Bianca Gold Band 75

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DIESE SEHNSUCHT IN MEINEM HERZEN von JEN SAFREY
Wenn seine beste Freundin Josey ihn bittet, ihr bei der Suche nach einem geeigneten Mann für sie zu helfen, ist Nate natürlich zur Stelle. Denn diese tolle Frau hat es verdient, sich den Traum von einer glücklichen Familie zu erfüllen. Aber warum eigentlich nicht mit ihm?

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Wird sich Ashley je wieder an ihr gemeinsames Glück erinnern? Drei Jahre lang hat Jarrett seine Liebste seit ihrem plötzlichen Verschwinden gesucht. Nun hat er sie endlich in einem Krankenhaus gefunden: Doch sie erinnert sich an nichts. Nicht einmal an ihn …

DER HIMMEL IN DEINEN AUGEN von ELLEN TANNER MARSH
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  • Erscheinungstag 19.05.2023
  • Bandnummer 75
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516945
  • Seitenanzahl 447
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jen Safrey, Jan Hamilton Powell, Ellen Tanner Marsh

BIANCA GOLD BAND 75

PROLOG

Nate zuckte zusammen: Im Apartment über ihm schrie eine Frau. Der wütende Laut durchbrach die Stille, in der Nate eben noch am Küchentisch gesessen und Cornflakes gelöffelt hatte. Nun fielen ihm vor Schreck ein paar Cornflakes in den Schoß. Er schob den Vorhang zur Seite, öffnete das Fenster und streckte den Kopf hinaus. Dann blinzelte er und drehte das Gesicht nach oben in die Nachmittagssonne, bis er die geöffneten Fenster der Wohnung über ihm ausmachen konnte. Der milde Novembertag hatte Nates Nachbarin wohl dazu veranlasst, die Wohnung durchzulüften. Er wartete einen Moment und lauschte. Nichts.

Schließlich zog er den Kopf wieder zurück, zupfte sich die Cornflakes von der Hose und setzte sich wieder an den Tisch. Langsam aß er weiter, lauschte aber immer noch wie gebannt.

Nun entspann dich endlich wieder, sagte er sich. Er rief sich ins Gedächtnis, dass ein großer Nachteil daran, in Boston zu wohnen, darin bestand, dass er hier seine Nachbarn sehr viel besser kennenlernte, als ihm lieb war. Und heute, wie so oft, wollte er definitiv nicht. Er hatte sich den sonntäglichen Luxus gegönnt, so lange zu schlafen, wie er nur konnte: bis in den frühen Nachmittag hinein. Dann hatte er seine Aktentasche geöffnet und etwa eine Stunde lang gearbeitet. Schließlich war ihm eingefallen, dass er ja noch gar nicht gefrühstückt hatte.

Nate setzte die Schüssel an die Lippen und trank die restliche Milch, die ihm kalt und süß die Kehle hinunterlief. Dann trug er die Schale zum Waschbecken, wusch sie sorgfältig ab und stellte sie in den Oberschrank zurück.

Da war es auf einmal wieder.

Noch so ein wortloser, ungehaltener Aufschrei, der zwischen den Häusern widerhallte und in Nates Küche drang. Reglos stand er da, und erneut bemühte er sich, das Unbehagen abzuschütteln, das ihn beschlich. Wieso ärgerte er sich nicht einfach über die Ruhestörung? So würde schließlich ein ganz normaler Stadtmensch reagieren. Wen schrie sie da eigentlich so an? Eine zweite Stimme hatte Nate bisher nicht ausmachen können.

Er ging zum Sofa und ließ sich darauf fallen. Dann wühlte er in den Kissen nach der Fernbedienung. Wenn ich jetzt noch eine halbe Stunde durch die Kanäle zappe, wirft mich das schon nicht zu weit zurück, sagte er sich. Diese Woche brauchte er einfach mal eine Auszeit. Und außerdem würde der Fernseher wahrscheinlich den Lärm seiner Nachbarin von oben übertönen.

Nate hatte den Fernseher noch gar nicht eingeschaltet, da hörte er direkt über sich ein lautes Krachen, gefolgt von einem erschrockenen Aufschrei.

Dann war es plötzlich totenstill.

Es war also doch jemand bei ihr. Und es klang ganz so, als hätte sie es für diesen Jemand nun zu weit getrieben. Als wollte er ihr nun etwas antun. Wenn das nicht schon längst geschehen war.

Nate spannte sich an, wartete, lauschte angestrengt. Da – noch ein Krachen, und es klang, als hätte jemand ein Möbelstück gegen die Wand geschleudert. Und wieder ein empörter Aufschrei.

In seinem Geiste sah Nate die Frau vor sich, der er noch nie begegnet war. Ihre Gesichtszüge konnte er nicht genau erkennen, aber in ihren Augen stand panische Angst. Er stellte sich vor, wie sie sich zusammenkrümmte, um sich vor dem nächsten Schlag zu schützen, der mit Sicherheit käme. Nun konnte er ihre Angst sogar am eigenen Leibe spüren.

So etwas hatte er selbst erlebt, vor langer Zeit.

Nate fuhr vom Sofa auf und stürzte zum geöffneten Fenster. „He!“, rief er, wusste jedoch gleichzeitig, dass das gegen jemanden wie seinen Vater nichts ausrichten würde. Trotzdem hoffte er, dass dieser Typ dort oben eine andere Art von Feigling war. „He! Was ist da eigentlich los?“

Wieder schrie die Frau etwas, diesmal konnte er sogar ihre Worte verstehen: „Was ist das für ein Mistspiel!“

Ein Spiel? Immer noch stand Nate am Fenster und starrte auf den Parkplatz hinaus, in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Spielte da etwa jemand ein perverses Sexspiel mit ihr? Einer seiner Kollegen bei der Bezirksstaatsanwaltschaft hatte vor ein paar Monaten so einen Fall gehabt. Da hatte ein Mann ungewollt seine Frau umgebracht, während so eines sadistischen …

Direkt über Nates Kopf schlug nun jemand rhythmisch auf den Boden. „Komm schon!“, rief die Frau. „Nun komm … Bitte, bitte … Nein! Nein!“

Jetzt konnte Nate sich nicht mehr zurückhalten. Er stürzte ins Schlafzimmer und griff dort nach dem Baseballschläger, der in der Ecke lehnte. Dann rannte er den kurzen Flur hinunter, rutschte auf Socken über die glatten Holzdielen und riss die Wohnungstür auf. Er sprintete die Treppe hoch und packte den Türgriff der Wohnung, die direkt über seiner lag. Die Tür war nicht abgeschlossen, und Nate fiel fast in die fremde Wohnung. Den Baseballschläger fest in den Händen, stürzte er ins Wohnzimmer. Die Frau, die dort allein auf dem Boden vor dem Fernseher saß, sprang auf und schrie.

„Alles in Ordnung bei Ihnen?“, fragte Nate atemlos.

Sie sah ihn entgeistert an. „Wer sind Sie denn?“

Nate ignorierte die Frage einfach und suchte stattdessen Wohnzimmer und Kochnische mit den Augen ab, dann schritt er direkt ins Schlafzimmer und anschließend ins Bad. „He!“, rief die Frau ihm empört nach, aber er ließ sich nicht beirren.

Als er sich ganz sicher war, dass sich niemand außer ihnen in der Wohnung befand, ging er zurück ins Wohnzimmer. Dort stand sie und blickte ihn fassungslos an.

„Ich wohne unter Ihnen“, erklärte er schließlich. „Ich hab Sie schreien hören, und da …“

„Und da sind Sie hier einfach so reingestürmt? In meine Wohnung?“ Immer noch musterte die Frau ihn eindringlich. „Tja, es tut mir leid, ich wollte Sie nicht stören. Ich rege mich bloß immer so auf, wenn …“

„Ist denn bei Ihnen alles in Ordnung?“, wiederholte Nate seine ursprüngliche Frage. Tatsächlich sah sie ganz gesund und munter aus. Nein, das war noch untertrieben: Die Frau sah geradezu umwerfend aus. Das blonde Haar trug sie knabenhaft kurz, aber ihre Gesichtszüge waren durch und durch weiblich. Sie hatte eine zierliche Stupsnase, volle, sinnliche Lippen und riesige schokoladenbraune Augen.

„Na ja, mir ist nur gerade ein halb nackter Mann direkt ins Wohnzimmer gestürmt, der mir offenbar mit dem Baseballschläger eins verpassen wollte, weil ich ihm zu viel Krach mache“, entgegnete sie. „Aber ja, ansonsten geht es mir ganz gut.“

Nate blickte an sich herab, auf seine abgewetzte Jeans. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er gar kein Hemd trug. „Wo steckt eigentlich der Kerl?“, fragte er.

