst aus der Vergangenheit.

Er war noch immer hochgewachsen und dunkel, genau so wie sie ihn in Erinnerung hatte. Sein Anzug war von besserer Qualität als der, den er getragen hatte, während sie mit ihm ging. Er hatte deutlich abgenommen. Aber er war noch immer derselbe Powell Long.

Antonia hatte alles an ihn verloren, außer ihren Stolz. Den Stolz hatte sie noch immer, und sie zwang sich, Powell voll anzusehen. Mit ausholendem, geschmeidigem Gang, der ihm so eigen war, kam er auf sie zu. Sie würde es nicht zulassen, dass er bemerkte, wie sehr sein Misstrauen ihr wehgetan hatte und es immer noch tat.

Sein Gesicht drückte nichts davon aus, was er fühlte oder dachte. Er blieb stehen, als er sie erreichte, und warf einen Blick auf den Koffer.

„Sieh an, sieh an“, sagte er gedehnt. „Ich habe schon gehört, dass du hier bist. Das Küken kam, um sich zu rächen, nicht wahr?“

„Ich kam nicht, um zu bleiben“, entgegnete Antonia kühl. „Ich habe meine Eltern besucht und bin jetzt auf dem Wege nach Arizona, zurück zur Uni.“

„Mit dem Bus?“ Es klang spöttisch. „Konnte dein alter Knacker sich kein Flugticket für dich leisten? Oder hatte er dich im Stich gelassen, als er sich nach Frankreich absetzte?“

Antonia kickte ihn gegen das Schienbein. Es geschah nicht vorsätzlich, und Powell wirkte genauso schockiert wie sie. Er bückte sich instinktiv, um die schmerzende Stelle zu reiben.

„Ich wünschte, ich hätte Kampfstiefel an, die mit Stahlkappe“, sagte sie heftig. „Und wenn du auch nur noch einmal mit mir sprichst, Powell Long, breche ich dir das Bein!“

Sie fegte an ihm vorbei und marschierte zum Bussteig.

Ihr Vater hatte gerade das Ticket bezahlt und sich vom Schalter abgewandt, als die Szene sich draußen abspielte. Doch noch bevor er aus der Tür war, war Powell davongehumpelt.

„Ich hoffe sehr, du hast ihn zum Krüppel gemacht“, stieß Ben Hayes wütend hervor.

Antonia brachte ein schwaches Lächeln zustande. „So viel Glück hatte ich nicht. Jemanden, der so gemein ist, kann man nicht verwunden.“

„Hier, Mädchen, der Bus kommt“, sagte ihr Vater und war froh, dass offensichtlich keiner in ihrer Umgebung die Szene mitbekommen hatte. Das hätten sie gerade noch gebraucht … mehr Gerede.

Antonia umarmte ihren Vater und bestieg den Bus. Es drängte sie, die Straße noch einmal hinunterzublicken, um zu sehen, ob Powell noch immer humpelte. Aber sie zwang sich, es nicht zu tun. Sobald der Bus aus dem Bahnhof fuhr, schloss sie die Augen und verbrachte die ganze Fahrt damit, den Schmerz zu unterdrücken, der sie beim unerwarteten Wiedersehen mit Powell von neuem mit aller Macht überfallen hatte.

1. KAPITEL

„Das ist sehr gut, Martin, aber du hast etwas ausgelassen, siehst du?“, flüsterte Antonia dem Jungen zu. Martin war sehr scheu, sogar für einen Neunjährigen, und sie wollte ihn nicht vor der Klasse blamieren. „Die geheime Waffe, die die Griechen im Kampf gebrauchten … eine militärische Formation?“

„Geheime Waffe“, murmelte er und überlegte. Dann leuchteten seine dunklen Augen auf, und er grinste. „Die Phalanx!“, sagte er.

„Ja.“ Sie nickte ihm zu. „Sehr gut!“

Er strahlte und beugte sich wieder über die Klassenarbeit.

Antonia warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war ihre letzte Klasse für den Tag und für die Woche. „Macht jetzt Schluss. Und, Jack, sammle die Arbeiten ein. Mary, schließ die Fenster, bitte.“

Die Schulglocke ertönte, und Antonia lächelte ihren Schülern zu, die an ihr vorbei aus der Klasse marschierten. Während sie die Arbeiten in ihre Mappe steckte, fragte sie sich, ob ihr Vater Weihnachten zu ihr kommen werde. Es war für sie beide einsam geworden, seit dem Tod ihrer Mutter im vergangenen Jahr.

Es war schwer für Antonia gewesen, den Verlust zu verkraften … Es war schwer gewesen, zum Begräbnis nach Hause zu kommen. Er war da gewesen. Er und seine Tochter.

Antonia schauderte bei der Erinnerung an den dunklen, harten Ausdruck in seinem Gesicht, als er sie ansah. Nach neun Jahren hasste Powell sie noch immer. Sie hatte kaum einen Blick auf das kleine, dunkelhaarige, verdrossen wirkende Mädchen geworfen, das beim Begräbnis neben ihm gestanden hatte. Es machte zu sehr die Vergangenheit lebendig. Niemals würde sie Powell vergeben können, dass er mit Sally geschlafen hatte, während er und Antonia verlobt waren.

Es war Antonia unbegreiflich, dass Powell sie immer noch so hassen konnte. In all den Jahren musste er doch inzwischen die Wahrheit erfahren haben. Er war jetzt reich. Er hatte Geld und Macht und ein großes Haus. Seine Frau war vor drei Jahren gestorben, und er hatte nicht wieder geheiratet. Der Grund war wohl, dass er Sally so sehr vermisste.

Antonia vermisste Sally kein bisschen … auch wenn sie einmal ihre beste Freundin gewesen war. Sally hatte sie um alles gebracht, was ihr lieb und teuer gewesen war, sogar um ihr Zuhause. Und sie hatte es mit raffinierten Lügen getan. Natürlich, Powell hatte den Lügen geglaubt. Das war für Antonia am schmerzlichsten gewesen.

Das alles gehörte der Vergangenheit an. Neun Jahre lagen dazwischen.

Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als die Tür zum Klassenzimmer aufging. Barrie wirbelte herein, ihre einzige Freundin und für die Kinder Miss Bell, die Miniröcke trug und Mathe lehrte. Barrie war eine Schönheit mit ihrer schlanken Figur, den langen Beinen und dem fast schulterlangen schwarzen Haar. Sie hatte grüne Augen, die übermütig blitzten, und ihr Lächeln war bezaubernd.

„Du könntest Weihnachten bei mir verbringen“, sagte Barrie fröhlich.

„In Sheridan?“, fragte Antonia ruhig. Es war das Haus, in dem Barries Stiefvater George Rutherford und ihr Stiefbruder Dawsen Rutherford mit Barrie und ihrer mittlerweile verstorbenen Mutter zusammen gelebt hatten, ehe Barrie und Antonia nach Tucson gezogen waren, um hier an der Schule zu lehren.

„Nein“, antwortete Barrie mit angespannter Stimme. „Nie wieder dort. In meinem Apartment hier in Tucson.“ Sie lächelte gezwungen. „Ich habe vier Freunde. Wir können sie uns teilen, zwei für jeden von uns. Es wird lustig werden!“

Antonia schüttelte den Kopf. „Ich bin siebenundzwanzig, zu alt für so etwas. Und mein Vater wird wahrscheinlich Weihnachten kommen. Trotzdem, danke.“

„Ehrlich, Annie, du bist nicht alt, auch wenn du dich ein wenig altjüngferlich kleidest“, sagte Barrie spontan. „Schau dich doch einmal an!“ Sie machte mit der Hand eine Bewegung zum grauen Kostüm und der weißen Bluse, die typisch für Antonias Kleidung waren. „Und dein Haar in diesem schrecklichen Knoten … du siehst aus wie ein viktorianisches Überbleibsel! Du solltest dein wunderbares blondes Haar offen tragen, einen Minirock anziehen und ein wenig Make-up auftragen und dich nach einem Mann umschauen, ehe du zu alt wirst! Und du solltest mehr essen! Du bist zu dünn.“

Antonia wusste das. Sie hatte innerhalb der letzten Monate zehn Pfund verloren und hatte angefangen, sich darüber genügend zu sorgen, um sich einen Termin beim Arzt geben zu lassen. Aber sie erwähnte nichts davon Barrie gegenüber.

„Nun gut“, fuhr Barrie fort. „Es war ein hartes Jahr für dich. Deine Mutter zu verlieren war schon schlimm genug und dann auch noch der üble Schrecken mit dem Schüler, der die Pistole seines Vaters in die Schule brachte und eine Stunde lang einen jeden damit in Schach hielt.“

„Lehrer sein ist heute der gefährlichste Beruf“, stimmte Antonia ihr mit einem traurigen Lächeln zu.

„Suchst du Abenteuer? Werde Lehrer! Ich kann den Slogan bereits sehen …“

„Ich gehe nach Hause“, unterbrach Antonia sie.

„Ah, nun, ich denke, das tue ich auch. Ich habe ein Date für den Abend.“

„Wer ist es diesmal?“

„Bob. Er ist nett, und wir verstehen uns gut. Manchmal denke ich aber, dass ich für den konventionellen Typ nicht geschaffen bin. Ich brauche einen überspannten Künstler oder einen wilden Rennfahrer.“

Antonia lachte. „Ich hoffe, du findest einen.“

„Wenn ich einen finde, dann hält er irgendwo zwei Ehefrauen versteckt oder Ähnliches. Ich habe kein Glück mit Männern.“

„Der Eindruck von Ungebundenheit ist schuld daran“, sagte Antonia im verschwörerischen Tonfall. „Frei und zwanglos, das bist du, und großartig. Du verschreckst die selbstsichersten Junggesellen.“

„Unsinn. Wenn sie selbstsicher genug wären, würden sie nicht von meiner Tür weichen“, stellte Barrie richtig. „Ich bin sicher, dort draußen existiert irgendwo ein Mann, der nur auf mich wartet.“

„Da bin ich auch sicher“, stimmte Antonia ihr zu und ließ sich auch nicht eine Minute anmerken, wie sehr sie davon überzeugt war, dass es einen solchen Mann bereits in Sheridan gab.

