Bianca Gold Band 59

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Ihr neuer Chef Michael Rowan, der sich rührend um seine verwaiste Nichte kümmert, gibt Shanna den Glauben an die Liebe zurück. Doch was hat Michael Schmerzliches erlebt, dass er sich nicht zu seinen Gefühlen für sie bekennen kann?

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  • Erscheinungstag 18.09.2020
  • Bandnummer 59
  • ISBN / Artikelnummer 9783733749743
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mary J. Forbes, Christine Flynn, Tracy Sinclair

BIANCA GOLD BAND 59

1. KAPITEL

Er wirkte aufgeregt wie ein Mann, der den betörenden Duft einer Frau auffing.

Aber er war kein Mann, sondern ein Pferd. Ein rotbrauner Hengst, und er hatte ihren Geruch gewittert. Mit misstrauischem Blick blähte er die Nüstern, als sie sich ihm auf der langen, schmalen Koppel näherte.

Seine muskulösen Flanken zitterten, und trotzig warf er den Kopf zurück.

Shanna McKay ging noch einen Schritt näher. Sie hatte keine Angst und wusste, dass er es spürte. Sie wollte dem Besitzer beweisen, dass sie große Tiere liebte, dass sie sich im Umgang mit ihnen bestens auskannte.

Die Gerüche von Dung, Erde und frisch gemähtem Gras lagen in der Luft. Eine Fliege schwirrte an ihrem Gesicht vorbei. Der Hengst legte die Ohren an und stand wie erstarrt.

Sie streckte eine Hand nach ihm aus. „Hallo, hübscher Junge.“

Er blähte die Nüstern und riss die Augen weit auf.

„Was zum Teufel tun Sie da?“

Beim Klang der donnernden Stimme galoppierte der Hengst davon, mit wallender Mähne und erhobenem Schweif. Sein glattes Fell glänzte in der untergehenden Junisonne.

Shanna wagte einen Blick über die Schulter und verspürte den Drang, dem Pferd nachzusetzen. Der Mann, der auf der anderen Seite des Gatters stand, war sehr groß, elegant gekleidet in Leinenhemd und dunkler Anzughose, und er starrte sie so finster an, als hätte sie seine Mutter beleidigt.

„Oh.“ Sie unterdrückte den Drang, sich an die Kehle zu fassen. „Ich habe Sie gar nicht kommen hören.“

„Offensichtlich.“ Er öffnete das Gatter und marschierte zu ihr. „Was haben Sie sich dabei gedacht, sich einem Tier zu nähern, das Sie nicht kennen?“

„Ich wollte …“ Der Mann wirkte ebenso imposant wie der Hengst. „Ich habe mich ihm vorgestellt.“

„Er beißt.“

„Keine Sorge, ich kenne mich mit Pferden aus.“

„Aha.“ Mit kühlen grauen Augen blickte er zu dem Hengst, der mitten auf der Weide stand – Rotgold auf Grasgrün. „Ihm sind Sie garantiert unterlegen, Miss …?“

„Ich heiße Shanna McKay, und ich habe fast mein ganzes Leben mit Pferden zu tun gehabt. Ich weiß mich ihnen mit Vorsicht und sanfter Stimme zu nähern.“

Finster blickte er sie an. „Im Gegensatz zu mir, wollen Sie damit wohl sagen? Miss McKay, ich bin nicht total unwissend, was den Umgang mit Hengsten angeht.“

„Wissen Sie, ich wollte gerade gehen. Es war nett, Sie kennenzulernen.“ Gewiss gab es andere Jobs, bei weniger mürrischen Arbeitgebern.

Er stellte sich ihr in den Weg, als sie an ihm vorbeigehen wollte. „Moment. Warum sind Sie hier?“

Sie ignorierte den grimmigen Zug um seinen Mund und blickte ihm geradewegs in die stahlgrauen Augen. „Wegen des Stellenangebots in der Zeitung.“

Verblüfft blinzelte er. „Sie wollen Kühe melken?“

Sie reckte das Kinn vor. „Ich habe Erfahrung.“

Er musterte ihren Körper. „Ein kleiner Wicht wie Sie?“ Er schmunzelte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie Kühe von fünfhundert Kilo herumschubsen.“

„Ich bin kein Wicht. Ich bin einen Meter sechsundsiebzig groß und wiege …“

„Sechzig Kilo.“

Nun blinzelte sie voller Verwunderung.

„Ich kenne den menschlichen Körper. Ich bin Arzt.“

Demnach war er … Michael Rowan? Der beste Chirurg am Allgemeinen Krankenhaus von Blue Springs? Nun, dann kannte er den weiblichen Körper aus dem Effeff. Bei seinem Aussehen hatte er vermutlich jede Woche eine andere Geliebte.

„Sie müssen mehr essen. Sie haben mindestens sieben Kilo Untergewicht.“

„Wie bitte?“

Sein Blick wurde abrupt sanft. „Entschuldigung. Ich habe die schlechte Angewohnheit, ungebeten medizinische Ratschläge zu erteilen. Die sollte ich zügeln.“

Sie nickte. „Sagen Sie mir einfach, wo ich K. Nelson finde.“

„Sie ist momentan nicht in der Stadt.“

„Ihr Vorarbeiter ist eine Frau?“

„Kein Vorarbeiter. Meine Großmutter. Die Annonce läuft unter ihrem Mädchennamen, weil ich verhindern wollte, dass mein Klinikpersonal durch Anrufe belästigt wird.“ Mit einer Falte zwischen den schwarzen Brauen neigte er den Kopf. „Sie hätten eine schriftliche Bewerbung an den Blue Sentinel richten sollen.“

Ihre Wangen erglühten. Sie hatte dem potenziellen Arbeitgeber mit Charme, Geist und Intelligenz imponieren wollen – von Angesicht zu Angesicht. Doch Michael Rowan war nicht so leicht zu beeindrucken. „Na ja, ich bin vermutlich ohnehin zu spät gekommen.“

Er musterte den Hengst in der Ferne. „Woher wussten Sie, dass es sich um die Rowan Dairy handelt?“

„So was spricht sich herum.“

Seine Augen wirkten müde, als er sie musterte und sich dabei das Kinn rieb. „Ich entschuldige mich erneut.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich bin Michael Rowan.“ Warm und fest umschlossen seine Finger ihre Hand.

„Ich weiß. Wir haben dieselbe Highschool besucht.“ Es zuckte um ihre Mundwinkel, als er verblüfft die Augenbrauen hochzog. „Ich bin in die Mittelstufe gekommen, als Sie das Examen abgelegt haben.“

„McKay … Der Name kommt mir bekannt vor. Waren Sie schon mal in der Klinik?“

„Ich werde nie krank.“

„Dann wohnen Sie in dieser Gegend?“

„In Blue Springs.“

„Aha.“ Er schob die Hände in die Hosentaschen und blickte sie durchdringend an.

Sie hob den Rucksack auf, der neben dem Gatter auf der Erde lag, schlang ihn sich über eine Schulter und sagte: „Ich brauche diesen Job, Dr. Rowan. Geben Sie ihn mir?“

„Das kommt darauf an.“

„Worauf?“

Staub wirbelte unter seinen blitzblank geputzten Schuhen auf, als er ihr folgte. „Ihre Erfahrung.“

„Vier Jahre, drei Monate.“

Er öffnete das Gatter und schloss es wieder, nachdem sie es beide passiert hatten. „Kommen Sie mit ins Haus, und wir bringen es hinter uns.“

„Was?“

Er seufzte. „Wenn man sich für einen Job bewirbt, muss der Arbeitgeber, also ich, einige Fragen stellen. Aber ich werde es nicht mit Pferdedung an den Schuhen tun.“

Ein brauner Klumpen klebte an der Außenseite seines linken Schuhs. Sie presste die Lippen zusammen und blickte in die Ferne zu dem Hengst, der friedlich auf der saftigen Weide graste. Ich habe keine Angst vor dir – oder deinem berühmten Besitzer.

„Miss McKay, wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich heute Abend noch essen, bevor ich schlafen gehe. Ich hatte einen langen Tag.“

„Entschuldigung. Ich neige dazu …“

Abrupt wandte er sich ab und schritt davon.

… mit offenen Augen zu träumen.

Sie blickte ihm nach. Mit jedem Hüftschwung blähte sich sein frisches weißes Hemd an der Taille. Sein Po war so formschön wie der von Tiger Woods, und seine Beine waren sehr, sehr lang und brachten ihn rasch voran.

Du brauchst den Job, Shanna, vergiss das nicht.

Sie eilte ihm nach.

Der Pfad schlängelte sich zwischen einem lichten Mischwald hindurch, der die Stallungen von einem zweistöckigen gelben Farmhaus im Kolonialstil trennte. Es war Jahrhunderte alt. Hohe Fenster und eine breite Veranda, geschmückt von weißen und roten Geranien, überblickten die Weiden und Koppeln. Davor erstreckte sich keine Rasenfläche, sondern ein üppiger Gemüsegarten. Gleich dahinter erhob sich ein bewaldeter Hügel, und sie malte sich aus, wie die grünen Douglasfichten einen heimeligen Anblick in trostlosen Jahreszeiten boten.

Sie überquerten die Auffahrt. Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne fielen auf einen glänzenden schwarzen Jeep Cherokee. Ihr verbeulter Pick-up stand noch bei den Stallungen, wo sie ihn abgestellt hatte, da die Tiere der Farm sie vor den Menschen angezogen hatten.

Dr. Rowan ging über einen Plattenweg um das Haus herum zur Hintertür, zog sich die Schuhe aus und warf sie hinunter ins Gras. Dann öffnete er die Tür. „Kommen Sie rein.“

Sie legte den Rucksack ab, schlüpfte aus den Sandaletten und folgte ihm durch einen kleinen sauberen Flur in eine große helle Küche mit einem Treibhausfenster als Kräutergarten, in das sie sich auf Anhieb verliebte.

Der angrenzende Wohnbereich war vertieft angelegt und wies massive Deckenbalken auf. Abnehmendes Sonnenlicht strömte durch hohe, breite Fenster herein. Am Fuß einer Eichentreppe hing ein Ölporträt einer Frau, deren dunkle Schönheit Entschlossenheit und Macht ausstrahlte.

„Miss McKay?“

Sie wirbelte herum. Er stand in der Tür eines kleinen Arbeitszimmers und musterte sie. Wie lange wartete er schon?

„Ihr Haus ist wundervoll“, sagte sie aufrichtig.

„Danke.“ Er deutete zu dem einzigen Lederstuhl im Raum. „Bitte. Setzen Sie sich.“

Er nahm einen Füllhalter und ein schwarzes Notizbuch aus einem Sekretär, sank auf das Fensterbrett und kritzelte in das Buch, während sie sich mit kerzengeradem Rücken auf den Stuhl setzte, die Füße fest auf den Boden stellte und die Hände im Schoß faltete.