Die Frau runzelte die Stirn. „Wie bitte? Welcher Kerl?“

„Sie haben doch eben geschrien. Und dann hat es laut gekracht, als hätte jemand … Wollte Ihnen jemand etwas antun?“

„Nein, überhaupt nicht.“ Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Ach je, das tut mir jetzt wirklich leid.“ Aber in ihren Augen blitzte es belustigt auf. „Es liegt nur an diesem Spiel.“

„Was für ein Spiel?“

Sie wies zum Fernseher. „Na, das Footballspiel.“

Nate löste den Blick von dem außergewöhnlich hübschen Gesicht der Frau und schaute erstmals zu dem Gerät herüber. Nun hörte er auch die Stimme des Kommentators: „Und am Ende der ersten Halbzeit im Spiel Denver Broncos gegen New England Patriots steht es 13:10 für die Broncos.“

Nate konnte den Blick gar nicht mehr vom Bildschirm lösen. „Dann meinten Sie also … dieses Spiel?“

„Genau“, erwiderte die Frau und fuhr schnell fort: „Wissen Sie, normalerweise schau ich es mir unten in der Bar an, da empfangen sie diesen privaten Sportsender. Bloß heute hat mich meine Verabredung versetzt. Ich wäre natürlich auch allein hingegangen, weil ich mir nicht von so einem unzuverlässigen Idioten den Tag verderben lasse. Aber diese Woche bin ich sowieso knapp bei Kasse, und sie zeigen das Spiel ja diesmal auch ganz normal im Fernsehen.“ Sie wies auf den Apparat und bückte sich dann, um die Fernbedienung vom Fußboden aufzuheben. Bevor die Frau weitersprach, stellte sie den Ton ab. „Na ja, und wenn es für mein Team nicht so läuft, wie es soll, dann geht mir das sehr nahe. Als das eben mit der Ballabgabe so gar nicht funktionierte, hab ich vor Wut ein paar Stühle umgestoßen, und dann hab ich wohl ziemlich laut gebrüllt, weil ich’s einfach nicht fassen konnte, dass Denver kurz davor war, schon wieder zu punkten. Da hab ich dann mit der Faust auf den Boden geschlagen, und … he, Moment mal! Sind Sie etwa in meine Wohnung gestürmt, weil Sie dachten, mir würde hier jemand etwas antun?“

Nate nickte stumm und ließ sich dann auf das hässliche orangefarbene Wohnzimmersofa sinken. Nun sah er sich die Frau noch einmal ganz genau an. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie ein rot-weiß-blaues Footballtrikot und Jeans trug.

„Vielen Dank“, sagte die Frau, und es klang, als meinte sie es auch so. „Danke.“ Dann betrachtete sie Nates Gesicht. „Wie geht es Ihnen denn jetzt? Sie wirken ziemlich … verstört. Oje, mir tut diese Geschichte wirklich schrecklich leid.“

Nate war sich nicht so sicher, wie es ihm ging. Er war die Treppe hochgejagt, um jemandem zu helfen, der – wie er dachte – gerade genau so etwas Schreckliches durchmachen musste wie er selbst jahrelang. Und jetzt war die Erleichterung darüber, dass die Frau keinerlei Schaden genommen hatte, fast zu viel für ihn. „Ich … also, mir ist das Ganze nur etwas peinlich, das ist alles.“

„Aber dafür gibt es doch gar keinen Grund!“, rief die Frau aus. „Ich finde das furchtbar nett und könnte Ihnen gar nicht dankbarer sein, wenn mich wirklich jemand angegriffen hätte und Sie mir zur Hilfe gekommen wären. Wirklich“, fügte sie nachdrücklich hinzu. „Entschuldigen Sie, dass ich mich hier so habe gehen lassen, und das auch noch bei offenen Fenstern. Ich wünschte, ich könnte das wieder gutmachen … aber warten Sie mal, ich hab da eine Idee. Bleiben Sie doch einfach hier. Ich mach uns was zu essen, außerdem hab ich noch genug Limonade und Bier für uns beide da.“

„Sie wollen, dass ich hier bleibe?“

„Klar. Ich meine, ich kenne Sie zwar nicht, aber Sie haben mir sofort bewiesen, dass Sie einen tollen Charakter haben, weil Sie mir hier aus der Bredouille helfen wollten. Von den Freunden, die ich noch habe, hätten das nicht allzu viele für mich getan. Schon gar nicht der Typ, der mich heute versetzt hat.“ Sie verschwand in der Küche. „Na ja, das war sowieso nicht mein Typ“, fuhr sie fort, zog ein Sechserpack Lightlimonade aus dem Kühlschrank und löste zwei Dosen aus den Plastikringen. Mit einem Hüftschwung schloss sie die Tür wieder.

„Nicht, dass ich aktiv auf der Suche nach meinem Typ wäre. Aber ich komme vom Thema ab.“ Sie warf Nate eine Dose zu. „Ich hätte wirklich gern einen Verbündeten hier im Wohnblock. Und ich bin mir sicher, dass ich Ihnen vertrauen kann. Wenn Sie nämlich gemeingefährlich wären, hätten Sie mir schon längst eins übergezogen und sich die sechs Dollar aus meinem Portemonnaie geschnappt. Also bleiben Sie doch und schauen Sie sich das Spiel mit mir an.“

Nate fühlte sich ein bisschen überfordert damit, ihren Gedankengängen zu folgen, er war noch ganz erschöpft von den Ereignissen der letzten Minuten und den Erinnerungen, die in ihm wach geworden waren. Also öffnete er einfach den Verschluss seiner Getränkedose und nahm einen Schluck.

Der blieb Nate fast im Hals stecken, als die Frau Nate erneut ansprach: „Also, das sollte jetzt kein Annäherungsversuch sein. Verstehen Sie mich da bloß nicht falsch, okay?“ Sie trank ebenfalls etwas Limonade. „Ich meine, Sie sind ja nicht schlecht gebaut und so, aber deswegen hab ich Sie nicht eingeladen. Ich bin überzeugter Single. Sie kommen mir bloß so vor wie ein … wirklich netter Mensch.“

Die junge Frau betrachtete Nate eindringlich. Wie ein Psychiater, der gerade einen Patienten genauer unter die Lupe nimmt, dachte er. Diesem Berufsstand ging Nate tunlichst aus dem Weg. Schließlich brauchte er niemanden, der ihn an seine miese Kindheit erinnerte. „Sie sind nicht zufällig Psychiaterin oder Psychologin oder so was?“, fragte er.

„Nein, tut mir leid, damit kann ich Ihnen nicht dienen“, erwiderte sie und lachte. „Ich schlage vor, wir schauen uns jetzt einfach das Spiel an. Wenn Sie wollen, können Sie mir ja während der Unterbrechungen von Ihren Problemen erzählen, dann sehe ich mal, was sich machen lässt.“

Ihre Unbeschwertheit war ansteckend, und Nate konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. „Schaffen Sie es denn, Ihr Temperament zu zügeln, solange ich hier bin?“, erkundigte er sich. „Ich will nämlich nicht die ganze Zeit Möbelstücken ausweichen müssen.“

„Nein, jetzt, wo ich einen Gast habe, versuche ich, mich zu beherrschen.“ Sie streckte ihm die Hand hin, und er ergriff sie. Sie fühlte sich kühl und zart an, gleichzeitig wirkte die Berührung beruhigend auf Nate.

„Ich heiße übrigens Josey“, stellte sich die junge Frau vor.

1. KAPITEL

Etwa anderthalb Jahre später.

Dass die Schulaufführung zum Muttertag eine Katastrophe werden würde, war praktisch unvermeidlich.

Siebenundzwanzig Drittklässler rannten hinter der Bühne um die ausgeblichenen Kulissen herum, versteckten sich hinter den Vorhängen, jagten sich gegenseitig und kicherten, als sie über ihre weiten Tierkostüme stolperten und schließlich auf den staubigen Holzdielen landeten.

„He! Beruhigt euch mal wieder!“, flüsterte Josey eindringlich, denn schließlich standen sie kurz vor der Aufführung. Allerdings beachtete niemand die Worte der Lehrerin. Da sah Josey sich gezwungen, zu drastischeren Mitteln zu greifen: Sie steckte zwei Finger in den Mund und pfiff kräftig.

Zahlreiche Kinder hielten sich die Ohren zu. „Aua, Miss St. John!“

„Okay, Leute“, begann sie, breitete die Arme aus und wartete, bis sich alle Kinder um sie versammelt hatten. Dann zählte sie die Köpfe und war beruhigt. „Gebt einfach euer Bestes. Wenn ihr mal den Text vergesst, dann macht das gar nichts. Wir wollen doch heute einfach unseren Spaß haben, oder?“

Alle nickten und wirkten auf einmal ganz ernst in ihren unförmigen Kostümen mit den bunten Federn und den aufgemalten Schnurrhaaren.

„Außerdem“, fügte Josey augenzwinkernd hinzu, „bin ich die ganze Zeit vor der Bühne, wie ich euch das schon heute Morgen gezeigt habe. Falls ihr mal nicht weiterwisst. Und unsere Probe heute war doch schon mal ganz große Klasse, oder?“

Die Kinder nickten begeistert.

Als alles so weit in Ordnung schien, nahm Josey die Hand eines kleinen Löwen namens Jeremy und ging mit ihm an den Bühnenvorhang heran. Dann legte sie Jeremys Hand – eigentlich eher eine goldgelbe Pfote – an die richtige Stelle des Vorhangs, sodass er nicht erst danach zu suchen brauchte. Schnell nahm Josey ihren Platz vor der Bühne ein, und es konnte losgehen.