Unter Barries ungebundenem und fröhlichem Äußeren verbarg sich eine traurige und eher einsame Frau. Barrie war überhaupt nicht so, wie sie erschien. Barrie fürchtete sich vor Männern … vor allem vor ihrem Stiefbruder Dawson. Er war Georges Sohn.

Guter alter George … ein anderes unglückliches Opfer von Sallys Lügen. Sallys Geschichten hatten Dawson nicht aus der Ruhe gebracht, denn immerhin hatte er es nicht nur besser gewusst, er war auch einer der kältesten und einschüchterndsten Männer, der Frauen gewöhnlich mit Skepsis begegnete. Jedenfalls schätzte Antonia ihn so ein.

Barrie erwähnte Dawson nie, redete nie von ihm. Und wenn einmal sein Name fiel, wechselte sie sofort das Thema. Es war allbekannt, dass sie beide nicht gut miteinander auskamen. Aber insgeheim glaubte Antonia, dass irgendetwas in der Vergangenheit geschehen war, etwas, worüber Barrie nicht sprach.

Und nun, da der arme George tot war und Dawson seinen Besitz geerbt hatte, war der Riss zwischen Barrie und ihm noch größer geworden. Ein großer Anteil von dem Rinderimperium, das Dawson erbte, war Barrie testamentarisch vermacht worden.

„Ich muss Dad anrufen und hören, was er geplant hat“, murmelte Antonia.

„Falls er nicht hierherkommt, wirst du Weihnachten nach Hause fahren?“

Antonia schüttelte den Kopf. „Ich fahre nicht nach Hause.“

„Warum nicht?“ Barrie zog eine Grimasse. „Oh. Natürlich. Ich vergaß, weil du niemals von ihm redest. Tut mir leid. Aber es sind neun Jahre her. Du kannst nicht noch immer einen Groll auf ihn haben. Immerhin war es Sally, die den ganzen Skandal verursacht hat.“

„Ich weiß“, sagte Antonia.

„Sie muss ihn ganz schön geliebt haben, um ein solches Risiko auf sich zu nehmen. Aber mittlerweile wird er die Wahrheit herausgefunden haben“, fügte Barrie hinzu.

Antonia seufzte. „Wird er? Ich nehme an, jemand wird es ihm inzwischen erzählt haben. Doch er wird es nicht geglaubt haben. In mir sieht er noch immer die Schuldige.“

„Er liebte dich …“

„Er begehrte mich“, fiel Antonia ihr ins Wort. „Zumindest hat er das gesagt. Ich mache mir über den Grund, warum er mich heiraten wollte, keine Illusionen. Der Name meines Vaters hatte in der Stadt einiges Gewicht, auch wenn wir nicht reich waren. Powell brauchte die Beziehung. Die Liebe kam nur von mir. Das, was er sich zum Ziel gesetzt hatte, hat er erreicht. Er ist wohlhabend und hat ein Kind und hatte eine Frau, die von ihm betört war. Doch wie ich gehört habe, hat er sie auch nicht geliebt. Arme Sally“, fügte sie mit einem kurzen Auflachen hinzu. „All die Lügen und Intrigen, und als sie bekam, was sie haben wollte, war sie unglücklich.“

„Geschah ihr recht“, sagte Barrie kurz angebunden. „Sie hat deinen Ruf zerstört und den deiner Eltern.“

„Und den deines Stiefvaters“, ergänzte Antonia traurig. „Dein Stiefvater hatte meine Mutter einmal sehr gern.“

Barrie lächelte warm. „Er hatte sie bis zu ihrem Tod sehr gern. Es war ein Segen, dass er deinen Vater mochte und dass sie Freunde waren. Er war ein guter Verlierer, als sie deinen Vater heiratete. Aber sie war ihm nie gleichgültig geworden, und deshalb tat er so viel, um dir zu helfen.“

„Bis zum Bezahlen meines Studiums. Was dann auch zu all den Schwierigkeiten führte. Powell mochte George überhaupt nicht. Sein Vater verlor viel Land an George … der eigentliche Grund, warum Dawson heute noch mit Powell uneins ist. Das Land seiner Ranch stößt an Powells Land, und wie ich von Dad weiß, kommt es zwischen den beiden bei jeder Gelegenheit zum Streit.“

„Dawson hat niemals die Lügen vergessen, die Sally über George verbreitete“, erwiderte Barrie leise. „Wusstest du, dass er mit Sally gesprochen hat? Er hat sie in der Stadt gestellt und ihr die Hölle heiß gemacht, während Powell neben ihr stand.“

„Davon hast du mir nie etwas erzählt“, sagte Antonia.

„Ich habe mich nicht getraut“, erwiderte Barrie. „Sobald auch nur Powells Name fiel, hast du dich immer so aufgeregt.“

„Ich nehme an, Powell hat seine Frau verteidigt“, sagte Antonia und wartete atemlos auf die Antwort.

„Sogar Powell geht mit Dawson vorsichtig um“, erinnerte Barrie sie. „Außerdem, was hätte Powell sagen können? Sally hatte gelogen und wurde auf frischer Tat ertappt. Zu spät, um dir von Nutzen zu sein, da sie ja bereits verheiratet waren.“

„Willst du mir damit etwa sagen, dass Powell seit neun Jahren die Wahrheit kennt?“, fragte Antonia entgeistert.

„Ich habe nicht gesagt, dass er Dawson glaubte“, entgegnete Barrie sanft.

„Oh. Ja. Nun.“ Antonia bemühte sich um Haltung. Wie lächerlich, anzunehmen, dass Powell den Worten seines Feindes glauben könnte. Er und Dawson sind noch nie miteinander ausgekommen. Noch während sie es dachte, sprach sie es aus.

„Du hattest vorher recht“, sagte Barrie nachdenklich. „Mein Stiefvater hatte den alten Long, als sie beide noch junge Männer waren, beim Pokerspiel um alles, was er besaß, gebracht. Die Streitigkeiten gehen bis dahin zurück. Dawsons Land stößt an das von Powell, und sie beide sind entschlossen, ihren Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Wenn ein Landstrich zum Verkauf angeboten wird, kannst du darauf wetten, dass sie beide vor allen anderen beim Makler auf der Türschwelle stehen, um einander auszustechen. Das ist auch der eigentliche Grund, warum sie bei jeder Gelegenheit aufeinander losgehen … wegen dem Stück Land, das beide Ranches trennt und das der Witwe Holton gehört.“

„Dabei gehört jedem von ihnen bereits die halbe Welt“, sagte Antonia betont.

„Ein jeder von ihnen legt es darauf an, genau das haben zu wollen, was auch der andere haben will“, erwiderte Barrie lachend. „Nun ja, es sollte uns nichts angehen. Jedenfalls nicht jetzt. Je weniger ich von meinem Stiefbruder zu sehen bekomme, desto glücklicher bin ich.“

Antonia, die die beiden erst einmal zusammen gesehen hatte, musste Barrie recht geben. Sobald Dawson irgendwo in der Nähe war, war Barrie nicht mehr sie selbst. Sie war angespannt, in sich zurückgezogen und zeigte sich seltsam schwerfällig.

„Falls du dich wegen Weihnachten anders entschließen solltest, meine Tür steht dir offen“, erinnerte Barrie sie.

Antonia lächelte dankbar. „Ich werde es im Kopf behalten. Wenn Dad zu den Festtagen nicht kommen kann, könntest du mit mir nach Hause fahren“, fügte sie hinzu.

Barrie schauderte. „Nein danke! Bighorn ist für meinen Geschmack zu nahe bei Dawson.“

„Dawson lebt in Sheridan.“

„Nicht die ganze Zeit über. Gelegentlich bleibt er auf der Ranch in Bighorn. Er verbringt dieser Tage mehr und mehr Zeit dort.“ Ihr Gesichtsausdruck war angespannt. „Man sagt, die Witwe Holton sei die große Anziehung. Ihr Mann hinterließ ihr großen Landbesitz, und sie hat sich noch nicht entschlossen, an wen sie das Land verkaufen will.“

Eine Witwe mit Land. Barrie hatte erwähnt, dass Powell mit Dawson auch um dieses Land konkurrierte. Oder war es um die Witwe? Powell war auch Witwer und das seit geraumer Zeit. Der Gedanke machte Antonia traurig.

Barrie blickte auf ihre Uhr. „Himmel, meine Verabredung mit Bob! Ich muss los. Wir sehen uns am Montag!“

„Viel Spaß.“

„Ich habe immer Spaß. Ich wünschte nur, du hättest ihn ab und zu auch mal.“ Sie winkte von der Tür und hinterließ einen schwachen Duft ihres Parfums.

Antonia räumte ihr Lehrerpult auf, blickte sich noch einmal im Klassenzimmer um und verließ es dann.

Antonias kleines Apartment gab den Blick frei auf den ‚A-Berg‘ in Tucson, der so genannt wurde, weil ein riesiges ‚A‘ auf seinem Gipfel gemalt war, das Jahr für Jahr von den Studenten der University of Arizona neu gepinselt wurde. Der Ort hatte hauptsächlich flache Häuser und nur wenige hohe Gebäude in der City, die ihm den Anstrich einer Großstadt gaben. Tuscon war ausgedehnt, sandig und heiß. So ganz anders als Bighorn in Wyoming, wo Antonias Familie seit drei Generationen gelebt hatte.

