Bianca Gold Band 73

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ICH WILL DICH UND KEINE ANDERE von ARLENE JAMES

Um das Familienunternehmen zu retten, ist Paul bereit, eine Frau zu heiraten, die er nicht liebt. Bis er die temperamentvolle Cassidy kennenlernt. Bald muss er einsehen, dass die Ehe mit der anderen ein Fehler wäre …

… DANN ANTWORTEN SIE MIT JA! von HELEN BROOKS

Am Pool ihres Chefs stehen Erdbeeren und Champagner bereit. Aber die hübsche Cory ist entschlossen, standhaft zu bleiben. So umwerfend Max Hunter auch ist, Cory ahnt: er will nur ein Abenteuer. Dabei träumt sie von der wahren Liebe!

ER IST DER RICHTIGE FÜR DICH von GINA FERRIS WILKINS

Endlich Urlaub mit Damien! Doch in dessen luxuriöser Ferienanlage verläuft für Celia alles ganz anders als erwartet. Der attraktive Reed Hollander wirbt leidenschaftlich um sie. Ist nun Damien der Richtige – oder Reed, den Celia kaum kennt?


  • Erscheinungstag 20.01.2023
  • Bandnummer 73
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516921
  • Seitenanzahl 447
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Arlene James, Helen Brooks, Gina Wilkins

BIANCA GOLD BAND 73

1. KAPITEL

„Ich weiß, dass es wichtig ist.“ Cassidy rückte die rote Clownsperücke zurecht und strich über die weiße Schürze mit den Rüschenborten. „Halloween steht kurz bevor, und gerade dann habe ich am meisten zu tun im ganzen Jahr.“

William war nahe daran, sich die kurzen, hervorragend geschnittenen blonden Haare zu raufen. Er holte jedoch nur tief Luft und zog die graue Seidenkrawatte enger. „Und genau deshalb musst du mir diesen Gefallen tun.“

Cassidy beruhigte ihren Bruder, der stets alles viel zu ernst nahm. „Ich habe doch gesagt, dass ich ihn ausstatten werde. Ich hoffe nur, dass er nichts allzu Ausgefallenes will.“

William beugte sich über den Glastresen, ohne auf die falschen Wimpern, Gumminasen, Skalpe sowie Warzen und Muttermale zu achten, und packte seine Schwester an ihrem Lumpenkostüm. „Du hast es offenbar noch immer nicht begriffen. Es geht um meinen Boss, Cass! Er ist in einer verzweifelten Lage, und ich habe dich ihm empfohlen. Lass mich bloß nicht hängen!“

Der arme William! Ständig regte er sich auf und fürchtete, von seinen Angehörigen blamiert zu werden. Na schön, sie waren ein wenig … exzentrisch, meinten es jedoch nur gut. Jedenfalls meistens. Cassidy lächelte ihm aufmunternd zu und vergaß dabei ihre dick aufgemalten Wimpern, die roten Wangen und die breiten Lippen, die den Effekt ihres Lächelns natürlich minderten.

„Brüderchen, ich verspreche dir, Mr. Paul Barclay Spencer von ‚Barclay Bakeries‘ bevorzugt zu behandeln. Ich suche ihm ein Kostüm aus, mit dem er diese Betty beeindrucken kann und in dem er sich trotzdem wohlfühlt. Schwesterliches Ehrenwort.“

William war jedoch überhaupt nicht beruhigt. „Sie heißt Betina“, betonte er. „Betina Lincoln. Und wenn alles gut geht, ist sie im Frühjahr bereits Mrs. Paul Spencer.“

„Und Mr. Spencer hat den Familienbetrieb wieder sicher in den Händen.“ Cassidy wollte beweisen, dass sie gut zugehört hatte. „Er wird dir die Kontrolle über die Großbäckerei verdanken.“

„Ja, vorausgesetzt du verpatzt nichts. Ziehst du jetzt bitte dieses alberne Kostüm aus, bevor er kommt?“

Seufzend griff Cassidy nach der voluminösen Perücke, die sie trug. „Ich verzichte auf dieses tolle Kostüm, zeige stattdessen wieder mein eigenes unscheinbares Ich und suche für deinen Boss das perfekte Kostüm aus. Ich schwöre, es wird ihm das Herz und die Firmenanteile der tollen Miss Betina Lincoln gewinnen. Zufrieden?“

William strich seinen ohnedies faltenfreien Maßanzug glatt und nickte. „Vergiss nicht, dass ich auf dich zähle.“

Er schenkte ihr diesen typischen, beinahe anerkennenden Blick des großen Bruders, verdarb den guten Eindruck im Hinausgehen jedoch durch ein Kopfschütteln. Offenbar fragte er sich, wieso ein so viel versprechender aufstrebender leitender Angestellter eine solche Schwester hatte.

Doch wo lag das Problem? Kostüme waren ihr Beruf. Sie entwarf, nähte, verlieh, verkaufte und präsentierte in ihrem eigenen Laden Kostüme. Und sie trug natürlich Kostüme. Der arme, total verkrampfte William begriff solche Zusammenhänge im Leben nicht, wenn sie nicht direkt mit ihm zu tun hatten. Allerdings stellte die Familie Penno für William eine Belastung dar, die sie, seine kleinere Schwester, nicht noch vergrößern wollte.

Er begriff nicht, wieso ihre Eltern sich im letzten Jahr scheiden ließen. Für Cassidy war klar, dass Alvin und Anna Penno trotz oder gerade wegen fünfunddreißig Ehejahren absolut nicht zusammen passten. William dagegen verstand nicht, dass die beiden getrennt glücklicher waren und dass ihre gescheiterte Ehe nichts mit ihm zu tun hatte.

Seine Beziehung zur Familie Barclay Spencer war vermutlich Teil dieses Problems. Diese Leute stellten familiäre Angelegenheiten an allererste Stelle, besonders die familieneigene Großbäckerei „Barclay Bakeries“. Wie es sein mochte, einer so festgefügten Familie anzugehören? Wahrscheinlich herrlich, da William diese Leute dermaßen bewunderte.

Es war vermutlich logisch, dass Paul Spencer, der Generalmanager der Großbäckerei, seine angeheiratete Cousine heiratete. Schließlich hatte sie von Mr. Chester Barclay, Pauls Großvater, Firmenanteile geerbt. Durch eine Heirat der beiden würde alles wieder ins Lot kommen.

Allerdings fragte sich Cassidy, wieso die „reizende und elegante Miss Lincoln“, wie William sie beschrieben hatte, auf einmal zögerte, Paul zu heiraten. Schließlich hatte er gegen ihren Willen vor einigen Monaten eine heiße Affäre mit dieser selben Miss Lincoln abgebrochen. Cassidy hatte jedenfalls den Eindruck, dass Betina mit dieser Heirat alles erreichte, was sie nur wollte. Möglich war natürlich aber auch, dass sie ihren Bruder in diesem Punkt falsch verstanden hatte.

Während Cassidy zum Umkleideraum ging, rief sie Tony zu sich, der im Schaufenster die Dekoration „Arabische Nächte“ zusammenstellte. Er steckte den Kopf in die Zirkusarena, in die der zweite ihrer vier Schauräume verwandelt worden war.

„Sie haben gerufen, chérie?“, fragte er, und sein französischer Akzent war nicht zu überhören. Mit dem frechen Strohhut, den er trug, stellte er heute Maurice Chevalier dar. Gestern war er Clark Gable gewesen, und morgen würde er bestimmt einen anderen Star verkörpern. Nach seinem Collegeabschluss wollte er Dallas verlassen, um nach New York oder Los Angeles zu gehen und dort groß rauszukommen. Allerdings hatte er sich bis heute nicht entschieden, in welcher der beiden Städte er sein Glück nun machen wollte.

Mit ihren fünfundzwanzig hatte Cassidy die eigenen Träume von einer Karriere als Schauspielerin auf den Beruf der Kostümschneiderin zurückgeschraubt. Sie fühlte sich wesentlich älter und klüger als ihr zwanzig Jahre alter Angestellter Tony Abatto, dessen scherzhafte Annäherungsversuche ihr manchmal ebenso auf die Nerven gingen wie sein Getue. Andererseits wollte sie ihm den Spaß nicht verderben. Sollte er doch an unbändige Leidenschaft und steile Karrieren glauben, solange das möglich war. Er würde bald genug herausfinden, dass für einen echten Durchbruch mehr als Talent nötig war.

„Ich ziehe mich um“, erklärte sie. „Passen Sie auf den Laden auf. Ich erwarte einen ganz besonderen Kunden.“

Oui, Mademoiselle. Mit meinem Leben werde ich Ihre wahr gewordenen Träume verteidigen. Auch dies ist ein Beweis für l’amour, die ich in meinem Herzen für Sie trage.“

„Es sollte eher ein Beweis für l’amour zu Ihrer Arbeit sein“, entgegnete sie lächelnd.

„Das Lumpenkostüm passt nicht zu Ihrer Stimmung?“, fragte Tony und kletterte aus dem Schaufenster heraus.

„Es passt nicht zur Stimmung meines Bruders“, rief sie ihm zu und sah noch, wie er das Gesicht verzog. Tony hielt nicht viel von William. „Hängen Sie schon mal einige Sachen für den Kunden heraus, Tony“, fügte sie hinzu und verschwand hinter dem Vorhang.

„In Ordnung. Was denn?“

„Die üblichen Macho-Kostüme.“

„Also Dracula, Kampfpilot und Seeräuber.“

Cassidy seufzte. Eigentlich wollte sie jemandem vor Halloween ein Kürbis-Kostüm andrehen, aber das sollte sie bei Williams Chef lieber nicht versuchen. Andererseits war jeder Dracula, Pirat oder Soldat bereits reserviert. Wenn Paul Spencer eins von diesen Kostümen wählte, musste sie sich wieder an die Nähmaschine setzen. Doch schlafen konnte sie auch noch in der zweiten Novemberwoche – vorausgesetzt sie hielt so lange durch.

Cassidy legte das Kostüm ab und zog stattdessen eine bequeme Jeans sowie ein senfgelbes Sweatshirt an. Ihr goldbraunes Haar fasste sie am Hinterkopf mit einem schlichten Gummiband zusammen. Nachdem sie das Kostüm weggehängt hatte, ging sie zu den Schminktischen am anderen Ende des Ladens.

Sie liebte alles an ihrem Geschäft, die Schminktische jedoch ganz besonders. Hier befanden sich zahlreiche Gegenstände aus dem Friseursalon ihres verstorbenen Großvaters. Der mit grünem Leder überzogene Stuhl knarrte, als sie sich setzte und sich einen Umhang um die Schultern legte. Sorgfältig begann sie, sich abzuschminken.

Gerade hatte sich die ganze Schminke in eine dicke, graue, leicht klebrige Masse verwandelt, als sie im Spiegel hinter sich „Maurice“ sah. Bevor sie ihn fragen konnte, wieso er nicht wie verlangt im vorderen Raum des Geschäfts geblieben war, drückte er das Pedal, mit dem die Rückenlehne gelöst wurde.

Im selben Moment kippte sie nach hinten und blickte zu ihrem unmöglichen Angestellten und einem Mann im dunklen Nadelstreifenanzug hoch.

Tony beugte sich zu ihr herunter, küsste sie auf den Hals und sagte mit seinem falschen französischen Akzent. „Dieser Kunde möchte Sie sehen, chérie.“ Als Cassidy mit dem Handtuch nach ihm schlug, wich er lachend aus und sagte zu dem Kunden: „Sie betet mich an.“

„Sieht ganz so aus“, lautete die knappe Antwort.