„Wo haben Sie Ihre Erfahrung in der Milchwirtschaft gesammelt?“

„Lasser-Farm.“

„Die kenne ich.“

„Ich habe mit fünfzehn bei Caleb und Estelle zu arbeiten angefangen.“

„Sie haben die Ausbildung nicht abgeschlossen?“, hakte er mit entsetztem Unterton nach.

Sie lächelte. „Natürlich habe ich das Examen abgelegt. Mein Bruder Jason und ich haben bei den Lassers gewohnt, während mein Dad …“ Sie hielt inne, denn es missfiel ihr, dass sie sein Gesicht nicht deutlich sehen konnte, da er im Schatten und sie im Licht saß.

„Ja?“

„Mein Dad war Zureiter von Wildpferden und ist mit dem Rodeozirkus herumgezogen.“

Einen Moment lang schwieg Michael Rowan. Dann lächelte er, und seine Augen wurden sanft. „Ja, natürlich. McKay. Er hat vor geraumer Zeit einen Krankenpfleger tätlich bedroht, weil der ihm eine langwierige Therapie verordnet hatte.“

„Brent – mein Dad – brach sich vier Rippen beim Rodeo in Cloverdale. Die Ärzte verboten ihm das Reiten für ein halbes Jahr. Das passte ihm überhaupt nicht. Aber er musste sich wohl oder übel fügen und arbeitete solange für die Lassers. Caleb hatte eine Angina bekommen und brauchte Hilfe.“ Das Ehepaar hatte ihr und Jason weit mehr geholfen, hatte sie mit offenen Armen in ihrem Haus und ihren Herzen aufgenommen und liebevoll aufgezogen, wie Brent es nie getan hatte.

Dr. Rowan machte sich Notizen. „Wie viele Milchkühe hatten sie?“

„Vierzig. Manchmal fünfundvierzig.“

„Wir haben zweiundneunzig. Nicht viel im Vergleich zu anderen Farmen, aber …“

Sie straffte die Schultern. „Ich schaffe das.“

Er musterte sie gemächlich. Sie spürte ein Flattern im Magen. Sie wollte aufstehen und verlangen, dass er das Gespräch ins Wohnzimmer verlegte, wo sie in seinen rätselhaften Augen lesen konnte. Sie wollte sich ihm von Person zu Person stellen, von Bewerber zu Anbieter, nicht von Frau zu Mann.

„Wie stark sind Sie?“

„Wie bitte?“

„Können Sie einen 20-Liter-Eimer Hafer heben?“

„Ja.“

Als er eindringlich ihre nackten Arme musterte, erwärmte sich ihre Haut. Sie hätte eine langärmelige Bluse tragen sollen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, zu dem geblümten Rock dieses seidige Top anzuziehen, das deutlich ihren Mangel an Muskelpaketen oder weiblichen Rundungen enthüllte?

Tja, ich habe nun mal lange, dünne Arme und kann es nicht ändern.

Verärgert über ihre Selbstkritik und seine abschätzige Musterung, fragte sie: „Glauben Sie, dass ich ungeeignet für den Job bin, weil ich eine Frau bin?“

„Es hat nichts damit zu tun, dass Sie eine Frau sind.“

„Ich versichere Ihnen, Dr. Rowan, dass ich mit einem Eimer Getreide umgehen kann und auch mit ein paar Wiederkäuern.“

Stille lastete über dem Raum.

Sie stand auf. „Sie sollten jemand anderen nehmen.“ Einen Mann. Einen Bodybuilder. „Bestimmt werden Sie von Bewerbungen überhäuft werden.“

„Bitte, setzen Sie sich wieder.“

„Schon gut. Ich kann Ihre Bedenken nachvollziehen.“

„Bitte.“

Ein angespannter Moment verging. Er hob den Kopf, sodass der Lichtschein vom Fenster seine Mundpartie erhellte. Sie entdeckte eine winzige Narbe über seiner Oberlippe und fragte sich, woher sie stammen mochte. Sie setzte sich.

„Danke.“

Ihre Blicke begegneten sich, und sie verspürte ein Prickeln tief im Innern. In ihren einunddreißig Jahren war kein Mann bis zu diesem geheimen, weichen und verletzlichen Punkt vorgedrungen. Nicht ihr Vater, nicht ihr Exmann Wade, nicht einmal ihr geliebter Bruder. Doch kaum traf sie den guten Doktor, und schon stahl er sich bei der ersten Begegnung hinein. Sie wandte den Blick ab. „Wer ist derzeit Ihr Melker?“

„Er kommt aus Maple Falls. Meinen Sie, dass Sie ihn kennen könnten?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber Kühe sind sehr empfindsam gegenüber ihrem Melker. Wenn die Person eine sanfte Hand hat, geben sie am meisten Milch. Etwa vierzig Liter pro Tag und Kuh ist ein guter Durchschnitt.“

Dr. Rowan rieb sich den Nacken, so als hätte er seit dem Morgengrauen unzählige Krisen bewältigen müssen und erachtete Einstellungsgespräche als zusätzliche, überflüssige Last. „Miss McKay, es interessiert mich nicht, ob oder wie viel diese Tiere produzieren. Der Mann, den ich eingestellt habe, nachdem meine Schwester …“ Er verstummte abrupt und atmete tief durch. Seine Hand zitterte auf dem Notizbuch. „Er hat vor zwei Wochen gekündigt. Samstag ist sein letzter Arbeitstag. Sie sind die erste Person mit Berufserfahrung, die sich bewirbt.“

„Es ist eine Weile her, seit ich mit Vieh gearbeitet habe“, gestand sie ein, „aber Sie werden niemanden finden, der engagierter ist als ich.“

„Das mag sein. Aber ich möchte eines klarstellen. Ich will nicht, dass Sie Anforderungen an mich bezüglich des Viehs stellen und mir vorschreiben, wie ich es behandeln soll. Die Farm steht zum Verkauf, und ich hoffe, sie einem neuen Besitzer zu übertragen, bevor der Sommer zu Ende geht. Bis dahin sollen Sie nur die Holsteiner melken. Klar?“

„Klar wie Quellwasser.“

Erneut hielten sich ihre Blicke gefangen. Erneut verspürte sie ein Flattern im Innern.

„Kennen Sie sich mit Gärtnerei aus?“

„Sie meinen umgraben und jäten?“

„Ich meine einfrieren und konservieren. Sie haben ja den Gemüsegarten gesehen. In etwa fünf Wochen muss er abgeerntet werden.“

Ausgerechnet im August, der heißesten Jahreszeit. Sie musste sich unbedingt einen breitkrempigen Strohhut zulegen. „Betrachten Sie es als erledigt.“

„Danke. Sie bekommen einen Bonus für die zusätzliche Arbeit.“

Er öffnete eine Schublade, nahm ein Scheckbuch heraus und füllte einen Vordruck aus. Da seine Hemdsärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt waren, sah sie, dass seine Unterarme leicht behaart, kräftig und gebräunt waren – wie die eines Farmers, nicht wie die eines Chirurgen.

„Sie werden einen Vorschuss zur Überbrückung bis zu Ihrem ersten Gehalt brauchen, das alle vierzehn Tage gezahlt wird. Sonntag ist Ihr freier Tag.“

Ihr stockte der Atem, als sie den Betrag las. Es war wesentlich mehr, als sie bei ihrer letzten Anstellung als Buchhaltungsgehilfin in einem ganzen Monat bezogen hatte.

„Nun nehmen Sie ihn schon. Er wird nicht platzen, falls Sie das befürchten“, bemerkte er trocken.

„Ich …“ Sie schluckte schwer. „Das weiß ich.“

„Gut. Ein Farmer im Ruhestand, Oliver Lloyd, kommt täglich. Er mistet die Ställe aus, versorgt die Kühe und bestellt die Felder. Wir haben Mais, Hafer, Gerste und Luzerne angebaut. Er wird Ihnen zur Hand gehen und sonntags melken. Wann können Sie anfangen?“

„Montag.“

„Gut. Wir melken um halb fünf, morgens und nachmittags. Es dürfte jeweils nicht länger als zwei Stunden dauern. Irgendwelche Fragen?“

„Nein.“

Er senkte den Kopf und begann, ohne Unterlass in sein Notizbuch zu kritzeln. Dreißig, vierzig Sekunden vergingen.

War die Unterredung für ihn beendet? Sie las erneut den Scheck, der sie eigentlich in Hochstimmung versetzen sollte. Sie hatte den Job und einen lukrativen Lohn. Jasons Studium und ihre Abendschule waren für mehrere weitere Monate gesichert.

Was war also das Problem?

Michael Rowan.

Er fesselte, verwirrte und verführte sie zu törichten Tagträumen.

Sie starrte auf seinen gesenkten Kopf und seufzte innerlich. Ein gut aussehender, erfolgreicher Mann wie er würde ihr keinen zweiten Blick schenken. Zwischen seinem extravaganten Lebensstil – bis hin zu seinem goldenen Füllhalter – und ihrem bescheidenen Dasein lagen Welten. Ihre Wesensarten waren völlig konträr.

Warum konnte nicht seine Großmutter den Job vergeben? Warum war er nicht alt und hässlich?

Er schloss das Buch, warf es auf den Schreibtisch und eilte aus dem Raum. „Der Pick-up vor den Stallungen ist Ihrer?“

Sie eilte ihm nach. „Ja. Ich …“

Ein schrilles Piepen ließ ihn abrupt stehen bleiben. Sie stieß beinahe mit seinem Rücken zusammen. Er prüfte seinen Pager. „Ich muss ein Telefonat führen. Warten Sie hier.“ Er kehrte ins Arbeitszimmer zurück und schloss mit einem sanften Klick die Tür.

Der Wohnbereich lag zu ihren Füßen. Sie musterte die großen Fenster, das Porträt der Frau, das Puppenservice auf dem Couchtisch.

Unwillkürlich beschlich sie das Gefühl, nach Hause gekommen zu sein. Es ließ sie an das Farmhaus von Caleb und Estelle denken, in dem sie den Großteil ihrer Jugend verbracht hatte. Wo sie erkannt hatte, dass ihr Vater für immer dem Rodeozirkus treu bleiben und sie und Jason nur aus der Ferne lieb haben würde – und dazu auf seine verdrehte eigene Art.

Warum fühlte sie sich ausgerechnet in diesem Haus derart wohl?

Sie sah sich gemütlich auf der Couch sitzen, in den Zeitschriften auf dem achteckigen Tisch blättern, das Puppenservice berühren …

Ihr Herz sank. Hätte es das Schicksal gütiger mit ihr gemeint, wäre ihr eigener Couchtisch mit Timmys Spielzeugautos übersät gewesen …

Dummkopf. Hör auf zu träumen.

Doch sie war von Natur aus eine Träumerin, die sich Ehe, Kinder, ein Haus mit Garten ersehnte.

Aber es konnte nicht dieses Haus sein.