Antonia erinnerte sich an den Tag vor drei Jahren, als sie zur Beerdigung ihrer Mutter heimgekehrt war. Nähere und weitere Nachbarn waren ins Haus gekommen, um die Trauernden mit Essen zu versorgen und ihnen ihr Mitgefühl zu zeigen. Man hatte Antonias Mutter gemocht. Freunde hatten ganze Wagenladungen voller Blumen geschickt, die ihre Mutter so geliebt hatte.

Am Begräbnistag hatte die Frühlingssonne auf die Schneedecke silberne Lichter gezaubert. Wie sehr hatte ihre Mutter den Frühling gemocht. Und nun würde sie keinen mehr erleben. Ihr Herz, das schon immer schwach gewesen war, hatte schließlich aufgehört zu schlagen.

Nach dem Begräbnis waren Antonia und ihr Vater ins Haus zurückgekehrt, das nun leer erschien. Dawson Rutherford war vorbeigekommen, um sein und Georges Beileid auszusprechen. George war zu krank gewesen, um zum Begräbnis aus Frankreich herüberzufliegen. George war dann knapp zwei Wochen darauf auch gestorben.

Später, als Antonias Vater zur Bank gegangen war, hatte sie halbherzig damit angefangen, Dinge, die ihrer Mutter gehört hatten, auszusortieren. Ihre Nachbarin, die ihr geholfen hatte, den Haushalt in Ordnung zu bringen, war ins Zimmer gekommen und hatte ihr angekündigt, dass Powell Long an der Tür sei und mit ihr sprechen wolle.

Antonia hatte in diesem Moment nur eins gewusst … dass sie nicht in der Verfassung war, ihm jetzt gegenüberzutreten.

„Bestellen Sie ihm, dass wir einander nichts zu sagen haben“, hatte Antonia erwidert.

Knapp fünf Minuten später, nachdem Mrs. Harper zur Tür gegangen war, um mit Powell zu sprechen, war sie wieder zurück gewesen. „Er sagte, dass ich Ihnen dies geben soll“, hatte sie gemurmelt und Antonia eine Visitenkarte in die Hand gedrückt. „Er sagte, Sie möchten ihn anrufen, wenn Sie irgendwelche Hilfe brauchen.“

Hilfe. Antonia hatte die Karte genommen und sie, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen, in acht Teile zerrissen.

„Das war Antwort genug“, hatte Mrs. Harper bemerkt.

Es war der letzte Kontakt gewesen, den Antonia mit Powell Long gehabt hatte. Sie wusste, dass er die Ranch aufgebaut hatte und dass er mit reinrassigen Angus Bullen erfolgreich war. Aber das wurde ihr zugetragen, ohne dass sie sich nach persönlichen Informationen erkundigt hätte. Für sie war die Vergangenheit tot.

Allerdings fragte sie sich manchmal, warum Powell an jenem Tag gekommen war. Schlechtes Gewissen? Oder war es mehr gewesen? Sie würde es nie erfahren.

Antonia fand eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Wie sie bereits befürchtet hatte, litt ihr Vater wie all die Jahre zuvor unter der Winterbronchitis, und sein Arzt war strikt gegen einen Flug. Also müsse Antonia Weihnachten nach Hause kommen, sagte er. Oder sie müssten das Fest getrennt verleben.

Mit einem Seufzer setzte sie sich auf die Couch. Sie wollte nicht nach Hause fahren. Wenn ihr nur eine vernünftige Entschuldigung einfiele! Ihren kranken Vater während der Feiertage allein zu lassen, erschien ihr allerdings auch unmöglich. Entschlossen nahm sie den Hörer auf und reservierte einen Flug nach Billings, dem Flughafen, der Bighorn am nächsten lag.

Weil Wyoming nur schwach besiedelt war, hatte es nur wenige Flughäfen. Powell Long, der nun wohlhabend war und sich all die Vorteile eines reichen Mannes leisten konnte, hatte eine Landebahn auf seiner Ranch. Auch Barries Stiefbruder hatte für seinen Learjet eine Landebahn auf seiner Ranch in der Nähe von Bighorn. Aber auch ihn hätte Antonia niemals für ein von ihr gechartertes kleinmotoriges Flugzeug um Landeerlaubnis gebeten.

Sie musste sich eingestehen, dass sie, genau wie Barrie, sich von Dawson Rutherford eingeschüchtert fühlte. Er war genau wie Powell ein energiegeladener, überaus maskuliner Mann. Und so zog Antonia doch lieber den umständlicheren Flug vor.

Sie mietete ein Auto am Flughafen in Billings und machte sich auf den Weg nach Bighorn.

Die Landschaft war bezaubernd. Schnee bedeckte die Felder, etwas was sie seit dem Begräbnis ihrer Mutter nicht wieder gesehen hatte. Und es war stellenweise eisglatt. Sie hatte tatsächlich vergessen, wie der Winter hier in Wyoming sein konnte. Sie musste beim Fahren arg aufpassen, dass ihr der Wagen nicht wegrutschte. Trotzdem riskierte sie hin und wieder einen Blick auf die schneebedeckten Berge, und ihr wurde bewusst, wie sehr sie dieses Land vermisst hatte.

Es war ihr Zuhause, das Zuhause für Generationen ihrer Familie … dieses Land mit seinen endlosen Bergketten und Tälern, wo hoch aufragende Pinienbäume wie Wachtürme über flache, tiefblaue Bäche standen. Die Wälder waren tiefgrün und majestätisch, sahen fast noch genauso aus wie während der Zeit, als Bergmänner hier ihrer Arbeit nachgegangen waren. Arizona hatte seine eigenen Wälder, auch Berge. Aber Wyoming war eine andere Welt. Es war ihre Heimat.

Kurz vor Bighorn schlitterte ihr Wagen auf einer breiten Eisdecke von einer Seite zur anderen, und fast wäre Antonia in einem Graben gelandet. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, um sich zu bedanken, dass sie noch einmal davongekommen war, und bog in die Hauptstraße von Bighorn ein. Sie fuhr an der Kirche und dem Postamt und dem Supermarkt vorbei zu dem großen Haus ihres Vaters im viktorianischen Stil. Sie parkte in der Einfahrt unter einem riesigen Cottonbaum. Wie schön, Weihnachten zu Hause zu sein!

Durch das große Fenster hindurch sah sie den geschmückten Christbaum, glitzernd von all den Lichtern und Ornamenten, die in den vergangenen Jahren mit so viel Liebe erworben worden waren. Antonia entdeckte das kleine Reh aus Kristall und erinnerte sich schmerzhaft daran, dass Powell es ihr an jenem Weihnachtsfest geschenkt hatte, als sie sich verlobten. Sie hatte vorgehabt, es wegzuwerfen, hatte es aber nicht fertiggebracht. Das winzige Ding war so hübsch, so zerbrechlich … wie ihre zerstörte Beziehung. Vor so langer Zeit.

Ihr Vater kam in Bademantel und Pyjama schniefend und hustend zur Tür.

Er umarmte sie und sagte mit rauer Stimme: „Ich bin so froh, Mädchen, dass du gekommen bist. Ich fühle mich schon viel besser. Aber der verdammte Doktor ließ mich nicht fliegen!“

„Und er hatte recht“, erwiderte sie. „Du brauchst keine Lungenentzündung.“

Er lächelte breit. „Wohl kaum. Kannst du bis Neujahr bleiben?“

Antonia schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich muss gleich nach Weihnachten zurück.“ Sie erwähnte nicht, dass sie einen Termin beim Arzt hatte. Sie wollte ihren Vater nicht beunruhigen.

„Nun, du wirst eine Woche hier sein, und damit sollte ich mich zufriedengeben. Übrigens, Dawson sagte, dass er vielleicht am Abend vorbeikommen werde.“ Antonia sah ihren Vater überrascht an, und er setzte hinzu: „Er war in Europa, zu einem Kongress.“

„Ich muss immer wieder daran denken, dass er dem Gerede um mich und seinem Vater nie geglaubt hatte“, sagte sie ein wenig wehmütig.

„Er kannte eben seinen Vater gut“, erwiderte Ben schlicht.

„George war ein wunderbarer Mann. Kein Wunder, dass du und er so lange Freunde ward.“

„Ich vermisse ihn. Ich vermisse auch deine Mutter. Sie war neben dir für mich der wichtigste Mensch in meinem Leben.“

„Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben“, sagte Antonia lächelnd. „Es ist gut, zu Hause zu sein.“

„Hast du noch immer Freude am Lehrerberuf?“

„Ja, sehr.“

„Es gibt einige gute Schulen hier“, bemerkte er. „Und sie suchen immer nach Lehrern.“ Er blickte sie erwartungsvoll an. „Du würdest nicht etwa in Betracht ziehen …“

„Ich bin gern in Tucson“, fiel Antonia ihm ins Wort.

„Das nehme ich dir nicht ab“, murmelte er. „Es ist Powell, nicht wahr? Dieser Idiot, hört auf eine solch schusselige Frau! Nun, er musste dafür bezahlen. Sie hat ihm das Leben zur Hölle gemacht.“

„Soll ich uns einen Kaffee machen?“, fragte Antonia, um das Thema zu wechseln.

„Oh, das wäre nett. Mrs. Harper brachte auch einen Topf Suppe herüber.“

„Lebt sie immer noch in dem Haus nebenan?“

„Ja“, antwortete Ben mit einem vergnügten Lächeln. „Und sie ist auch Witwe. Kein Grund also nachzuhaken, warum sie die Suppe brachte, oder?“

„Ich mag Mrs. Harper“, sagte Antonia und lächelte zurück. „Mutter und sie waren gute Freunde, und irgendwie gehört sie zur Familie. Das nur, falls du dich gefragt hast, was ich so denke“, fügte sie hinzu.