Stöhnend legte Cassidy das Handtuch auf ihr Gesicht. In diesem Augenblick klappte die Rückenlehne wieder hoch und schleuderte sie fast aus dem Sessel. Gleich darauf hörte sie, wie die Luft aus dem gepolsterten Lederhocker neben ihr wich. Sie riss sich das Handtuch vom Gesicht, erwartete Tony und blickte in das lächelnde Gesicht eines Fremden.

Es handelte sich um einen ausgesprochen gut aussehenden Fremden. Das kurze, dunkelbraune Haar war klassisch geschnitten. Die funkelnden blaugrauen Augen waren von dichten Wimpern umgeben. Die Augenbrauen waren fast schwarz.

Er streckte ihr die Hand hin. „Sie sind vermutlich Cassidy Penno.“

„Ja“, bestätigte sie und ergriff die Hand.

„Paul Spencer.“

Sie schloss die Augen, zog hastig die Hand zurück und wischte die Schmiere vom Gesicht. „Tut mir leid, Mr. Spencer.“ Das Handtuch dämpfte ihre Stimme. „Ich war als Lumpenpuppe verkleidet, als mein Bruder mir sagte, dass Sie kommen. Ich dachte, ich könnte mich noch abschminken, und Tony, der unmögliche Mensch, wollte mich offensichtlich in Verlegenheit bringen. Er mag William nicht, und er ist ständig sauer auf mich, weil ich seine Annäherungsversuche nicht ernst nehme. Eigentlich sollte ich ihn hinauswerfen, ich weiß, aber …“

Paul Spencer zog ihr lächelnd das Handtuch aus den Händen und übernahm es, die dicke Paste von ihrem Gesicht zu wischen. „Sie meinen, Sie wollten mir erklären, warum Sie Tony nicht hinauswerfen?“

Cassidy starrte fasziniert in seine funkelnden Augen. „In einem solchen Laden kann nur ein ganz bestimmter Personentyp arbeiten.“

„Wirklich? Und was für ein Typ ist das?“

Sie nahm ihm das Handtuch wieder weg und drehte sich zum Spiegel, um Paul Spencers Blick auszuweichen.

„Sie wollten mir erklären, was für ein Typ in einem solchen Laden arbeitet“, erinnerte er sie nach einem kurzen Schweigen.

„Jemand, der das Theater liebt“, antwortete sie knapp. „Ein Schauspieler. Jemand, der sich gern verkleidet, kreativ ist … und für wenig Geld arbeitet.“ Im Spiegel sah sie, wie ihr Kunde erneut lächelte. William brachte sie um, wenn er von dieser Szene erfuhr! Rasch ließ sie das Handtuch fallen, zog das Gummiband aus dem Haar und ließ dieses locker um die Schultern fallen. „Ich wäre Ihnen dankbar, Mr. Spencer, wenn Sie William nicht erzählen, wie Sie mich angetroffen haben. William ist ein großartiger Bruder, aber er ist … na ja, er ist …“

„Verkrampft“, warf Paul Spencer ein. „Humorlos. Steif.“

Cassidy sah ihn entsetzt im Spiegel an.

Spencer lachte. „Beruhigen Sie sich, Miss Penno. Ich habe eine hohe Meinung von Ihrem Bruder. Er ist ein guter Mitarbeiter und ein wertvoller Mensch. Allerdings nimmt er sich und das Leben zu ernst. Von mir erfährt William jedenfalls kein Wort davon, dass Sie bei meinem Eintreffen wie ein Monster aus dem Sumpf ausgesehen haben.“

Cassidy wirbelte mit dem Stuhl herum. „Das stimmt nicht!“

„Nein, es stimmt nicht“, bestätigte er schmunzelnd. „Ich habe nur einen Scherz gemacht.“

„Oh.“

Wenn Paul Spencer lächelte, sah man kräftige weiße Zähne. Einer auf der rechten Seite hatte eine winzige abgebrochene Ecke. Plötzlich wusste Cassidy, dass sie diesem Mann vertrauen konnte. Und er vertraute ihr so sehr, dass er mit ihr scherzte. Wieso hatte sie das Gefühl, dass er nur mit wenigen Leuten lachen konnte? Nun, das war nicht weiter wichtig. Wichtig war nur, dass alles in Ordnung war.

„Tut mir ehrlich leid“, meinte sie lachend. „Ich muss schrecklich ausgesehen haben.“

„Sagen wir, ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass sich unter dieser grauen Paste ein so hübsches Gesicht verbergen könnte.“

„Ach, hören Sie auf“, wehrte sie ab und stand auf. „In meinem Geschäft ist es sehr praktisch, ein weitgehend unscheinbares, ausdrucksloses Gesicht zu haben. Das ist wie eine weiße Leinwand, auf der man malt. Kommen Sie mit. Tony hat hoffentlich schon etwas ausgesucht.“

Zu ihrer Überraschung hielt Spencer sie am Arm fest. „Wer hat Ihnen gesagt, Sie wären unscheinbar? William?“

„Wie? Nein, natürlich nicht!“

„Sie haben ein sehr zartes, im klassischen Sinn schönes Gesicht.“ Mit dem Zeigefinger strich er von ihren Brauen über die Nase zur Oberlippe und weiter hinunter zum Kinn.

Cassidy war wie verzaubert. Noch nie hatte ihr jemand gesagt, sie wäre schön. Beinahe hätte sie diesem Mann geglaubt, doch dann zog er den Finger zurück, und sie kam wieder zu sich. „Wollen wir?“, fragte sie und deutete zum angrenzenden Raum.

Sie reichte ihm bis zu den Augenbrauen. Also war er gerade mal etwas größer als ein Meter achtzig. Genau richtig für mich, schoss es ihr durch den Kopf. Was für ein unsinniger Gedanke!

Der Rollständer für Kostüme, die sie Kunden anbot, stand in der Mitte des dritten Raums. Cassidy deutete auf ein kleines Fass mit einem roten Kissen. „Setzen Sie sich, Mr. Spencer. Ich zeige Ihnen unsere beliebtesten Kostüme.“

„Paul“, verbesserte er und setzte sich.

Lächelnd griff sie nach dem ersten Bügel auf dem Ständer. „Das ist aus nahe liegenden Gründen das beliebteste Kostüm um diese Jahreszeit.“

„Dracula finde ich nicht sonderlich originell“, wehrte Paul ab.

Cassidy griff nach dem nächsten. „Der Pirat macht eine gute Figur. Außerdem gehören Ohrring, Säbel und wahlweise Holzbein oder Papagei dazu.“

„Lieber nicht“, meinte er lächelnd. „Ich bin nicht der Typ für einen Ohrring.“

„Na schön.“ Als Nächstes holte sie den Roten Baron hervor. „Der berühmte Pilot aus dem Ersten Weltkrieg. Im Fernsehen gibt es diese Reklame, in der Frauen fast in Ohnmacht fallen und …“

Paul schüttelte den Kopf. „In Ohnmacht fallende Frauen sind mir peinlich.“

Sie hängte auch den Roten Baron wieder zurück. „Wie wäre es mit General Patton? Wenn wir Ihr Haar silbern färben und Sie um die Mitte auspolstern, sehen Sie ganz wie George C. Scott aus.“

„Lieber nicht.“

„Dwight D. Eisenhower?“

„Ich glaube, das Militär ist nichts für mich.“

„Nicht einmal ein Südstaaten-Rebell aus dem Bürgerkrieg?“

Paul winkte ab. „Schon gar nicht. Wir wollen die ‚Barclay Bakeries‘ auf die Südstaaten ausdehnen. Und auch zukünftige Kunden werden an der Party teilnehmen.“

„Dann fällt also die Yankee-Uniform ebenfalls weg.“

„Ja, und ebenso der Indianer, tut mir leid.“

„Hmm.“ Sie betrachtete sein dunkles Haar. „Wir könnten es mit dem Kaiser von China versuchen. Augen-Make-up, ein Zopf …“

Er war wenig begeistert.

„Rudolph Valentino als Scheich?“

Paul überlegte und schüttelte den Kopf. „Nicht bei dieser Gelegenheit.“ Er sah sich um. „Auch kein Zigeuner“, fügte er mit einem Seitenblick auf ein entsprechendes Kostüm hinzu.

„Prinz Albert?“

„War der nicht kahl?“

„Castro. Nein, auch nicht gut.“ Cassidy war nicht ganz klar, wonach der Chef ihres Bruders suchte.

„Auch nicht Stalin, falls das Ihr nächster Vorschlag sein sollte.“

Sie warf ihm einen strafenden Blick zu und wurde mit einem Lächeln belohnt. „Stalin“, sagte sie leise. „Russland. Hmm. Ja! Erinnern Sie sich an Tony Curtis in diesem herrlichen alten Film über Kosaken? Ich glaube, Yul Brynner spielte seinen Vater, und bei einer Mutprobe sprangen sie mit Pferden über immer breitere Schluchten.“

„‚Taras Bulba‘!“ Paul stand auf. „Starb er nicht zuletzt?“

Sie zuckte die Schultern. „Jedenfalls hat er das Mädchen bekommen.“

„Ach ja. Ja, das könnte gehen.“ Die Idee schien ihm zu gefallen. „Gut, sehen wir uns das Kostüm an.“

Cassidy lächelte bedauernd. „Ich habe das Kostüm nicht auf Vorrat, aber ich kann eines anfertigen.“

„Das wäre dann ein Einzelstück nur für mich?“ Er war sichtlich erstaunt.

Cassidy nickte erleichtert. Allerdings musste sie erst Nachforschungen anstellen, wofür sie keine Zeit hatte, einen Schnitt anfertigen, zuschneiden und nähen – und Anproben machen. Doch das alles würde ihrem Bruder helfen. „Genau.“

„Großartig!“, meinte Paul begeistert. „Womit fangen wir an?“

„Mit Nachforschungen.“

„Sehr gut. In welcher Epoche forschen wir?“

„Sie brauchen gar nichts zu tun“, meinte sie erstaunt. „Das ist meine Aufgabe.“

„Und woher soll ich wissen, dass Sie alles richtig machen?“, fragte er.

„Da haben Sie nun wieder recht“, räumte Cassidy ein.

„Ich misstraue Ihnen nicht“, versicherte er lachend. „Ich weiß nur gern über alles Bescheid, und ich möchte nicht dumm dastehen, wenn mich jemand nach meinem Kostüm fragt.“

„In Ordnung“, räumte sie ein. „Vielleicht sollten Sie sich über den Film informieren. Danach werden Sie eher gefragt als nach der geschichtlichen Bedeutung des Kostüms.“

„Verstehe. Schade, dass die Leute sich stets mehr für den Film als für die Geschichte interessieren. Durch derart mangelndes Interesse stellen wir uns selbst ein Armutszeugnis aus.“

„So habe ich das noch gar nicht gesehen“, meinte Cassidy beeindruckt.

