Bianca Herzensbrecher Band 5

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DIE GEFÄHRLICHE KREUZFAHRT von MARY ANNE WILSON
Er ist nicht ihr Mann, sondern nur zu ihrem Schutz auf dieser weihnachtlichen Kreuzfahrt engagiert. Aber trotz allem, was sie trennt, fühlt Shelley sich immer mehr zu dem starken Lucas Jordon hingezogen - bis die Gefahr, vor der sie geflohen ist, sie erneut einholt …

FLUCHT INS GLÜCK von CELESTE HAMILTON
Im Pferdetransporter versteckt flieht die junge Olivia vor ihrem strengen Vater - direkt in die Arme des reichen Pferdezüchters Noah. Bei diesem faszinierenden, ungemein anziehenden Mann fühlt sie sich zum ersten Mal sicher und geborgen. Oder ist seine Liebe nur erkauft?

DIESER KUSS IST EIN VERSPRECHEN von KAREN TOLLER WHITTENBURG
Die junge Schlosserbin Monty Carlisle wird Opfer mysteriöser Ereignisse. Zum Glück ist jedes Mal ihr Gärtner Sebastian de Vergille zur Stelle, um sie zu retten. Ist das wirklich nur Zufall? Monty ahnt nicht, dass das Schloss den Vorfahren Sebastians gehörte und er es selbst besitzen möchte ...


  • Erscheinungstag 30.08.2019
  • Bandnummer 5
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737986
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Mary Anne Wilson, Celeste Hamilton, Karen Toller Whittenburg

BIANCA HERZENSBRECHER BAND 5

PROLOG

31. Oktober

Die Angehörigen der Polizei von San Francisco waren in Uniform auf dem alten Friedhof oben auf dem grasbedeckten Hügel angetreten. Lucas Jordon, ein höherer Beamter, stand mit finsterer Miene hinter seinen Kollegen am frisch ausgehobenen Grab und starrte aus dunklen Augen in den bleiernen Himmel.

Der schwere Verband und die Armschlinge um den linken Arm und die Schulter blieben halb unter dem dunklen Mantel verborgen. Eigentlich hatte Lucas seine Uniform tragen wollen, aber es war ihm unmöglich gewesen, sie anzulegen. Dass er nur über eine gesunde Hand verfügte, hinderte ihn an weitaus mehr als an der Ausführung seines Dienstes.

Es war nicht Lucas’ Art zu hassen. Vor langer Zeit hatte er erfahren, dass dieses Gefühl einem nichts einbrachte. Aber in dem Moment, als das erste Salut über die Gräber hallte, wusste er, dass er fähig war, den Menschen zu hassen, der Monroe dazu verholfen hatte, sich wieder frei in der Stadt zu bewegen. Die Person, die dafür verantwortlich war, machte als staatlicher Pflichtverteidiger Karriere, indem sie die Schuldigen mithilfe des Gesetzes freibekam.

Captain Richard Bentley hielt die Trauerrede. Er nannte Larry Hall einen guten Polizisten, der nicht von der Hand eines Verbrechers hätte sterben dürfen bei einer Drogenrazzia in einer miesen Pension unten bei den Docks.

Nach fünfzehn Dienstjahren kannte Lucas Jordon die Ironie des Schicksals im Leben eines Polizisten. Ja, er war selbst ein wandelndes Beispiel dafür. Erst zwei Wochen vor Larry Halls Tod hatte er sich eine Kugel eingefangen, die ihm die Knochen zerschlagen, seine Schulter zerrissen und viele Nerven zerstört hatte. Wäre sie nur vier Zentimeter weiter rechts in seinen Körper eingedrungen, hätte sie Herz und Lunge getroffen.

Und der bitterste Hohn war: Auch der Mann, der auf Lucas geschossen hatte, hätte nicht mehr frei herumlaufen dürfen, genauso wenig wie Freddy Monroe, der Larry Hall getötet hatte.

Außer dass Lucas seine linke Hand nicht einmal mehr zur Faust ballen konnte, wurde er von ständigen Schmerzen gequält. Sie strahlten von seinem linken Arm zum Hals und Rücken aus, und als er die Zähne fest zusammenbiss, brach ihm der kalte Schweiß aus. Die Wirkung des Schmerzmittels ließ nach.