„Es ist erst ein Jahr her, Mädchen“, sagte er, und seine Augen blickten traurig.

„Mutter liebte dich zu sehr, um zu wollen, dass du allein durchs Leben gehst“, erwiderte Antonia. „Sie würde es nicht wünschen, dass du ihr für immer nachtrauerst.“

Er zuckte die Schultern. „Ich trauere so lange, wie es mir passt.“

„Nun gut. Ich ziehe mich erst einmal um, und dann schaue ich nach der Suppe.“

„Wie geht es Barrie?“, fragte ihr Vater, nachdem Antonia in Jeans und Sweatshirt aus dem Badezimmer kam.

„Es geht ihr gut. Munter wie eh und je.“

„Warum hast du sie nicht mitgebracht?“

„Weil ihr augenblicklicher Freund es nicht zulässt“, antwortete Antonia lachend und stellte den Topf mit der Suppe auf die Herdplatte.

„Dawson wird nicht ewig warten.“

Sie blickte ihren Vater überrascht an. „Denkst du das auch? Barrie spricht nicht von ihm.“

„Er spricht auch nicht von ihr.“

„Was hat das Gerücht über ihn und der Witwe Holton denn auf sich?“

Ben setzte sich an den Tisch. „Die Witwe Holton ist rothaarig, temperamentvoll und ein Verhängnis für jeden Mann“, erklärte er. „Sie ist hinter Dawson her. Und hinter Powell Long. Und hinter jedem Mann mit Geld und einem passablen Gesicht.“

„Ich verstehe.“

„Du kannst dich nicht an sie erinnern, nicht wahr? Sie kam hierher, noch bevor du fortgingst zum College, aber sie und ihr Mann waren ständig auf Reisen. Sie war eine Schauspielerin. Seit seinem Tod blieb sie wohl mehr zu Hause.“

„Was tut sie?“

„Zum Lebensunterhalt?“ Ben lachte in sich hinein. „Sie lebt vom Ererbten. Sie braucht nichts zu tun, die Glückliche.“

„Nichts tun, das möchte ich nicht“, sagte Antonia gedankenverloren. „Ich bin gern Lehrerin. Es ist mehr als nur ein Beruf für mich.“

„Einige Frauen sind für eine zielstrebige Arbeit nicht geschaffen.“

„Wahrscheinlich.“

Antonia füllte die Teller mit Suppe und schnitt Weißbrot auf. Sie aßen schweigend.

„Ich wünschte, deine Mutter wäre hier“, sagte Ben in die Stille hinein.

Antonia lächelte traurig. „Das wünschte ich auch.“

„Nun, wir machen das Beste aus dem, was wir haben, und danken dem Himmel dafür.“

Antonia nickte. „Wir haben mehr, als so manch anderer hat.“

Er blickte sie liebevoll an. „Und eine Menge mehr, als die meisten haben“, fügte er hinzu. „Ich bin froh, dass du Weihnachten hier bist.“

„Darüber bin ich auch froh. Wie wär’s jetzt mit Kaffee?“ Als er nickte, bereitete sie den Kaffee vor und nahm sich vor, dieses Fest für ihren Vater so glücklich zu machen, wie sie es vermochte.

2. KAPITEL

Dawson Rutherford war hochgewachsen, schlank und außergewöhnlich gut aussehend mit blondem, welligem Haar und Augen, deren Blick einen jeden zu durchbohren schien. Hinzu kam eine dynamische Persönlichkeit, die schon allein genügt hätte, ihn attraktiv zu machen, und eine tiefe Stimme, die eher weich klang, auch im Ärger. Aber er war ein kühler Mann.

Es war nachmittags am Heiligabend, und Dawson war kurz vorbeigekommen mit einem Geschenk für ihren Vater … einer Pfeife aus Mahagoni.

Antonia brachte Dawson nach dem Besuch zur Tür und tadelte ihn für das Geschenk.

Dawson blinzelte ihr zu. „Seine Bronchitis hat er bald ausgeheilt. Und du weißt, dass er dann sofort wieder mit dem Rauchen anfängt. Pfeife zu rauchen ist immer noch besser als Zigaretten.“

„Das weiß ich“, stimmte sie ihm zu. „Dad wollte schon immer mit dem Rauchen aufhören, hat es aber nie geschafft.“

„Nun, so geht es jedem Vielraucher. Ich kenne nur einen, dem es gelang.“ Er beobachtete ihre Reaktion.

Antonia wusste, dass Dawson von Powell sprach. Ihr Gesichtsausdruck verschloss sich. Sie schwieg.

„Du hast es noch immer nicht überwunden, nicht wahr?“

„Es sind neun Jahre her.“

„Er hätte erschossen werden sollen für das, was er dir angetan hatte“, erwiderte Dawson. „Ich habe ihn nie gemocht. Er hat sich selbst damit erniedrigt, als er Sally die Ungeheuerlichkeit abnahm, dass mein Vater ein Lustmolch mit Appetit auf junge Mädchen sei.“

„Sie wollte Powell für sich haben.“

Er zog die Augenbrauen zusammen. „Sie hat ihn bekommen. Aber er hat sie dafür zahlen lassen. Sie fing an zu trinken, als er sie so oft alleine ließ, und nach allem was man hört, hasst er seine Tochter.“

„Aber warum?“ Antonia war schockiert. „Powell liebte Kinder. Ganz sicher …“

„Sally hat ihn wegen des Kindes dazu gebracht, sie zu heiraten“, fiel Dawson ihr ins Wort. „Er hätte sie sonst verlassen. Glaubst du, er wäre nicht darauf gekommen, welche Dummheit er begangen hat?“

„Aber er blieb bei Sally.“

„Er musste. Er hatte versucht, eine Ranch aus dem Nichts aufzubauen. Er konnte sich nicht davonmachen, nicht in einem so kleinen Ort. Wie hätte es ausgesehen, wenn er eine Frau in anderen Umständen sitzengelassen hätte? Oder auch später, als das Baby schon geboren war?“ Dawson schüttelte den Kopf. „Powell hasst dich“, fügte er überraschend hinzu. „Er hasst dich, weil du es abgelehnt hast, ihm zuzuhören. Weil du davongelaufen bist. Er gibt dir die Schuld an seiner Misere.“

„Er ist dein größter Feind. Wie kommt es, dass du so viel von ihm weißt?“

„Ich habe meine Spione.“ Dawson seufzte. „Powell kann es nicht zugeben, dass das große Missverständnis hauptsächlich auf ihn zurückgeht. Natürlich hat er Sally zuerst geglaubt. Er konnte sich wohl nicht vorstellen, dass sie zu solchen raffinierten Lügen fähig wäre.“ Er zuckte die Schultern. „So böse war sie gar nicht, wirklich nicht. Sie war verliebt, und sie konnte es nicht ertragen, Powell zu verlieren, nicht einmal an dich. Liebe lässt einen Menschen manchmal verrückte Dinge anstellen.“

„Sie hat mit aller Absicht meinen Ruf zerstört – und den deines Vaters“, entgegnete Antonia mitleidslos. „Sie war meine Feindin, und Powell ist immer noch mein Feind.“

Dawson sah sie eine lange Minute an. „Wie geht es Barrie?“, fragte er dann betont obenhin.

„Wehrt Freier ab“, antwortete Antonia mit einem breiten Lächeln. „Sie jonglierte mit vieren, als ich sie verließ.“

Dawson lachte, aber es klang kalt. „Warum überrascht mich das nicht? Ein Mann war ihr nie genug. So war sie schon als Teenager.“

Antonia machte seine Feindseligkeit auf Barrie neugierig. „Warum hasst du sie so?“, fragte sie frei heraus.

Er blickte sie verdutzt an. „Ich … hasse sie nicht. Ich bin enttäuscht über ihr Benehmen, das ist alles.“

„Sie ist nicht leichtfertig“, verteidigte Antonia ihre Freundin. „Sie mag sich so aufführen, aber es ist nur Show. Weißt du das nicht?“

Dawson vermied ihren Blick. „Vielleicht weiß ich mehr, als du denkst.“ Es klang kurz angebunden.

„Vielleicht siehst du nur das, was du sehen möchtest“, entgegnete Antonia sanft.

Er schwieg eine Weile, dann zuckte er die Schultern. „Ich muss jetzt gehen. Ich habe einen Termin.“

„Danke, dass du vorbeigekommen bist. Dad hat sich gefreut.“

„Er ist mein Freund.“ Dawson lächelte. „Du bist es auch, auch wenn du deine Nase in Dinge steckst, die dich nichts angehen sollten.“

„Barrie ist meine Freundin.“

„Nun, meine ist sie nicht“, sagte er entschieden. „Frohe Weihnachten, Annie.“

„Auch dir ein frohes Fest“, erwiderte sie mit einem wärmenden Lächeln.

Auf seine Art war Dawson nett. Aber sie bedauerte Barrie. Antonia hatte den starken Verdacht, dass Barrie in ihn verliebt war. Seine Gefühle allerdings waren weniger augenfällig.

Das Weihnachtsfest verging ereignislos. Antonia und ihr Vater beschenkten sich gegenseitig und verloren sich in Erinnerungen an die Verstorbene.

Am nächsten Tag hatte Antonia ihren Koffer gepackt und war für die Reise angezogen. Sie trug ausnahmsweise ihr Haar offen, wenn auch streng nach hinten gekämmt und mit einem Band festgehalten. Ein kurzer Blick in den Spiegel in der Eingangshalle zeigte ihr, wie dünn sie in dem schmalen Hosenanzug wirkte.