Sie musste fort, bevor sie sich von ihren Fantasien überwältigen lassen konnte. Sie konnte nicht hier arbeiten. Nicht für Michael Rowan, der ihre Vernunft untergrub. Nicht an einem Ort, an dem ihr alles wie ein Zuhause erschien. Sie musste einen anderen Job finden, als Tellerwäscherin, Putzfrau oder Imbissverkäuferin – alles andere als Melkerin für einen Mann, der törichte Hoffnungen in ihr erweckte.

Cliff Barnette nahm den Anruf beim zweiten Klingeln entgegen.

„Hier ist Michael Rowan.“

„Hallo, Doc“, sagte der Immobilienmakler in jovialem Ton, so als wären sie Stammtischfreunde. „Schlechte Nachrichten. Der Interessent ist vor einer halben Stunde abgesprungen. Hat das Darlehen offensichtlich nicht bekommen. Tut mir leid, Junge, aber wir müssen wohl wieder von vorn anfangen. Lassen Sie sich nicht entmutigen. Wir sind ja erst seit ein paar Monaten am Ball. Ein so großes Anwesen braucht etwas länger.“

Michael stützte den Ellbogen auf den Schreibtisch und rieb sich die Stirn. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Erneut Wartezeit. Er war diesen Verkauf ohnehin schon sehr leid.

Oh, Leigh, warum musstest du sterben?

Hastig ermahnte er sich ob dieses Gedankens. Es war nicht ihre Schuld, dass der Sattelschlepper ins Schleudern geraten und in den Viehtransporter ihres Mannes gerast war. Vielmehr waren es Michaels Unzulänglichkeit und die Beschränkungen des Kleinstadtkrankenhauses, die eine Rettung verhindert hatten.

„Sind Sie noch da?“, fragte Cliff.

„Ja.“ Michael strich sich über das Gesicht. „Tun Sie, was Sie nur können.“

„Ich habe vor, ein paar Annoncen in den südlichen Regionen aufzugeben. Los Angeles und so. Vielleicht können wir ja Interesse bei den reichen Herrschaften um Tinseltown erwecken, die meinen, ein Farmbetrieb wäre ein Hobby oder ein Vergnügen.“

„Gut. Sagen Sie mir Bescheid, wenn sich etwas ergibt.“

„Natürlich.“

Michael legte den Hörer auf und fragte sich, was geschehen sollte, falls der Verkauf Jahre in Anspruch nahm. Er war nicht dazu geschaffen, Kühe zu melken, Felder zu bestellen, Zäune abzureiten. Das war die Domäne, der Traum seiner Zwillingsschwester Leigh gewesen. Sie war auf dem Land geblieben, auf dem sie nach dem Tod ihrer Eltern von ihren Großeltern aufgezogen worden waren, und hatte sich ihren zweiten Traum erfüllt und Bob geheiratet. Als sich ihre Großmutter zur Ruhe gesetzt hatte, war Leigh in dieses Haus eingezogen, hatte den Betrieb übernommen und sich einen guten Namen in der Milchwirtschaft gemacht.

Bis vor Kurzem hatte das Land drei Erben gehört, mit Michael als stillem Teilhaber.

Beinahe hätte er über die Ironie des Schicksals lachen müssen. Nun waren Leigh und Bob die stillen Erben. Für immer.

Und Jenni? Was sollte er nur mit seiner sechsjährigen Nichte anfangen? Wie sollte er seine Karriere verfolgen, diese Farm führen und dazu das Kind aufziehen? Er verstand nichts von Kindern.

Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich die müden Augen. Er musste Rowan Dairy schleunigst loswerden, ebenso wie die Erinnerungen. Er wollte mit Jenni wieder in sein Stadthaus in Blue Springs ziehen. Je länger sie auf dieser Farm blieben, umso schwerer wurde es, sie zu verlassen.

Michael öffnete die Tür und blickte zum Wohnbereich. Die Frau war fort. Konnte er es ihr verdenken, wenn sie mit seinem Scheck verschwunden war und nie wiederkam? Er hatte sich ihr gegenüber unhöflich, ungehobelt, erbärmlich verhalten.

Während er durch das Haus ging, stellte er sich vor, wie das kleine Ding mit den „Wiederkäuern“ umgegangen wäre. Sie war ein bisschen dünn, aber hübsch, und sie besaß reizvolle Lippen und Beine.

Auf dem Küchentisch fand er den Scheck. Verdammt. Sie war wirklich davongelaufen, aber nicht mit seinem Geld. Seufzend steckte er sich das Papier in die Tasche. Im Flur zog er sich alte Stiefel an.

Die Fliegentür quietschte, als er sie öffnete. Er trat hinaus auf die Veranda und erblickte ihre kauernde Gestalt im Rasen, wenige Schritte entfernt. Sie reinigte seine Schuhe mit einem Papiertuch. Der Gartenschlauch neben ihr tropfte auf das Gras.

„Gewöhnen Sie sich nicht daran, Doc“, sagte sie, ohne aufzublicken. „Ich hatte nur zufällig nichts Besseres zu tun.“

Michael ging die Stufen hinunter. Ihre langen Ohrgehänge, die wie silberne Pyramiden aussahen und ihr fast bis auf die Schultern reichten, wippten mit jeder ihrer Bewegungen.

Sie musterte seine Stiefel. „Großartiges Schuhwerk. Sie sollten es tragen, wenn Sie sich nächstes Mal den Ställen nähern. Es ist geeigneter für das, was dahinter liegen bleibt.“

Er unterdrückte ein Grinsen und musste sich eingestehen, dass sie ein entzückendes kleines Ding war. „Hinter was?“

„Kühen. Pferden. Vierbeinern im Allgemeinen.“

Nun grinste er doch.

„Entdecke ich da etwa einen Anflug von Humor?“ Sie schenkte ihm einen spitzbübischen Blick, griff zum Schlauch und wusch sich die Finger. Dann stand sie auf und schüttelte die nassen Hände wie eine Katze ihre Pfoten. „Sie haben mich gebeten zu warten. Warum?“

Ihre Augen waren blau. Bemerkenswert blau. „Ich wollte Ihnen sagen, dass die Unterkunft ab morgen frei ist.“

„Wo liegt sie?“

Er deutete mit dem Kopf zu einer weiß getünchten Blockhütte mitten zwischen den Bäumen und verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen. Das Gebäude war winzig und heruntergekommen. Er hatte es seit seiner Studienzeit nicht mehr betreten. Wie mochte es hinter den Mauern aussehen?

Sie musterte das Häuschen eine volle Minute, bevor sie murmelte: „Na ja, meinen kleinen Bruder wird es freuen, wenn ich aus unserer Wohnung ausziehe.“

„Ach?“, hakte er interessiert nach.

„Er kann es kaum erwarten, allein zu leben.“

Ihre Wimpern waren so lang wie Piniennadeln und so schwarz wie ihre Brauen. Die Farbe ihrer Haare vermochte er nicht zu beschreiben. Sie variierte zwischen blond und braun. Im Sonnenschein wirkten die goldenen Strähnen ziemlich künstlich. Er fragte sich, ob sie regelmäßig einen Schönheitssalon aufsuchte. Doch das war unwahrscheinlich angesichts ihres Erstaunens über die Höhe seines Schecks.

„Was macht Ihr Bruder denn?“, erkundigte er sich, nur um sie in seiner Nähe zu behalten.

„Er arbeitet im Videoverleih in der Stadt, aber ab Herbst besucht er die Universität von Washington.“ Sie lächelte stolz. Ihre Augen funkelten. Ihr Gesicht leuchtete wie eine Kerze in der Dunkelheit. „Es wird ihm nicht gefallen, selbst kochen und aufräumen zu müssen, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Er verstand es sehr gut. Sie hätte damit seine eigene einsame Existenz zusammenfassen können. Sein Magen verkrampfte sich bei der Vorstellung, an diesem Abend erneut eine einsame Mahlzeit einzunehmen, die er sonst mit Leigh und Bob und Jenni geteilt hätte.

Sie musterte ihn aufmerksam. „Ist Ihnen nicht gut, Doktor?“

„Doch, doch.“ Er nahm den Scheck aus der Hemdtasche. „Den haben Sie wohl vergessen.“

„Es sieht so aus.“ Sie lächelte verlegen und blickte zu dem Häuschen. „Wenn es Ihnen recht ist, ziehe ich Sonntag ein.“

„Ich sorge dafür, dass es gereinigt wird.“ Aus ihm unerklärlichen Gründen wollte er sie noch nicht gehen lassen, aber ihm fiel kein geeignetes Gesprächsthema ein. „Nun, dann ist wohl alles geklärt.“

„Gut. Wir sehen uns also in ein paar Tagen.“

„Es ist abgeschieden hier. Sie werden meistens allein sein. Ist das ein Problem?“

„Mein Bruder ist …“

„Das weiß ich. Aber was ist mit Ihrer restlichen Familie?“

Sie versteifte sich. „Da ist nur mein Bruder.“

„Keine Kinder? Kein Ehemann?“

In kühlem Ton erwiderte sie: „Nein. Ist das ein Problem?“

„Nein, ich dachte nur, dass …“ Ihr Mann vielleicht entlassen wurde und Sie gezwungen sind, den erstbesten Job anzunehmen.

„Ich wurde nur wegen Rationalisierungsmaßnahmen vorübergehend beurlaubt. Ich wurde nicht unehrenhaft entlassen und habe nicht aus Faulheit gekündigt, falls Sie sich das fragen.“

„Es überrascht mich nur, dass Sie keinen anderen Job gefunden haben“, entgegnete er.

In schroffem Ton erklärte sie: „Gute Jobs sind derzeit knapp in der Stadt.“

„Aber dieser hier …“

„Bringt Geld, und das allein zählt.“

„Entschuldigung“, murmelte er.

„Ich schaffe den Job“, versicherte sie nachdrücklich.

„Das bezweifle ich ja gar nicht.“ Sie reichte ihm gerade mal bis zum Adamsapfel, sodass er bequem das Kinn auf ihren Kopf hätte stützen können. Die unerwünschte Regung in seiner niederen Körperregion veranlasste ihn zu behaupten: „Ich will einfach wissen, wer sich auf diesem Gelände aufhält. Es ist ein kostspieliger Betrieb, und ich muss vermeiden, dass aus Inkompetenz etwas passiert.“

Sie schnappte sich ihren Rucksack. „Ich bin keine Lügnerin.“

„Das habe ich auch nicht gesagt.“

„Sie haben es angedeutet.“

„Miss McKay …“

„Shanna.“

„Also gut, Shanna. Bitte verstehen Sie doch. Ich bin Chirurg mit unregelmäßigen Arbeitszeiten. Deswegen muss ich der Person, die ich für den Job engagiere, vertrauen können. Blind.“

Ihre Miene wurde sanft. Die Sonne ließ ihre Ohrringe glänzen. „Nun, Doktor, Sie können mir vertrauen. Blind.“

Sie wandte sich ab, ging zu ihrem Pick-up und ließ ihn allein mit seinen Erinnerungen – und den Sorgen um die Zukunft.