Ein Raunen ging durch das Publikum, als sich Jeremy durch die Öffnung im Bühnenvorhang schob. Die Eltern bestaunten das Kostüm des Jungen.

„Liebe Moms und Dads“, setzte Jeremy an, und Josey war erleichtert darüber, dass er daran gedacht hatte, schön laut zu sprechen. „Die dritte Klasse von Miss St. John zeigt euch jetzt das Stück Wilde Moms. Die erste Szene spielt im Zoo. Da wollen alle Tiere Muttertag feiern.“ Spontan fauchte Jeremy wie ein Löwe und brachte damit das ganze Publikum zum Lachen. Dann ging er links von der Bühne ab. Ein Sechstklässler, den Josey angeheuert hatte, zog den Vorhang auf.

Das Stück lief erstaunlich gut. Die kleine Jamie Cranston hatte ihren Text vergessen, und Josey flüsterte ihr die Worte zu. Jamie war eines der pfiffigsten Kinder in der Klasse, und es war ihr offenbar schrecklich peinlich, dass sie als Einzige die Hilfe der Lehrerin gebraucht hatte. Josey beobachtete, wie die Kleine niedergeschlagen hinter der Bühne verschwand, und nahm sich vor, hinterher noch einmal mit Jamie zu reden und ihr zu sagen, wie tapfer sie gewesen war.

Doch dann stellte sie fest, dass das gar nicht nötig sein würde.

Kurze Zeit später nahm sie nämlich aus dem Augenwinkel Jamies Eltern wahr. Sie gingen ganz leise die Stufen am rechten Bühnenrand hinauf und schlüpften an dem schweren schwarzen Vorhang neben der Bühne vorbei. Im Publikum schien sie niemand zu bemerken, die anderen Eltern schenkten ihre Aufmerksamkeit ganz den eigenen Kindern.

Der schwarze Vorhang schloss sich nicht vollständig hinter Mrs und Mr. Cranston, sodass Josey sie durch den schmalen Spalt weiter beobachten konnte. Sie sah, wie die beiden auf ihre unglückliche Tochter zugingen und Mr. Cranston Jamie schließlich auf den Arm hob. Mr. Cranston pustete seiner Tochter eine blonde Haarsträhne vom Ohr und flüsterte ihr etwas zu. Ein leises Lächeln huschte über das Gesicht des Mädchens. Nun beugte sich auch die Mutter zu Jamie und fügte noch etwas hinzu. Jamies Lächeln wurde breiter. Richtig glücklich sah sie aus, als sie das Gesicht an die Schulter ihres Vaters schmiegte.

Und als sich Mrs Cranston nun zu ihrem Mann beugte, wusste Josey instinktiv, was sie gerade zu ihm sagte – Ich liebe dich.

Als der Vorhang fiel, sprangen alle Eltern auf, klatschten und pfiffen vor Begeisterung. Josey erklomm die Bühne, schlüpfte durch den Vorhang und stellte die Kinder nebeneinander auf, damit sie alle zusammen nach draußen gehen und sich vor dem Publikum verneigen konnten. Sie nickte ihrer Bühnenhelferin zu, damit sie den Vorhang wieder aufzog. Blitze flammten auf und Camcorder surrten, als Josey mit ihren fleißigen und mittlerweile ziemlich erschöpften Schülern den Applaus entgegennahm.

Eigentlich hatte sie erwartet, dass sie wie immer vor Stolz fast platzen würde, doch stattdessen fühlte sie sich bloß einsam und leer. Als hätte sie in ihrem Leben etwas verpasst. So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Der Anrufbeantworter blinkte hektisch, als Josey nach Hause kam. Zwei Nachrichten waren darauf, aber das kümmerte sie wenig. Sie warf den Mantel über eine Stuhllehne, ließ sich aufs Sofa fallen und starrte teilnahmslos gegen die Decke. Ihr war alles egal, sie fühlte sich einfach nur … leer.

Was war bloß auf einmal mit ihr los? Sie hatte doch einen erfolgreichen Tag hinter sich, das Stück war geradezu problemlos über die Bühne gegangen. Sie hatte sich sogar mit den Eltern unterhalten können, ohne dabei ins Stottern zu kommen … Und schon am Morgen waren ihre Kinder ganz hervorragend mit den Rechtschreibaufgaben klargekommen.

Aber – Moment mal! Von wegen: ihre Kinder. Das waren alles die Töchter und Söhne anderer Leute.

Auf einmal sah Josey wieder die Mutter der kleinen Jamie vor sich, wie sie so voller Stolz und Liebe ihre kleine Familie angeschaut hatte. Josey wusste nicht, womit die Frau ihr Geld verdiente, aber sie vermutete, dass die Familie für sie immer an erster Stelle stand.

Josey dagegen hatte nie den Wunsch nach einer eigenen Familie gehabt.

Das Leben als Single gefiel ihr, sie konnte sich gar nichts anderes vorstellen. Sie genoss es, sich an jedem Wochenende mit einem anderen Mann zu verabreden und auf diese Weise eine Menge interessanter Leute kennenzulernen. Ihre Freundin und Kollegin Ally betrachtete solche Verabredungen ja als Möglichkeit, den richtigen Mann zum Heiraten zu finden, aber Josey sah das anders. Ihr wäre es viel zu anstrengend, jeden Mann, mit dem sie essen ging, auf seine Qualitäten als Ehemann zu testen. Nein, Josey unterhielt sich einfach gern mit neuen Leuten und hatte ihren Spaß dabei. Intimer wurde es sowieso nur selten. Bisher hatte sie erst zwei Partnerschaften hinter sich, die sie als ernsthaft bezeichnen würde: eine davon in der Oberstufe, eine am College. Beide Male hatte die Beziehung ihren Lauf genommen, aber Josey war am Ende gut darüber hinweggekommen. Schließlich hatten andere Mütter auch noch schöne Söhne …

Josey neigte sich über die Sofakante und hob die Fernbedienung vom Boden auf. Sie richtete das Gerät auf den Fernseher, senkte dann aber sofort wieder den Arm. Vielleicht hatten Ally und die ganzen anderen Singlefrauen ja doch recht, wenn sie meinten, dass diese Verabredungen der Weg zum Ziel waren?

Aber wollte sie selbst dieses Ziel überhaupt erreichen?

Josey sprang vom Sofa auf und lief in die Küche. Normalerweise holte sie sich nach der Arbeit ein Bier aus dem Kühlschrank und sah ein bisschen fern, bevor sie sich ein einfaches Abendessen zubereitete. Aber auf einmal erschien ihr diese Junggesellinnenangewohnheit nicht mehr … passend. Schwungvoll knallte sie die Kühlschranktür wieder zu und griff stattdessen nach dem Teekessel, den sie nur selten benutzte. Sie füllte ihn mit Wasser, stellte ihn auf den Herd und drehte den Regler hoch. Dann suchte sie im Hängeschrank nach einer sauberen Tasse. Nach einer Teetasse. Wie häuslich!

Häuslich?

Fassungslos hielt Josey inne. Dachte sie etwa tatsächlich gerade darüber nach, eine Familie zu gründen?

Das Telefon klingelte und riss Josey aus ihren Gedanken. Schnell griff sie nach dem Hörer. „Hallo?“

Sie hörte Nates warme, tiefe Stimme. „Ach, du bist ja schon da. Eigentlich wollte ich dir bloß was aufs Band sprechen.“ Gleichzeitig klang er ein wenig reserviert, eben wie jemand, der gerade vom Arbeitsplatz aus ein Privatgespräch führte. Andererseits klang Nate oft so. Trotzdem wusste Josey, dass er noch im Büro sein musste, denn wenn er zu Hause gewesen wäre, wäre er vorbeigekommen, statt anzurufen.

„Hi, Nate.“

„Du wirkst irgendwie erschöpft. Waren die Kinder so anstrengend? Nein, Moment mal, heute war ja die Aufführung. Wie ist’s denn gelaufen?“

„Ganz gut. Das heißt, prima. Richtig prima.“ Josey ärgerte sich, weil sie nicht mal mehr in der Lage zu sein schien, ein ganz normales Gespräch zu führen. Sie hob die Gardine am Küchenfenster ein Stück und schaute nach draußen, direkt in die helle Nachmittagssonne. Sofort ließ sie den Stoff wieder fallen.

„Es ist mal wieder Freitag“, meldete sich Nate erneut zu Wort. „Und du darfst dir diesmal das Restaurant aussuchen. Also, was möchtest du essen? Japanisch, Italienisch, Thai? Oder Hamburger?“

Ach, du Schande. Josey konnte gar nicht glauben, dass sie ihr wöchentliches Abendessen mit Nate vergessen hatte. Eigentlich hatte sie sich gerade den Bademantel anziehen und eine Billy-Joel-CD einlegen wollen, um dann in Ruhe nachzudenken. Über ihre Zukunft.