Stimmen klangen vom Wohnzimmer zu ihr herüber. Antonia erstarrte. Die tiefe, raue Stimme war ihr so vertraut wie ihre eigene. Und dann stand der hochgewachsene, schlanke Mann in der Tür zur Halle und blickte sie aus dunklen Augen an. Powell!

Antonia erlaubte es nicht, dass auch nur eine Andeutung ihrer Gefühle sich in ihrem Gesicht oder ihren Augen zeigte. Sie sah ihn einfach an, versuchte, den Mann in den Dreißigern in Einklang zu bringen mit dem Mann, der sie hatte heiraten wollen. Die Erinnerung fiel zu seinen Ungunsten aus. Zweifellos, sein Alter war ihm anzusehen in den feinen Falten um seinen Mund und um die Augen, in den grauen Strähnen in seinem Haar.

Auch Powell musterte sie eingehend. Das Mädchen, dem er den Laufpass gegeben hatte, war nicht mehr sichtbar in der konservativ gekleideten Frau mit der strengen Frisur. Sie sah lehrerinnenhaft aus, und es erstaunte ihn, dass ihr Anblick ihn immer noch so sehr aus dem inneren Gleichgewicht brachte, nach all den Jahren.

Antonia schlug als Erste die Augen nieder. Die Intensität seines Blickes hatte sie zutiefst aufgewühlt, aber sie verriet nichts davon in ihrer Reaktion. „Tut mir leid“, sagte sie zu ihrem Vater, der ebenfalls in die Halle getreten war. „Ich wusste nicht, dass du Besuch hattest. Ich muss mich jetzt verabschieden, damit ich den Flug nicht verpasse.“

Ihr Vater wirkte befangen. „Powell kam, um nachzusehen, wie ich mich fühle.“

„Du fährst wieder zurück, so schnell?“, fragte Powell. Es war das erste Mal seit unendlich langer Zeit, dass er sie ansprach.

„Ich muss mich an der Schule eher zurückmelden als die Schüler“, antwortete sie und war froh, dass ihre Stimme fest und kühl klang.

„Oh ja. Du bist Lehrerin.“

Antonia konnte ihm nicht in die Augen sehen. Und so wanderte ihr Blick von seinem energischen Kinn zum sinnlichen Mund, von der geraden Nase zu den hohen Wangenknochen seines schmalen Gesichts. Zweifellos, er besaß das gewisse Etwas, das Frauen für ihn einnahm. Vielleicht war es die natürliche Autorität, die von ihm ausging und die sich in seinen sicheren Bewegungen und der Art, wie er den Kopf hielt, ausdrückte. Er war überwältigend.

„Ja“, antwortete sie auf seine Frage. Dann wandte sie sich an ihren Vater. „Dad?“

Er kam auf sie zu und umarmte sie. „Sei vorsichtig beim Fahren. Es schneit wieder. Und ruf mich sofort an, sobald du zu Hause bist, hörst du?“

„Das werde ich.“

„Du willst dich bei diesem Wetter mit dem Auto auf den Weg machen?“, mischte Powell sich ein.

„Ich bin fast mein ganzes Erwachsenenleben bei diesem Wetter Auto gefahren“, informierte sie ihn kühl.

Sie blickten einander an. Ihre Augen drückten verborgene Vorwürfe aus.

„Sally hat dir einen Brief hinterlassen“, sagte Powell unerwartet.

Antonia schluckte ihren Ärger herunter. „Noch einen?“, fragte sie mit eisiger Stimme. „Nun, ich will nichts von deiner verstorbenen Frau haben, nicht einmal einen Brief.“

Zorn flammte in seinen Augen auf. „Sie war einmal deine Freundin.“

„Sie war meine Feindin“, berichtigte Antonia ihn.

Für einen Moment stand er wie erstarrt da. Sein Gesichtsausdruck wurde hart. „Es lag nicht in ihrer Absicht, dir wehzutun“, sagte er angespannt.

„Wirklich? Wird ihre gute Absicht George Rutherford oder meine Mutter zurückbringen? Zumindest den beiden hatte sie großen Schmerz zugefügt.“

Powell blieb nach außen hin gleichmütig. Antonias Hände waren eiskalt, als sie ihren Koffer aufnahm.

„Ich rufe dich an, Dad“, sagte sie zu ihrem Vater. „Bitte, pass auf dich gut auf“, fügte sie mit weicher Stimme hinzu.

„Du bist erregt“, murmelte er besorgt. „Bleib noch eine Weile hier …“

„Ich will nicht … ich kann nicht …“ Sie brachte die Worte nur erstickt hervor. „Bye, Dad.“

Sie war im Nu aus der Haustür, verstaute ihren Koffer im Kofferraum und öffnete die Tür zur Fahrerseite. Doch noch bevor sie auf den Fahrersitz gleiten konnte, zwängte Powell sich zwischen den Wagen und sie.

„Beruhige dich erst einmal“, sagte er hastig. „Du tust deinem Vater keinen Gefallen, wenn du irgendwo mitten auf dem Highway im Graben landest.“

Sie erzitterte bei seiner Nähe und wich, so weit es ihr möglich war, vor ihm zurück.

„Du wirkst so zerbrechlich“, fügte er leise hinzu, und es klang gequält.

Antonia drückte die Schultern durch, als ob sie sich gegen seine Worte wappnen müsste. „Goodbye“, sagte sie dann ruhig.

„Warum war Dawson Rutherford vor zwei Tagen hier?“ Die Frage kam völlig unerwartet.

„Sollte dich das etwas angehen?“, fragte Antonia kühl zurück.

Powell lächelte spöttisch. „Vielleicht. Rutherfords Vater ruinierte meinen Vater“, antwortete er unmotiviert. „Ich werde es nicht zulassen, dass sein Sohn mich ruiniert.“

„Mein Vater und George Rutherford waren Freunde.“

„Und du und George ward ein Liebespaar.“

Antonia sagte kein Wort. Sie sah ihn nur an. „Du weißt es besser“, flüsterte sie schließlich. „Nur willst du es nicht zugeben.“

„Er war ein reicher alter Mann mit eindeutigen Absichten auf dich, ob du es nun zugibst oder nicht.“

Antonia blickte forschend in seine Augen und erkannte, dass Powell ein harter Mann geworden war, ein zynischer, mit einem harschen Auftreten. Er war in Armut aufgewachsen, war von den Leuten wegen seiner Eltern herabgesetzt worden. Er hatte darum gekämpft, dahin zu kommen, wo er jetzt stand, und Antonia wusste, wie schwer das für ihn gewesen war.

Die Härte seines Lebens hatte sein Blickfeld verdüstert. Er erwartete von den Menschen immer das Schlimmste. Das hatte sie bereits als junges Mädchen erkannt. Ihre Liebe zu ihm war so groß gewesen, dass sie versucht hatte, das alles wiedergutzumachen, was er von Kind auf an hatte entbehren müssen. Seine Antwort war Verrat gewesen.

„Du starrst mich an“, sagte Powell irritiert.

„Ich erinnerte mich gerade an den jungen Mann, der du einmal warst, Powell“, erklärte sie schlicht. „Du hast dich nicht geändert. Du bist noch immer der Einzelgänger, der niemandem traut.“

„Ich habe an dich geglaubt“, sagte er ernst.

Sie lächelte. „Nein, das hast du nicht. Wenn du es getan hättest, dann hättest du Sallys Lügen nicht so leicht geschluckt.“

Er packte Antonia so hart bei den Schultern, dass sie vor Schmerz aufschrie. Sie blickte zu ihm auf und wunderte sich, dass sie keine Angst vor ihm hatte.

„Sally hat nicht gelogen!“, stieß er hervor. „Du tust ihr verdammt unrecht, Antonia! Sie war sanft und lieb, und sie hat mich nie angelogen. Sie weinte wochenlang, ehe sie mir erzählte, was zwischen dir und George lief, denn sie wollte mich vor dem Schmerz bewahren, dass du mich hintergangen hast.“

Antonia entzog sich mit einem Ruck seinem Griff und stieß ihn von sich. „Sie verdiente es, zu weinen.“ Damit glitt sie auf ihren Sitz, schlug die Tür zu und startete den Wagen.

Sie blickte Powell nicht wieder an, auch nicht, als sie von der Einfahrt in die Straße bog, die sie zum Highway brachte. Und wenn ihre Hände zitterten, konnte er es nicht sehen.

Powell stand noch immer da mit niedergeschlagenen Augen und merkte nicht, wie die Schneeflocken sich in seinem Haar verfingen und schmolzen.

„Soll ich dir vielleicht eine heiße Schokolade machen?“, rief Ben Hayes von der Eingangstür her.

Powell antwortete ihm nicht sofort. „Danke, aber ich möchte jetzt gehen.“

Ben zog seinen Hausmantel enger um sich. „Du kannst sie verdammen bis zu deinem Tod“, bemerkte er ruhig. „Aber es würde nichts ändern.“

Powell drehte sich zu ihm um mit einem Gesichtsausdruck, den Ben nicht deuten konnte. „Sally hat nicht gelogen“, sagte er dickköpfig. „Mir ist es gleichgültig, was die anderen darüber denken. Unschuldige laufen nicht davon, und sie beide haben es getan!“

Ben begegnete Powells gequältem Blick. „Du musst daran glauben“, sagte er kühl. „Wenn du es nicht tätest, müsstest du dich für die letzten neun Jahre rechtfertigen. Der Hass auf Antonia ist alles, was dir von der Zeit geblieben ist.“

Powell sagte kein einziges Wort mehr. Er entfernte sich verärgert und stieg in seinen Landrover.

3. KAPITEL

Antonia legte die Strecke nach Tucson ohne große Schwierigkeiten zurück. Nur an ein oder zwei Stellen auf der schneeverwehten Fernstraße war sie nahe daran gewesen, die Herrschaft über das Steuer zu verlieren. Sie erreichte Tucson mit angespannten Nerven, aber intaktem Auto.