2. KAPITEL

„Verflixt“, murrte Shanna, als sie sich zum zweiten Mal den Kopf an der Spüle stieß. Seit einer guten halben Stunde versuchte sie, den Abfluss zu reparieren, doch er tropfte noch immer unvermindert.

Zumindest war das Häuschen makellos sauber. Die Küchenschränke wie die Badezimmerarmaturen glänzten. Selbst der alte Bretterboden war frisch gebohnert. Und die Matratze im Hauptschlafzimmer war nagelneu.

Nur eine Abflussdichtung fehlte.

Sie stand auf und streckte den schmerzenden Rücken. Es war schon nach zehn Uhr, doch die Kartons, die sie vor fast sieben Stunden zusammen mit dem schlaftrunkenen Jason auf der Ladefläche gestapelt hatte, waren noch immer nicht ausgepackt.

Sie strich sich über die brennenden Augen. Ihr kleiner Bruder. Neunzehn Jahre hatten sie geteilt. Sie hatte seine Windeln gewechselt, ihn eingeschult, seinem Schulabschluss beigewohnt.

Wehmütig blickte sie aus dem Fenster. Durch die Bäume erhaschte sie einen Blick auf den rotbraunen Hengst. Soldat D’Anton hieß er, laut dem Stallburschen Oliver, den sie an diesem Morgen kennengelernt hatte. Der Name passte zu dem Tier.

Einen Moment lang stand es still, mit hocherhobenem Kopf, gespitzten Ohren, zuckendem Schweif. Dann scharrte es mit den Vorderhufen und schüttelte wild den Kopf.

„Du bist ein wahres Wunderwesen“, murmelte sie.

Wie sein Besitzer: arrogant, eigenwillig, geradezu phänomenal.

Aus den Augenwinkeln sah sie eine Bewegung auf dem Plattenweg. Eine getigerte Katze spazierte mit hocherhobenem Schwanz vor einem kleinen Mädchen dahin. Es mochte fünf oder sechs Jahre alt sein, hielt mit beiden Händen das gelbe, mit Gänseblümchen bedruckte Röckchen und schwenkte es bei jedem Schritt hin und her. Dunkle Locken umrahmten rosige Wangen und gebräunte Schultern.

Shanna lächelte über die selbstvergessene Miene der Kleinen. Doch dann wurde sie abrupt ernst. Wo mochte die Mutter stecken? Der Cherokee stand in der Auffahrt. Hatte der Doktor das Kind mitgebracht?

Sekunden später war sie draußen und ging den beiden entgegen. „Hallo, Mieze.“ Sie hockte sich auf den Weg und streckte eine Hand aus. Die Katze schnupperte geziert an den Fingern, schmiegte dann das Köpfchen in die Handfläche und schnurrte.

Das Mädchen ließ das Röckchen los und näherte sich zögernd. „Sie heißt Silly.“

Scheinbar überrascht blickte Shanna auf. „Silly. Aha.“

Die Kleine kicherte. „Sie sollte eigentlich Sally heißen, aber als ich klein war, konnte ich das nicht aussprechen. Ist das nicht dumm?“

Shannas Kehle schnürte sich zu. Sie sehnte sich danach, den kleinen, weichen Körper an sich zu schmiegen. „Ach, hör auf damit“, murrte sie.

„Redest du mit dir selbst?“ Die Kleine rückte näher. Die Katze ließ sich mit lautem Schnurren ins Gras fallen.

„Ich habe Silly nur gesagt, dass sie nicht so laut sein soll, weil sie sonst die Schwarzkopfmeisen verscheucht.“

„Was?“

„Schwarzkopfmeisen.“ Shanna deutete zu den Bäumen hinauf. „Siehst du die kleinen Vögel mit den schwarzen Hauben auf den Köpfen?“

„Nein.“

„Sie fliegen echt schnell. Guck mal, da ist einer.“

„Oh ja!“ Mit großen braunen Augen blickte das Mädchen zu Shanna und wieder hinauf zu den Bäumen. „Da ist noch einer!“

„Sie sind niedlich, oder?“

Die Kleine nickte eifrig. Ein Lächeln enthüllte Zahnlücken. Sie rückte näher, bis sie an Shannas Knie stieß. Ernst blickte sie zu der Katze, die mit zuckender Schwanzspitze hinauf zu den Bäumen starrte. „Glaubst du, dass Silly einen fängt?“

„Bestimmt nicht. Die Vögelchen sind zu schnell und zu schlau. Sie wissen, dass Silly hier ist.“

„Dann ist es ja gut. Ich will nicht, dass die kleinen Vögel sterben. Meine Mommy und mein Daddy sind gestorben, und das ist gar nicht schön.“

Mitgefühl stieg in Shanna auf. Sie erinnerte sich, dass sie über den schweren Unfall gelesen hatte, bei dem Dr. Rowans Schwester und Schwager getötet worden waren. Wann war das passiert? Im April? Nein, Mitte März. Vor etwas über drei Monaten.

Sie sah Tränen in die Augen des Kindes treten, zog es an sich und legte ihm die Wange auf die weichen Haare, die nach Babyshampoo rochen. „He, ich wette, du heißt Sally. Deswegen hast du Sillys Namen verwechselt.“

Erneut ein Kichern. „Nein. Ich heiße Jenni.“

Shanna gab ihr die Hand. „Hallo, Jenni. Ich bin Shanna.“

Kleine Finger legten sich in Shannas Handfläche. „Du bist hübsch. Weißt du was?“

„Nein, was denn?“

„Ich bin sechs.“

Shanna stieß in gespielter Überraschung einen Pfiff aus. „Wow, dann bist du ja schon richtig alt.“

„Bin ich gar nicht. Grammy ist alt. Sie hat weiße Haare und ganz, ganz viele Falten hier.“ Jenni tippte sich mit den Fingern an die Augenwinkel.

Shanna lachte. „Wohnt sie bei dir?“

„Nein. Nur Onkel Michael. Aber Grammy passt auf mich auf, wenn er im Krankenhaus arbeiten muss. Und manchmal, wenn Grammy in Kalifornien oder so ist, dann gehe ich in den Kindergarten.“

„Und wo ist Onkel Michael jetzt?“

„Zu Hause. Weil heute Sonntag ist. Da arbeitet er manchmal nicht. Jetzt macht er oben gerade ganz wichtige Sachen.“

Welche Sachen mochten den Doktor davon abhalten, auf seine Nichte achtzugeben? Shanna blickte zu dem Hengst hinüber, der auf der Weide graste.

Er beißt.

Ein Schauer durchlief sie. Wäre die Katze auf die Koppel gelaufen, wäre Jenni dann durch das Gatter gekrochen und unter die mörderischen Hufe des sechshundert Kilo schweren Tieres geraten?

Sie stand auf. „Lass uns mal nachsehen, ob dein Onkel Hilfe braucht.“

„Komm“, sagte Jenni zu Silly. „Ich gehe jetzt wieder ins Haus.“ Sie schob ihre Hand in Shannas und hüpfte neben ihr den Weg entlang, gefolgt von der Katze. „Onkel Michael mag nicht, wenn ich ihn störe.“

„Hat er das gesagt?“

„Nein. Aber das weiß ich.“

„Warum?“

„Er guckt mich immer so an.“

„Vielleicht findet er dich hübsch.“

Entschieden schüttelte Jenni den Kopf. „Nee. Er lacht nämlich nie, und manchmal kriegt er da …“ Sie fasste sich zwischen die Augenbrauen. „… zwei tiefe Spalten.“

Shanna begriff, dass Kummer die Ursache für seine ernste Miene war. Aber das erklärte nicht die Missachtung seiner Nichte. Nicht eine Sekunde lang hätte sie Jason in dem Alter unbeaufsichtigt gelassen – oder ihren Timmy, hätte er gelebt.

Jenni lief voraus und hockte sich vor ein üppiges Blumenbeet am Wegesrand. „Das ist die schönste“, sagte sie und pflückte eine große Ringelblume. „Gefällt sie dir?“

„Sehr. Willst du sie ins Wasser stecken?“

Jenni schüttelte den Kopf. „In deine Haare.“

„Warum das denn?“

„Weil Octavia auch Blumen in den Haaren hat. Die machen sie glücklich.“ Jenni zog an Shannas Hand. „Bück dich mal.“ Ihre kleinen Finger schoben federleicht die Blüte ins Haar. „Mommy hat mir gesagt, dass Octavia acht heißt.“

„Das stimmt.“

„Octavia ist meine Puppe. Ihre Haare sehen genau wie deine aus, ganz zerzaust. Tavia – so nenne ich sie, wenn sie brav ist – kann sie nur schwer kämmen. Du auch?“

Shanna bemühte sich um eine ernste Miene. „Manchmal. Vor allem morgens, wenn ich aufstehe.“

„Tavia steht nicht gern auf.“

Tavia oder Jenni? Shanna wusste aus Erfahrung, dass umgekehrte Rollenspiele typisch für Kinder waren, die ein Trauma erlebt hatten. Sie selbst hatte dasselbe getan, nachdem ihre Mutter weggegangen war.

Silly strich ihr um die Beine und schnurrte. „Siehst du, sogar Silly findet die Blume hübsch.“

Impulsiv beugte Shanna sich vor und drückte Jenni einen Kuss auf die Stirn. „Du bist sehr lieb.“

Jenni versteifte sich, und ihre Unterlippe zitterte. „Ich will jetzt rein.“ Und damit wirbelte sie herum und floh ins Haus.

Shanna starrte ihr nach. Sie hätte ihr Herz in dem Kokon behalten sollen, den sie aus Selbstschutz vor neun Jahren errichtet hatte.

Innerhalb von zehn Minuten hatte sie ein Band zu einem kleinen traurigen Mädchen geknüpft – und mit einem kleinen Küsschen hatte sie alles wieder verdorben.

Mit schwerem Herzen richtete sie sich auf. Sie musste die Situation klären. Aber wie sollte sie einer Sechsjährigen erklären, dass ein Küsschen auf die Stirn nichts weiter als ein Dankeschön war und keineswegs bedeutete, dass eine Fremde ihr die Mutter ersetzen wollte?

Michael warf einen zweiten Stapel Kleider in den großen Karton, der vor dem begehbaren Kleiderschrank stand. Einen Monat nach dem Unfall hatte er die Sachen seines Schwagers aus diesem Schrank geräumt und zur Altkleidersammlung gebracht.

Es war ihm nicht leichtgefallen. Aber das jetzige Unterfangen war die reinste Hölle. Deswegen waren fast drei Monate verstrichen, bevor er das Schlafzimmer wieder betreten hatte.

Er hatte ihre Sachen nicht anfassen können. Er hatte sie nicht einmal ansehen können.

Sie hätte nicht tot sein dürfen, seine einzige Schwester. Seine Zwillingsschwester.

„Aber warum denn, Onkel Michael?“, fragte Jenni mit zitternder Stimme.