Er freute sich offenbar über ihre Bemerkung. „Also, ich fange mit den Nachforschungen an. Was kommt danach?“

„Wir müssen Termine für Anproben vereinbaren.“

„Kommt denn davor nicht noch etwas? Ich meine, ich kann mir doch die Entwürfe ansehen, oder nicht? Oder ist das zu …“

„Nein, das passt mir gut. So sparen wir wahrscheinlich sogar Zeit.“

„Prima“, sagte Paul lächelnd. „Wann bekomme ich die Entwürfe zu sehen?“

Du lieber Himmel! Sie hatte so viel zu tun, musste liefern, Sachen aus der Reinigung holen, Kostüme flicken und ändern. „Ende dieser Woche?“

„Wie wäre es mit Donnerstag?“, schlug er vor. „Der Freitag ist für mich schon weitgehend verplant.“

Verplant war auch ihre ganze Woche. „Donnerstag“, stimmte sie trotzdem zu. „Nach fünf Uhr?“

„Ich möchte Sie nicht so spät noch aufhalten. Wann essen Sie zu Mittag? Vor oder nach dem guten Tony?“

„Nach ihm.“

„Wie wäre es dann um eins?“

Sie hielt das nicht für eine gute Idee, konnte aber nicht recht ablehnen. Also nickte sie.

„Großartig. Möchten Sie ausgehen, oder soll ich etwas mitbringen?“

Er wollte sie zum Essen einladen? „Sie brauchen nicht …“

„Unsinn. Ich muss ohnedies etwas essen, und Ihnen kann eine anständige Mahlzeit auch nicht schaden. Sie sind sicher nicht zu mager. Ähh, das meinte ich nicht …“ Er ließ den Blick anerkennend über ihren schlanken Körper gleiten. „Gewichtsprobleme haben Sie nicht“, fügte er hinzu. „Vermutlich gehören Sie zu den von Natur aus schlanken Frauen, die von allen anderen Frauen dafür gehasst werden.“

Cassidy fasste es nicht. Wenn sie nicht völlig den Verstand verloren hatte, flirtete er mit ihr. Mit ihr, Cassidy Jane Penno! Sie brachte kein Wort hervor.

Er lachte nur und sah auf seine Armbanduhr. „Ich muss weg. Donnerstag, ein Uhr. Ich kümmere mich um das Mittagessen. Einverstanden?“

„Ich … ja … sicher.“

„Schön.“ Er lächelte sie erneut an und verließ dann den Laden.

Cassidy stützte sich auf den Ständer. „Was können Sie sich doch geschliffen unterhalten, Miss Penno“, sagte sie spöttisch in die Leere. „Kein Wunder, dass Ihr Bruder Ihnen nicht von zwölf bis Mittag vertraut. Du lieber Himmel!“ Sie schlug sich gegen die Stirn. Zuerst Schmiere im Gesicht, und dann dieses Gestammel! Und bis Donnerstag musste sie die Entwürfe fertig haben. Und dann auch noch mit Paul Spencer zu Mittag essen!

Das durfte alles gar nicht wahr sein.

Paul tippte den Code für die Fahrertür des schnittigen schwarzen Jaguars ein und setzte sich ans Steuer. Was war ihm bloß eingefallen, sich mit Cassidy Penno zu verabreden? Sie war eine reizende junge Frau, auch wenn ihr das nicht bewusst war, und er hatte sich mit ihr so amüsiert wie schon lange nicht. Ihre Kreativität wirkte erfrischend. Trotzdem er war praktisch mit Betina verlobt. Allerdings nur „praktisch“ und nicht richtig. Zum Teufel mit ihr!

„Aber, aber“, tadelte er sich und fuhr los. Denkt man so über seine zukünftige Frau?

Er war entschlossen, seine Cousine zu heiraten. Bestimmt hatte sein Großvater damit gerechnet. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, hatte sein schlauer Großvater doch dreißig Prozent der „Barclay Bakeries“ Betina hinterlassen, genauso viel wie ihm.

Er besaß zu diesen dreißig noch zehn Prozent. Die restlichen dreißig Prozent waren auf andere Familienmitglieder verteilt. Sein Onkel Carl und dessen Frau Jewel, Betinas Mutter, hatten zehn Prozent, ebenso sein Onkel John, der nie geheiratet hatte. Zehn Prozent waren an Mary, die Frau seines verstorbenen Onkels, und ihre Tochter Joyce, die jetzt Joyce Spencer Thomas war, gefallen.

Seit der Firmengründung durch Pauls Urgroßvater hatte kein Außenstehender je Firmenanteile besessen. Pauls Urgroßvater und Großvater hatten jeweils beträchtliche Anteile besessen. Die anderen Familienmitglieder dagegen hatten sich nie an der Firmenleitung beteiligt, sondern nur die Gewinne eingestrichen.

Paul stellte eine Ausnahme dar. Er interessierte sich für das Geschäft. Als sein Großvater sich zur Ruhe setzte und er selbst Firmenchef wurde, hatte er dummerweise angenommen, eines Tages die sechzig Prozent seines Großvaters zu den zehn Prozent zu bekommen, die er von seinen Eltern geerbt hatte. Die Familientradition verlangte das. Seine Angehörigen erwarteten es, weil sie ihm zutrauten, die Firma so gut wie seine Vorgänger zu führen. Doch dann hatte ihm sein Großvater einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Paul gab sich selbst einen Teil der Schuld. Er hatte schon länger gewusst, dass sein Großvater sich Sorgen machte, weil sein Enkel nicht verheiratet war. Im Alter von achtunddreißig Jahren waren die meisten Männer verheiratet. Es fehlte ihm jedoch nicht an Interesse, sondern er hatte bisher einfach nicht die Richtige gefunden.

Vielleicht gab es seine Traumfrau ja auch gar nicht, wobei er nicht genau sagen konnte, wie sie sein musste. Bisher hatte keine Frau, mit der er zusammen war, in ihm den Wunsch geweckt, sich für das ganze Leben an sie zu binden – nicht einmal Betina.

Er hätte sich nicht von ihr verführen lassen dürfen. Aber welcher Mann konnte schon widerstehen, wenn eine schöne Frau unangemeldet in sein Büro kam und außer einem rosa Regenmantel nur Strümpfe und Schuhe mit hohen Absätzen trug? Nein, ihn traf keine Schuld, dass er der Versuchung erlegen war, selbst wenn das Objekt seiner Begierde von den besten Schönheitschirurgen noch ein wenig verbessert worden war. Der eigentliche Fehler hatte darin bestanden, anzunehmen, es bliebe beim Vergnügen, und die Familie würde keine großen Erwartungen hegen.

Er konnte nicht beweisen, dass Betina den anderen ihr gemeinsames Geheimnis verraten hatte. Zuzutrauen war es ihr allerdings. Als ihm seine Angehörigen nicht glaubten, dass er mit Betina nur eine vorübergehende Beziehung hatte, beendete er das Spiel.

Unter vier Augen hatte Betina sich sehr verständnisvoll gezeigt. Vor anderen gab sie sich jedoch stets zutiefst traurig, wenn er in ihre Nähe kam oder auch nur erwähnt wurde. Paul musste sich entscheiden, ob er enthüllte, wie es zu der Affäre gekommen war, oder ob er abwartete, bis die Sache einschlief.

Natürlich war ihm klar, dass Betina und er nach außen hin scheinbar gut zusammenpassten. Betina war zwölf gewesen, als ihre Mutter Onkel Carl heiratete. Sechzehn Jahre später gehörte sie zur Familie, auch wenn sie nicht blutsverwandt war. Carl und Jewel hatten dann keine eigenen Kinder mehr gehabt.

Oberflächlich betrachtet war Betina die ideale Ehefrau für ihn – reizend, tüchtig, anmutig, elegant, warmherzig. Aber eben nur oberflächlich. Darunter verbarg sich nach Pauls Meinung eine kühl kalkulierende, ehrgeizige Person. Leider konnte er darüber mit niemandem sprechen, Joyce vielleicht ausgenommen. Doch was hätte das genützt? Joyce war glücklich mit dem Manager der Bäckerei verheiratet und hatte nur im Sinn, endlich ein Kind zu bekommen.

Hätte er doch wenigstens seinem Großvater über Betina reinen Wein eingeschenkt! Er hatte jedoch den Gentleman gespielt, und jetzt musste er dafür bezahlen. Seine Verwandten verließen sich auf ihn, und Betina zeigte ein alarmierendes Interesse daran, sich in die Geschäfte einzumischen. Schlimmer noch – sie hatte gedroht, die Familie in den Streit hineinzuziehen, sollte er sie abweisen.

Als er zum Firmenleiter aufstieg, hatte er versprochen, die Firma vor unerwünschten Einmischungen zu bewahren. Betina wusste das. Monatelang hatte er nach einem Ausweg gesucht und sich endlich in sein Schicksal ergeben. Und er musste sich beeilen, damit Betina ihr neues Marketing-Konzept nicht in die Tat umsetzen konnte.

Ausgerechnet jetzt, da „Barclay Bakeries“ in sämtlichen Bundesstaaten auf den Markt gehen wollte, hatte Betina ihn zu dem lächerlichsten Marketing-Feldzug gedrängt, der jemals erdacht worden war. Auf jeder Scheibe Barclay-Brot sollte das Barclay-Firmenzeichen prangen, das Bild der erfundenen „Mrs. Barclay“. Trotz der enormen Kosten hatte er zugestimmt, bremste aber bei der Ausführung, wo er nur konnte. Außerdem hatte er die Familie aus dem Zwist herausgehalten. Und er hatte Betina widerwillig einen Heiratsantrag gemacht.

Nun wollte Betina sich rächen und ihn vor der ganzen Familie dumm dastehen lassen. Genau darum ging es bei dem albernen Kostümfest. Betina behauptete, sie wollte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Firma lenken. In Wahrheit wollte sie ihn in die Knie zwingen. Doch auch er hatte einige Tricks auf Lager, und da kam Cassidy Penno ins Spiel.

Das erklärte allerdings nicht, wieso er sich mit ihr verabredet hatte. Es war ein schlechter Zeitpunkt, sich für eine andere Frau zu interessieren. Dabei konnte nichts Vernünftiges herauskommen. Aber warum sollte er sich nicht etwas Vergnügen gönnen? Wichtig war nur, dass Cassidy wusste, wie die Dinge standen. Sie waren Geschäftspartner, die sich miteinander anfreunden konnten, solange es nicht zu persönlich wurde. Er brauchte dringend Freunde, und Cassidy auch, wenn er sich nicht täuschte. Doch galt das nicht für jeden?

2. KAPITEL

Cassidy sah mit gemischten Gefühlen zu, als die Mitarbeiter des Partyservices in ihren Laden einfielen und auf einem Klapptisch ein schneeweißes Damasttischtuch ausbreiteten. Cassidy war nervös und begeistert und machte sich Sorgen. Paul Spencer hatte von einem Mittagessen gesprochen, doch das Ganze sah mehr nach einem Fest aus. Obstsalat, köstlich duftendes Boeuf Bourguignonne, knuspriges Baguettes, Brie, Wein und ein Schokoladenkuchen mit Schlagsahne. Ein livrierter Kellner stand bereit und lächelte ihr diskret zu. Cassidy lächelte verunsichert zurück.

Was war Paul Spencer bloß eingefallen? Sie war die Schwester eines seiner Angestellten und lieferte ihm ein Kostüm, weiter nichts. Trotzdem trieb er einen Aufwand, als wäre er an ihr persönlich interessiert. Ob William Bescheid wusste? Und wenn nicht, sollte sie ihn informieren? Bevor sie zu einer Entscheidung gelangt war, traf jedoch Paul Spencer ein.