Er ließ den Blick langsam über die Trauernden schweifen, musterte die von Kummer gezeichneten Gesichter, bis er eine Frau entdeckte, die fernab von den Anwesenden unter den ausladenden Zweigen einer Platane stand.

Sie war blass. Ihr silberblondes Haar trug sie streng aus dem aparten Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Ein dunkler Mantel unterstrich noch die Blässe ihrer Haut. Aber die Frau war reizvoll auf eine delikate Weise. Lucas blickte schnell weg, als ihn die Frage zu quälen begann, ob er wohl jemals wieder fähig sein würde, eine Frau in seinen Armen zu halten.

Mit jeder folgenden Gewehrsalve der Ehrengarde zuckte Shelley Kingston zusammen. Sie hasste Waffen. Sie hasste Gewalt. Und sie wusste nicht, warum sie überhaupt hergekommen war. Sie hielt sich abseits von den Trauergästen, weil sie wirklich nicht hierhergehörte.

Fröstelnd zog sie den Mantel fester um sich. Als sie gehört hatte, dass ein Polizist bei einer Drogenrazzia erschossen worden war, war ihr abscheulich zumute gewesen. Aber als sie dann noch den Namen des Täters erfuhr, der gleich nach seiner Tat ebenfalls erschossen worden war, war ihr körperlich übel geworden.

Vom Verstand her wusste sie, dass man sie nicht verantwortlich machen konnte. Als staatliche Strafverteidigerin hatte sie unter Berücksichtigung der ihr zur Verfügung stehenden Gesetze nur ihren Job getan. Aber ihr war auch klar, dass das von den Trauernden niemand akzeptieren mochte.

Noch während die Salven in der kalten Luft nachklangen, wandte sie sich um und ging zu ihrem Wagen. Einen Moment hielt sie inne, als sie den Mann ihr gegenüber erblickte, der hinter der Mannschaft der Polizei stand. Ein dunkler Mann, der den dunklen Mantel sich um die Schultern gelegt hatte. Er stand reglos, mit geschlossenen Augen und fest aufeinandergepressten Lippen da.

Sie fühlte beinahe den Schmerz, den dieser Mann ausstrahlte. Rasch wandte sie sich ab. Nein, sie würde nie wieder einer solchen Beisetzung beiwohnen. Sie gehörte nicht dazu.

Einer der Trauergäste stand inmitten der Anwesenden, teilte einen Regenschirm mit einem neben ihr Stehenden und war doch isoliert. Shelley Kingston merkte nicht, dass diese Person ihr mit den Blicken folgte und ihr Fortgehen registrierte.

Dann wandte sich die Person ab und starrte auf den Sarg unter dem weißen Baldachin, der rasch aufgebaut worden war, als es zu regnen begonnen hatte. Alles verschwamm vor ihren Augen, das Rot, Weiß und Blau der Fahne. Alles schien schemenhaft und falsch. Außer dem Hass …

Hass gab einer sinnlosen Situation den Sinn. Aber es war sinnlos, Freddy Monroe, den Täter, zu hassen. Sein Tod konnte nicht als Sühne für Larrys Tod akzeptiert werden. Zu wissen, dass Monroe getötet worden war, Sekunden, nachdem er Larry erschossen hatte, war nicht genug. Das Leben eines Straßenganoven genügte nicht als Vergeltung für den Tod eines Polizisten und eines Mannes, wie Larry einer gewesen war.

Aber auf einmal hatte sich ihr bei der Beisetzung die Möglichkeit der Vergeltung gezeigt. Shelley Kingston. Sie war die Frau, die für all dies verantwortlich war. Und in diesem Moment wusste diese Person in Trauer, dass Shelley Kingston für Larrys Leben bezahlen musste … auf die eine oder andere Weise.

1. KAPITEL

20. Dezember

Als Shelley schließlich zu Hause anlangte, war es fast sieben Uhr abends, und eine kühle Brise wehte von der entfernten San Francisco Bucht in die Stadt. Shelley und ihre Tochter Emily eilten die Treppe zur vorderen Veranda ihres Bungalows hinauf, den sie im Süden der Stadt gemietet hatten. Sie hatte kaum den Schlüssel ins Messingschloss der Eingangstür gesteckt, als das Telefon zu läuten begann.