„Das habe ich dir doch schon gesagt, Jen. Sie braucht sie nicht mehr.“

„Mommy kommt nicht wieder, oder?“

„Nein.“

Jenni stand neben dem großen Karton, ihre geliebte Puppe an die Brust gedrückt. „Nie mehr?“

Zwei Worte voller Verwirrung, Angst und Fassungslosigkeit. In den zwölf Jahren im Krankenhaus hatte er diese Gefühle häufig erlebt, aber am besten erinnerte er das erste Mal, als er zehn Jahre alt gewesen war und seine Eltern bei einem Absturz ihres Sportflugzeugs in Kanada ums Leben gekommen waren. Leigh hatte ihrer Großmutter dieselbe Frage gestellt, eben in diesem Zimmer. Er hatte neben seiner Schwester gestanden und ihre Hand gehalten, und Katherine hatte den Kopf geschüttelt und war wortlos hinausgegangen.

„Nein“, erwiderte er schroff und heftig vor Kummer.

Jenni schluchzte auf und barg das Gesicht im Haar ihrer Puppe. Er wollte zu ihr gehen, sich für seinen Ton entschuldigen und …

„Jenni?“

Der Klang der Frauenstimme ließ Michael erstarren. Was wollte Shanna hier in diesem Raum? Er beobachtete, wie Jenni mit angsterfülltem, kummervollem Blick zu ihr herumwirbelte und erklärte: „Onkel Michael bringt Mommys Sachen weg, Shanna. Er sagt, dass sie nie, nie mehr wiederkommt.“

„Ach, Mäuschen …“

Jennis Mund zitterte. Sie warf ihm einen Blick zu, ließ die Puppe fallen und lief aus seiner Sichtweite. Einen Moment später hörte er sie gedämpft murmeln: „Ich hasse ihn.“

„Jenni …“

„Bitte mach, dass er damit aufhört. Bitte, Shanna. Bitte.

Michael schloss die Augen, atmete tief durch und fragte sich, wann das Leben wieder in normalen Bahnen verlaufen würde. Wahrscheinlich niemals, dachte er und trat aus dem Kleiderschrank.

Seine neue Angestellte stand mitten im Raum und strich Jenni, die sich mit tränenüberströmtem Gesicht an ihre Beine klammerte, in einer mütterlichen Geste die Locken aus der Stirn.

Shanna hob den Blick. Er hatte nicht den Zorn in ihren Augen erwartet, nicht den Kummer.

Er ignorierte den Anflug von Schuldgefühl. „Aha. Vor drei Tagen haben Sie sich an meinen Hengst herangemacht, und jetzt tun Sie es bei meiner Nichte.“

„Sie ist draußen herumgelaufen. Ganz allein.“

Ihm entging nicht der Vorwurf in den beiden letzten Worten. Er hob die Puppe auf. „Jen, nimm …“ Wie nannte sie das Ding nur? „Nimm deine Puppe mit nach unten und gib ihr was von deinem Tee.“

Sie blickte ihn schmollend an. „Ich will aber nicht.“

Shanna löste sich von Jennis Armen, hockte sich vor sie und nahm sie bei den Schultern. „Jenni, tu bitte, was Onkel Michael sagt.“ Sie warf ihm einen kühlen Blick zu. „Er macht sich Sorgen, dass Tavia Hunger haben könnte. Es ist fast Mittagszeit, weißt du.“

Jenni wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. „Okay.“

„Das ist lieb.“ Shanna nahm ihm die Puppe ab, ohne ihn anzusehen, und drückte sie Jenni in die Hand. „Ich komme auch gleich nach unten“, flüsterte sie und blickte dem Kind nach.

Es ärgerte ihn, dass er den nackten, sonnengebräunten Beinen seiner Angestellten, die knappe Shorts trug, mehr Beachtung schenkte als seiner Nichte. „Was soll der Aloha-Look?“

Langsam drehte sie ihm den Kopf zu. Die Wehmut verschwand von ihrem Gesicht. Kälte trat in ihren Blick. Aber ihre vollen Lippen blieben weich wie ein reifer Pfirsich. Sie richtete sich auf und deutete auf die Blume in ihren Haaren. „Meinen Sie die?“

Er nickte. Das dumme Ding erinnerte ihn an eine erotische Nachtklubtänzerin. Erotik und Nacht war eine Kombination, die er meiden musste, vor allem in ihrer Nähe. Um sich wieder auf den Boden der Tatsachen zu bringen, blickte er zu Leighs Kleidern. „Es sieht total albern aus.“

Sie lachte leise. „Nun, Doc, Ihre Meinung ist keinen Pfifferling wert. Vielmehr zählt Ihre Nichte. Sie ist gescheit und sensibel und hat diese bezaubernde Vorstellung, dass Blumen glücklich machen. Zufällig stimme ich mit ihr überein.“

Michael drehte sich wieder zu ihr um. Sie hatte die schlanken, gebräunten Arme unter den kleinen, festen Brüsten verschränkt. Unterhalb seines Nabels regte sich etwas. Kühn näherte er sich ihr. „Glücklich, soso.“ Er berührte ihre Wange. „Sind Sie glücklich, Miss McKay?“

„Das ist nicht wichtig.“ Sie nahm die Ringelblume aus ihren Haaren, umfasste sein Handgelenk und legte ihm die Blüte auf die Hand. „Die Frage ist, ob Sie es sind.“

Seine Haut prickelte, wo ihre Finger ihn berührten. „Glücklich zu sein steht hier nicht zur Debatte.“

„Falsch. Es ist das einzig Wichtige, wenn es um Ihre Nichte geht.“ Ihr Blick wurde sanft. „Werfen Sie die Sachen ihrer Mutter nicht fort.“

Er wich zurück. „Ich werfe sie nicht weg. Ich gebe sie in die Altkleidersammlung.“ Er seufzte tief. „Ich hatte nicht erwartet, dass Jenni hier hereinkommt, okay? Sie sollte unten bleiben.“

„Nun, sie hat es nicht getan. Sie ist nach draußen gegangen. Zum Glück ist sie zur Blockhütte gelaufen. Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was hätte passieren können, wenn sie auf die Koppel gegangen wäre?“

„Hören Sie, Miss McKay …“

„Nein, Sie hören. Ihre Nichte braucht Sie. Momentan hat sie nur einen Menschen, der die Lücken füllen kann, die ihre Eltern hinterlassen haben. Nämlich Sie. Schenken Sie ihr etwas Aufmerksamkeit. Zeigen Sie ihr etwas Mitgefühl. Herrje, selbst ein kleines bisschen Zärtlichkeit würde schon Wunder vollbringen.“

„Ach, spielen Sie jetzt den Seelenklempner?“

Sie ignorierte die Beleidigung. „Jenni hat mir erzählt, dass Sie nicht gestört werden wollen. Das bedeutet für mich, dass sie Ihnen im Weg ist. Kein Kind sollte jemals im Weg sein. Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich entlassen, sage ich Ihnen, dass das Wohlergehen eines Kindes wichtiger ist als jeder Beruf.“

Sanft entgegnete er: „Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Mutter Teresa? Sie haben keine Ahnung von Kindererziehung oder wie es ist, ohne Eltern aufzuwachsen. Aber in einem Punkt haben Sie recht. Wenn Sie diesen Job behalten wollen, dann behalten Sie Ihre Ansichten für sich.“

Sie presste die Lippen zusammen, wich einen Schritt zurück. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“

Reue stieg in ihm auf. „Miss McKay …“

„Ich finde Förmlichkeiten in dieser Situation total unangebracht“, entgegnete sie. „Nennen Sie mich Shanna, Mike.“

„Mike? Niemand nennt mich Mike.“

Ein zittriges Lächeln trat auf ihre Lippen. „Ich werde versuchen, daran zu denken, wenn wir uns das nächste Mal über den Weg laufen.“

Sie verließ den Raum, und er blieb allein zurück in der Stille und einer Wolke ihres Duftes.

Den ganzen Vormittag über hatte Michael die weiße Blockhütte im Auge behalten in der Befürchtung, dass Shanna verschwinden könnte.

Doch ihr zerbeulter Pick-up stand zum Glück noch immer in der schmalen Auffahrt, als er am frühen Nachmittag aus Blue Springs zurückkehrte. Kurz nach dem Lunch hatte seine Großmutter angerufen, gleich nach ihrer Rückkehr von ihrem sechswöchigen Aufenthalt in Anaheim bei ihrem Bruder, und verlangt, sofort ihre Urenkelin zu sehen. Erleichtert hatte er das Kind zu ihr in die Stadt gefahren. Nach dem Vorfall an diesem Morgen bezweifelte er nicht, dass Jenni ihm sehr gern für ein paar Stunden entfloh.

Verdammt.

Sie hätten sich durch den gemeinsamen Verlust näherkommen sollen statt sich zu entfremden. Als Erwachsener und Arzt hätte er fähig sein müssen, Jennis Kummer wie seinem eigenen entgegenzuwirken. Aber er konnte es nicht.

Shanna hat recht, dachte er, während er den Weg zur Hütte hinaufging. Als Ersatzvater war er ein Versager.

Shanna. Allein der Name ließ sein Herz schneller schlagen. Er verstand die Anziehungskraft nicht. Sie war nicht sein Typ. Er bevorzugte Frauen mit üppigen Kurven. Und doch ließ ihr Anblick seine Jeans unangenehm eng werden.

Er blickte zu der albernen Ringelblume in seiner Hand und verzog das Gesicht. Mit einem Fuß schubste er einen Pinienzapfen von der Türschwelle, während er anklopfte.

Die Tür flog auf.

Ihre saphirblauen Augen blickten kühl wie der Edelstein, dem sie glichen. „He, Doc. Wollen Sie nachsehen, ob ich weggelaufen bin?“

Michael konnte verstehen, dass sie Groll hegte, denn Groll wehrte Kummer ab. „Darf ich reinkommen?“

„Warum? Wie Sie sehen, gedenke ich zu bleiben. Ich habe eingesehen, dass ich den Job brauche.“

„Ich möchte reden.“

„Worüber?“ Ihr Ton war so eiskalt wie der Ton ihrer eisblauen Bluse. „Wir haben heute Morgen alles gesagt. Ich halte mich aus Ihren Angelegenheiten raus und Sie sich aus meinen. Wenn der Job vorbei ist, sagen wir Adios, und das war’s dann.“

„Verdammt, Miss McKay …“

„Sparen Sie sich die Formalitäten, Michael.“

Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie ihn Mike genannt hätte. „Ich hätte meine Probleme nicht an Ihnen auslassen sollen.“

„Besser an mir als an Ihrer Nichte.“

Er blickte ihr in die hübschen Augen. „Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, wie?“

„Selten.“

Nachdenklich ließ er den Blick zu den Stallungen und Feldern schweifen. „Ich war früher nie so ungehalten.“

„Tragödien ändern uns auf unerwartete Weise.“

Sie sind anders.“

„Als wer?“

„Als die meisten Leute.“

„Ist das gut oder schlecht?“, hakte sie in sanfterem Ton nach.