Während der restlichen Ferientage beschäftigte sie sich mit Dingen, für die sie während der Schulzeit keine Zeit fand, und Silvester verbrachte sie allein. Sie rief ihren Vater kurz an, um ihm alles Gute für das neue Jahr zu wünschen. Weder er noch sie erwähnten Powell.

Barrie kam am Tag darauf vorbei und versuchte, nicht allzu aufmerksam dreinzuschauen, als Antonia ihr von Dawsons Besuch bei ihrem Vater berichtete. Es war immer wieder das Gleiche. Sobald Antonia aus Wyoming zurückkam, wartete Barrie geduldig, bis ihre Freundin ihr etwas von Dawson erzählte. Dann gab sie vor, am Thema nicht interessiert zu sein, und fing von etwas anderem an zu reden.

Diesmal allerdings war es anders. Sie blickte Antonia forschend in die Augen. „Geht es ihm … gut?“, fragte sie.

„Das nehme ich an“, antwortete Antonia.

„Hat er die Witwe erwähnt?“

Antonia schüttelte den Kopf. „Er hält sich von Frauen zurück, Barrie. Dad sagte, dass man ihn um Bighorn herum ‚Eismann‘ nennt. Sie halten bereits Ausschau nach einer Frau für ihn, die ihn zum Schmelzen bringen könnte.“

„Dawson?“, rief Barrie ungläubig. „Aber er war doch immer von Frauen umringt …!“

„Nicht mehr. Offensichtlich ist er nur daran interessiert, zu mehr Geld zu kommen.“

Barrie blickte schockiert drein. „Seit wann denn das?“

„Ich weiß nicht. Seit den letzten wenigen Jahren zumindest“, antwortete Antonia. „Er ist dein Stiefbruder. Du müsstest mehr über ihn wissen als ich …“

Barrie schlug die Augen nieder. „Ich bin schon lange nicht zu Hause gewesen.“

„Ich weiß. Aber du hörst doch sicher von ihm …“

„Nur durch dich“, fiel Barrie ihr ins Wort. „Wir haben … wir haben keine gemeinsamen Freunde.“

„Besucht er dich denn nie?“

Barrie wurde blass. „Das würde er nicht tun.“ Sie verbiss sich, was immer sie noch hinzufügen wollte. „Wir sind Gift füreinander, wusstest du das nicht?“ Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. „Ich habe eine Verabredung. Wir gehen zum Tanzen. Kommst du mit?“

„Nein danke. Ich bin müde. Wir sehen uns dann morgen in der Schule.“

„Okay. Übrigens, du siehst jetzt schlimmer aus als vor der Reise. Bist du Powell begegnet?“

Antonia zuckte zusammen.

„Tut mir leid“, murmelte Barrie. „Hör mir zu. Erzähl mir nichts von Dawson, auch wenn ich dich darum bitte, und ich verspreche dir, dass ich Powell nicht wieder erwähnen werde, okay? Es tut mir wirklich leid. Wir haben wohl beide Wunden, die nicht wieder aufgerissen werden dürfen. Bis morgen!“

Barrie ging, und Antonia fand schnell etwas, mit dem sie sich beschäftigen konnte, nur um nicht länger an Powell zu denken.

Aber, oh, es war hart. Die Erinnerung erfüllte sie mit Schmerz. Wenn die Zukunft nur ein wenig heller wäre. Fast erschien sie Antonia noch schwärzer als die Vergangenheit.

Nach außen hin ausgeruht und unbesorgt kehrte Antonia nach dem Neujahrsfest zur Arbeit zurück. Der Termin beim Arzt hing wie eine drohende Wolke über ihr. Sie fühlte sich ausgelaugt und müde, und das ständig, und sie hatte mächtig an Gewicht verloren. Wahrscheinlich machte ihr ein Mangel an Vitaminen und Eisen zu schaffen.

Als der Arzt eine Blutuntersuchung anordnete, ging sie zum Laboratorium und ließ geduldig die Blutabnahme über sich ergehen. Danach kehrte sie in ihr Apartment zurück ohne jegliche Vorahnung von dem, was auf sie zukommen würde.

Es war am Montagmorgen, als sie einen Anruf von der Praxis ihres Arztes erhielt. Man sagte ihr, sie solle nach Möglichkeit sofort kommen.

Antonia hatte zu große Befürchtungen, um nach dem Grund zu fragen. Sie ließ sich von der mitfühlenden Schulleiterin vom Unterricht freistellen und machte sich zugleich auf den Weg in Dr. Claridges Praxis.

Man ließ sie auch nicht warten. Sie wurde augenblicklich in den Untersuchungsraum gebeten, ohne dass sie einen Termin gehabt hätte.

Dr. Claridge erhob sich hinter seinem Schreibtisch und streckte ihr die Hand zum Gruß hin. „Setzen Sie sich, Antonia. Ich habe das Resultat von ihrem Bluttest. Wir müssen zu schnellen Entscheidungen kommen.“

„Schnelle …?“ Ihr Herz schlug wie wild. Sie konnte kaum atmen. Sie war sich ihrer eiskalten Hände bewusst, die sich um ihre Handtasche so fest schlossen, wie um einen Rettungsring. „Welche Entscheidungen?“

Er legte beide Arme auf den Schreibtisch und lehnte sich vor. „Antonia, wir kennen uns nun seit einigen Jahren. Es fällt mir nicht leicht, Ihnen das zu sagen.“ Er räusperte sich. „Nun, Sie haben Leukämie.“

Sie starrte ihn an, ohne es zu begreifen. Leukämie. War das nicht Krebs? War das nicht … tödlich?

„Werde ich … sterben?“, fragte sie flüsternd.

„Nein“, antwortete der Arzt. „Die Art von Leukämie, die Sie haben, kann behandelt werden. Sie können sich einem Programm von Chemotherapie oder Bestrahlung unterziehen, was wahrscheinlich eine vorübergehende Besserung des Krankheitsbildes bringen würde.“

Vorübergehende Besserung. Wahrscheinlich. Bestrahlung. Chemotherapie. Ihre Tante war an Krebs gestorben, als Antonia ein kleines Mädchen war. Sie erinnerte sich mit Grauen, was die Therapie bewirkt hatte. Kopfschmerzen. Schwindelgefühle …

Sie stand auf. „Ich kann nicht klar denken.“

Dr. Claridge erhob sich auch. Er kam um den Schreibtisch herum und nahm ihre Hände in seine. „Antonia, es ist nicht unbedingt ein Todesurteil. Wir können sofort mit der Behandlung beginnen. Wir können Ihnen Zeit verschaffen.“

Sie schluckte und schloss die Augen. Sie hatte sich wegen Powell gequält, wegen all dem, was in der Vergangenheit passiert war, wegen Sallys Grausamkeit und ihrer eigenen Misere. Und nun würde sie sterben, und welche Bedeutung hatte das alles noch für sie?

Sie würde sterben!

„Ich möchte … darüber nachdenken“, sagte sie mit rauer Stimme.

„Natürlich. Nur zögern Sie nicht zu lange, Antonia“, erwiderte er freundlich. „In Ordnung?“

Sie nickte. Dann dankte sie ihm, folgte der Krankenschwester zum Empfang, bezahlte ihre Rechnung, lächelte zum Abschied und verließ die Praxis. Das alles tat sie, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie fuhr zu ihrem Apartment zurück, schloss die Tür hinter sich und brach in Tränen aus.

Leukämie. Sie hatte eine tödliche Krankheit. Sie hatte eine Zukunft für sich erwartet, und nun, stattdessen, würde es ein Ende geben. Es würde keine Weihnachten mit ihrem Vater mehr geben. Sie würde nicht heiraten und Kinder haben. Es war alles … aus.

Als der erste Schock vorüberging und sie vom Weinen erschöpft war, erhob Antonia sich vom Boden, wo sie hingesunken war, und machte sich eine Tasse Kaffee. Es war eine so alltägliche, gewöhnliche Verrichtung. Aber sogar diese simple Handlung hatte etwas Besonderes. Wie viele Tassen Kaffee würde sie noch trinken innerhalb der Zeit, die ihr noch verblieb?

Sie lächelte über ihr Selbstmitleid. Das würde ihr nicht gerade helfen. Sie musste sich entscheiden, was zu tun sei. Wollte sie die Qual hinauszögern, wie ihre Tante es getan hatte, bis jeder Penny ihrer Krankenversicherung ausgegeben war, bis sie bankrott war und ihr Vater dazu? Wollte sie sich den langen auslaugenden Behandlungen aussetzen, um dann doch nur den Kampf zu verlieren? Welche Lebensqualität hätte sie zu erwarten, wenn sie so leiden müsste, wie ihre Tante es getan hatte?

Sie durfte nicht zuerst an sich selbst denken, was am besten für sie sei, sondern musste ihren Vater in die Überlegungen mit einbeziehen, ihm den Vorrang geben. Sie würde sich erst für eine Therapie entschließen, wenn sie sicher sein konnte, dass sie ihr eine Chance zum Überleben gab. Ihr standen quälende Monate bevor mit schwerwiegenden Entscheidungen. Wenn sie nur klar denken könnte! Sie war zu schockiert, um die Situation vernünftig abwägen zu können. Sie brauchte Zeit. Sie musste den inneren Frieden finden.

Auf einmal sehnte sie sich nach Wyoming. Sie wollte mit ihrem Vater zusammen sein, wollte bei sich zu Hause sein. Sie hatte ihr Leben damit verbracht, wegzurennen. Nun, wo alles so schrecklich war, war es an der Zeit, sich der Vergangenheit zu stellen, sich mit ihr zu versöhnen und mit den Menschen, die sie so ungerecht beurteilt hatten. Dafür würde die Zeit noch reichen … alte Bande wieder neu zu knüpfen und ihr Leben in den Griff zu bekommen.