„Nate, es tut mir leid, aber heute ist einfach nicht mein Tag.“

Nate schwieg einen Moment lang, dann fragte er: „Wo liegt das Problem?“

„Warum muss es immer ein Problem geben?“

„Also gut, streichen wir das aus dem Protokoll.“ Ganz der Herr Staatsanwalt. „Was ist los?“

„Warum muss unbedingt etwas los …“

„Weil du mir noch nie abgesagt hast, deswegen. Ich hingegen habe schon zweimal versucht, dir abzusagen, aber es hat nicht geklappt, weil du mich immer wieder überredet hast, egal, wie viel ich gerade zu tun hatte.“

„Hm …“

„Und weißt du, was? Am Ende war ich immer froh darüber. Also: Keine Ausreden, bitte. In etwa zwei Stunden hole ich dich ab. Ich muss hier bloß noch ein paar Dinge erledigen, dann …“

„Nate, ich meine es ernst“, wehrte Josey ab. „Es tut mir leid, aber ich kann heute wirklich nicht mitkommen.“

„Also gut. Keine Angst, ich bin nicht beleidigt. Erzähl mir einfach nur, warum du absagst. Ich mache mir nämlich langsam Sorgen. Schließlich kenne ich niemanden, der so gern ausgeht wie du.“

„Nate“, sagte Josey mit Nachdruck. „Mir geht es gut. Okay? Ich möchte einfach nur … na ja … allein sein und … ein bisschen nachdenken.“

Normalerweise hatte Nate wenig Sinn für Situationskomik, aber nun musste er doch laut lachen. „Na, du bist witzig. Soll das etwa heißen, dass du sonst nicht denkst?“

„Nate, wir reden morgen, okay? Mach dich jetzt bitte nicht über mich …“

„Tu ich doch gar nicht, wirklich nicht.“ Auf einmal war Nate wieder ganz ernst. „Entschuldige, ich wollte dich nicht auslachen. Und ich hoffe, dass du diese Sache für dich klären kannst, was auch immer es ist.“ Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „Hör mal, wie sieht’s denn morgen Abend aus? Ich meine, gut, an einem Samstagabend hast du wahrscheinlich schon eine heiße Verabredung …“

Zufällig hatte Josey noch keine Verabredung für besagten Abend. „Ich ruf dich morgen an, dann können wir ja was ausmachen. Das geht schon klar“, fügte sie geistesabwesend hinzu.

Sie verabschiedeten sich und legten auf. Einen Moment lang ließ Josey die Hand auf dem Hörer und versuchte, ihre Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nur an eines denken: Ich will eine Familie.

Sie sah zu dem gerahmten Poster an ihrer Wand herüber, auf dem ein bekannter Spieler aus dem Bostoner Footballteam zu sehen war. Nate hatte ihr das Bild letzten Monat zum Geburtstag geschenkt, zur Erinnerung an ihr erstes Zusammentreffen. Josey musste unwillkürlich lächeln, als sie daran dachte, wie Nate damals in ihre Wohnung gestürmt war: groß, gut aussehend und bereit, sie bis aufs Letzte zu verteidigen.

Nate kann mir doch weiterhelfen! durchfuhr es Josey plötzlich.

Wenn irgendjemand nachvollziehen könnte, was sie gerade durchmachte, dann ganz sicher er. Er hatte zwar weder Frau noch Kinder, war nicht mal besonders oft mit Frauen ausgegangen, seit Josey ihn kannte, aber er war immerhin ein zielorientierter, ehrgeiziger Mensch. Und genau so jemanden brauchte sie jetzt, wenn ihr Leben einen neuen Sinn bekommen sollte.

2. KAPITEL

Nate fuhr auf, als es leise an seine Bürotür klopfte.

„Herein“, rief er und richtete sich kerzengerade im Schreibtischstuhl auf. Die Tür wurde geöffnet, und David Jeffers ging über den dunkelgrünen Veloursteppich, der jeden seiner Schritte schluckte, und setzte sich Nate gegenüber an den Schreibtisch.

Für Nate war David Jeffers so etwas wie ein Mentor, ein väterlicher Ratgeber. Als Nate vor zwei Jahren frisch von der Universität zur Bezirksstaatsanwaltschaft gekommen war, war Jeffers der Erste gewesen, mit dem er hier zusammengearbeitet hatte.

„Sir“, begrüßte Nate seinen Kollegen und lächelte.

Jeffers nahm einen gläsernen Briefbeschwerer von Nates Schreibtisch und betrachtete das Stück eine Zeit lang, bevor er es wieder zurücklegte. „Hören Sie, Nathan, ich würde mich gern mit Ihnen über einen neuen Verantwortungsbereich unterhalten, der hier geschaffen wird und an dem Sie vielleicht Interesse hätten. Ich habe jedenfalls gleich an Sie gedacht, als ich davon erfahren habe.“

„Wirklich?“ Sofort war Nate hellhörig.

„Hier in der Bezirksstaatsanwaltschaft spezialisieren sich gerade einige unserer Mitarbeiter auf einen ganz bestimmten Bereich – häusliche Gewalt. Die Anzahl der Fälle wächst beängstigend schnell, und die Medien sind voll davon. Jetzt hat der Bezirksstaatsanwalt beschlossen, den Bereich um einige fähige Juristen zu erweitern.“

Nate schluckte. Häusliche Gewalt also. „Was wären das zum Beispiel für Fälle?“, fragte er. Plötzlich fühlte sich seine Kehle ganz trocken an. Was für eine blöde Frage er da gerade gestellt hatte! Er wusste doch ganz genau, wie die Antwort lautete. Aber in diesem Moment war ihm nichts anderes eingefallen, was er hätte sagen können.

„Alles, was Sie sich unter dem Thema so vorstellen können“, entgegnetet Jeffers nun. „Aber der Chef will sich insbesondere Gewalt in der Ehe und Kindesmisshandlung vornehmen und die Öffentlichkeit auf diese Themen aufmerksam machen.“

Nate fixierte eine ganze Minute lang Jeffers’ Gesicht, und das Herz schlug ihm dabei bis zum Hals. Plötzlich hatte Nate die schreckliche Befürchtung, dass sein Kollege über ihn Bescheid wusste. Aber nein, das ist völlig unmöglich, beruhigte er sich schnell. So wohl er sich mittlerweile in Jeffers’ Anwesenheit fühlte, Nate hatte ihm trotzdem nie von seinem Vater erzählt. Ihm nicht und auch sonst niemandem.

Wenn er nun in diese Arbeitsgruppe aufgenommen würde, von der Jeffers gesprochen hatte … dann wäre er, Nate, höchstpersönlich dafür verantwortlich, dass die Übeltäter hinter Schloss und Riegel kämen. Dann könnte er endlich gegen die Dämonen angehen, die ihn seit Jahren verfolgten. Und ihnen mitten ins Gesicht spucken.

Nate bemühte sich, ruhig zu bleiben. „Das klingt sehr interessant, und ich könnte mir gut vorstellen, dabei mitzuwirken“, sagte er. „Aber warum fragen Sie gerade mich, Jeffers? Ich habe bisher noch in keinem Fall von häuslicher Gewalt die Anklage geführt.“

„Sie haben aber bisher sehr erfolgreich für uns gearbeitet, und es ist unabdingbar, dass wir hierzu die besten Anwälte der Stadt heranziehen. Schließlich werden diese Fälle verstärkt im Licht der Öffentlichkeit stehen. Aber vielleicht möchten Sie auch erst noch in Ruhe darüber nachdenken? Ich übertrage Ihnen jetzt einen Fall, in dem es um eine Kindesmisshandlung geht. Während sie den bearbeiten, werden Sie sich wahrscheinlich klarer darüber, wie sie mit der Thematik zurechtkommen.“

„Ich versichere Ihnen, dass ich der Sache fachlich gewachsen bin.“

„Natürlich, da bin ich mir auch völlig sicher. Ich habe keinerlei Zweifel an Ihrem Fachwissen, im Gegenteil. Es ist mir bloß wichtig, dass Sie einen Eindruck davon bekommen, wie es ist, tagein, tagaus mit Gewalt und Missbrauch zu tun zu haben, bevor Sie sich langfristig diesem Team verpflichten. Das ist nämlich eine richtig hässliche Angelegenheit, glauben Sie mir.“

Nate verzog den Mund, denn die Worte seines Kollegen hatten für ihn einen unfreiwillig ironischen Beigeschmack. Schließlich hatte Nate vor langer Zeit tatsächlich tagein, tagaus mit diesen schrecklichen Dingen zu tun gehabt, als er noch bei seinem Vater wohnte. Und er hatte damals keine andere Wahl gehabt. Doch Nate sagte nur: „Vielen Dank, Jeffers.“

„Ich werde Mutter“, verkündete Josey.