Er musterte ihren weichen Mund. „Gut. Sehr gut.“

„Nun, das ist ein Anfang. Kommen Sie rein. Ich setze Tee auf.“ Sie deutete auf seine Hand. „Und diese arme Ringelblume braucht Wasser.“

Sie eilte in die Küche und überließ es ihm, die Tür zu schließen – und ihren Po in den abgeschnittenen Jeans zu bewundern. Der Duft von Brathähnchen und Gewürzen wehte ihm entgegen, als er ihr folgte.

„Dinner um drei Uhr nachmittags?“

„Ich lasse den Lunch ausfallen.“ Sie öffnete den Backofen und sah nach dem Fleisch. „Deshalb esse ich früher zu Abend.“

Er spazierte durch das winzige Wohnzimmer. „Nach dem Frühstück ist der Lunch die wichtigste Mahlzeit. Sie kennen doch bestimmt das Sprichwort von König, Edelmann und Bettler. So sollten die Mahlzeiten jeden Tag ausfallen.“

Ihr Lachen klang volltönend und ein wenig rauchig. „Ich zerstöre nur ungern Ihre Diätpläne, Doktor, aber ich esse, wenn mein Magen knurrt, und das passiert zwei Mal am Tag.“

„Sie sind zu dünn.“

„Tja, tut mir leid, wenn es Ihr Auge beleidigt.“

„Dem ist gar nicht so.“ Ihm gefiel ihre Figur, sogar außerordentlich gut. Aber aus medizinischer Sicht konnte er seine Bemerkung nicht zurücknehmen.

Er blickte sich um, und was er sah, beschämte ihn. Die Hütte war stark vernachlässigt; die Wände brauchten dringend einen neuen Anstrich.

„Möchten Sie etwas mitessen?“

„Sie können hier nicht wohnen.“

„Wie bitte?“

„Es ist eine Bruchbude. Meine Schwester …“

„So schlimm ist es gar nicht.“

Da war er ganz anderer Meinung. Eine der Gardinen wies einen langen Riss auf, und er wagte gar nicht, sich auszumalen, wie es im Badezimmer und den beiden Schlafräumen aussehen mochte.

Shanna holte einen randvollen Wassereimer unter der Spüle hervor.

Er marschierte in die winzige Küche und warf die Ringelblume auf den Tisch. „Der Abfluss ist leck?“

„Gut geraten, Doc. Sie haben den Hauptpreis gewonnen.“ Sie reichte ihm den Eimer. „Würden Sie das bitte in die Toilette schütten, während ich den Kessel aufsetze?“

Er eilte ins Badezimmer und leerte den Eimer. Dann blickte er sich um. Auf den Rändern des antiquierten Waschbeckens und der abgestoßenen Badewanne lagen und standen allerlei weibliche Utensilien. Blaue und gelbe Kämmchen, eine große Tube Handcreme, bunte Duftseifen in einem Körbchen, Lippenbalsam, ein verzweigter Ast mit den verschiedensten Hängeohrringen.

„Funktioniert die Toilette?“

Er wirbelte herum, und der Eimer stieß gegen die Badewanne. Mit verschränkten Armen und einem Anflug von Belustigung auf dem Gesicht lehnte Shanna im Türrahmen. „Ja“, sagte er schroff.

Bedeutungsvoll blickte sie zu dem Waschbecken. „Haben Sie was Interessantes gefunden?“

Er ging zur Tür. Ihr Lächeln schwand. Der Duft von Wiesenblumen stieg ihm in die Nase. „Vielleicht.“

„Und das wäre?“

Dich. Sein Blick fiel auf ihren Schmuck. An diesem Tag hingen jeweils drei lange, filigrane Goldkettchen wie Windspiele von ihren zierlichen Ohrläppchen herab. Er tippte ein Trio an. „Nur … Kleinigkeiten.“

„Ist etwas dabei, das Ihnen besonders gefällt?“

„Allerdings.“ Seine Finger streiften ihren Hals. Er hob ihr Kinn und heftete den Blick auf ihren verlockenden, einladenden Mund und malte sich unwillkürlich aus, wie sehr ihr Anblick ihn selbst nach Jahrzehnten noch fesseln würde.

Er erstarrte. Einer Frau, dieser Frau den Rest seines Lebens zu widmen, kam nicht infrage. Er durfte das Schicksal nicht herausfordern. Denn das Schicksal hatte ihm seine Eltern genommen, hatte ihn und Leigh zu Waisenkindern gemacht – ebenso wie Jenni.

Familiengründung stand nicht in seinen Karten. Das Problem war nur, dass Shanna seine Gesinnung innerhalb von zwei Tagen verändert hatte. Er wollte sie umarmen und küssen, ins Schlafzimmer tragen und ins Land der Liebe entführen.

Aber nicht für immer.

„Mike?“, flüsterte sie.

Er ließ die Hand sinken und wich zurück.

„Was ist denn?“

„Ich muss gehen.“ Zwei Schritte brachten ihn zur Haustür. „Ich suche jemanden, der diese Hütte streicht.“

Sie folgte ihm auf den Fersen. „Das kann mein Bruder tun.“

Er blieb stehen. „Warum sollte er?“

„Warum nicht? Er könnte das Geld gebrauchen.“

Wieder war sie ihm zu nahe. Michael riss die Tür auf. „Gut. Sagen Sie ihm, dass er es so schnell wie möglich tun soll. Ich will noch vor dem Herbst verkaufen.“

Er stürmte aus dem Haus, bevor sie antworten konnte. Bevor er es sich anders überlegen und sie wie ein Besessener küssen konnte.

3. KAPITEL

„Gleich sind wir fertig, Rosebud“, sagte Shanna sanft, während sie – gekleidet in einen grünen Overall und Gummistiefel – das Euter der letzten schwarz-weiß gefleckten Holsteiner Kuh desinfizierte.

Friedlich wiederkäuend stand die Kuh im Melkstand. Shanna hängte die Melkleitungen an einen Haken und stülpte die Melkbecher über die Zitzen.

Zisch-Klick, Zisch-Klick, Zisch-Klick …

In gleichmäßigem Rhythmus strömte die Milch in den Stahltank der Molkerei.

Shanna war erfüllt von einer Zufriedenheit, die sie seit ihrer Jugend auf der Lasser-Farm nicht mehr verspürt hatte. Sie mochte die breiten, gutmütigen Gesichter der Kühe, ihre großen, dunklen Augen, ihr sanftes Wesen. Sogar der typische Geruch nach Heu und Dung in dem großen Stall gefiel ihr. Und die körperliche Tätigkeit sagte ihr ebenfalls zu.

Noch mehr hätte ihr all das gefallen, wenn sie nicht ständig an den Doktor hätte denken müssen – und an jene Augenblicke in ihrem Badezimmer, als sie gespürt hatte, dass er sie küssen wollte.

In den vergangenen zwei Tagen, seit er aus dem Häuschen gestürmt war, hielt er sich und Jenni versteckt. Erst spätabends tauchte sein Jeep vor dem Farmhaus auf, und am nächsten Morgen, wenn sie mit dem Melken fertig war, war er wieder verschwunden. Sie fragte sich, ob er das Kind mit sich nahm.

Aber wozu die Sorge? fragte sie sich, während sie Rosebud von dem Melkgeschirr befreite. Er hatte deutlich klargestellt, dass sie sich nicht einmischen sollte.

Sie verspürte ein Prickeln im Nacken und blickte auf. Er stand wenige Schritte entfernt, die Hände in den Taschen seiner schwarzen Hose. Die Ärmel seines grauen Hemdes waren aufgekrempelt, der Kragen von der Krawatte befreit.

Ihr Atem beschleunigte sich. Sie ignorierte seine brütende Miene und drückte auf den Knopf an der Wand, der die letzten zehn Kühe aus dem Stall auf die Weide entließ. „Wollen Sie prüfen, ob ich meinen Job richtig ausführe, Doktor?“

„Nein.“

„Gut.“

Am anderen Ende des Kuhstalls pfiff Oliver Lloyd munter vor sich hin, während er die Kotrinne mit einem Wasserschlauch reinigte. Mit klappernden Hufen liefen die Kühe den Gang entlang zu der geöffneten Doppeltür. Shanna schlenderte hinterher, gefolgt von Michael.

Als sie sich der Weide näherte, auf der die Kühe aus langen Trögen Mais und Luzerne fraßen, musterte sie Michaels Hose mit den scharfen Bügelfalten und die schwarzen Schnürschuhe. „Frische Fladen voraus. Wollen Sie wirklich weitergehen?“

„Wohin wollen Sie denn?“

Weg. Weit weg. „Die Tränkanlage überprüfen.“

Er musterte das feuerverzinkte Fass am anderen Ende der Weide. „Was ist denn daran kaputt?“

„Nichts, hoffe ich. Ich überprüfe sie regelmäßig.“

Er blickte hinaus über die Herde und das Land. Spatzen zirpten in den Dachrinnen. Von Westen her warf die Sonne lange Schatten neben die Kühe, die ihre Plätze an den Trögen einnahmen und mit schwirrenden Schwänzen Fliegen verscheuchten.

„Sie sind eine erstaunliche Frau, Shanna McKay.“ Er sprach, ohne sie anzusehen. „Sie tauchen hier aus dem Nichts auf, schließen Freundschaft mit meiner Nichte, die seit drei Monaten kaum ein Wort gesprochen hat, und melken zweimal am Tag neunzig Kühe, so als wäre es das Natürlichste auf der Welt für eine Frau.“

„Das ist es auch.“

Forschend richtete er den Blick auf sie. „Nein. Es ist verdammt harte Arbeit.“

Im Tageslicht sah er erschöpft aus. Die breiten Schultern hingen ein wenig hinab. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, wie Abdrücke von mit Tinte verschmierten Fingern. „Und der Arztberuf ist nicht hart?“

„Manchmal schon.“

„Da haben Sie es. Alle Jobs haben ihre schwierigen Momente.“

„Ich weiß nicht, wie Sie es schaffen. Aber Sie sind ja auch einzigartig.“

„Neulich haben Sie aber was ganz anderes gesagt.“

„Was denn?“

„Dass ich anders wäre.“

Er schnipste einen der langen, fantasievoll geformten Ohrhänger an, die sie im Morgengrauen angelegt hatte. „Einzigartig“, wiederholte er sanft. Es zuckte um seine Mundwinkel. „Und vielleicht ein bisschen atypisch.“

Nachdenklich musterte er die Baseballkappe, unter der sie ihre widerspenstigen Haare versteckt hatte, und sie wünschte sich, statt der schweren, derben Arbeitskleidung etwas Leichtes, Luftiges zu tragen. Aber wem machte sie etwas vor? Sie war kein leichter Luftikus.

Erneut blickte er über die Felder. Er tat es häufig, wie ihr auffiel, so als wollte er sich dadurch von seinen Gedanken ablenken.

Sie eilte zu der Tränkanlage, tauchte den nackten Arm in das kalte Wasser und tastete nach dem Abfluss am Boden. Gut, nichts verstopft. Sie richtete sich auf und schüttelte die Tropfen von ihrem Arm.