„Ja, Gladys, ich verstehe“, sagte er in sein Handy. „Trotzdem schalte ich das Telefon jetzt ab und bin erst wieder erreichbar um …“ Er sah auf die Armbanduhr. „Um fünf nach zwei.“ Danach drückte er eine Taste, klappte das Handy zusammen und schob es in die Tasche des Jacketts. Dann lächelte er strahlend, als er Cassidy unter einem künstlichen Baum mit zahlreichen Lichtern entdeckte. Der Baum stand neben einem Zigeunerwagen und einem Lagerfeuer aus beleuchteten künstlichen Holzscheiten.

Es war Cassidy unangenehm, wie sehr sie sich über das Wiedersehen freute. Ich deute zu viel in diese Sache hinein, sagte sie sich. Paul Spencer war ein Geschäftsmann, der lediglich dafür sorgte, dass seine Wünsche optimal erfüllt wurden. Immerhin hatte sie im Moment besonders viel zu tun, und sie erwies ihm Williams wegen einen Gefallen. Vermutlich bewirtete er alle Geschäftspartner so großzügig, und sie war die Einzige, die sich wünschte, die Ausnahme zu sein.

„Sie hätten sich nicht so viel Mühe machen sollen“, sagte sie zur Begrüßung.

„Es war überhaupt keine Mühe“, wehrte er unbekümmert ab und betrachtete zufrieden den Tisch. „Sieht sehr verlockend aus, und das hat nicht nur damit zu tun, dass ich hungrig bin.“

Sofort rückte der Kellner für Cassidy einen Stuhl zurecht. Sie stieg verlegen über das Lagerfeuer, wobei es ihr gelang, bloß über ein Holzscheit zu stolpern. Beim Setzen stieß sie nur leicht gegen den Tisch, sodass eine einzige Salatgabel zu Boden fiel, die der Kellner sofort wieder aufhob. Mit tief geröteten Wangen wartete Cassidy, bis der dienstbare Geist sich auch um Paul Spencer gekümmert hatte, der sich natürlich ohne das geringste Missgeschick setzte.

„Eigentlich“, meinte Paul lächelnd, „habe ich damit gerechnet, Sie als Avocado oder zumindest so ähnlich verkleidet vorzufinden.“

„Oh nein“, wehrte sie ab und wurde noch verlegener. „Ich würde doch zum Essen kein Kostüm tragen.“

„Nicht einmal zu einem Kostüm-Essen?“

Bei seinem Scherz entspannte sie sich ein wenig. „Von einem Kostüm-Essen habe ich noch nie gehört.“

„Nun, dann müssen wir das einführen und in Mode bringen. Das könnte außerdem das Geschäft ankurbeln“, meinte er. „So ist es schon besser“, fügte er hinzu, als sie lachte.

Während der Kellner geschickt servierte, fühlte Cassidy sich befangen. Mochte sie sich auch immer wieder das Gegenteil einreden, sie fühlte sich trotzdem umworben. Aber das machte überhaupt keinen Sinn. Sie hatte das Kostüm bereits zugesagt. Außerdem war Paul Spencer so gut wie verlobt, ja beinahe verheiratet. Selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, hätte sie nicht gewusst, weshalb er sich für sie interessieren sollte. Sie war eine Kostümschneiderin, William Pennos jüngere, recht schlicht aussehende Schwester.

„Möchten Sie jetzt die Entwürfe sehen?“, erkundigte sie sich unsicher.

Paul winkte ab. „Ich bin zu hungrig, um etwas anderes zu machen als zu essen – und Sie anzusehen.“

„Oh.“ Nur mit Mühe hielt sie sich davon ab, sich über das Haar zu streichen, das einfach glatt herunterhing. Stattdessen griff sie nach der Gabel und wandte ihre Aufmerksamkeit dem farbenfrohen Obstsalat zu.

„Hatten Sie Probleme?“, fragte Paul. „Mit dem Entwurf, meine ich.“

Sie legte die Gabel weg und tastete nach der Serviette. „Nein, eigentlich nicht. Es fällt mir ausgesprochen leicht, Sie mir in dem Kostüm vorzustellen.“

„Und das ist ein gutes Zeichen?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Allerdings“, bestätigte sie. „Wissen Sie, meistens male ich mir jemanden in meinen Kostümen aus. Wenn dann der Kunde das Kostüm anzieht, wirkt es oft leider nicht mehr so gut. Zumindest in meinen Augen.“

„Und Sie meinen, das wäre bei mir anders?“

„Ich denke schon.“ Sie hatte Paul in den verschiedensten Kostümen vor sich gesehen, und die Vorstellung war stets großartig gewesen.

„Dann wird es wohl so sein“, meinte er.

Es freute sie, dass er ihrem Urteil vertraute. Dabei hätte das nicht sie, sondern William freuen sollen. Die Vorstellung, sie könnte tatsächlich etwas machen, über das ihr Bruder sich freute, brachte sie zum Lachen.

Paul legte die Gabel aus der Hand und lächelte. „Wie schaffen Sie es, meine Laune dermaßen zu heben?“

„Ich?“, fragte sie mit flirtendem Unterton in der Stimme, und er betrachtete sie eine Weile, ehe er wieder zu seiner Gabel griff.

Es war das schönste Essen ihres Lebens. Und das sagte sie ihm auch, als sie fertig waren.

„Ich wollte etwas Besonderes machen“, gestand er und sah ihr tief in die Augen.

Cassidy hatte den Eindruck, Paul hätte sie geküsst, wäre nicht in diesem Moment Tony, als Charlie Chaplin verkleidet, hereingekommen. Vielleicht bildete sie sich aber auch nur etwas ein.

„Anruf für Mr. Spencer“, verkündete er.

Paul wandte sich verärgert und resignierend an Tony. „Sie wissen vermutlich nicht, wer mich sprechen will?“

„Ich habe nicht gefragt. Es ist eine Frau.“

„Tut mir leid“, entschuldigte Paul sich bei Cassidy und stand auf. „Es ist besser, ich nehme den Anruf entgegen.“

„Ich bin in der Werkstatt“, erwiderte sie. „Tony zeigt Ihnen hinterher, wo sie ist.“

Tony wackelte mit dem angeklebten Schnurrbart und setzte die Melone auf. Dann drehte er sich um und watschelte, die Füße nach außen gedreht, davon. Paul folgte ihm sichtlich verärgert, und Cassidy ging seufzend in die Werkstatt, wo sie die verschiedenen Entwürfe an die Schautafel heftete.

Paul kam kurz darauf ebenfalls in den Arbeitsraum. Er verlor kein Wort über den Anruf, sah sich eingehend um, betrachtete die Zeichnungen und wandte sich schließlich an Cassidy.

„Bevorzugen Sie einen Entwurf?“

Die Frage überraschte sie. „Ja, diesen.“ Sie zeigte auf die mittlere Zeichnung.

Er trat näher an die Schautafel heran, sah sich den Entwurf genauer an und nickte. „Wann können wir anfangen?“

„Anfangen?“

„Ja. Vermutlich sind doch wohl Anproben nötig, oder?“

„Natürlich, aber …“ Sie wollte sagen, dass eine oder zwei Anproben genügten, doch er winkte ab.

„Wie wäre es mit Samstag, oder möchten Sie am Wochenende lieber nicht arbeiten? Das würde ich natürlich verstehen. Der Samstag wäre allerdings für mich sehr günstig.“

Für gewöhnlich arbeitete sie an Samstagen vormittags im Laden. „Samstagnachmittag?“, schlug sie trotzdem vor.

„Großartig.“ Er lächelte strahlend. „Möchten Sie wieder zu Mittag essen?“

„Oh nein!“, wehrte sie hastig ab und dachte an die Kosten, die er auf sich genommen hatte. „Ich meine, das ist wirklich nicht nötig.“ Weil er enttäuscht wirkte, fügte sie hinzu: „Wir könnten hier Kaffee trinken, wenn Sie möchten.“

„In Ordnung“, stimmte er lächelnd zu. „Ich kümmere mich darum.“

„Nein, nein, überlassen Sie das mir“, drängte sie. „Es geht doch nur um Kaffee.“

„Also schön“, lenkte er ein. „Passt Ihnen drei Uhr?“

„Sehr gut.“ Zu spät fiel ihr ein, dass sie ihrer Mutter versprochen hatte, sie zu besuchen.

„Dann um drei.“ Er zeigte auf die Zeichnung, auf die sie sich geeinigt hatten. „Gute Arbeit, danke. Ich weiß, dass es für Sie bei so viel anderer Arbeit eine Zumutung ist.“

„Ich mache das gern“, beteuerte Cassidy.

Paul kam näher. „Dann sollten Sie das Ihrem Charlie Chaplin sagen“, meinte er verschwörerisch. „Er ist eindeutig der Meinung, Sie hätten keine Zeit für Mittagessen und Extraarbeit.“

Dieser kleine Mistkerl! „Mein Charlie Chaplin soll sich um seinen eigenen Kram kümmern.“ Sie musste unbedingt noch einmal mit Tony wegen seines Benehmens sprechen, auch wenn es wenig Sinn hatte.

„Ich glaube, er fliegt auf Sie“, meinte Paul leise lachend.

Cassidy seufzte. „Er sollte rausfliegen.“

„Aber, aber“, mahnte Paul und legte ihr die Hand unter das Kinn. „Das Selbstbewusstsein eines so jungen Künstlers ist äußerst verletzlich.“

Cassidy lachte laut auf. Nur ein Mann wie Paul Spencer konnte das so treffend ausdrücken. Ja, Tony war wirklich ein Sensibelchen, vor allem im Vergleich zu diesem Mann. „Vielleicht sollte ich ihn dann übers Knie legen.“

„Wir wollen ihn doch nicht ermutigen“, antwortete Paul heiser, und erneut hatte Cassidy das Gefühl, er wollte sie küssen. Einen Moment lang bekam sie keine Luft. Doch dann zog Paul sich zurück. „Ich muss jetzt los.“

Sie lächelte, damit er nicht merkte, wie enttäuscht sie war. „Am Samstag müssen Sie klingeln. Ich schließe mittags.“

„Sie werden allein sein?“

Cassidy musste schlucken, ehe sie antworten konnte. „Ja, ganz allein.“ Zu ihrer Erleichterung klang ihre Stimme fast normal.

„Dann bis Samstag.“ Dieses Mal fiel sein Lächeln sehr vertraulich aus.

„Bis Samstag.“

Cassidy lächelte, sobald er fort war. Sie war nur eine Kostümschneiderin, aber er mochte sie. Dabei spielte es keine Rolle, dass sie William Pennos Schwester war. Und das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Diese Anziehung konnte jedoch zu nichts führen. Er war so gut wie verlobt.

Plötzlich fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, Maß zu nehmen. Das musste sie am Samstag nachholen, und das wiederum bedeutete, dass es länger als geplant dauern würde. Trotz des vollen Terminkalenders machte ihr das jedoch nichts aus.

Doch wann hatte sie schon jemals etwas Vernünftiges getan? Es war höchste Zeit, dass sie damit anfing. Und das wollte sie auch. Sobald Paul Spencer aus ihrem Leben wieder verschwunden war.

Das Regenwetter wäre ausreichend Grund gewesen, um alle Termine außer Haus abzusagen. Doch diese Verabredung war wichtig. Und das hatte nicht nur damit zu tun, dass Paul diese reizende Cassidy unbedingt wieder sehen wollte.