Nate verschluckte sich an dem Stück Brot, das er sich gerade in den Mund geschoben hatte. Schnell griff er nach dem Wasserglas und schluckte den Inhalt herunter: samt Eis. Josey lachte laut. „Ach, Nate! Nun hör aber auf.“

Nate hustete noch ein paar Mal heftig und zog damit die Blicke anderer Bistrogäste auf sich, die sich ebenfalls an die Tische draußen gesetzt hatten. „Entschuldige bitte“, meinte er schließlich, als er wieder einigermaßen frei atmen konnte. „Was hast du da gerade gesagt?“

Josey sah ihm mit ihren dunklen Augen direkt ins Gesicht. „Das hast du doch genau gehört. Ich werde Mutter.“ Als ihr klar wurde, wie sehr sie ihn mit ihrer Aussage verwirrt hatte, fügte sie schnell hinzu: „Natürlich noch nicht jetzt sofort. Also, ich bin nicht schwanger. Hast du das eben etwa gedacht?“

„Ich habe gar nichts gedacht“, log Nate. „Du hast mir ja nicht mal genug Zeit gelassen, darüber nachzudenken. Du hast mich einfach völlig überrumpelt. Wo kommt diese Idee überhaupt so plötzlich her?“

„Also …“ Josey brach sich noch ein Stück von dem Brot ab, das in der Mitte des kleinen Tisches lag, steckte es jedoch nicht in den Mund. Sie hielt es einfach nur in der Hand und starrte dabei über Nates rechte Schulter hinweg in die Ferne. Eine Zeit lang sagte sie kein Wort und blinzelte in den Sonnenuntergang.

„Ich kann das eigentlich gar nicht so richtig erklären“, setzte Josey schließlich an, als Nate die Hoffnung auf Erläuterung fast aufgegeben hatte. „Es ist mir einfach so aufgegangen. Dass ich mir ein Baby wünsche und eine Familie gründen will.“

Nate lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete Josey, die verträumt in die Gegend schaute. „Also hörst du jetzt deine biologische Uhr ticken.“

Josey verzog das Gesicht. „Nein. Ich meine, wahrscheinlich schon, aber so hätte ich das jetzt nicht ausgedrückt. Und es geht auch nicht nur darum, es geht um viel, viel mehr.“ Nun steckte sie das Brot doch in den Mund, kaute ein wenig und sagte schließlich: „Ich hatte es ganz deutlich vor Augen. Es war wie eine … eine Offenbarung.“

Allmählich begann Nate etwas unruhig zu werden. Eigentlich kannte er Josey ganz anders, als fröhlichen, humorvollen Menschen. Dass sie auf einmal so ernsthaft und überlegt sprach, irritierte ihn. „Eine Offenbarung? Und die kam einfach so aus dem Nichts?“

„Na ja, ich weiß auch nicht. Es war schon etwas seltsam. Da stand ich eben noch vor meiner Klasse und bin ganz normal meinen Aufgaben nachgegangen, und dann auf einmal …“ Sie brach ab, um einen kleinen Schluck Cola zu nehmen. „Ich glaube, ich will einfach mal zur Abwechslung meinem eigenen Kind etwas beibringen. Und zwar mehr als nur Schreiben und Rechnen. Ach, ich kann das einfach nicht beschreiben, es ist eben so ein Gefühl, aber ich bin vollkommen überzeugt davon.“

Nate wusste nicht so recht, was er dazu sagen sollte, und Josey wartete offenbar auf irgendeine Reaktion. Allerdings fiel ihm nichts Besseres ein als: „Willst du dich an eine Samenbank wenden?“

„Ob ich mich …?“ Nun endlich sah Josey ihm direkt in die Augen. Sie runzelte die Stirn, als hätte sie seine Frage nicht verstanden. „Nein, ich will mich nicht an eine Samenbank wenden. Nicht, dass ich etwas gegen Samenbanken hätte, aber ich wünsche mir etwas ganz anderes.“ Sie lehnte sich nach vorne, sodass das Goldmedaillon, das sie an einer langen Kette um den Hals trug, fast gegen ihr Wasserglas schlug. „Ich will eine Familie, Nate. Mit Kindern … und einem Ehemann. Mit allem, was dazugehört eben.“

Nun lehnte sich auch Nate nach vorn, fast berührten sich dabei ihre Nasenspitzen. Er sprach ganz leise, damit die anderen Gäste hier draußen auf der Veranda ihn nicht hörten. „Seit wann, Josey? Du bist doch immer für dein Leben gern Single gewesen. Wie oft hast du mir schon lang und breit beim Dinner erklärt, dass es doch sowieso unmöglich sei, den richtigen Mann zu finden, und dass du dir deswegen kein Bein ausreißen wolltest? Ich sag dir, wie oft: hundertmal mindestens.“

„Und?“ Josey klang trotzig. „Darf ich es mir denn nicht anders überlegen?“

Gerade als Nate darauf etwas erwidern wollte, kam die Serviererin mit ihren Bestellungen. Sobald sie den riesigen bunten Salat abgestellt hatte, griff Josey nach einer Gabel und machte sich darüber her. Nate war erleichtert darüber, dass Joseys urplötzlicher Sinneswandel sich immerhin nicht auf ihren Appetit ausgewirkt hatte. In gewisser Weise war sie also doch noch die Alte geblieben.

Aber – Moment mal! Verhielt er sich ihr gegenüber eigentlich gerade fair? Selbst wenn er selbst sich nicht vorstellen könnte, jemals Kinder in die Welt zu setzen, gab ihm das doch noch lange nicht das Recht, an Joseys Wünschen herumzukritisieren. Nate schnitt sich ein Stück Steak ab, kaute langsam und schluckte. „Josey?“

Sie schaute hoch.

„Es tut mir leid, Josey. Und nun hör mir mal zu.“ Er nahm ihre rechte Hand, damit Josey ihn nicht einfach ignorierte und sich weiter mit dem Salat beschäftigte. „Ich bin doch nur überrascht. Auf einmal sprichst von Kindern, von einem Ehemann … und ich … finde das ganz toll. Wirklich. Ich wünsche dir alles Gute.“

„Ja?“, fragte sie, und ihre Stimme klang ganz rau, als sie noch einmal nachhakte: „Meinst du das ernst?“

„Aber natürlich. Du bist doch meine beste Freundin, und ich würde alles tun, damit es dir gut geht.“

Bei diesen Worten fiel Josey die Gabel aus der Hand, die immer noch in Nates lag. Sie drehte die Hand um und umschloss nun fest seine Finger. Plötzlich strahlte Josey über das ganze Gesicht. „Du ahnst ja gar nicht, wie froh ich bin, dass du das gesagt hast!“

„Ich habe es auch so gemeint.“

„Wunderbar“, erwiderte sie und rutschte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her.

Nate musste unwillkürlich lächeln: Genau so kannte er Josey.

„Also gut, Nate“, begann sie schließlich, ließ seine Hand los und lehnte sich wieder zurück. „Dann kann ich dir ja jetzt sagen, worum ich dich heute eigentlich bitten wollte. Ich brauche nämlich deine Unterstützung.“

„Kein Problem, worum geht’s denn?“

„Natürlich um meinen Plan, worum sonst? Du bist genau derjenige, der mir bei der Umsetzung helfen kann. Ich brauche dich.“

Bis eben hatte Nate noch zustimmend genickt, doch jetzt hielt er plötzlich inne.

Ich brauche dich …

Damit meinte sie doch wohl nicht … nein. Nein, das war unmöglich. Sie brauchte ihn doch wohl nicht etwa, damit er mit ihr eine Familie gründete? Ihm stockte der Atem.

Ihm gegenüber saß Josey und betrachtete ihn, ihre Augen funkelten gefährlich.

Also gut, gestand er sich im Stillen ein, während der ganzen Zeit, in der wir nun schon befreundet sind, habe ich mich vielleicht wirklich ein-, zweimal gefragt, wie es wohl wäre, neben ihr im Bett zu liegen. Wie es sich anfühlen würde, ihren sexy Körper zu berühren, ihr wunderschönes Gesicht zu umschmiegen und …

Nate runzelte die Stirn. Wenn er genauer darüber nachdachte, hatte er sich das sogar schon mindestens dreimal vorgestellt. Und jetzt, in diesem Moment, hatte sie womöglich die gleichen Fantasien in Bezug auf ihn.

Ich muss das Thema sofort beenden, dachte Nate. Er konnte es unmöglich zulassen, dass Josey ihm gleich die Frage stellte, die ihr so offensichtlich auf der Zunge brannte. Er wollte ihr diese Bitte nicht ausschlagen und ihr damit wehtun. „Josey“, setzte er an. „Ich glaube nicht, dass … äh …“

„Ich weiß ja, dass das alles sehr plötzlich kommt“, fuhr Josey ernsthaft fort und fischte mit den Fingern einen Croûton vom Salat, um ihn sofort in den Mund zu stecken. „Aber ich schaffe das einfach nicht allein. Ich brauche einen neutralen Beobachter, der meine Kandidaten unter die Lupe nimmt.“

Ungläubig sah Nate sie an. „Einen … Beobachter?“

„Ganz genau. Stell dir mal vor, ich entscheide mich für den falschen Mann, nur weil ich es so eilig damit habe, eine Familie zu gründen! Ich halte das zwar nicht für besonders wahrscheinlich, aber ich würde mich trotzdem viel besser fühlen, wenn ich wüsste, dass jemand das Ganze im Auge behält.“

Nate war unendlich erleichtert, als er begriff, worum es ihr ging. Die Enttäuschung, die er ebenfalls spürte, verdrängte er schnell. Sie wollte also gar nicht ihn. Er war immer noch ihr platonischer Freund, ihr bester Kumpel. „Warum ich?“