„Hier.“ Michael rollte einen Hemdärmel hinab und trocknete ihren Unterarm mit dem grauen Stoff ab, der zu seinen Augen passte.

Seine Hände waren groß, seine Finger leicht behaart. Sie stellte sich vor, wie diese Hände ein Skalpell führten oder einen Bauch nach Abnormalitäten abtasteten. Sie malte sich diese Hände auf ihrem Körper aus.

Hör auf zu träumen.

Sie roch nach Kuhstall; er duftete nach einem exklusiven Herrenduft. Ihre widerspenstigen Haare steckten unter einer schäbigen Baseballmütze; seine waren makellos frisiert. Wie sie es auch drehte und wendete, er blieb der vornehme Arzt und sie das arme Milchmädchen.

Zart und doch fest strich sein Daumen über ihr Handgelenk, ruhte dann einen Herzschlag lang auf ihrem Puls. Es war eine ungewohnte Berührung. Sie erschauerte. Diese furchtbare Anziehungskraft war falsch, war völlig absurd. In gesellschaftlicher Hinsicht waren sie so unvereinbar wie ein Lamborghini und ein Pick-up. Sie war für Männer wie Wade zugeschnitten, die sich leger kleideten, die nach Sattelseife und Pferd rochen.

Entschieden wich sie zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Das Ventil ist in Ordnung. Überhaupt ist der ganze Betrieb in ausgezeichnetem Zustand.“

„Genau wie der Abfluss in Ihrer Küche.“

„Ist er repariert?“

„Ich habe eine neue Dichtung eingesetzt, als ich nach Hause gekommen bin.“

„Sie?“

Er lächelte wie ein kleiner Junge. „Ich war nicht immer Arzt. Ich habe gelernt, einen Schraubenschlüssel zu benutzen, bevor ich mit einem Stethoskop umgehen konnte.“

„Entschuldigung. Ich wollte nicht sarkastisch sein.“

„Ich weiß.“ Lange blickten sie einander an. „Ich habe außerdem ein paar Eimer Farbe mitgebracht. Sie stehen vor der Tür. Ich hätte vorher an die Renovierung denken müssen.“ Er rieb sich die Stirn. „Ich bin an Immobilienverkäufe nicht gewöhnt.“

„Wissen Sie, Doc, Sie sollten es sich noch mal überlegen und die Farm behalten. Sie zu verkaufen wäre jammerschade“, verkündete sie, während sie Seite an Seite in den Melkstand zurückkehrten.

Jammerschade? Was verstand sie schon davon? Sie konnte den Kummer und die Angst nicht nachvollziehen, die er auf diesem Land, in diesem Dorf ertragen musste. Was wusste sie schon von den medizinischen Institutionen, denen es an Geldern, Geräten und Fachwissen mangelte?

„Man weiß eine Sache immer erst zu schätzen, wenn man sie nicht mehr hat“, fuhr sie fort. „Dieses Anwesen bietet all die Vorzüge, die man sich für ein Kind nur wünschen kann. Frische Luft, viel Platz, viel Ruhe. Wenn es erst mal verkauft ist …“

„Haben Sie nicht begriffen, was ich Ihnen neulich gesagt habe? Behalten Sie Ihre Ratschläge für sich, oder …“

Sie wirbelte zu ihm herum. „Oder was, Doktor? Sie feuern mich?“ Sie nahm sich die Baseballkappe ab und strich sich durch die wirren Haare. „Ich empfehle Ihnen doch nur, keine überstürzte Entscheidung zu treffen, die Sie schon sehr bald bereuen könnten.“

Licht schien durch die Türen und fiel auf ihre schmalen Wangen. Wenn er die Augen schloss, sah er ihr Gesicht mit allen Details vor sich.

Noch vor fünf Tagen hatte diese Frau nicht für ihn existiert. Nun spukte sie ihm ständig im Kopf herum. Er wollte nichts für sie empfinden, nicht einmal einen Anflug von Lust.

Nicht dass er den körperlichen Aspekt der Lust nicht genoss. Er wusste den Anblick einer hübschen Frau durchaus zu schätzen. Für gewöhnlich blieb sein stoisches Herz davon unberührt.

Doch bei dieser Frau reagierte sein Herz auf verrückte, unorthodoxe Weise. Er verstand es nicht. Abgesehen von ihren Augen war sie weder klassisch schön noch besonders reizvoll. Ihr Körper war kein bisschen kurvig, ihr kurzes Haar ständig zerzaust. Ganz zu schweigen davon, dass sie ihre kleine schmale Nase in seine Angelegenheiten steckte.

„Was wollen Sie von mir?“, fragte er matt.

„Nichts. Aber fragen Sie mal Jenni.“

„Ach herrje, sie ist erst sechs.“

„Sie ist eine Person, Michael. Sie hat Gefühle, die sie momentan nicht versteht.“

Ärgerlich stopfte er die Hände in die Hosentaschen. „Glauben Sie, das wüsste ich nicht?“

„Dann reden Sie mit ihr über ihre Eltern. Sie muss erfahren, wie Sie zu dem Verlust stehen. Vor allem aber muss sie wissen, dass Sie ihr nicht böse sind.“

„Verdammt, ich bin ihr nicht böse!“ Mit einem tiefen Seufzer massierte er sich den Nacken. „Entschuldigung. Sie war neulich zur falschen Zeit am falschen Ort, und das tut mir leid. Aber ich verkaufe diese Farm auf jeden Fall.“

Shanna zögerte, zuckte dann die Achseln. „Ihre Entscheidung.“

„Allerdings.“

„Wo ist Jenni eigentlich?“

„Bei meiner Großmutter. Ich hole sie gleich ab.“

„Weiß sie, dass sie ein neues Zuhause bekommen soll?“

„Sie hat schon mal bei mir in meinem Stadthaus gewohnt.“

Sie nickte mit übertrieben duldsamer Miene.

Die Geste erzürnte ihn. „Was ich hinsichtlich meiner Nichte tue oder lasse, geht Sie nichts an, Miss McKay. Erledigen Sie die Arbeit, für die ich Sie angeheuert habe, und wir kommen bestens miteinander aus.“

„Aha. Mein Platz ist bei den Kühen im Stall, und dort soll ich gefälligst bleiben, wie?“

Er atmete tief durch. „Wenn es nicht anders geht, ja. Lassen Sie nur meine Nichte in Ruhe.“ Und mich auch. „Ich will nicht, dass Sie ihr idiotische Flausen in den Kopf setzen, die sie nur verwirren.“ Oder mir.

Kummer trat in ihren Blick. „Das würde ich nie tun“, flüsterte sie betroffen.

„Verdammt. Sie wissen, was ich damit sagen will.“

Sie reckte das Kinn vor. „Botschaft erhalten.“ Der Kummer wich einer würdenvollen Miene. „Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Ich habe Kühe zu versorgen und Ställe auszumisten.“ Und damit wandte sie sich ab und verschwand.

Michael stand in dem stillen Melkstand und dachte: Du erwartest mehr, als ich geben kann.

Das war der springende Punkt. Er konnte Jenni ebenso wenig geben, was sie brauchte, wie er Leigh hatte am Leben erhalten können. Würde er dieses Gefühl der Hilflosigkeit, der Unfähigkeit jemals besiegen können?

„Sie sind das also.“

Beim Klang der hohen Frauenstimme drehte Shanna sich von der Speisekammer, in der sie gerade die letzten Konserven verstaute, zur offenen Haustür um. Nach dem Melken war sie nach Blue Springs gefahren und hatte Lebensmittel eingekauft. Und nun stand eine zierliche, weißhaarige Frau in Cowboystiefeln, Jeans und Rüschenbluse auf einen Krückstock gelehnt auf der Schwelle.

Unverkennbar Michael Rowans Großmutter.

Sie besaß die gleichen hohen Wangenknochen, die Adlernase und das resolute Kinn. Neben ihr stand Jenni in einer rosa Latzhose, mit Octavia und einem Minirucksack im Arm.

Die alte Dame trat ein und betrachtete durch braun gerahmte Brillengläser neugierig den Raum von der Decke bis zum Boden. „Sie haben hier deutlich Ihren Stempel aufgedrückt.“

„Kommen Sie doch herein, Ma’am. Hallo, Jenni. Möchtest du einen Keks?“

Die Kleine nickte mit einem schüchternen Lächeln.

Die Greisin erspähte die Kaffeemaschine. „Ist das Gebräu frisch?“

„Wie der Morgentau.“ Shanna holte zwei Becher aus dem Schrank und füllte sie.

„Flink und geistreich. Hübsche Beine. Der Rock ist eine Spur zu kurz, aber es ist ja nicht meine Ära.“

Shanna unterdrückte ein Lachen. Die alte Dame klang wie ein Auktionator, der die Qualitäten eines Zuchttieres rezitierte.

„Ich bin übrigens Katherine Rowan, Michaels Großmutter.“ Sie bot nicht ihre Hand. „Freunde nennen mich Kate.“

„Shanna McKay. Sahne? Zucker?“

„Schwarz.“

Kate setzte sich an den Küchentisch und legte sich den Stock über die Knie. Jenni hockte sich auf die Couch und packte das Puppengeschirr aus dem Rucksack, das Shanna im Haupthaus auf dem Couchtisch gesehen hatte.

Mit geschürzten Lippen richtete Kate die scharfen grauen Augen auf Shanna. „Sie haben keine Angst, oder?“

„Wovor?“

„Mir.“

Shanna brachte Jenni ein Glas Milch und einen Schokokeks, strich ihr über das Haar und sank auf einen Stuhl. „Sollte ich denn Angst vor Ihnen haben?“

„Ich habe schon so einige Farmarbeiter verjagt.“

„Bestimmt hatten Sie guten Grund dazu. Aber falls ich gehe, dann bestimmt nicht, weil ich faul war.“

„Ich mag Sie, Shanna McKay. Ich glaube, wir beide werden gut miteinander auskommen.“

„Da stimme ich zu.“

Sie lächelten einander an.

„Grammy?“ Jenni stellte sich neben ihren Stuhl.

„Was ist denn, Kind? Langweilst du dich schon?“

„Nein, aber kann ich draußen auf der Treppe spielen? Ich will die Vögel wiedersehen.“

„Na gut. Aber lauf nicht weg.“

In mehreren Gängen brachte die Kleine Puppe, Milch, Teeservice und Kekse hinaus. Kurz darauf summte sie vor sich hin und erzählte Octavia von Vögelchen mit schwarzen Hüten.