Der alte Hausarzt, Dr. Harris, war immer noch in Bighorn. Sie würde Dr. Claridge bitten, das Untersuchungsergebnis ihm zuzuschicken. Vielleicht hatte Dr. Harris eine andere Sicht als Arzt über ihre Krankheit und deren Behandlung, die es ihr ermöglichen könnte, mit dem Leiden besser fertigzuwerden. Wenn ihr nicht mehr geholfen werden könnte, würde sie zumindest die ihr noch verbleibende Zeit mit ihrem Vater verbringen. Er war ihre Familie, mehr hatte sie nicht.

Nachdem sie diese Entscheidung getroffen hatte, handelte sie sofort. Sie überreichte der Schulleitung ihre Kündigung und teilte Barrie mit, dass ihr Vater sie zu Hause brauche.

„Warum hast du es mir nicht gleich erzählt, nachdem du zurückgekommen bist?“ Barrie klang misstrauisch.

„Weil ich erst die Dinge überdenken wollte“, log Antonia. Sie lächelte. „Barrie, Dad ist allein. Und es ist an der Zeit, dass ich zurückkehre und den Kampf mit dem Drachen aufnehme. Ich bin bereits zu lange auf der Flucht.“

„Aber was wirst du tun?“, fragte Barrie.

„Ich bemühe mich um einen Job als Aushilfslehrerin. Dad sagte, dass zwei der Lehrerinnen an der Volksschule in anderen Umständen seien, und sie suchen händeringend nach Vertretung. Wie du weißt, ist Bighorn nicht Tucson. Es ist nicht leicht, Lehrer zu bekommen, die willens sind, am Ende der Welt zu leben.“

Barrie seufzte. „Du hast das wirklich durchdacht.“

„Ja. Ich werde dich vermissen. Aber vielleicht kommst du eines Tages zurück“, fügte sie hinzu. „Und nimmst auch den Kampf mit dem Drachen auf.“

Barrie erschauderte. „Der Drache wäre zu groß, um ihn zu bekämpfen“, entgegnete sie mit einem rätselhaften Lächeln. „Aber ich drücke dir die Daumen. Wobei kann ich dir jetzt helfen?“

„Beim Packen“, kam die prompte Antwort.

Wie das Schicksal es so wollte, war in ihrer eigenen Schule in Bighorn gerade eine Stelle frei geworden, als Antonia sich dort wegen eines Jobs vorstellte. Die Lehrerin der vierten Klasse fiel für eine längere Zeit aus. Es war genau das, was Antonia sich gewünscht hatte, und sie nahm die Stellung dankbar an. Das Beste von allem war aber, dass man ihr keine Fragen nach dem Grund stellte, warum sie seinerzeit so Hals über Kopf Bighorn verlassen hatte.

Einige Leute würden sich zweifellos erinnern, aber sie hatte auch Freunde hier, Freunde, die keine Bedenken wegen ihrer angeblich lockeren Moral hatten. Powell würde sich vermutlich um ihre Rückkehr Gedanken machen. Aber Antonia lehnte es ab, darüber zu grübeln.

Sie kam in Bighorn mit gemischten Gefühlen an. Es war tröstlich für sie, die Freude ihres Vaters zu sehen, als sie ihm ihren Entschluss mitteilte, hier für immer zu bleiben. Allerdings plagte sie ihr Gewissen, weil sie ihm den wirklichen Grund ihrer Rückkehr vorenthielt.

„Arizona war mir einfach zu heiß“, erklärte sie.

„Nun, wenn du Schnee magst, dann bist zu ganz sicher zur rechten Zeit heimgekommen“, erwiderte er und wies mit dem Kopf auf den hohen Schneeberg direkt im Vorgarten.

Antonia verbrachte das Wochenende mit Auspacken und ging gleich am folgenden Montag zur Arbeit. Sie mochte die Schulleiterin, eine noch junge Frau mit guten Ideen für Neuerungen im Bildungsbereich.

Antonia mochte auch ihre Klasse. Den ersten Tag verbrachte sie damit, sich mit den Namen der Kinder bekannt zu machen. Einer der Namen traf sie bis ins Herz. Maggie Long. Es hätte eine zufällige Übereinstimmung sein können. Aber als sie den Namen des Mädchens aufrief und das verdrossene Gesicht mit den blauen Augen und dem kurzen schwarzen Haar sich ihr zuwandte, wusste Antonia sofort, wer dieses Kind war. Es war Sallys Gesicht, nur der Blick war anders. Es war Powells Blick.

Antonia starrte das Kind an. Dann ging sie die Bankreihen entlang, an dem Mädchen vorbei, bis sie vor Julie Ames, die ganz hinten saß, stehenblieb. Sie lächelte Julie an, die fröhlich zurücklächelte. Antonia erinnerte sich an Danny Ames aus ihrer eigenen Schulzeit. Seine rothaarige Tochter sah genau so aus wie er. Antonia hätte sie überall als Dannys kleines Mädchen erkannt.

Dann kehrte sie zu ihrem Pult zurück, holte die Blätter für den Rechtschreibtest aus der Mappe und fing an, sie zu verteilen.

„Das ist eure Hausaufgabe für morgen. Außerdem möchte ich, dass ihr für Freitag einen kurzen Aufsatz schreibt über euch selbst“, sagte sie mit einem Lächeln. „Auf diese Weise lerne ich euch besser kennen.“

Julie hob die Hand. „Miss Hayes. Mrs. Donalds hat immer eine Klassensprecherin gewählt. Und wen sie gewählt hat, der musste es eine Woche lang sein, und dann kam jemand anderer dran. Werden Sie das auch tun?“

„Das ist ein guter Gedanke, Julie. Du kannst dann Klassensprecherin für diese Woche sein.“

„Danke, Miss Hayes!“, rief Julie beigeistert.

Antonia bemerkte, wie Maggie Long sie böse anstarrte. Das Kind benahm sich, als ob es Antonia hasste, und für einen Moment fragte Antonia sich, ob Maggie womöglich etwas über die Vergangenheit wusste. Aber dann, wie könnte sie?

Sie entließ die Klasse am Ende der Stunde. Es war gut, sich mit Dingen zu beschäftigen, die außerhalb ihrer selbst lagen. Aber am Abend setzten die quälenden Gedanken wieder ein.

Gleich am nächsten Tag suchte Antonia Dr. Harris auf. Damit ihr Vater sich nicht wunderte, falls er sie in die Praxis hineingehen sah, erzählte sie ihm, dass sie Vitamine brauche.

Dr. Harris’ Besorgtheit war ihm anzusehen, als sie ihm von Dr. Claridges Diagnose berichtete.

„Du solltest nicht warten“, sagte er entschieden. „Es ist immer besser, so etwas ganz früh aufzufangen. Komm her, Antonia.“

Er untersuchte ihren Nacken mit geschickten Händen. „Geschwollene Lymphknoten … Hast du an Gewicht verloren?“, fragte er, als er mit den Fingern ihren Puls fühlte.

„Ja. Ich habe viel gearbeitet“, antwortete sie lahm.

„Rauer Hals?“

Sie zögerte und nickte dann.

Er seufzte. „Ich lass mir den ärztlichen Befund hierher faxen“, sagte er. „In Sheridan gibt es einen Spezialisten für Onkologie“, fügte er hinzu. „Aber du solltest nach Tucson zurückkehren, Antonia.“

„Sagen Sie mir, was ich zu erwarten habe“, erwiderte sie stattdessen.

Er hatte Bedenken, offen zu ihr zu sein, aber als sie darauf bestand, atmete er tief ein und klärte sie auf.

„Du kannst es bekämpfen“, beharrte er. „Du kannst die Krankheit in Schach halten.“

„Für wie lange?“

„Einige Leute haben es 25 Jahre geschafft.“

Sie blickte ihn prüfend an. „Aber Sie glauben nicht, dass mir noch 25 Jahre gegeben werden.“

Dr. Harris überlegte seine Antwort. „Antonia, die Forschung auf dem Gebiet der Medizin macht Fortschritte und das in einem guten Tempo. Die Wahrscheinlichkeit ist immer, immer gegeben, dass ein Mittel gefunden wird …“

Sie hob eine Hand. „Ich möchte mich heute nicht entscheiden müssen“, fiel sie ihm erschöpft ins Wort. „Ich brauche nur … ein wenig Zeit“, fügte sie mit einem bittenden Lächeln hinzu. „Nur ein wenig Zeit.“

Antonia hatte den Eindruck, dass Dr. Harris sich in die Zunge biss, um keine Einwände zu machen. „Nun gut. Ein wenig Zeit“, sagte er nachdrücklich. „Vielleicht entscheidest du dich für die Behandlung, nachdem du alle Möglichkeiten erwogen hast, und ich werde für dich tun, was ich kann. Aber, Antonia …“ Er erhob sich hinter seinem Schreibtisch und begleitete sie zur Tür. „Es gibt nicht zu viele Wunder, wenn es sich um Krebs handelt. Wenn du ihn bekämpfen willst, dann zögere es nicht allzu lange hinaus.“

„Das werde ich nicht.“

Er drückte ihre Hand zum Abschied, und sie verließ die Praxis.

Antonia konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor mit sich selbst so im Frieden gefühlt zu haben wie im Augenblick. Sie war dazu gekommen, die Diagnose zu akzeptieren, und in diesem Verlauf hatte sie viel mehr akzeptiert. Sie konnte sich allem stellen. Sie konnte all dem mutig entgegentreten, was auch immer ihr begegnen mochte. Sie war froh, dass sie nach Hause gefunden hatte. Sie hatte vom Schicksal einige Rückschläge hinnehmen müssen, aber zu Hause zu sein half ihr, sich dem Schlimmsten zu widersetzen.