Emily huschte an ihr vorbei ins dunkle Haus und rief über die Schulter: „Ich geh ran.“

„Ich bin beschäftigt“, rief Shelley ihr hinterher. Sie wollte jetzt nicht mit Ryan Sullivan, ihrem Vorgesetzten in der Kanzlei, sprechen. „Sag, ich rufe später zurück.“

Shelley warf die Tür zu, während Emily das Licht in der Küche einschaltete. Der helle Schein drang bis ins Wohnzimmer und beleuchtete einen polierten Holzfußboden, handgeknöpfte Teppiche und Korbmöbel.

„Sie hat zu tun. Kann ich etwas ausrichten?“, hörte Shelley ihre Tochter höflich sagen.

Shelley schlüpfte aus den schwarzen Pumps, die sie zu dem schlichten dunkelblauen Kostüm getragen hatte, und ging in ihre altmodische Küche, wobei sie sich fragte, ob sie Pizza bestellen oder im Kühlschrank nachsehen solle, was sich dort für das Abendessen finden ließ.

Gedankenverloren blickte sie zu Emily hinüber, die auf einem niedrigen Holzschemel stand, um an das Wandtelefon nahe des Waschraums heranzukommen.

In dem grünen Jumper, der weißen Bluse, den weizenblonden Zöpfen und dem fein geschnittenen Gesicht wirkte Emily unglaublich zart für ihre sieben Jahre. Für gewöhnlich war sie eine Plaudertasche, diesmal hörte sie jedoch aufmerksam zu, was ihr vom anderen Ende der Leitung aufgetragen wurde.

„Na klar kann ich das behalten“, sagte sie und verdrehte die Augen. „Ich darf für meine Mutter Anrufe annehmen.“

Shelley stellte wieder einmal fest, dass es albern sei, Ryan auszuweichen, und wollte deshalb Emily den Hörer aus der Hand nehmen. Zu spät. Emily sagte noch: „Okay. Frohe Weihnachten auch für Sie!“, und legte auf.

Dann sprang sie vom Hocker und eilte zum Kühlschrank.

„Wer war das?“

„Das weiß ich nicht.“ Emily holte aus dem Kühlschrank eine Dose Sprudelwasser. „Sie haben mir nicht ihren Namen genannt. Nur, dass sie mit dir sprechen wollen.“

Automatisch nahm Shelley Emily die Dose aus der Hand. „Nicht vor dem Essen. War es nicht Mr. Sullivan?“

„Nein. Ich bin durstig.“ Emily sprach mit leicht weinerlicher Stimme, die sich immer einstellte, wenn sie müde war. Es war ein langer Tag für sie gewesen mit Schulunterricht und dem Nachmittagsprogramm, an dem sie teilnahm, bis Shelley sie nach Dienstschluss abholen kam.

Das ach so vertraute Schuldgefühl, ihre Tochter zu vernachlässigen, quälte Shelley wieder von Neuem. Sie verdrängte es mit der realistischen Ausrede, gerade jetzt sehr hart arbeiten zu müssen. Wenn sie erst einmal die zwei Jahre als staatliche Pflichtverteidigerin hinter sich haben würde, konnte sie sich eine gute Anwaltsfirma suchen, und Emily würde alles bekommen, was sie brauchte.

Mit dem Versuch, sich und das Kind zu besänftigen, schlug sie vor, für das Abendessen Pizza zu bestellen.

Emilys Gesicht hellte sich sofort auf. „Mit ’ner Menge Pilze und ohne Salami.“

„Das klingt wunderbar, aber bevor ich wegen der Pizza telefoniere, sag mir bitte, wer angerufen hat.“

„Weiß ich nicht.“

„Ein Mann oder eine Frau?“

„Das konnte ich nicht erkennen.“

„Okay. Was haben sie gesagt?“

„Sie wollten wissen, ob mein Vater zu Hause sei.“

„Wie bitte?“

„Sie fragten, ob er da wäre, und ich sagte Nein.“

„Was haben sie noch gesagt?“

„Ich soll dir sagen, dass sie wissen, dass du Gangster befreist.“

„Gangster?“

„Ja. Du machst, dass sie frei sind, aber das ist schlecht, und das wird dir nicht mehr gelingen, denn sie lassen dich nicht, und du musst bezahlen.“

Shelley hatte das Gefühl, als würde ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzen. „Noch etwas?“, fragte sie so ruhig, wie es ihr möglich war.