Kate verkündete: „Meine Urenkelin ist sehr angetan von Ihnen.“

„Sie ist ein süßes Kind.“

Geräuschvoll schlürfte die alte Frau ihren Kaffee. „Ihre Mutter, meine Enkelin – Gott sei ihrer Seele gnädig –, verstand nichts von Kindererziehung. Sie war kein mütterlicher Typ.“ Erneut ein schlürfender Schluck. „Bob musste die Mutterrolle weitgehend übernehmen.“

„Mrs. Rowan …“

„Aber Sie sind mütterlich veranlagt, oder?“

„Ich glaube nicht …“

„Ich sehe es auf Ihrem Gesicht, wenn Sie das Kind anschauen. Jenni hat mir einiges von Ihrer ersten Begegnung erzählt.“

„Ich kenne das Mädchen kaum.“

„Oh doch. Sie wussten ganz genau, was ihr fehlt, als Sie ihr von diesen Vögeln da draußen erzählt haben.“

Shanna blickte hinab in ihre Tasse. „Mrs. Rowan, ich glaube nicht, dass wir über Jenni oder die Erziehungsmethoden ihrer Mutter reden sollten. Ich bin nur eine Angestellte und werde in ein paar Wochen wieder weg sein.“

Kate schüttelte den Kopf. „Wussten Sie, dass Jenni seit dem Tod ihrer Eltern kaum ein Wort gesagt hat?“

„Michael – Dr. Rowan hat es erwähnt.“

„Hat er ihre Albträume auch erwähnt?“

„Nein.“

„Sie wacht auf und glaubt, Leigh in der Tür zu sehen.“

Shanna blickte hinaus zu der zierlichen Gestalt, die mit Octavia plauderte.

„Er weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Er kann Leighs Tod nicht verwinden. Sie standen sich sehr nahe. Jen ist Leigh wie aus dem Gesicht geschnitten, aber sie hat nicht dieselbe Persönlichkeit. Meine Enkelin war besessen von dieser Farm. Alles andere war für sie Nebensache, das Kind eingeschlossen. Es hat uns alle schockiert, als sie schwanger wurde. Sie hatte keine Veranlagung für Kinder. Im Gegensatz zu Bob, der sehr kinderlieb war. Deshalb haben sie Jenni bekommen. Um ihre Ehe zu kitten. Es hat funktioniert.“

„Mrs. Rowan …“

„Kate.“

„Kate, warum erzählen Sie mir das alles? Sie kennen mich doch gar nicht.“

„Aus irgendeinem unerfindlichen Grund sind Sie für meine Urenkelin das Licht am Ende eines sehr dunklen Tunnels geworden. Seit sie Ihnen begegnet ist, kommt bei ihr in jedem zweiten Satz Ihr Name vor. Sie war immer ein stilles Kind. Seit ihre Eltern tot sind … Sie hat sich seither niemandem derart zugewendet wie Ihnen. Nicht einmal mir.“

„Ich …“

„Ach, lassen Sie es gut sein. Das war nicht böse gemeint. Ich bin Leigh ähnlich genug, um nicht eifersüchtig zu sein. Aber in meinem hohen Alter habe ich etwas begriffen, das sie nicht gelernt hatte.“ Sie rührte ihren zusatzlosen Kaffee um und warf Shanna einen gestrengen Blick zu. „Glücklich zu sein ist wichtiger als alles andere.“

Jenni sang im Sonnenschein. Shanna schwieg und fragte sich: Wie konnte Leigh mit ihrem Kind nicht glücklich sein?

Kate hob die Tasse an die Lippen und sagte mit unverwandtem Blick: „Sie würden gut zu meinem Enkel passen.“ Als Shanna sich beinahe an ihrem Kaffee verschluckte, beschwichtigte Kate: „Nur keine Sorge. Es ist nur eine Beobachtung.“

„Haben Sie auf diese Weise die anderen Arbeiter verjagt, von denen Sie vorhin sprachen?“

Kate warf den Kopf zurück und lachte. „Honey, Sie sind einfach köstlich! Nein, alle meine anderen Angestellten waren Männer, und soweit ich weiß, neigte keiner dazu, Frauenkleider zu tragen.“

„Tja, das erleichtert mich zu hören.“

Kate wurde ernst. „Ich sage nie etwas, das ich nicht wirklich meine. Und ich habe nie einer Menschenseele anvertraut, was ich Ihnen jetzt sage. Die Frauen, mit denen sich mein Enkel abgibt, sind dumm wie Stroh.“

Ich will nichts davon hören.

„Schon gut, vergessen wir Michael. Übrigens kochen Sie einen anständigen Kaffee.“ Kate blickte über die Schulter. „Und Sie halten das Haus in Ordnung.“

„Mein Bruder wird die Wände streichen.“

Die alte Dame musterte die Küche und murrte: „Leigh hätte von Ihnen viel lernen können. Wäre Bob nicht gewesen, hätten sie wie im Schweinestall gehaust.“

„Kate …“

„Er hat ständig Wollmäuse unter den Möbeln gefunden. Es ist ein Wunder, dass Jenni das Krabbelalter überlebt hat, ohne an einer zu ersticken.“

„Aber das Haus ist blitzsauber, und der Stall ist es auch.“

Kate winkte ungehalten ab. „Michael. Seit Leighs Tod hat er jede freie Minute im Haus geschrubbt, gewienert und gebohnert. Er konnte es nicht länger ertragen, dass Jenni in diesem Dreck leben muss. Was den Stall angeht – das war Leighs Liebe. Die Tiere, die Molkerei, die Felder hat sie immer makellos in Ordnung gehalten.“

Hatte Leigh ihre Tochter überhaupt geliebt?

„Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie hatte Jenni lieb. Sie war nur weder häuslich noch mütterlich veranlagt. Bob dagegen war verrückt nach der Kleinen und hat sie umsorgt.“

„Es ist schwer, sie nicht lieb zu haben“, murmelte Shanna und stand rastlos auf, um Kaffee nachzuschenken. „Wie nahe standen sich Dr. Rowan und seine Schwester?“

„Sie waren Zwillinge“, lautete die Antwort, so als erklärte das alles. „Meistens waren sie unzertrennlich, wie es bei Zwillingen nun mal zu sein pflegt, aber ganz besonders dann, wenn mein Davey, mein Sohn, und seine Frau auf Abenteuerjagd gingen. Dann schliefen die Kinder nur zusammen in einem Zimmer. Leigh hatte Angst vor der Dunkelheit.“

„Abenteuer?“

„Das ist eine andere Geschichte.“ Sie nahm ihre Tasse, blies hinein und trank.

Shannas Kaffee wurde kalt.

Jennis lieblicher Gesang erwärmte das Zimmer.

Kate stellte ihre Tasse ab. „Etwa ein Jahr nach dem Tod ihrer Eltern entwickelten die Zwillinge unterschiedliche Interessen. Leigh begeisterte sich für die Farm und das Vieh, und Michael …“ Sie klopfte auf den Stock auf ihrem Schoß. „Wir wussten eigentlich nicht, was in ihm vorging. Erst als er zur Universität ging, erfuhren wir, dass er Mediziner werden wollte. Er ist der Erste in unserer Familie, der einen Doktortitel hat, wissen Sie.“

„Kate, ich glaube …“

„Sie glauben, dass ich eine alte Klatschbase bin, nicht wahr, mein Kind?“ Die dicken Brillengläser vergrößerten Kates Augen – Michaels Augen.

„Keineswegs.“ Ich glaube, dass Sie Ihre Kinder vermissen.

Kate starrte aus dem Fenster auf die malerischen Weiden und majestätischen Berge. „Ich erzähle Ihnen das alles, damit Sie ihn besser verstehen. Er ist ein guter Mensch.“

„Das bezweifle ich nicht.“

„Er hat nur Probleme, eine Beziehung zu Jenni zu knüpfen. Aber er ist ein wundervoller Arzt.“

Jennis helle Stimme drang von draußen herein, als sie Silly und Octavia ein Liedchen vorsang.

Kate blickte zurück zu Shanna. „Ich bin sehr froh, dass Sie meiner Urenkelin das Lächeln zurückgegeben haben“, sagte Kate. „Und so mürrisch und reizbar mein Enkel auch sein mag, vermute ich, dass Sie auch ihn zum Lächeln gebracht haben. Das ist bei beiden schon lange her.“

An der Tür summte eine Biene herum, bevor sie entschied, die Neugier zugunsten ihres Stockes aufzugeben, und davonflog.

Versunken in die Schönheit und den Frieden der Umgebung, murmelte Shanna: „Er erkennt nicht, wie sehr diese Farm ihn heilen kann. Zu schade, dass sie zum Verkauf steht.“

Einen Augenblick lang blieb alles still. Kate stützte die Handflächen auf den Tisch und stand auf. Mit scharfem Blick fragte sie dann: „Was wollen Sie damit sagen?“

Shanna runzelte die Stirn. „Sie wussten es nicht?“

4. KAPITEL

Michael stand in der Tür zur Blockhütte. Seine Großmutter griff zu ihrer Kaffeetasse, stellte sie mit lautem Klirren wieder ab. „Wenn mein Enkel glaubt, dass er …“

„Was, Gran?“ Er trat über die Schwelle in das kühle Wohnzimmer.

Der Stock klickte auf dem Linoleum, als Katherine zu ihm stakste wie eine zierliche Kriegerin. „Du willst Rowan Dairy loswerden, junger Mann?“

„Grandma, bitte.“ Er zwang sich zu einem beherrschten Ton. „Lass uns das im Haus besprechen, okay?“ Sein Blick glitt zu Shanna. Sie trug einen weißen Minirock.

„Was gesagt werden muss, kann hier gesagt werden, Junge. Was für einen Unterschied macht es schon, wenn sie ohnehin alles weiß?“

„Einen verdammt großen Unterschied“, murrte er und nahm sie am Ellbogen, um sie nach draußen zu führen.

Sie stemmte eine leberfleckige Hand in die Hüfte. „Behandle mich nicht wie einen alten senilen Dummkopf. Und fluche gefälligst nicht. Ich habe dich nicht dazu erzogen, wie ein Hinterwäldler zu reden, und ich will nicht, dass Jenni so etwas hört.“

Michael blickte zu seiner Nichte mit ihrer Puppe und ihrem Teeservice. Stumm starrte sie zu ihm hinauf. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen. „Grandma, wenn du darüber reden willst, dann triff mich im Haupthaus.“ Ohne eine Sekunde länger zu warten, stürmte er zur Tür hinaus und den Pfad hinab. Verdammt. Wäre seine Großmutter zugegen gewesen statt auf ihrer alljährlichen, sechswöchigen Reise nach Kalifornien, hätte er die Angelegenheit natürlich mit ihr besprochen.

Er betrat das Haus, legte sein Jackett ab und stürmte zum Wohnzimmerschrank. Er brauchte einen Drink. Etwas, das sich einen Weg bis hinab zu seinen Zehenspitzen brannte. Brandy. Er goss sich einen Schluck ein, stürzte ihn hinunter, schenkte nach.

Er hätte diese Person nicht engagieren sollen. Sie war ein Quälgeist, eine Plage, eine Wichtigtuerin – der das Wohlergehen seiner Nichte sehr am Herzen lag und die sein eigenes Herz beinahe ständig höherschlagen ließ.

„Trinkst du dir Mut an, Michael?“

Er drehte sich um. Seine Großmutter stand im Türbogen. „Sag, was dich beschäftigt, Gran. Bringen wir es hinter uns.“

Autor

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