Sicher, sie war interessant und humorvoll, sanft und gelegentlich auch ein wenig schüchtern. Und hübsch. Ihre ungekünstelte Art faszinierte ihn.

Diese Angelegenheit aber war rein geschäftlich. Daran erinnerte er sich, als er die Hände aus den Manteltaschen zog, um an der Tür ihres Geschäfts zu klingeln. Vorher strich er sich jedoch durch das Haar, das ihm bei feuchtem Wetter immer wild vom Kopf abstand, und er wollte so gut wie möglich aussehen.

Paul musste lachen. Von wegen nur geschäftlich! Wieso fühlte er sich bei Cassidy Penno wie ein Jugendlicher, der sich zum ersten Mal verknallt hatte?

Endlich klingelte er. Nach einer Weile wurde das Rollo hochgezogen, und Cassidy lächelte ihm durch die Glasscheibe zu, ließ ihn eintreten und schloss rasch wieder ab.

„Hallo“, grüßte sie und nahm ihm den Mantel ab.

„Hi.“ Paul betrachtete Cassidy, während sie den Mantel aufhängte. Die Deckenbeleuchtung war nicht eingeschaltet. Nur durch die Schaufenster fiel Licht herein. Das dichte Haar hatte sie hinten hochgesteckt. Einzelne Strähnen umrahmten ihr Gesicht. Zu einem hellgelben Sweater trug sie schwarze, hautenge Jeans und braune Stiefeletten. Pauls Blick fiel auf ihre Lippen. Sie hatte zartrosa Lippenstift aufgetragen.

Sein Herz schlug schneller. Wem wollte er etwas vormachen? Diese Frau zog ihn geradezu magisch an.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Cassidy sofort besorgt.

„Nein“, wehrte er ab und lächelte grimmig. Als er sich an den Kaffee erinnerte, den sie ihm versprochen hatte, besserte sich seine Stimmung etwas. „Ich könnte jetzt etwas Heißes gebrauchen.“

Sie verbeugte sich tief vor ihm und machte eine weit ausholende Handbewegung. „Wenn Sie mir bitte folgen wollen, Sir!“

Lachend betrat er hinter ihr die Werkstatt. In einer Ecke hatte sie einen Tisch gedeckt. Kein Stück passte zum anderen, alles wirkte alt, und doch ergab es einen hübschen Effekt. Auf einer Kristallschale lagen verlockend aussehende Kuchenstücke. Offenbar hatte Cassidy sich seinetwegen viel Mühe gegeben.

„Sehr schön“, sagte er und strich über den Rand einer Tasse.

„Danke. Ich habe Amaretto in den Kaffee getan. Hoffentlich macht Ihnen das nichts.“

„Absolut nicht“, versicherte er, obwohl das normalerweise nicht stimmte. Bei dieser Frau störte ihn jedoch gar nichts. Er deutete auf die Kaffeekanne. „Darf ich?“

„Natürlich, bedienen Sie sich.“

Er füllte beide Tassen und sah Cassidy fragend an. „Nehmen Sie etwas dazu?“

„Nur ganz wenig Milch.“

Paul fügte einige Tropfen Milch in den Kaffee, ehe er Cassidy die Tasse reichte. Dann legte er ein Stück Schokoladenkuchen auf einen Teller und sah sich nach einem Stuhl um. Neben dem Zeichenbrett stand einer. Cassidy hatte sich auf einen Hocker an der Nähmaschine gesetzt.

„Danke“, sagte sie überrascht und lächelte, als er ihr den Teller mit dem Kuchen gab.

„Bitte sehr.“ Er selbst nahm sich einen Krapfen mit klebrigem Zuckerguss und setzte sich. Der Kaffee schmeckte überraschend gut. Der Amaretto fügte ihm lediglich ein dezentes Mandelaroma hinzu. „Sehr gut“, stellte Paul fest und biss in den Krapfen.

Erst jetzt merkte er, wie hungrig er war. Als Nächstes griff er nach einem Erdbeertörtchen und lachte, als beim ersten Bissen die Füllung herausfloss. Cassidy wollte ihm helfen und reichte ihm eine der alten Servietten mit Spitzenrand, doch er schüttelte den Kopf und leckte sich die Finger.

„Sie werden sich bekleckern“, mahnte Cassidy.

„Ich bin schon ein großer Junge“, entgegnete er vergnügt. „Ich darf mit Erdbeermarmelade spielen, wenn ich will. Das ist ein Vorzug, wenn man erwachsen ist.“

Auch Cassidy lachte. „Sie mögen erwachsen sein, aber jetzt sehen Sie wie ein kleiner Junge aus, der beim Naschen ertappt wurde.“

Er konnte nicht widerstehen, legte das halbe Törtchen auf seinen Teller und verstrich Erdbeermarmelade auf Cassidys Nase, Kinn und Wangen. Sie brauchte einen Moment, bis sie sich von der Überraschung erholte, zurückwich und sich vor Lachen bog. Paul folgte ihr und hielt sie mit einem Arm fest, während sie kreischte und versuchte, sich mit der Serviette zu schützen.

„So, Miss Penno, spielen kleine Jungen mit Marmelade“, scherzte er.

Lachend wand sie sich, und ihre Berührungen wurden immer enger. Schlagartig schwand alles Spielerische und wich einem Verlangen, das nichts mehr mit Kinderspielen zu tun hatte. Paul betrachtete Cassidys Gesicht, als sie still hielt, und er staunte, wie sehr sie beide offensichtlich auf gleicher Wellenlänge lagen.

Ganz bewusst dachte er jetzt nicht daran, dass er kein Recht auf die Zuneigung dieser jungen Frau hatte. Langsam strich er mit dem klebrigen Finger über ihre Lippen, ehe er sich den süßesten Kuss holte, den er jemals genossen hatte. Sie schlang die Arme um ihn, während er ihren Mund erkundete.

Als sie sich zurückzog und das Gesicht mit der Serviette säuberte, verriet ihr trüber Blick, dass sie wusste, wie unvernünftig er sich soeben verhalten hatte.

„Tut mir leid“, sagte er leise.

„Es ist schon gut“, erwiderte sie und reichte ihm wieder eine Serviette.

Diesmal griff er danach. „Nein, das ist es nicht.“

Cassidy seufzte. „Wie Sie meinen.“

Er hatte den Appetit verloren. „Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Normalerweise habe ich mehr Kontrolle … und ein besseres Benehmen.“

„Vielleicht fühlen Sie sich gefangen“, bemerkte sie und schwankte zwischen Enttäuschung und Mitgefühl.

„Sie wissen Bescheid, nicht wahr? Vermutlich hat William Ihnen alles erzählt.“

„Er hat nur erzählt, Ihr Großvater hätte sein Testament so abgefasst, dass Sie eine bestimmte Frau heiraten müssen.“

„Betina“, bestätigte er mit bitterer Stimme.

„Die Betina des Kostümfestes zu Halloween?“

Trotz allem musste er über diese sagenhafte Frau lächeln. Das Zusammentreffen mit ihr brachte Licht in seine düstere Zukunft und war wie eine Oase in der Wüste, in der er sich allerdings nur kurz aufhalten durfte.

Natürlich hatte sie recht, dass er sich gefangen fühlte. Deshalb reagierte er auch so stark auf sie, und das war nicht richtig – nicht für Cassidy, nicht für ihn selbst und auch nicht für die Ehe, die er mit Betina eingehen musste.

Trotzdem wollte er die Zeit mit Cassidy genießen. Dazu hatte er schließlich das Recht, sofern er nicht wieder die Grenzen überschritt.

Sie stellte die Tasse zur Seite. „Fangen wir mit der Arbeit an“, sagte sie mit entschiedenem Ton und hängte sich ein blaues Maßband um den Hals. Sie befestigte ein Blatt mit den Umrissen eines menschlichen Körpers und vorgezeichneten Linien für die einzelnen Maße auf einem Klemmbrett, steckte sich einen Bleistift hinters Ohr und winkte Paul in die Mitte des Raums.

Er stellte sich vor sie hin und spreizte leicht die Beine.

Cassidy schlang das Band um seine Taille, ließ es sofort wieder los und schrieb etwas auf das Papier. Genauso maß sie seinen Hüftumfang, Arme, Beine und Schultern.

„Sie machen das sehr geschickt“, stellte er fest.

„Gehört zum Beruf“, erwiderte sie und hielt den Stift mit den Zähnen fest. „Frecken Fie gie Arme auf.“

„Bitte?“, fragte er lachend.

Sie nahm den Stift aus dem Mund. „Strecken Sie die Arme aus.“

Er gehorchte, und sie schlang das Maßband um seinen Oberkörper, zog es vorne zusammen und kam näher. Bevor sie das Band loslassen und wieder zurückweichen konnte, legte er die Arme um sie. Einen Moment lang erstarrte Cassidy. Dann ließ sie sich einfach zu Boden sinken.

„Fast fertig“, erklärte sie, als hätte er nicht gerade versucht, sie festzuhalten.

Er biss die Zähne zusammen. Offenbar war Cassidy klüger als er, und er konnte sich selbst nicht vertrauen, wenn es um diese hinreißende Frau ging. Er wartete darauf, dass sie weitermachte, doch als sie sich nicht bewegte, blickte er nach unten. Sie hatte den Kopf gesenkt, raffte sich auf und hob das Maßband langsam zu seinem Schritt. Schlagartig begriff er, dass sie das Innenmaß noch nicht genommen hatte. Auf der Stelle war er erregt.

Paul hielt ihre Hände fest, ging vor ihr in die Knie und nahm sie in die Arme. Befangen lehnte sie sich an ihn und legte den Kopf an seine Schulter.

Lange hielt er sie bloß fest. Das Begehren nahm allmählich wieder ab. Stattdessen fühlte er sich gleichzeitig glücklich und ein wenig traurig. Seufzend küsste er ihr Haar. „Ich habe kein Recht, mich so zu verhalten. Und ich kann auch nichts ändern. Es geht um die Firma, und meine ganze Familie zählt auf mich.“

„Ich weiß“, flüsterte sie.

Er strich über ihren Rücken. Ihre Brüste drückten sich an seinen Oberkörper, und als er die Augen schloss, sah er vor sich, wie sie neben ihm lag. In seiner Fantasie fühlte er ihre Hüften, den flachen Bauch, die langen Beine, die sie mit den seinen verschlang. „Ich wünschte, ich hätte Sie schon viel früher kennengelernt“, sagte er leise.

„Sie meinen vor der Affäre.“

Er lockerte die Umarmung. „William hat offensichtlich nichts ausgelassen. Ich muss wohl mal ein ernstes Wort mit ihm wechseln.“

„Oh nein, nicht!“, rief sie aus und löste sich von ihm. „Das würde er nie verstehen! Bitte, Paul, Sie dürfen nicht …“

„Hey, das war doch ein Scherz. Ich bin sogar froh, dass er Ihnen alles erzählt hat. Ich hätte es wahrscheinlich nicht gekonnt. Dafür wäre die Verlockung zu groß gewesen.“

In ihre sanften grünen Augen trat ein freudiges Leuchten, bevor sie wieder nach dem Maßband griff. „Das glauben Sie jetzt. Vermutlich hätten Sie mich nicht einmal zur Kenntnis genommen, würde Ihnen nicht diese ganze Sache bevorstehen.“

„Das stimmt nicht.“

„Doch“, behauptete sie. „Aber das ist schon in Ordnung. Ich gehöre nicht zu den Frauen, die von Männern beachtet werden.“

Er streichelte ihren Hals. „Und was ist mit Charlie Chaplin?“

„Tony interessiert sich nicht für mich“, wehrte sie ab. „Er glaubt nur, als Jungfrau müsste ich so frustriert sein, dass ich ihm irgendwann nachgebe.“

Eine Jungfrau. Du lieber Himmel! Wann hatte er zuletzt eine getroffen? Was war er doch dumm gewesen, Zeit mit erfahrenen Frauen zu verbringen, wenn hier so viel zauberhafte Unschuld wartete! Er hatte sich an Spielchen beteiligt, obwohl er Ehrlichkeit hätte finden können. Und er verdiente, was er bekam. Er verdiente die fintenreiche, raffinierte Betina. Und Cassidy Penno verdiente jemanden, der frei war, sie zu lieben und zu schätzen.