„Nein. Hab ich was verwechselt?“

Wie sie sich wünschte, dass das Kind darin recht hätte! „Nein. Ich glaube, du hast richtig verstanden.“

„Was bedeutet das?“

Shelley war immer so aufrichtig wie möglich zu Emily. Lügen konnten verletzender sein als die Wahrheit. „Ich habe Probleme im Dienst.“

„Mag Mr. Sullivan dich nicht?“

„Es geht nicht um Mr. Sullivan. Wir mögen uns. Er ist ganz nett. Du weißt doch, mit was für Menschen ich es in der Arbeit zu tun habe?“

„Na klar.“

„Es gibt einige Gute, aber von Zeit zu Zeit muss ich auch mit solchen umgehen, die nicht so gut sind. In den letzten Wochen erhielt ich Briefe und Anrufe von jemandem, der mich nicht mag, weil er glaubt, ich tue das Falsche.“

Emily schien von Shelleys Erklärung gelangweilt. „Dann bring ihn doch ins Gefängnis.“

„Darum geht es gerade. Ich weiß nicht, wer der Anrufer ist. Wahrscheinlich ist er derselbe, der soeben mit dir gesprochen hat.“

„Wirklich?“ Emily machte große Augen. „Sie haben aber sogar frohe Weihnachten gesagt.“

„Du weißt doch, dass ich immer aufrichtig zu dir bin.“

„Na klar, aber Stanley Weed aus der Schule sagt, ich sei dumm, weil ich aufrichtig zu ihm war und ihm gesagt habe, es gebe keinen Weihnachtsmann. Er wollte mich verprügeln, und ich …“

„Emily, bitte. Wir sprechen später über Stanley Weed und den Weihnachtsmann. Im Augenblick mache ich mir wegen dieses Anrufs Sorgen, weil der Anrufer meine Privatnummer hat. Bitte geh von heute an nicht mehr ans Telefon, okay?“

„Aber du hast gesagt, ich mache es wirklich gut.“

„Das stimmt. Aber in den nächsten Tagen muss ich selbst antworten, falls die Person noch einmal anrufen sollte. Verstanden?“

Emily nickte.

„Gut. Ich rufe jetzt Mr. Sullivan an und erzähle ihm von dem Anruf. Dann bestelle ich die Pizza.“

Im selben Moment läutete das Telefon.

„Hallo, ich dachte schon, Sie wollten mich im Stich lassen“, dröhnte Ryans Stimme über die Leitung.

„Dem Himmel sei Dank, Sie sind es, Ryan.“

„Ich mag es, wenn sich jemand über meinen Anruf freut. Aber Sie klingen ziemlich verzweifelt.“

„Das bin ich auch.“ Rasch erzählte Shelley, was vorgefallen war. „Was halten Sie davon, Ryan?“

„Für gewöhnlich hören solche Anrufe von selber auf. In Ihrem Falle sollten wir es allerdings nicht so leicht nehmen, da die ja Ihre Privatnummer haben.“

„Ich hasse es, die Polizei um Hilfe zu bitten. Bei ihr sind Pflichtverteidiger nicht gerade beliebt. Aber vermutlich reagiere ich auch ein wenig übernervös.“

„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wir sind Staatsbürger, wie jeder andere auch, und die Polizei hat die Pflicht, uns zu beschützen und für uns da zu sein. Ich werde morgen früh als erstes mit Captain Bentley sprechen.“

„Es kann nichts schaden, seine Meinung zu hören.“

Anschließend berichtete Sullivan noch über den Grund seines Anrufs. Er war bereit, in Charlie Morans Fall, den Shelley gerade bearbeitete, auf Shelleys Vorschläge einzugehen. Normalerweise hätte Shelley sich über diese Nachricht gefreut, aber im Moment war sie zu besorgt, um Freude zu verspüren. „Großartig“, murmelte sie. „Ich würde alles tun, wenn der Junge Bewährung erhielte.“

„Genaues kann ich noch nicht sagen. Morgen weiß ich mehr, dann können wir das Gespräch fortsetzen.“

„Danke, Ryan.“ Shelley legte auf. Vielleicht war sie so nervös, weil diesmal Emily mit hineingezogen worden war.