„Du bist für die Rolle wie geschaffen, Nate. Liebenswert, zuverlässig und verantwortungsbewusst. Und außerdem ein ganz ausgezeichneter Menschenkenner. Schließlich bist du mit mir befreundet.“ Josey lächelte frech. „Also hast du alle Eigenschaften, die du brauchst, um mir bei meiner Suche nach dem Traummann behilflich zu sein. Damit ich schließlich meine Traumfamilie gründen kann. Also: Hilfst du mir?“

Zum Glück war sie gerade so sehr mit ihren Plänen beschäftigt, dass sie Nate nicht anmerken konnte, woran er gerade gedacht hatte: Er hatte gedacht, dass sie ihn heiraten wollte. „Also gut, was soll ich tun?“

„Also“, begann Josey gedankenverloren, während sie die Eiswürfel im Glas mit dem Strohhalm zum Rotieren brachte. „Ich stelle mir das so vor: Ich verabrede mich mit einem Mann, und wenn er mir ganz gut gefällt, unternehmen wir als Nächstes etwas zu dritt. Bei der Gelegenheit kannst du ihn dir genauer anschauen, um mir hinterher zu sagen, ob er’s wert ist, dass ich ihn näher kennenlerne.“

„Ich würde diesen Moment gern nutzen, um ein paar Bedenken anzubringen“, schaltete sich Nate ein und klang dabei selbst für sein Gefühl viel zu sehr wie der typische Jurist. „Zunächst mal bin ich mir sicher, dass dieser Mann wenig begeistert davon wäre, dich gleich bei der zweiten Verabredung mit mir zu teilen.“

Josey öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber Nate hob sofort die Hand. „Warte, lass mich erst ausreden. Es ist doch so: Du und ich, wir beide wissen ganz genau, dass unsere Beziehung rein freundschaftlich ist. Aber glaubst du, ein anderer Mann könnte das nachvollziehen? Und ganz unabhängig davon: Wäre ein anderer Mann bereit, dich überhaupt in irgendeiner Weise mit mir zu teilen, und wenn es nur um reine Freundschaft geht?“

„Die Antwort ist ganz einfach“, entgegnete Josey lächelnd. „Eine der wichtigsten Anforderungen, die ich an meinen zukünftigen Ehemann stelle, ist, dass es ihm nichts ausmachen darf, wenn mein allerbester Freund ausgerechnet ein gut aussehender anderer Mann ist. Falls er sich davon bedroht fühlt, kann ich mit dem Typen nichts anfangen. Du bleibst nämlich auch nach meiner Hochzeit immer noch mein bester Freund. Außerdem müssen wir ja nicht gleich den ganzen Abend zu dritt verbringen“, fügte sie noch hinzu. „Wir könnten uns doch einfach auf einen Drink mit dir treffen und nachher dann zu zweit essen gehen. Es geht doch bloß darum, dass du dich mal kurz mit ihm unterhältst, um ihn einschätzen zu können.“

„Du findest mich also gut aussehend, ja?“

Verärgert knüllte Josey ihre Serviette zusammen und warf sie nach Nate. „War ja klar, dass du dich an diesem kleinen Kompliment festbeißen würdest. Nun hör mir aber mal richtig zu!“

Nate fischte sich das Serviettenknäuel aus dem Schoß und legte es neben seinen Teller. „Ach, das war doch nur ein Scherz. Übrigens habe ich noch einen zweiten Einwand: Ich kann dir gar nicht sagen, ob ein Mann der Richtige für dich ist oder nicht. Ich meine, glaubst du nicht, dass deine Gefühle da den Ausschlag geben sollten? Natürlich gibt es eine ganze Menge netter, zuverlässiger Männer dort draußen. Aber du kannst dich doch nicht in alle verlieben.“

„Du liebe Güte, nun sprich doch mit mir nicht wie mit einer Elfjährigen. Natürlich ist das Wichtigste dabei, dass ich ihn liebe! Ohne die Liebe wäre alles andere, was ich mir wünsche, doch völlig bedeutungslos.“ Josey winkte die Bedienung heran und bestellte einen koffeinfreien Kaffee für Nate und einen Kräutertee für sich selbst. Nate war gerührt, als ihm an dieser kleinen Geste klar wurde, wie gut Josey ihn kannte.

Beide schwiegen, bis die Kellnerin mit zwei Tassen zurückkehrte. Nate wollte seine gerade an die Lippen führen, da sagte Josey: „Ich möchte doch bloß, dass jemand, der vernünftig ist, ein bisschen auf mich aufpasst. Falls ich in meinem Eifer den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehe.“

„Ich werde immer auf dich aufpassen, Josey. Ob du willst oder nicht.“

Josey griff über den Tisch nach Nates Hand und drückte sie. „Das weiß ich doch. Und weißt du, was? Darauf verlasse ich mich auch immer.“ Ihre Augen funkelten, als sich ihre Blicke begegneten.

In diesem Moment geschah mit Nate etwas Unerwartetes. Sein Herz machte einen heftigen Hüpfer, dann spürte er auf einmal ein ganz seltsames Gefühl in der Magengegend. Was war bloß los mit ihm? Zeit, genauer darüber nachzudenken, bekam er nicht, denn sofort forderte Josey wieder seine Aufmerksamkeit: „Also, Nate, was ist jetzt?“

Er setzte das ohnehin fast leere Wasserglas an die Lippen, sein Mund fühlte sich plötzlich so trocken an. „Womit?“, fragte er schließlich.

„Kann ich nun damit rechnen, dass du mir hilfst? Wenn du das lieber nicht willst, dann ist das schon in Ordnung, ich komm auch allein klar.“

„Nein“, erwiderte Nate entschieden. „Nein, das brauchst du nicht. Führ mir ruhig deine Kandidaten vor. Ich werde mir Mühe geben.“

„Danke, Nate.“

3. KAPITEL

Im Videoladen war der Teufel los. Überall schienen irgendwelche Leute nach dem perfekten Abendprogramm zu suchen, und irgendwo stritt sich immer gerade ein Pärchen darüber, ob es nun der Actionfilm oder doch die romantische Komödie sein sollte. Nate sah zu Josey herüber und verdrehte die Augen.

Sie lachte zurück. „Typischer Fall von Samstagabend“, sagte sie. „Nun komm, lass uns schnell etwas aussuchen, schließlich müssen wir auch noch das chinesische Essen holen.“

„Kein Problem. Gib mir sechzig Sekunden“, gab Nate zurück und verschwand in der Abteilung mit den Neuheiten. Josey überließ die Wahl des Films immer ihm. Normalerweise suchte er ohnehin das aus, wofür sie sich auch selbst entschieden hätte. Und wenn der Streifen sich dann doch einmal als Reinfall erweisen sollte, hatte sie immer noch einen Riesenspaß dabei, sich mit Nate darüber lustig zu machen.

Während er nun die Regale absuchte, widmete Josey ihre Aufmerksamkeit der übrigen Kundschaft. Dabei handelte es sich zwar hauptsächlich um Pärchen, aber es konnte ja trotzdem nicht schaden, sich einmal genauer umzusehen. Und gerade, als sie das dachte, entdeckte Josey einen Mann bei den ausländischen Filmen. Er las sich gerade eine Filmbeschreibung durch und schien ohne Begleitung gekommen zu sein. Den Trenchcoat hatte er nicht zugeknöpft, sodass Josey den rauchgrauen Anzug darunter erkennen konnte. Dabei stellte sie fest, dass die Hosenbeine ein wenig verknittert aussahen, als hätte er den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen. Josey reckte den Hals, um einen genaueren Blick auf seine Hand werfen zu können.

Kein Ehering.

„Ich hab was gefunden.“

Josey zuckte zusammen, als sie Nates Stimme plötzlich so dicht hinter sich hörte. „Puh, du hast mich ganz schön erschreckt!“

„Tut mir leid, aber du …“ Er folgte ihrem Blick. „Aha, während ich uns einen Film ausgesucht habe, warst du also auch nicht untätig.“

Josey verpasste ihm einen leichten Knuff. „Ich hab mich nur umgeschaut, mehr nicht.“ In diesem Moment sah der fremde Mann auf, erkannte, dass sie ihn beobachtete, und erwiderte ihren Blick. Josey kam sich zunächst dämlich vor, doch dann lächelte der Mann sie freundlich an. Als er jedoch hinter sie schaute, wurde aus dem Lächeln ein Stirnrunzeln, und der Mann wandte sich wieder seinem Video zu.