„Versprechen Sie mir, dass Sie sich nicht an diesen kleinen Komödianten wegwerfen.“

„An Tony Abatto?“, fragte sie lachend. „Lieber würde ich ins Kloster gehen!“

„Das sollten Sie allerdings auch nicht tun“, meinte er lächelnd.

„Kann ich gar nicht“, erwiderte sie. „Ich bin nicht katholisch.“

Sie sahen sich an, und wie auf Kommando bogen sie sich vor lachen, bis ihnen alles wehtat. Endlich stand Paul auf, hielt Cassidy jedoch zurück, als sie ebenfalls hochkommen wollte. „Bleiben Sie, und geben Sie mir das Maßband.“ Sie überließ ihm das eine Ende, und er hielt es an seinen Schritt.

Cassidy las die Zahl ab, griff nach dem Klemmbrett und machte eine Notiz. „Sie haben sehr lange Beine“, bemerkte sie dabei.

„Sie auch.“ Er stellte sich vor, wie sie die Beine um ihn schlang, und räusperte sich. „Gut, was kommt jetzt?“

Sie nahm ihm das Maßband ab und stand auf. „Der Stoff. Wir müssen den Stoff aussuchen.“

„In Ordnung“, erwiderte er und ertappte sich erneut bei verbotenen Fantasien. „Aber nicht heute“, fügte er hinzu. „Ich muss hier weg. Ich meine, ich habe noch zu tun. Wie wäre es mit Montag?“

Cassidy nickte. „Sie müssen sich auch gar nicht so viel damit beschäftigen. Ich kann den Stoff selbst aussuchen und das Kostüm nähen. Dann genügt eine einzige Anprobe, wenn Sie wollen.“

Er wollte nicht. Stattdessen wollte er so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen. Andererseits war sie vielleicht zu klug, um das zuzulassen. Darum zuckte er die Schultern und lenkte widerstrebend ein. „Wie es Ihnen lieber ist.“

Sie wich seinem Blick aus. „Eigentlich ist es mir lieber, der Kunde sucht den Stoff aus“, gestand sie.

„Dann möchten Sie also, dass ich das mache?“, fragte er vorsichtig.

„Ja“, räumte sie ein.

Jetzt konnte er ein begeistertes Lächeln nicht mehr unterdrücken. „Am Montag?“

„Am Montag“, bestätigte sie und lächelte ebenfalls.

„Wann?“

„Ich schließe um sechs.“

„Um sechs.“ Er wünschte sich ein Abendessen mit ihr, doch das wäre dumm gewesen, ja sogar gefährlich. „Möchten Sie hinterher mit mir essen?“ Von wegen vernünftig sein! „Ich verspreche, mich anständig zu benehmen. Zumindest werde ich es versuchen.“

„Vielleicht wollen Sie mit mir nicht in der Öffentlichkeit gesehen …“

„Ich kenne ein ideales Lokal“, unterbrach er sie hastig. „Nicht besonders elegant, aber es gibt sehr gute Grillspezialitäten. Mögen Sie das?“

„Ja, ausgesprochen gern.“

„Gut, dann ist es also abgemacht. Montag um sechs. Zuerst der Stoff, dann das Essen. Ich freue mich darauf.“

„Ich auch.“ Einen Moment standen sie einfach nebeneinander, bis Cassidy sagte: „Ich bringe Sie zur Tür.“

Paul berührte sie nicht, während er ihr durch den dunklen Laden folgte. An der Tür nahm er den Mantel entgegen, zog ihn an und sagte sich, dass er Cassidy keinen Abschiedskuss geben durfte.

Sie schloss die Tür auf und öffnete sie. Es hatte zu regnen aufgehört, aber kühler Wind wirbelte Papiere und Laub durch die Straße.

Paul trat ins Freie und drehte sich noch einmal um. „Danke“, sagte er schlicht.

Cassidy schloss lächelnd die Tür.

Er schob die Hände in die Taschen, holte tief Luft und genoss diese Momente der Freiheit. Er wusste, was er zu tun hatte und was es ihn kosten würde, doch ihm blieben der Montag und vielleicht auch danach noch ein oder zwei Treffen. Es würde schwierig, vielleicht sogar gefährlich sein, und letztlich musste es ihm das Herz brechen. Trotzdem war er fest entschlossen, jede Sekunde zu genießen, die Cassidy ihm zugestand.

Sie verdiente mehr, das war ihm klar, doch in diesem Fall war er egoistisch. Cassidy musste sich damit zufrieden geben, was sie von ihm bekommen konnte – Lächeln, Lachen, ein kleiner Flirt und das Wissen, dass ein Mann sie haben wollte, auch wenn das nicht möglich war. Weiter durfte es nicht gehen. Vor mehr musste er Cassidy schützen. Eines Tages würde sie einen Mann kennenlernen, der dankbar die Schätze annahm, die sie zu verschenken hatte. Paul war schon jetzt eifersüchtig auf diesen Unbekannten.

Wer hätte gedacht, dass dieser verkrampfte, humorlose und steife William eine Schwester wie Cassidy hatte?

3. KAPITEL

Die Wahl der Stoffe dauerte nicht lange. Cassidy hatte schon mehrere Farbkombinationen vorbereitet und sie auf dem Tisch in der Werkstatt ausgebreitet. Daneben lagen bunte Zeichnungen, die das fertige Kostüm zeigten.

Paul sah sich alles an. „Was gefällt Ihnen am Besten?“, fragte er.

Sie deutete auf die Kombination von Erdfarben, Blau- und Rottönen.

„Oh ja, das ist es“, entschied Paul nach etwa fünf Sekunden. „Gehen wir essen. Ich habe Hunger.“

„Sie haben wohl immer Hunger, was?“, meinte sie lachend.

„In letzter Zeit ja.“ In der vergangenen Woche hatte sich sein Appetit tatsächlich gewaltig verbessert. „Wo ist Ihr Mantel?“

Cassidy öffnete eine kleine Tür in der Ecke und holte einen dunkelblauen Mantel mit militärischem Schnitt heraus. Paul nahm ihn ihr ab und half ihr hinein. Dabei las er den Namen, der in Rot auf dem Etikett stand.

„C. Marmat. Wer ist das?“

„Keine Ahnung. Vermutlich der Matrose, dem der Mantel gehörte, bevor er im Secondhandshop landete.“

Betina hätte nicht einmal Designer-Sachen aus zweiter Hand gekauft. Entschieden verdrängte er den Gedanken. An diesem Morgen hatte er nach einer unruhigen Nacht beschlossen, zwischen den beiden Frauen eine klare Trennlinie zu ziehen.

Betina war seine Zukunft, die er fürchtete. Cassidy war … eine Freundin.

Er wollte sie an der Hand aus der Werkstatt führen, doch sie riss sich lachend los, holte aus dem Schrank eine kleine Tasche mit einem langen Riemen, kam zu ihm zurück und ergriff seine Hand. Gemeinsam verließen sie den Laden.

Sein Wagen stand genau davor. Paul öffnete Cassidy die Tür, ehe er sich hinter das Steuer setzte. Der Abend war klar und frisch.

„Wie war Ihr Tag?“, erkundigte sich Cassidy.

Die für alte Paare typische Frage amüsierte ihn. „Wie war denn der Ihre?“

„Gut.“ Sie lächelte zufrieden. „Heute war ich Goldköpfchen, und Tony musste den kleinen Bären spielen. Er war ein sehr verdrossener kleiner Bär.“

„Und wie zieht sich ein kleiner Bär an?“, erkundigte Paul sich vergnügt.

„Nun, er hat natürlich ein Bärenfell, einen Schnuller an einem Halsband, eine Windel und ein Babyhäubchen.“

Paul lachte noch, als sie das Restaurant erreichten. Das Gebäude wirkte heruntergekommen. Auf einer Leuchtreklame stand „Hoot Man’s Barbecue & Music Club“. Aus einem Lautsprecher neben der Tür plärrte Jazzmusik, und Leute drängten sich davor. Paul parkte neben dem Gebäude, führte Cassidy zur Hinterseite und klopfte an den Lieferanteneingang.

Ein Schwarzer mit einer weißen Schürze öffnete. „Spence!“, rief er und schüttelte Paul kräftig die Hand. „Hey, Mann, warum hast du dich nicht angemeldet?“

„Ich habe es einfach auf gut Glück versucht“, erwiderte Paul fröhlich. „Wie ich sehe, ist das Lokal noch so beliebt wie früher.“

„Wir machen uns, Mann, wir machen uns.“ Er betrachtete Cassidy genauer. „Wer ist das?“

Paul legte ihr den Arm um die Schultern. „Das ist meine gute Freundin Cassidy Penno. Cass, das hier ist Hoot.“

„Gute Freundin?“, wiederholte Hoot. „Der Mantel gefällt mir.“

„Danke“, sagte Cassidy.

„Na, kommt herein!“ Hoot führte sie durch einen langen Korridor an der Küche mit ihrem hektischen Betrieb vorbei in ein kleines, staubiges Büro, wo er ihnen Platz und Drinks aus einem Kühlschrank anbot.

„Nein, danke, ich muss fahren“, lehnte Paul ab.

Cassidy schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich trinke nicht viel.“

Hoot setzte sich an den Schreibtisch. „Wie habt ihr euch kennengelernt?“

„Mein Bruder arbeitet für Paul“, erklärte Cassidy.

„Cassidy ist meine Kostümschneidern“, erzählte Paul gleichzeitig.

„Kostümschneiderin?“, fragte Hoot. „Für Betinas berüchtigtes Kostümfest?“

Paul seufzte. „Wofür sonst?“

Hoot lachte dröhnend. „Du armer Kerl!“

„Dein Name steht auch auf der Gästeliste“, erinnerte Paul ihn.

„Haben Sie schon ein Kostüm, Mr. Hoot?“, erkundigte sich Cassidy.

„Nur Hoot ohne Mister, und ich habe das denkbar beste Kostüm. Ich werde mir diese große weiße Schürze umbinden.“

„Die er nie schmutzig macht“, warf Paul ein.

„Und eine Kochmütze aufsetzen“, fügte Hoot hinzu.

„Sehr schlau“, stellte Paul fest.

„Und sehr billig“, bemerkte Cassidy. „Sie sollten sich noch einen großen Schutzhandschuh besorgen.“

„Hey, das ist eine gute Idee“, meinte Hoot.

„Hast du überhaupt eine Kochmütze?“, fragte Paul.