„Können wir jetzt Pizza bestellen?“, fragte Emily quengelig. „Ich bin hungrig.“

„Sicher.“

Shelley zuckte zusammen, als das Telefon erneut läutete. Diesmal nahm sie den Hörer auf in dem Glauben, Ryan habe eine weitere Information für sie. „Okay, Ryan, was haben Sie vergessen?“

„Hier ist nicht Ryan, aber Sie sind Shelley Kingston, die große Verteidigerin, nicht wahr?“, zischte eine raue Stimme. „Sie können sich nicht hinter Ihrem Kind verstecken. Sie werden bezahlen müssen. Ich bringe Sie um.“

Shelley warf den Hörer auf die Gabel, und als das Telefon beinahe sofort noch einmal läutete, rührte sie sich nicht von der Stelle.

Emily schob ihre kleine Hand in Shelleys: „Das war wieder der böse Mensch, nicht?“

„Ja.“ Shelley wusste, sie hatte keine Wahl. Sie musste die Polizei um Hilfe bitten.

Lucas Jordon fühlte sich verdammt schlecht, dabei war dies einer seiner guten Tage. Seine Schulter schmerzte, seine Hand war steif.

Er stand am Fenster im Büro seines Vorgesetzten und drückte rhythmisch einen roten Übungsball in seiner linken Hand. Nebelfetzen hingen über der weihnachtlich geschmückten Stadt, und der morgendliche Verkehr staute sich beinahe bis Oakland zurück.

Seit über zwei Monaten war Lucas bereits vom Dienst zurückgestellt, und er war kurz davor, zu explodieren. Bis zu dem Tag, als er angeschossen worden war, hatte er nicht viel über sein Leben nachgedacht. Er hatte es fünfunddreißig Jahre lang einfach so hingenommen. Aber nur zwei Monate ohne Aktivität in seinem Apartment nahe dem Präsidium, den Blick pausenlos auf den Fernseher gerichtet, hatten ihn an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Er wollte wieder arbeiten. Er wollte etwas anderes tun, als nachmittags von einer TV-Serie in die andere zu flippen und beim Dinner Spielshows anzuschauen. Und die langen Nächte, allein …

„Hallo, Lucas.“ Bentley hatte den Raum betreten. „Da bin ich.“ Der dünne Mann mit dem kahlen Kopf warf einen Stapel Unterlagen auf den bereits übervollen Schreibtisch. Dick Bentley wurde als Polizist respektiert, und das war nach Lucas’ Meinung das Wichtigste, was ein Mann in einer solchen Position erwarten konnte.

„Schön, Sie zu sehen“, sagte Lucas.

„Es ist schon eine Weile her, seit …“ Bentley verstummte.

„Ja, so ist es.“ Lucas hatte nicht die Absicht, das Wort Begräbnis laut auszusprechen.

„Wie geht’s?“ Dick ließ sich in seinen Sessel fallen.

„Besser. Immerhin besitze ich noch einen Arm. Und der Arzt meint, zu gegebener Zeit könnte auch der andere Arm wieder voll einsatzfähig sein.“ Lucas ging um den Schreibtisch herum und nahm auf einem der harten Holzstühle Platz. „Sie wollten mit mir sprechen?“

Dick Bentley nahm die Unterlagen auf, die er gerade vorhin auf den Tisch geworfen hatte. „Ein Spezialauftrag. Ein Job, der Sie langsam wieder an die Arbeit heranführen soll.“

„Schon akzeptiert.“

„Ohne zu wissen, worum es sich handelt?“

„Hauptsache, ich kann arbeiten“, antwortete Lucas ehrlich.

Dick entnahm dem Stapel ein Blatt und schob es über den Tisch Lucas zu. „Werfen Sie einen Blick darauf.“

„Worum geht es?“

„Eine Notiz, die jemand ans Polizeidepartment geschickt hat.“

Sie haben Ihr Leben verwirkt. Sie werden für das Leben eines anderen bezahlen müssen. Lucas überflog den Rest, eine chaotische Tirade über Wahrheit und Gerechtigkeit. Unterschrieben war das Ganze mit Jemand, der es ernst meint.