Josey fuhr herum und bemerkte, dass Nate den Fremden mit einem stechenden Blick fixierte. Sie schubste Nate hinter einen Ständer mit Disneyfilmen. „Sag mal, was ist eigentlich los? Du verdirbst mir ja noch alles.“

„Ja? Was verderbe ich dir denn? Es ist doch noch gar nichts passiert. Du weißt ja nicht mal, was das für ein Kerl ist, oder etwa doch?“

„Nein, weiß ich nicht. Aber warum machst du ihn mir jetzt schon schlecht? Weißt du nicht mehr, was wir abgemacht haben? Das da könnte mein erster Kandidat sein.“

„Wie bitte? Der Typ?“ Nate verzog das Gesicht. „Du hast ihn dir gerade mal zwanzig Sekunden lang angeschaut, und jetzt erklärst du ihn schon für perfekt?“

„Ich sage doch nur, dass er etwas hat.“

„Und was soll das bitte schön sein, wenn ich fragen darf?“

„Na, er … er steht bei den ausländischen Filmen“, erklärte sie schließlich und sah zwischen Nate und dem Mann hin und her. „Und dort halten sich normalerweise nur die etwas gebildeteren Zeitgenossen auf, würde ich sagen.“

„Ach was“, gab Nate trocken zurück, „das heißt doch bloß, dass er Untertitel lesen kann. Und dafür braucht er nur die Grundschule besucht zu haben.“

Aber Josey gab nicht auf, sie wollte Nate unbedingt überzeugen. „Nun schau ihn dir doch mal an. Er ist angezogen wie ein … Anwalt.“

„Oder wie ein Gebrauchtwagenhändler. Oder der Herausgeber einer Pornozeitschrift. Oder ein Mafioso.“

„Warum machst du eigentlich alles so unnötig kompliziert?“

„Weil du so eine seltsame Art hast, an diese Sache heranzugehen. Das wirkt auf mich alles so … nüchtern … fast wissenschaftlich. Du hast zum Beispiel noch nicht in einem Nebensatz erwähnt, ob du ihn überhaupt attraktiv findest.“

Josey sah sich den Mann daraufhin noch einmal genau an. Das blonde Haar trug er sehr kurz, fast wie beim Militär. Seine Gesichtszüge waren die des netten jungen Mannes von nebenan, recht angenehm, aber nicht besonders einprägsam. Das musste Nate allerdings nicht unbedingt erfahren. Schließlich war der Mann ja auch nicht gerade hässlich. „Ich finde, er sieht ganz anständig aus“, meinte sie schließlich.

„Ganz anständig. Na, das ist doch mal eine Aussage. Warum gehst du dann nicht zu ihm rüber und fragst ihn, ob er dich heiraten würde? Ich stelle mich sogar freiwillig als Trauzeuge …“

„Nun hör aber mal auf! Seit wann bist du eigentlich so schrecklich sarkastisch?“ Josey seufzte und fuhr dann entnervt fort: „Geh lieber und zahl für den Film. Und dann stell dich bitte mal woanders hin. Ich will nicht, dass er glaubt, dass ich mit dir hier bin.“

„Soll das ein Witz sein? Ich …“

„Nate! Du hast doch versprochen, mir zu helfen.“

Sekundenlang sahen sie sich gegenseitig in die Augen, und keiner schien gewillt, dem anderen nachzugeben. Dabei konnte Nate gar nicht verstehen, warum es ihm so sehr gegen den Strich ging, einfach wegzugehen, damit Josey sich mit einem Mann verabreden konnte, der auf den ersten Blick eigentlich ganz anständig aussah und es bestimmt auch war. Aber irgendwas machte ihm dabei zu schaffen, irgendeine Stimme in seinem Hinterkopf bedrängte ihn, er solle sie bloß von der Sache abhalten.

„Nate …“

„Damit das klar ist: Du bezahlst nachher das chinesische Essen.“ Nate zeigte mit dem Finger auf sie und berührte dabei fast ihre Nase. „Und erzähl mir bitte nichts davon, wie wenig du als Lehrerin verdienst.“

Josey strahlte über das ganze Gesicht. „Vielen Dank, Nate.“ Erst fuhr sie sich mit beiden Händen durch das goldblonde Haar, dann warf sie ihm eine Kusshand zu. Nate drehte sich scheinbar unbeeindruckt zur Kasse um.

Die Schlange war unglaublich lang, trotzdem sah er gar nicht ein, wieso er auch nur einmal zu den ausländischen Filmen herüberschauen sollte, während er wartete. Er hatte keine Ahnung, was Josey dort gerade anstellte, aber er war sich sicher, dass sie Erfolg haben würde. Wer auch immer dieser Mann war, den sie sich da ausgesucht hatte, er konnte sich ja nur glücklich schätzen, von einer Frau wie Josey angesprochen zu werden.

„Wer ist der Nächste?“, fragte die junge Frau hinter der Kasse genervt, und Nate wurde klar, dass sie diese Frage wahrscheinlich nicht zum ersten Mal stellte. Er legte die Videobox auf den Tresen, doch gerade als er sein Geld herausholen wollte, ertönte vom anderen Ende des Ladens ein lautes Gerassel. Alle Leute, die an der Kasse standen, drehten sich um, Nate eingeschlossen.

Sofort fiel sein Blick auf Josey, die knallrot angelaufen war. Zu ihren Füßen lag ein großer Haufen Videohüllen, und von einem mittlerweile fast leeren Regalbrett, das sich ungefähr auf Hüfthöhe befand, fielen weitere Boxen hinzu. Bei jeder neuen Box, die neben Josey auf dem Boden landete, zuckte Nate innerlich zusammen. Offenbar hatte sich das Gummiband, das normalerweise die Videos im Regal hielt, an Joseys Handtasche verfangen und war dann gerissen, sodass alle leeren Hüllen nach und nach vom Brett fielen.

Nate schüttelte langsam den Kopf und suchte Joseys Blick. Sie wirkte verzweifelt. Schließlich kniete sie sich hin und begann hektisch, die Boxen einzusammeln.

Gerade wollte er ihr zur Hilfe eilen, da hatte sich der Mann im Trenchcoat schon neben sie gehockt. Nate hielt inne. Er beobachtete, wie der Fremde ihr etwas ins Ohr flüsterte und sie schallend lachte. Gemeinsam fuhren die beiden fort, Videos aufzuheben und wieder ins Regal zu stellen.

Nate nahm seinen Spielfilm und das Wechselgeld entgegen und rauschte auf direktem Weg zum Ausgang, ohne nach rechts und links zu schauen. Draußen lehnte er sich gegen die Mauer und atmete tief die Frühlingsluft ein. Eine frische Brise wehte vom Bostoner Hafen herüber, es roch ein wenig nach Fisch.

Offenbar verstanden sich Josey und ihr Auserwählter auf Anhieb prächtig. Nate beschloss, einfach hier draußen auf sie zu warten.

4. KAPITEL

Nate bekam Josey am nächsten Tag nicht einmal zu Gesicht, ärgerte sich aber trotzdem die ganze Zeit über sie. Warum, wusste er nicht.

Auf dem Weg zum chinesischen Imbiss hatte Josey ihm alles über den Mann aus dem Videoladen erzählt – offenbar hieß er Mike oder Mark oder so ähnlich. Während Nate und sie in Joseys Wohnung die Kartons mit dem Bratreis und dem Hühnchen Chop Suey öffneten, erfuhr Nate außerdem, dass der Typ ganz in der Nähe von ihnen wohnte, in der Columbus Avenue. Und während Nate den Film in den Rekorder schob und über die Vorschauen hinwegspulte, ließ sie einfach so fallen, dass dieser Mike oder Mark ihr seine Telefonnummer gegeben hatte und sie wahrscheinlich nächste Woche etwas unternehmen würden.

Bei jeder dieser Enthüllungen nickte Nate eifrig und bemühte sich, eine Begeisterung an den Tag zu legen, die er gar nicht empfand.

Als er wieder zu Hause war, bürstete er seine Zähne mit ungewohnter Brutalität und verschwand sofort im Bett.

Am Sonntag stand er dann gleich mit der Morgendämmerung auf, die er seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Nate hatte keine Lust, heute mit irgendjemandem zu reden, also ging er auch beide Male nicht ans Telefon, als es klingelte. Und beide Male hatte der Anrufer bereits aufgelegt, als der Anrufbeantworter sich einschaltete. Am Abend hatte Nate es schließlich geschafft, den ganzen Tag mit Schmollen zuzubringen. Ihm war immer noch nicht klar, wer oder was ihn in diese miese Stimmung versetzt hatte, aber immerhin war es ja nun vorbei.

Dachte er.

Doch dann kam der Montag, und der wurde auch nicht besser. Er kam eine Stunde vor seinen Kollegen ins Büro, und trotzdem schaffte er rein gar nichts.

Also gut, sagte er zu sich, man braucht kein Diplom-Psychologe zu sein um herauszufinden, dass mich der Gedanke an Josey und ihren neuen Flirt aus dem Videoladen ganz verrückt macht. Aber warum eigentlich? Was kümmert es mich, mit wem sie sich abgibt? Schließlich kann sie doch tun und lassen, was sie will.

Aber vielleicht war ja genau das sein Problem: Dass Josey nämlich tatsächlich tun und lassen konnte, was sie wollte. Sie war ein freier Mensch, während er genau das eben nicht war – aus Gründen, die nicht in seiner Macht standen. Jedenfalls würde er niemals so weit sein, sich auf die gleiche Suche zu begeben, mit der Josey gerade begonnen hatte.

Aber darüber wollte er gar nicht genauer nachdenken. Er wollte sich an die schrecklichen Dinge aus seiner Vergangenheit nicht erinnern, und auf keinen Fall wollte er, dass ihm diese Dinge wieder durch den Kopf schossen, wenn er Josey das nächste Mal sah. Das alles musste weiterhin vor ihr verborgen bleiben, so wie es vor allen Menschen in seinem Leben verborgen bleiben musste.