„Nein“, räumte Hoot ein, „aber ich werde schon eine auftreiben.“

„Ich überlasse Ihnen gern eine“, bot Cassidy an. „Für fünf Dollar.“

„Das ist billig.“

„Ich lege auch noch den Handschuh drauf. Abgemacht?“

„Sie ist süß“, sagte Hoot zu Paul. „Warum nimmst du nicht sie an Stelle von Betina, dem Lud …“

„Darüber wollen wir lieber nicht reden“, unterbrach Paul seinen Freund hastig.

Hoot verschränkte die Hände über dem rundlichen Bauch und sah Cassidy an. „Das liegt an seiner Familie. Blutegel, wenn Sie mich fragen.“

„Hoot!“

Doch Hoot winkte nur ab. „Vor langer Zeit gab es innerhalb der Familie Streit über die Geschäftsführung. Danach haben sie sich einen Bock gesucht.“

„Einen Bock?“

„Er meint Sündenbock“, erklärte Paul. „Und er liegt völlig schief.“

„Der Bock ist immer der Dumme“, fuhr Hoot fort. „Er führt das Geschäft, und die anderen genießen die Früchte. Er muss sich um alles kümmern, und die anderen kassieren die fetten Schecks ab.“

„Dadurch habe ich freie Hand in der Geschäftsführung“, wandte Paul ein.

„Siehst du das so? Ich finde, sie haben dir die Hände gebunden.“ Hoot wandte sich an Cassidy. „Sie lassen ihn auf einem Ast sitzen und tun so, als würden sie es nicht sehen, wenn jemand mit einer Säge daherkommt. Er kann nicht mit den Anteilen seiner Angehörigen abstimmen, und er kann sie auch nicht bitten, in seinem Sinne zu stimmen. Könnte er das nämlich, könnte er dieser Schlange sagen, wohin sie sich ihre Heiratspläne stecken …“

„Hoot!“

„Schon gut, schon gut.“ Er zeigte auf Cassidy. „Das ist eine Lady, die andere ist eine Hexe.“

Paul stand rasch auf und griff nach Cassidys Hand. „Das musste ich mir alles schon mal anhören, und ich habe Hunger. Stört es dich, wenn wir hier essen, oder willst du mir auch noch den restlichen Abend verderben?“

Hoot seufzte. „Ihr seid eingeladen.“

„Danke“, erwiderte Paul.

Hoot stand auf und lächelte Cassidy zu. „Geben Sie dem Bock hier die Kochmütze, und vergessen Sie nicht, ihm die fünf Dollar dafür abzunehmen.“

„Das mache ich“, versprach sie lachend. „Hat mich gefreut, Hoot.“

„Unsere mit Honig gegrillten Hühnerbrüste sind gerade süß genug für Sie.“ Als Paul Cassidy aus dem Büro zog, fügte Hoot hinzu: „Sagen Sie, dass der Bock Sauerkraut und gegrillte Wurst nehmen soll.“

Cassidy ließ sich von Paul wegziehen. „Er ist wirklich nett.“

„Ja, das ist er“, räumte Paul grollend ein.

Plötzlich blieb er stehen, drückte sie gegen die Wand, schmiegte sich an sie und hob ihren Kopf an. Sie wusste, was jetzt kam, und hielt ihn nicht zurück. Er küsste sie hingebungsvoll und dehnte den Kuss so lange aus, wie es nur möglich war. Als er sich zurückzog, hatte sie die Augen geschlossen und lächelte sanft und verträumt.

Paul drückte die Stirn gegen die ihre und flüsterte: „Warum hast du mir das erlaubt?“

Sie seufzte. „Ich konnte einfach nicht anders.“

Ich auch nicht, dachte er, doch das durfte sich nicht wiederholen. Zwischen ihnen musste es bei Freundschaft bleiben. Cassidy lächelte unverändert, als er zurückwich und sie zu einer schwarzen Tür am Ende des Korridors führte.

Ein großer, schwach beleuchteter Raum war vom Stimmengewirr zahlreicher Menschen erfüllt. In der Mitte saß ein Mann an einem Klavier und spielte völlig in sich versunken, als wäre er ganz allein.

Paul ging zwischen Tischen und Stühlen unterschiedlichsten Aussehens zu einer dunklen Stelle hinter einer Säule. „Das ist der Tisch für persönliche Gäste“, erklärte er und half Cassidy aus dem Mantel. „Hier sitzt man nur, wenn man ausdrücklich eingeladen wird. Auf diese Weise weiß das Personal, dass man nicht bezahlt.“

„Sehr schlau.“

„Finde ich auch.“

In einer Blechdose steckte eine Kerze, Streichhölzer lagen daneben. Paul zündete die Kerze an. „Wie findest du es?“

„Das Restaurant? Interessant. Bisher habe ich noch nie ein Lokal gesehen, das mit Absicht schäbig eingerichtet war.“

Paul lachte leise. „Hoot möchte, dass sich die Leute bei ihm wohlfühlen, und der einzige Anreiz hier soll das Essen sein.“

Sie nickte. „Offenbar liegt er damit richtig.“

Eine sichtlich abgehetzte Kellnerin in Jeans und T-Shirt kam an den Tisch. „Hey, Paul.“

„Eileen. Viel los heute Abend.“

„Jeden Abend“, erwiderte sie. „Was haben Sie denn getan, dass der Boss Sie einlädt?“

„Ich habe mich von ihm beleidigen lassen und erlaubt, dass er seine Nase in meine Angelegenheiten steckt“, entgegnete Paul.

„Ja, das kann er“, versicherte die Kellnerin.

Paul griff nach Cassidys Hand. „Das ist Cassidy Penno, Eileen. Hoot sagte, sie soll die Hühnerbrust mit Honig nehmen.“

„Und was haben Sie gemacht, dass Sie die Spezialität kriegen?“, fragte Eileen erstaunt an Cassidy gewandt.

„Die Hühnerbrust mit Honig steht nicht auf der Speisekarte“, erklärte Paul. „Sie wird nur serviert, wenn Hoot es ausdrücklich anordnet.“

Cassidy nickte beeindruckt. „Ich verleihe an ihn eine Kochmütze.“

„Eine Kochmütze?“ Eileen war sichtlich verwirrt, zuckte die Schultern und notierte die Bestellung. „Noch etwas?“

„Du sollst das Sauerkraut nehmen“, sagte Cassidy zu Paul.

Er wandte sich an die Kellnerin. „Lieber auch das Huhn.“

„Also zwei Mal. Was zu trinken?“

„Eistee.“

„Ich auch.“

„Kommt sofort.“ Eileen sah Paul an. „Spielen Sie doch was. Der Typ langweilt mich zu Tode.“

„In Ordnung“, stimmte Paul zu.

Die Kellnerin eilte davon und blieb kurz neben dem Klavierspieler stehen. Der stand auf und ging einfach weg.

Paul zog Cassidy mit sich. „Komm. Es ist das Mindeste, wenn ich als Dank für das Essen spiele.“

Cassidy folgte ihm zum Klavier mitten im Raum. Er drückte sie auf die Ecke der Klavierbank, setzte sich neben sie und begann mit einer jazzigen Version von „Old Man River“. Cassidy war beeindruckt. Im Lokal wurde es still. Paul ließ „Dixie“ und „Amazing Grace“ folgen.

Eileen kam zu ihnen, stellte ihr Essen auf das Klavier und klopfte mit dem Fuß den Takt mit.

Paul stand auf und verbeugte sich, als alle klatschten. Dann half er Eileen, das Essen zum Tisch zu tragen. Seine Stimmung hatte sich deutlich gehoben. Im Moment war seine Welt in Ordnung, und mehr konnte er nicht erwarten.

Im Wagen lehnte Cass sich zufrieden zurück und seufzte. Sie war total satt. Das Essen war großartig gewesen. Ein wunderbarer Mann hatte sie geküsst. Danach hatte er herrlich gespielt und ihr die ganze Zeit über mit Blicken geschmeichelt. Diesen Abend würde sie nie vergessen.

Dabei war ihr klar, dass sie sich in den falschen Mann verliebte. Ob so etwas oft passierte? Wahrscheinlich nicht. Nie zuvor hatte sie jemanden kennengelernt und sich sofort unglaublich zu ihm hingezogen gefühlt. Sie passten zueinander wie zwei Teile eines Puzzles.

Natürlich war er mit einer anderen so gut wie verlobt. Doch das überraschte sie nicht. Sie konnte nicht den perfekten Mann treffen, sich in ihn verlieben und ihn auch noch bekommen. So war das nun einmal bei ihr. Paul tat ihr allerdings leid.

Er wandte kurz den Blick von der Straße. „Warum soll ich dich nicht nach Hause bringen? Ich schicke jemanden zum Laden, damit er deinen Wagen von dort holt.“

„Das ist nicht nötig“, wehrte sie ab. „Ich komme sehr gut zurecht. Schließlich fahre ich schon lange allein nach Hause.“

„Trotzdem gefällt es mir nicht. Ich möchte wenigstens hinter dir herfahren, um mich davon zu überzeugen, dass du gut nach Hause kommst.“

„In Ordnung, du kannst mir folgen“, entschied sie lächelnd.

„Gut.“

Kurz darauf fuhr sie mit ihrem alten Wagen zu dem kleinen Haus in Oak Cliff. Pauls Luxuswagen blieb ständig hinter ihr. Als sie in die Einfahrt bog, hielt Paul am Straßenrand und wartete, bis sie aufgeschlossen und das Licht im Wohnzimmer eingeschaltet hatte. Erst als sie ihm zuwinkte, fuhr er weiter.

Cassidy nahm die gelbe Katze hoch, die sich an ihren Beinen rieb. „Hallo, Sunshine. War Großmutter Anna hier und hat dich gefüttert? Hat sie dir auch Gesellschaft geleistet?“ Sunshine miaute und drückte den Kopf unter Cassidys.

Sie trug die Katze in die Küche, in der „Großmutter Anna“ einen Zettel an den Kühlschrank geklebt hatte. Cassidys Mutter fand, der Kühlschrank sowie das ganze Haus benötigten eine gründliche „Läuterung“. Anna unterrichtete Tai Chi und beschäftigte sich seit einiger Zeit mit Studien, wie man in seiner Umgebung durch fernöstliche Riten und Grundsätze ein perfektes Gleichgewicht herstellte.

Bestimmt engagierte Anna sich in dieser neuen Sparte so eifrig wie bei vegetarischer Kost, Gesundheitsübungen, Yoga sowie Gartenarbeit. Hinzu kam, dass sie sich ständig um ihre Kinder sorgte und ihren Exmann Alvin kritisierte. Der wiederum war mit sechzig Jahren einer Motorrad-„Gang“ beigetreten und trug inzwischen einen Pferdeschwanz, obwohl er ansonsten eine Glatze hatte.

Cassidy seufzte. Die Frage war, wie viel „Läuterung“ sie über sich ergehen lassen musste, um ihre Mutter zufriedenzustellen.

Als es an der Haustür klingelte, war es fast halb zehn. Wer kam denn jetzt noch? Sie setzte die Katze auf den Boden, schlich zur Tür und warf einen Blick durch den Spion. Im nächsten Moment riss sie die Tür auf. Paul stand vor ihr.

„Paul! Komm doch herein.“

Er schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Wir haben vergessen, einen Termin zu vereinbaren.“

„Ach ja, die erste Anprobe. Lass mich nachdenken. Wie wäre es mit Donnerstag? Nein, besser Freitag. Passt dir Freitag?“

„Nein. Bis dahin dauert mir das zu lange.“

Sie freute sich über seine offensichtliche Ungeduld, sie bald wieder zu sehen, doch vor Freitag würde sie nichts fertig haben, was er anziehen konnte.