„Jemand der es ernst meint?“ Lucas sah Dick an. „Was zum Teufel soll das heißen?“

„Wer weiß. Diese Art Drohbriefe erhalten die Pflichtverteidiger nicht selten. Das gehört fast zu ihrem Job, würde ich sagen.“

Lucas warf das Blatt zurück auf den Tisch. „Wen soll es verwundern? Die lassen ja den Abschaum der Erde frei herumlaufen.“ Mit einer heftigen Bewegung steckte Lucas den Ball in seine Jackentasche. „Wenn Jimmy Barnes im Gefängnis geblieben wäre, nachdem er im letzten Jahr festgenommen worden war, hätte er mich nicht anschießen können.“

„Genau. Und es gibt Leute, die sind in einem solchen Falle weniger pragmatisch als Sie. Die flippen aus.“

Lucas zog eine Grimasse. „Klinge ich so bitter?“

„Ziemlich.“

Lucas schüttelte den Kopf. „Mag sein. Es ist frustrierend. Ein Polizist setzt bei der Festnahme sein Leben ein, und irgendein gewichtiger Wohltäter findet eine Lücke im Gesetz, und schon ist der Gauner wieder frei.“

„Jimmy Barnes lief nicht frei herum. Er hatte zehn Jahre abgesessen.“

Lucas blickte auf das Papier. „Okay, aber was hat das alles mit mir zu tun?“

Dick klopfte auf den Stapel Unterlagen. „Dies sind weitere Drohbriefe. Gestern teilte mir Ryan Sullivan, der stellvertretende Staatsanwalt, mit, dass der Schreiber inzwischen Kontakt mit der Pflichtverteidigerin aufgenommen habe. Er rief ihre geheime Privatnummer an und bedrohte sie mit dem Tode.“

„Die Pflichtverteidigerin scheint Probleme zu haben.“

„Das hat sie. Die bitten uns um Hilfe.“

„Schlagen Sie doch vor, einen Leibwächter heranzuziehen.“

„Das ist unmöglich.“

„Warum?“

„Weil die Möglichkeit besteht, dass jemand aus dem Polizeidepartment dafür mitverantwortlich ist.“

Lucas runzelte die Stirn. „Wie kommen Sie denn darauf?“

„Die Ausdrucksweise in den Briefen und am Telefon deutet darauf hin.“

„Jedermann könnte dieser Sprache gebrauchen.“

„Könnte, aber es ist nicht wahrscheinlich. Da steckt mehr dahinter. Nur kann ich mit Ihnen nicht darüber reden.“

„Glauben Sie, dass ein Polizist unter den Pflichtverteidigern Angst verbreiten will und dabei so weit über das Ziel hinausschießt?“

„Möglich.“

„Haben Sie eine Vermutung, wer es sein könnte.“

„Keine.“

„Was wollen Sie tun?“

„Wir werden die Verteidigerin beschützen, bis wir sicher sind, was da vorgeht.“

Lucas hätte beinahe laut aufgelacht. „Schutz? Welcher Polizist würde es sich wünschen, jemanden rund um die Uhr zu beschützen, dessen Ziel es ist, das von der Polizei Erreichte wieder …“ In diesem Augenblick ging Lucas ein Licht auf. „Oh, nein. Ich will arbeiten, nicht den Babysitter für irgend so eine liberale Pflichtverteidigerin spielen.“

„Sie sagten, Sie wollten arbeiten“, entgegnete Dick bestimmt. „Ich brauche Sie in diesem Fall. Die Sache muss diskret bearbeitet werden. Und das wäre nicht möglich, wenn das Department eingeschaltet würde. Außerdem möchten wir vermeiden, dass die Medien darauf aufmerksam werden.“

„Sie haben andere …“

„Es ist Urlaubszeit, und wir brauchen jeden verfügbaren Beamten im Dienst. Und da Sie vorerst nur begrenzt einsatzfähig sind, fällt unsere Wahl logischerweise auf Sie. Da Sie keine Familie haben, wird es Ihnen sicher nicht so schwerfallen, für eine Woche oder so von zu Hause abwesend zu sein.“

„Was meinen Sie mit abwesend sein?“

„Wir beordern Sie auf ein Kreuzfahrtschiff. Sehen Sie es als Bonus an. Ein ruhiger Job, so eine Kreuzfahrt.“ Dick lächelte beinahe. „Danken Sie nicht mir. Der Befehl kommt von ganz oben und hat höchste Priorität.“