Sie musste daran glauben, dass das Schicksal jetzt netter mit ihr umgehen würde, nun, da sie daheim war.

Aber wenn das Schicksal gute Gründe hatte, Antonia nach Bighorn zurückzubringen, so war Maggie Long keins von ihnen. Das Mädchen war widerspenstig, unfreundlich und weigerte sich, sich am Klassenunterricht zu beteiligen.

Gegen Wochenende bat Antonia das Mädchen, nach der Unterrichtsstunde noch in der Klasse zu bleiben, und zeigte ihm dann die Note, die es für seinen Ungehorsam verdient hatte. Außer der ersten Hausarbeit hatte Maggie auch den Aufsatz nicht geschrieben, den Antonia den Schülern aufgegeben hatte.

„Wenn du die vierte Klasse wiederholen willst, Maggie, ist das ein guter Anfang“, sagte sie kühl. „Wenn du deine Schularbeiten nicht machen willst, wirst du nicht versetzt.“

„Mrs. Donalds war nicht so gemein wie Sie“, entgegnete das Mädchen schnippisch. „Bei ihr brauchten wir nie dumme Aufsätze schreiben, und wenn es einen Test gab, half sie mir immer dabei.“

„Ich habe fünfunddreißig Schüler in dieser Klasse“, erwiderte Antonia. „Vermutlich wurdest du in die vierte Klasse versetzt, weil du fähig warst, dem Unterricht zu folgen.“

„Ich könnte, wenn ich wollte“, sagte Maggie. „Aber ich will nicht. Und Sie können mich nicht dazu zwingen!“

„Ich kann dich sitzenlassen“, kam die angespannte, unnachgiebige Antwort. „Und das werde ich, wenn du so weitermachst. Du hast eine letzte Chance, eine bessere Note zu bekommen, wenn du am Montag den Aufsatz ablieferst. Du kannst ihn am Wochenende schreiben.“

„Mein Daddy kommt heute nach Hause“, sagte Maggie wichtigtuerisch. „Ich werde ihm erzählen, wie gemein Sie zu mir sind, und er wird kommen und Sie verfluchen, warten Sie nur. Sie werden schon sehen!“

„Was wird er tun, Maggie?“, fragte Antonia und verbiss sich ein Lächeln. „Wie würdest du denn dastehen, wenn er hörte, dass du dich vor den Arbeiten drückst.“

„Ich bin nicht faul!“

„Dann mach deine Aufgaben!“

„Julie hat die Klassenarbeit nicht zu Ende gemacht, und Sie haben ihr keine so schlechte Note gegeben wie mir.“

„Julie braucht mehr Zeit als einige der anderen Schüler. Das ziehe ich in Betracht.“

„Sie mögen Julie“, beschuldigte Maggie sie. „Darum sind Sie nie gemein zu ihr! Ich wette, Sie würden Julie keine Sechs geben, wenn sie ihre Hausaufgabe nicht gemacht hat …“

„Ich werde mich nicht mit dir streiten“, unterbrach Antonia sie. „Entweder du erledigst deine Hausarbeit oder auch nicht. Und nun geh.“

Maggie warf ihr einen zornigen Blick zu und stampfte aus dem Klassenzimmer. An der Tür blieb sie noch einmal stehen. „Warten Sie nur, bis ich es meinem Daddy erzählt habe! Er macht, dass Sie gefeuert werden!“

Antonia zog eine Augenbraue hoch. „Da muss schon ein anderer kommen, um das fertigzubringen, Maggie.“

Maggie riss die Tür auf und schrie: „Ich hasse Sie! Ich wünschte, Sie wären nie hierhergekommen!“

Antonia hörte sie den Gang hinunterlaufen und ließ sich auf den Stuhl fallen. Sie atmete tief durch. Das Mädchen war der reinste Terror.

Antonia war ein wenig überrascht, dass Maggie ihrer Mutter so überhaupt nicht glich. Sally war während der Schulzeit ein süßes Mädchen gewesen. Liebenswürdig und kein solcher Horror wie ihre Tochter.

Sally. Der Name tat weh. Der Name allein. Antonia war heimgekommen, um die bösen Geister zu vertreiben, und sie war nicht gerade erfolgreich damit. Maggie erschwerte ihr das Leben unendlich. Möglich, dass Powell sich einmischen würde, zumindest so weit, dass er seine Tochter dazu brachte, die Hausarbeit zu erledigen.

Es bedrückte Antonia, dass es dazu gekommen war, aber sie hatte nicht mit den Gefühlen gerechnet, die durch Maggie in ihr aufgebrochen waren. Es tat ihr leid, dass sie das Kind nicht mochte. Sie fragte sich, ob es irgendjemand mögen könnte. Maggie war mehr als ein mürrisches, schwieriges Gör.

Wahrscheinlich verwöhnte Powell das Kind und gab ihm alles, was es wollte. Doch dann … Nie wurde Maggie mit dem Wagen zur Schule gebracht oder abgeholt. Sie nahm immer den Bus. Und wie oft kam sie in die Klasse mit zerrissenen Jeans und fleckigen Sweatshirts. War das absichtlich, oder bemerkte ihr Vater nicht, dass einige ihrer Sachen nicht sauber waren? Ganz sicher hatte er eine Haushälterin oder jemanden, der auf solche Dinge Acht gab.

Antonia wusste, dass Maggie während dieser Woche bei Julie war, weil Julie ihr das erzählt hatte. Das kleine rothaarige Ames Mädchen war das süßeste Kind, das Antonia jemals gekannt hatte, und sie mochte es sehr. Die Kleine war wirklich das Abbild ihres Vaters, der auch zu Antonias Freundesgruppe in der Schule von Bighorn gehört hatte. Antonia hatte es Julie erzählt, und einen Tag lang hatte Julie sich wie eine kleine Berühmtheit gefühlt. Es machte sie stolz, dass ihr Vater und ihre Lehrerin Freunde gewesen waren.

Maggie hatte das offensichtlich nicht gepasst. Sie hatte Julie gestern die kalte Schulter gezeigt, und heute hatten die beiden nicht miteinander gesprochen. Antonia wunderte sich über die Freundschaft der beiden. Julie war offen und großzügig, freundlich und mitfühlend … all das, was Maggie nicht war. Wahrscheinlich sah Maggie in Julie Qualitäten, die sie selbst nicht hatte und derentwegen sie Julie mochte. Aber was in aller Welt sah Julie in Maggie?

4. KAPITEL

Powell Long kam von seiner Reise zurück, ausgelaugt von den langen Stunden, die er auf den Rinderversteigerungen und im Flugzeug verbracht hatte. Es war eine hektische Woche gewesen, in der er durch drei Staaten gejagt war, immer auf Ausschau nach Zuchtbullen, die er seiner Herde hinzufügen wollte.

Er prüfte jedes einzelne Tier persönlich, ehe er es erwarb. Andere Rancher machten es sich leichter. Sie ließen sich Videos über die Rinder vorführen und trafen so ihre Entscheidung. Aber Powell war misstrauisch geworden, als ihm einmal ein Video vorgeführt worden war, das Rinder zeigte, die dem angeblichen Verkäufer niemals hatten gehören können. Denn als er die Ranch tourte, fand er die Rinder unterernährt, und einigen von ihnen mangelte es sogar an den grundlegenden Erfordernissen für gute Zuchtbullen.

Wie auch immer, es war ein gewinnbringender Trip gewesen. Jetzt war er zu Hause … und wollte es nicht sein. Sein Haus – wie sein Leben – waren von schmerzhaften Erinnerungen erfüllt. Hier hatte Sally gelebt, und hier lebte noch immer seine Tochter.

Wenn er Maggie ansah, sah er ihre Mutter in ihr. Er kaufte Maggie teure Spielsachen. Aber er konnte ihr seine Liebe nicht schenken. Maggie war die Frucht einer sehr unglücklichen Beziehung. Powell glaubte, das sei der Grund, warum er für sein Kind keine Liebe empfinden könne. Sally hatte ihm etwas Kostbares genommen, etwas das er mehr als alles andere in der Welt geliebt hatte. Sie hatte ihm Antonia genommen.

Maggie saß mit einem Buch allein im Wohnzimmer. Sie hob den Kopf, als er den Raum betrat, wich aber sofort seinem Blick aus.

„Hast du mir etwas mitgebracht?“, fragte sie gelangweilt. Das tat er immer. Es war seine Art, ihr das Gefühl zu geben, dass sie ihm wichtig sei, doch Maggie wusste es besser. Ihr Vater wusste nicht einmal, was sie gern mochte, sonst würde er ihr nicht all diese albernen Puppen und andere überflüssige Dinge mitbringen. Sie las gern, aber er hatte es noch nicht einmal bemerkt. Sie mochte Bücher, aber auch Filme über Tiere oder die Natur. Niemals brachte er ihr etwas davon.

„Ja, eine neue Barbie“, antwortete er. „Sie ist in meiner Reisetasche.“

„Danke“, sagte Maggie.

Niemals ein Lächeln. Niemals ein Lachen. Sie war eine kleine alte Frau in dem Körper eines Kindes, und sie nur anzuschauen machte ihn schuldbewusst.

Autor

Arlene James
Arlene James schreibt bereits seit 24 Jahren Liebesromane und hat mehr als 50 davon veröffentlicht. Sie ist Mutter von zwei wundervollen Söhnen und frisch gebackene Großmutter des, wie sie findet, aufgewecktesten Enkels aller Zeiten. Darum hat sie auch im Alter von 50 plus noch jede Menge Spaß. Sie und ihr...
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