„Frühstücke mit mir am Mittwochmorgen“, bat er. „Und am Freitag machen wie die Anprobe. Einverstanden?“

„Frühstücken?“

Erst jetzt lächelte er. „Das haben wir noch nicht gemacht. Mittagessen, Kaffee und Abendessen haben wir schon hinter uns.“

„Also gut, Frühstück. Wann und wo?“

„Ist sieben Uhr zu früh?“

„Nein, gar nicht.“

„Wie wäre es, wenn ich einfach alles mitbringe?“

„Du meinst – hierher?“

„Es sei denn, du findest das zu gefährlich.“

Sie lächelte, weil er sie schützen wollte. Doch das war sinnlos. Dafür war es schon viel zu spät. Es wäre jedoch zu gefährlich gewesen, ihm das zu sagen. „Ich kann kochen. Rühreier schaffe ich.“

„Das überrascht mich nicht“, meinte er lachend. „Mach dir nicht zu viel Mühe. Cornflakes und Milch reichen mir.“

„Etwas mehr kann ich dir schon bieten.“

Er betrachtete sie eingehend. „Mir liegt nichts am Essen, sondern an der Gesellschaft.“

„Danke.“

„Wofür?“, fragte er bedauernd. „Dafür, dass ich dein Leben kompliziere?“

Sie strich über seine Wange. „Dafür, dass du darin aufgetaucht bist.“

„Nicht für lange“, erwiderte er leise.

„Ich weiß, aber das ist schon in Ordnung. Besser nicht für lange als gar nicht.“

Er streckte die Hand nach ihr aus, und sie schmiegte sich so selbstverständlich in seine Arme, als hätte sie das schon unzählige Male getan. Paul hielt sie eine Weile fest, ehe er sich wieder von ihr löste. „Ich bin ein selbstsüchtiger …“

Sie legte die Hand an seine Lippen. „Nein, bist du nicht. Du fühlst dich nur hilflos, und ich weiß, wie das ist.“

Nach einem leichten Kuss trat er einen Schritt zurück. „Gute Nacht.“

Cassidy schloss hinter ihm die Tür. Ihre Mutter hatte oft von ihr behauptet, sie würde das Verhängnis anziehen und wäre zum Opfer geboren. Jetzt war sie sehr froh, dass ihre Mutter recht hatte.

Natürlich kam Anna gerade in dem Moment, als es in der Küche nach gebratenem Speck und Fett roch. Sie stürmte zur Hintertür herein, ließ die Tasche aus geflochtenen Naturfasern fallen und stemmte die Hände kämpferisch in die Hüften. Das lange graue Haar lag in einem locker geschlungenen Zopf über einer Schulter. Zu einem T-Shirt und einem alten Herrenhemd trug sie einen Rock und halbhohe Tennisschuhe.

„Was machst du hier?“, fragte sie. „Willst du das Haus niederbrennen? Oder hast du vor, dich zu vergiften?“

„Ich mache Frühstück für einen Freund“, erwiderte Cassidy.

„Du vergiftest deine Freunde?“, fragte Anna. „Wieso begreifst du nicht, dass es dich umbringt, wenn du tote Lebewesen isst?“

Soll ich lebende Lebewesen essen, fragte sich Cassidy, hielt jedoch besser den Mund. In Streitgesprächen lief Anna zu Höchstform auf. Und es war nicht abzusehen, wann sie dann wieder gehen würde.

Ihre Mutter schlich durch die Küche, blieb ab und zu stehen, sog prüfend die Luft ein und streckte die Hände aus, um Wellen aufzufangen. „Es ist ein Mann“, stellte sie betroffen fest. „Du erwartest einen Mann zum Frühstück!“

„Ich erwarte einen Freund.“ Cassidy rührte die Bratensoße um und sah nach den Brötchen im Backofen.

„Einen männlichen Freund.“

„Ich hatte schon früher männliche Freunde im Haus“, hielt Cassidy ihr vor.

„Zum Frühstück?“

„Mom, er hat nicht die Nacht hier verbracht, falls du das andeuten willst.“

„Du weißt, dass ich nie etwas andeute“, lenkte Anna ein. „Ich spreche nur meine Gedanken aus. Das Leben ist zu kurz für Andeutungen und …“

„Ja, ja“, fiel Cassidy ihr ins Wort. „Ich bin völlig deiner Meinung. Willst du etwas Bestimmtes?“

„Ich habe dir eine Nachricht hinterlassen.“

„Sehr schön. Du kannst hier ‚läutern‘, soviel du willst, aber nicht heute Morgen, klar?“

„Ich werde Kai Phong um ein Horoskop bitten und einen günstigen Zeitpunkt vereinbaren. Dann solltest du am Besten nicht hier sein. Deine negative Energie würde alles verderben.“

„Du brauchst mir nur zu sagen, wann ich nicht in meinem eigenen Haus sein darf“, erwiderte Cassidy verdrossen.

„Ach, da ist ja mein allerliebstes Kätzchen!“ Anna klatschte in die Hände, als Sunshine in die Küche kam. Sie beugte sich vor und schickte der Katze Küsse, während Sunshine majestätisch zu Cassidy ging und sich an ihren Beinen rieb, bevor sie zu Anna stolzierte. „Komm her, Schätzchen, und lass dich von deiner Oma beschmusen.“

Sunshine ging gnädig auf die Werbung ein. Anna drückte die Katze an sich und schloss die Augen.

„Wir haben ja eine so starke Verbindung“, bemerkte sie, und Cassidy musste lächeln.

Ihre Mutter spielte oft darauf an, dass Sunshine eigentlich ihre Katze sein sollte. Sie war eines Tages vor Cassidys Haustür aufgetaucht. Cassidy hatte sie bei sich aufgenommen und Anzeigen in alle Zeitungen von Dallas gesetzt, falls jemand das Tier suchte. Als sich jedoch niemand meldete, hatte sie die Katze behalten. Anna glaubte fest daran, Sunshine hätte eigentlich zu ihr gewollt, ein wohlgesonnener Erdgeist auf der Suche nach seinem menschlichen Gegenpol.

Die Uhr am Herd und die Türklingel meldeten sich gleichzeitig. Cassidy schaltete die Platte mit der Bratensoße ab und wollte zur Tür, kehrte noch einmal um und stellte auch den Backofen ab. Zum zweiten Mal wollte sie zur Tür, doch die Brötchen sollten nicht zu braun werden. Hastig holte sie das Blech aus dem Herd. Anna war schon an der Haustür, als Cassidy das Wohnzimmer erreichte.

„Hallo, junger Mann. Ich bin Anna, Cassidys Mutter, und das ist Sunshine, ihre Katze.“

Paul blickte an Anna vorbei zu Cassidy, die entschuldigend lächelte und zögernd winkte. Er lächelte ihr herzlich zu, wandte sich an Anna und streichelte die Katze. „Ich bin Paul Spencer. Vermutlich sind Sie dann auch Williams Mutter.“

„Sie kennen meinen Sohn?“

„Ja. Wir arbeiten zusammen.“

Anna wandte sich an Cassidy. „Hast du gewusst, dass er mit deinem Bruder arbeitet?“

„Ja. William hat uns sozusagen zusammengeführt.“

Anna schüttelte den Kopf. „Seltsam, sehr seltsam.“ Sie betrachtete Paul aus schmal zusammengekniffenen Augen. „Wann haben Sie Geburtstag, junger Mann?“

Paul war überrascht, antwortete jedoch höflich. „Am siebten Januar.“

„Siebter Januar, siebter Januar“, murmelte Anna. „Das muss ich überprüfen.“ Sie setzte die Katze auf den Boden, verschwand in der Küche, kam gleich darauf mit ihrer Tasche zurück und zeigte auf Paul. „Wenn Sie tote Lebewesen essen, werden Sie sterben“, erklärte sie und ging. Die Hintertür fiel ins Schloss.

Cassidy sah Paul an, wie schwer es ihm fiel, nicht laut loszulachen. Sie selbst konnte sich nicht beherrschen, und im nächsten Augenblick fielen sie einander in die Arme und lachten, bis sie keine Luft mehr bekamen.

„Tut mir leid“, sagte Cassidy endlich und nahm ihm den Mantel ab. „Sie ist sehr … sehr …“

„Ungewöhnlich?“

„New Age.“ Cassidy seufzte. „Sie meint es gut.“

Paul folgte ihr in die Küche. „Hat jemand deiner Mutter schon gesagt, dass wir sterben, ganz gleich, was wir essen?“

Cassidy lächelte, bekam jedoch sofort ein schlechtes Gewissen. „Meine Mutter hat allerdings recht. Manche Dinge sind einfach nicht gesund.“

Paul trat an den Herd. „Wie zum Beispiel Eier mit Speck und Brötchen und Bratensoße. Ist das echte, selbst gemachte Bratensoße?“

„Meine Großmutter hat mir beigebracht, wie man sie macht“, erklärte Cassidy erfreut.

Er griff nach einem Teller und belud ihn reichlich. „Meinen Dank an die gute Großmutter.“

Cassidy schenkte ihm eine Tasse Kaffee ein und stellte sie auf den Tisch. „Du isst nicht immer so reichhaltig?“

„So gut wie nie.“

Cassidy seufzte erleichtert. „Das dachte ich mir schon.“

„Wieso?“

„Du wirkst so fit.“

Mit dem vollen Teller wandte er sich vom Herd ab. „Ich bemühe mich zumindest. Freut mich, dass du es bemerkt hast.“

Sie wurde rot. Natürlich war es ihr nicht entgangen. Jedes Mal, wenn er sie an seinen durchtrainierten Körper drückte, hatte sie es bemerkt. Und das ließ sie nicht mehr richtig schlafen.

Er kostete bereits, während er zum Tisch kam. „Wie trainierst du?“

„Wie ich trainiere?“

Er stellte den Teller auf den Tisch und betrachtete ihre Gestalt. „Sag nicht, dass dieser Körper ein Geschenk der Natur ist.“

„Ich unternehme drei oder vier Mal in der Woche einen ausgedehnten Spaziergang.“

„Ja, das ist gut. Du spielst nicht Racket-Ball oder etwas Ähnliches?“

„Nein.“

„Willst du es lernen?“

„Gern.“

„Großartig.“ Er setzte sich. „Kommst du endlich zu mir?“

Sie nahm sich ebenfalls etwas zu essen und setzte sich zu ihm.

Als er sich später einen Nachschlag vom Herd holte, fragte er: „War deine Mutter schon immer … na ja …“

„Merkwürdig?“, half Cassidy ihm aus.

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Das war auch nicht nötig. Nein, sie war nicht immer so. Ich meine, sie hatte stets zu allem eine klare Meinung und sprach sie auch aus, aber erst nach der Scheidung von Dad hat sie sich mit diesen anderen Dingen beschäftigt.“

Autor

Arlene James
Arlene James schreibt bereits seit 24 Jahren Liebesromane und hat mehr als 50 davon veröffentlicht. Sie ist Mutter von zwei wundervollen Söhnen und frisch gebackene Großmutter des, wie sie findet, aufgewecktesten Enkels aller Zeiten. Darum hat sie auch im Alter von 50 plus noch jede Menge Spaß. Sie und ihr...
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