Nate war ziemlich erleichtert, als sein älterer Bruder Derek anrief und vorschlug, sich in der Mittagspause im Park zu treffen. Wenn auch nur eine einzige Person auf dieser Welt den Kontakt zur Wirklichkeit nicht verloren hatte, dann war es Derek.

Nate saß erst seit etwa drei Minuten auf der Parkbank, da kam Derek auch schon angejoggt, unter dem linken Arm ein paar abgegriffene Bücher, in der rechten Hand einen Hotdog. Wieder einmal konnte Nate nur darüber staunen, dass sein dreiunddreißigjähriger Bruder ganz wie ein Student von Anfang zwanzig wirkte. Er trug ein T-Shirt mit College-Emblem und dazu ausgeblichene Jeans. Sein Haar war genauso dunkelbraun wie Nates, bloß trug Derek das Deckhaar ein bisschen länger und musste es sich daher immer wieder hinter die Ohren stecken.

„Hi“, begrüßte er Nate kauend. „Tut mir leid, ich habe eben während der ganzen Vorlesung immer nur an Hotdogs denken müssen.“ Er schluckte den letzten Bissen herunter. „Aber keine Sorge, ich habe immer noch genug Hunger, um mit dir essen zu gehen.“

Essen gehen bedeutete bei Nate und Derek einen Besuch in ihrem Lieblingscafé am Ende der Straße, wo das Essen einen guten Fettgehalt hatte. Nate bestellte sich dort normalerweise einen Salat, aber heute war ihm nicht danach, sich drinnen an einen Tisch zu setzen. Dafür war er viel zu aufgedreht, er musste sich einfach bewegen. „Ach, lass uns doch einfach noch ein paar Hotdogs kaufen und ein bisschen spazieren gehen“, schlug er deshalb vor. „Es ist so schön hier draußen.“

„Ich dachte, du hasst Hotdogs“, warf Derek ein, als sie über den Rasen zur Mitte des Parks gingen, wo der Hotdogverkäufer stand. Der alte Mann hob den Metalldeckel in seinem Wagen an, und eine Dampfwolke stieg auf.

Nate zog seine Brieftasche hervor und entnahm ihr einige Dollars. „Das stimmt nicht, ich esse das Zeug bloß normalerweise nicht, weil ich weiß, was drin ist. Aber ich hasse Hotdogs bestimmt nicht.“

„Hm, sehr logisch“, erwiderte Derek und schob sich die Bücher wieder unter den Arm, sodass er gleichzeitig zwei weitere Hotdogs und eine Getränkedose bis zur nächsten Bank befördern konnte. Nate folgte ihm mit seiner eigenen Bestellung.

„Wenn ich es mir genau überlege, benimmst du dich wirklich gerade ziemlich seltsam“, fuhr Derek fort, nachdem sich beide gesetzt hatten. „Du hast dich ja noch nicht einmal danach erkundigt, wie meine Vorlesungen und Seminare so laufen. So, wie du das sonst immer tust. Und du hast mich auch noch nicht daran erinnert, dass es bis Donnerstag noch drei Tage hin sind und ich das Geld nicht zum Fenster rausschmeißen soll, bis du wieder vorbeikommst, um mir den nächsten Scheck zu überreichen. Du hast dich auch noch nicht über meine Ernährung ausgelassen, überhaupt hast du mir in den letzten Minuten noch keinen einzigen Vortrag gehalten. Das ist ein echter Rekord für dich!“ Derek hielt inne, er schien angestrengt nachzudenken. Dann fixierte er Nate. „Und nun heraus mit der Sprache, Mister. Wer genau sind Sie, und was haben Sie mit meinem Bruder Nathan Bennington angestellt?“

Darüber konnte Nate noch nicht einmal lachen. „Also, mit mir selbst ist alles in bester Ordnung. Bloß der Rest der Welt ist offenbar völlig durchgedreht.“

„Aha. Und wer genau ist der Rest der Welt, bitte schön?“

„Na, Josey zum Beispiel.“

„Ach, Josey war doch immer schon etwas durchgedreht, oder?“, gab Derek zurück. „Gerade das mögen wir ja alle so an ihr. Was hat sie denn diesmal angestellt? Zuletzt hatte sie …“

„Ich sag dir mal, wie’s diesmal ist“, unterbrach Nate ihn. „Diesmal bricht sie nämlich wirklich alle Rekorde. Sie führt sich auf wie eine rollige Katze. Entschuldige, wenn das jetzt etwas geschmacklos klingt.“

Derek begann schallend zu lachen. „Macht nichts, ich liebe Geschmacklosigkeiten. Eine rollige Katze? Wie kommst du denn darauf?“ Dann senkte er die Stimme. „Willst du damit etwa sagen, dass sie es bei dir versucht hat? Wenn das nämlich so ist, dann wurde das aber auch mal Zei…“

„Bei mir? Nein, um mich geht es gar nicht. Wir sind bloß ganz normal befreundet“, unterbrach Nate ihn aufgeregt. „Aber sie hat da so einen verrückten Plan.“

„Was für einen Plan?“ Derek nahm einen großen Schluck aus seiner Getränkedose.

„Sie ist auf der Suche nach ihrem Traummann.“

„Na und? Schließlich ist sie solo. Und verdammt attraktiv, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.“

Mit wenigen Worten informierte Nate seinen Bruder über Joseys Vorhaben, mit dem perfekten Mann eine noch perfektere Familie zu gründen, und bei jedem Wort, das er darüber verlor, war ihm elendiger zumute. Als er schließlich bei seiner Aufgabe als Kandidaten-Tester angekommen war, musste Derek zu Nates Ärger erneut lachen.

„Ich finde das überhaupt nicht witzig“, sagte Nate. „Mir war zum Beispiel überhaupt nicht zum Lachen, als ich in diesem Videoladen stand und so tun musste, als würde ich sie nicht kennen, während ihr da irgend so ein Idiot bei den ausländischen Filmen mit seinen Blicken fast die Kleider vom Leib riss.“

Derek betrachtete seinen Bruder aufmerksam. „Meinst du nicht, dass du da etwas übertreibst? Wahrscheinlich ist das nur so eine Phase, die geht auch wieder vorüber. Josey ist ja schließlich nicht dumm. Sie weiß doch selbst, dass sie in einem Monat keinen Ehemann finden kann, schon gar nicht, wenn sie krampfhaft nach einem sucht. Mach einfach mit, bis ihr die Sache langweilig wird.“

„Aber das tue ich doch schon! Und ich werde fast wahnsinnig dabei. Du hast recht, sie ist wirklich eine außergewöhnlich intelligente Frau. Und deswegen ist es mir ganz besonders peinlich, wenn sie auf einmal alle Männer um uns herum anstarrt wie ein Stück Rindfleisch beim Metzger.“ Nate seufzte. „An sich verstehe ich gar nicht, worüber ich mich so aufrege. Schließlich ist es doch ihr Leben.“

„Ganz genau.“ Derek knüllte das Wachspapier zusammen, in das seine beiden Hotdogs eingewickelt gewesen waren. „Eigentlich könntest du dir an ihr ein Beispiel nehmen.“

Erschrocken fuhr Nate herum und sah in das Gesicht seines Bruders, der ihn mit seinem typischen schelmischen Grinsen bedachte. „Und was soll das bitte heißen, oh weiser großer Bruder?“

„Ganz einfach: Vielleicht solltest du dir auch einfach jemanden suchen, der dich glücklich macht.“

„Wer sagt denn, dass ich nicht schon längst glücklich bin?“

Derek zuckte die Schultern. „Na ja, ich dachte bloß …“

„Außerdem“, fiel ihm Nate ins Wort, „habe ich für so etwas gar keine Zeit.“ Abrupt stand er auf. Er wartete, bis Derek sich ebenfalls erhoben hatte, dann begann er, den Weg zur U-Bahn-Station hinunterzugehen. Von dort aus wollte er zurück in die Innenstadt fahren, wo sein Büro lag. Derek eilte ihm nach, bis er schließlich im Gleichschritt neben Nate herlief.

„Klar, du bist ja auch ein viel beschäftigter Mensch“, machte Derek sich über seinen Bruder lustig. „Musst dich um alles und jeden kümmern, die Welt vor den Bösewichtern bewahren und außerdem mich vor falscher Ernährung und meinem Übermut. Tja, und daneben reißt du dir noch ein Bein für Josey aus und musst dabei ärgerlicherweise feststellen, dass sie deinen weisen Rat einfach in den Wind schlägt. Du bist so beschäftigt damit, dich um andere Menschen zu kümmern, dass dir dabei gar keine Zeit mehr für dich selbst bleibt. Ganz zu schweigen von einer Beziehung. Trifft es das in etwa?“

„Ja, das trifft es ziemlich gut. Beziehungen machen eine ganze Menge Arbeit.“

„...

Autor

Jen Safrey
Jen Safrey wurde in Queens, New York, geboren und wuchs in Valley Stream, auf Deutsch Talstrom, auf – einem Städtchen in der Nähe von New York, das interessanterweise trotz seines Namens weder ein Tal noch einen Strom aufweist. (Dafür aber viele Imbissbuden und Pizzerien.)

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