„Klare Sprache, Dick.“

„Okay. Die Frau muss außer Reichweite sein, während wir herausfinden, wer hinter ihr her ist.“

„Also nicht allein zu ihrem Schutz, sondern auch zum Schutz der Abteilung?“

„Wir müssen herausfinden, wer hinter den Drohungen steckt.“

Lucas wusste, dass ihm keine Wahl blieb. Immerhin brauchte er nicht länger seine vier Wände anstarren, dachte er. „Okay. Ich verstehe. Sagen Sie mir, wen ich auf dieser Kreuzfahrt beschützen soll.“

„Shelley Kingston.“

Lucas fuhr von seinem Stuhl hoch, noch bevor der Name ausgesprochen war. „Was zum Teufel soll das sein? Ein Witz?“

Dick blieb von Lucas’ Aufbrausen unbeeindruckt. „Sehe ich so aus, als machte ich Witze? Es ist nicht erforderlich, jemanden zu mögen, den man beschützen soll. Wäre das die Voraussetzung, so fänden neunzig Prozent der Menschen in dieser Stadt keinen Polizeischutz.“

„Diese Shelley Kingston hat erreicht, dass Freddy Monroes Anklage aus Mangel an Beweisen fallen gelassen wurde. Himmel, sie bekam ihn in weniger als einer Woche frei, und er tötete gleich darauf einen Polizisten.“ Lucas lehnte sich vor. „Einen guten Polizisten. Larry Hall hätte nicht sterben dürfen in diesem miesen Viertel, als er versuchte, Monroe festzunehmen. Und er wäre nicht gestorben, wenn die Verteidigerin Monroe im Gefängnis hätte verrotten lassen.“

Dick zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Sind Sie fertig?“

Lucas atmete tief durch. „Sie waren auf der Beerdigung.“

„Larry kannte sein Risiko. Wie wir alle unser Risiko kennen.“

„Es stinkt zum Himmel.“

„Erst recht, wenn wir den nicht finden, der dahintersteckt. Außerdem habe ich dies satt.“

„Was haben Sie satt?“

„Jemandem zu sagen, was getan werden muss. Sie machen es mir nicht leicht. Würde mir eine Kreuzfahrt angeboten, würde ich vor Freude jubeln. Selbst wenn ich meine Schwiegermutter beschützen müsste.“

„Es ist nicht gerade eine Urlaubsreise.“

„Das ist mir klar. Sie werden die Lady und ihr Kind bewachen.“

„Ein Kind?“

„Eine sieben Jahre alte Tochter.“

Das wird ja immer schlimmer, dachte Lucas. Er hatte nie viel mit Kindern zu tun gehabt. „Wie gesagt, ich bin kein Babysitter.“

„Sie brauchen nur Ihren Job zu tun. Und um es Ihnen ein wenig leichter zu machen, setzen wir jemanden von der Crew ein, der sich besonders um das Kind kümmern soll.“

„Was ist mit dem Ehemann?“

„Die Lady ist geschieden.“

„Wie lange werde ich gebraucht?“

„Die Reise dauert eine Woche, dann werden wir hoffentlich alles aufgedeckt haben.“

Lucas fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Okay. Für eine Woche kann ich alles ertragen …“

2. KAPITEL

Am nächsten Tag waren alle Details arrangiert. Das Schiff sollte am Nachmittag um vier Uhr ablegen.

Lucas ging von der Polizeidienststelle zum Gerichtsgebäude. Dort überflog er den Dienstplan, der in der Lobby aushing, bis er den Namen Kingston fand und die Nummer des Gerichtssaales, in dem sie an diesem Vormittag war. Zweiter Stock, Zimmer zehn-null-sechs. Zumindest einen Blick wollte er auf die Frau werfen, bevor er ihr auf dem Schiff begegnete.

Er nahm den Lift, schlüpfte in den Gerichtssaal und setzte sich in die letzte Reihe nahe der Tür. Die Verhandlung schien sich in der Endphase zu befinden.

„Mrs. Kingston“, sagte in diesem Moment der Richter zu der blonden, knabenhaft wirkenden Frau in dem dunkelblauen Kostüm, die neben einem dicken, glatzköpfigen Mann saß. „In diesem Fall waren offensichtlich eine Menge Drogen im Spiel. Vielleicht können Sie Ihrem Klienten sagen, dass es ihm zum Vorteil gereichen würde, wenn ich sein Gesicht nie wieder hier in meinem Gerichtssaal sähe.“

„Ja, Euer Ehren. Das werde ich“, murmelte Shelley Kingston.

Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch. „Der Gerichtssaal ist bis dreizehn Uhr geschlossen.“

Lucas fühlte, wie ihn der Ekel im Hals würgte. Der Schmerz in Schulter und Hand verstärkte sich, und er presste den roten Ball zwischen den Fingern. Eine weitere nichtswürdige Kreatur konnte frei auf den Straßen herumlaufen. Er sah, wie der tätowierte Mann sich rasch vom Sitz erhob, im Gang auf seinen Freund stieß und mit ihm zusammen dem Ausgang zustrebte. Beide Männer klopften einander grinsend auf die Schultern. Als die Schwingtüren hinter ihnen zufielen, wollte auch Lucas den Raum verlassen. Er hatte genug gesehen.

Unerwartet versetzte etwas seinem linken Arm einen Schlag, und ein stechender Schmerz strahlte zu seinem Nacken und seiner Schulter aus. Der Trainingsball flog ihm aus der Hand, er umklammerte seinen Arm, wirbelte herum und sah Shelley Kingston zu seinen Füßen, wie sie versuchte, auf allen vieren lose Blätter aufzusammeln, die auf dem beigen Teppich verstreut herumlagen. Lucas verzog das Gesicht. Es sah ganz danach aus, als hätte sich ihre verdammte Aktentasche plötzlich geöffnet und dabei seinen Arm getroffen.

Dann blickte er sich suchend nach seinem Ball um und sah ihn nahe der Barriere liegen. Rasch ging er hinüber und hob ihn auf, und als er sich umdrehte, war Shelley Kingston gerade dabei, sich mit der geschlossenen Aktentasche wieder aufzurichten.

Der erste genaue Blick auf die Frau überwältigte ihn. Sie wirkte alles andere als knabenhaft mit ihren vollen Brüsten, die sich unter dem geraden Schnitt ihres Blazers abzeichneten. Lavendelfarbene Augen blickten ihn unter dichten Wimpern an, und eine sanfte Röte überzog ihre Wangen.

Sie trug kaum Make-up, was auch völlig überflüssig gewesen wäre. Lucas stand einer Frau gegenüber, die alles andere als die erwartete reizlose Superfeministin war, und er verlor geradezu die Fassung, als ihm bewusst wurde, dass sie unter anderen Umständen zweifellos sein männliches Interesse geweckt hätte.

Seltsam, er hatte das Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein.

„Verzeihung, ich hatte Sie nicht gesehen“, entschuldigte Shelley sich ein wenig atemlos. „Ich bin in Eile.“

Lucas hatte nicht geplant, mit der Frau zu reden. Nur beobachten wollte er sie, um herauszufinden, was ihm in der kommenden Woche bevorstehen mochte.

„Ich hatte Sie auch nicht bemerkt“, murmelte er.

Shelley starrte den Mann an, der nur einen Meter von ihr entfernt stand. Er war hochgewachsen mit dunklem Haar und dunklen Augenbrauen, und seine breiten Schultern wurden noch betont von einem grauen sportlichen Tweedmantel, den er über einem schwarzen T-Shirt und Jeans trug. Shelley wurde sich plötzlich seiner umwerfend männlichen Ausstrahlung bewusst und senkte verwirrt die Augen.

Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einen Mann nicht als Klienten, sondern schlicht als Mann bemerkt hatte. Sein intensiver Blick vermittelte ihr für einen kurzen Moment das Bewusstsein, eine Frau zu sein. Dann erkannte sie, dass er sie auf eine Weise musterte, als ob er glaubte, sie sie zu kennen, und das irritierte sie.

Da war etwas an ihm, was auch ihr vage bekannt vorkam. Doch die Erinnerung ließ sie im Stich.

Er trat einen Schritt auf sie zu und sagte: „Ich kenne nicht viele Leute, die erreichen könnten, dass jemand wie er ungeschoren davonkommt. Sie haben gute Arbeit geleistet, Counselor.“

Der schwere Sarkasmus in seinen Worte zerstörte, was der erregende Moment geschaffen hatte. Und im nächsten Augenblick fühlte Shelley Furcht in sich aufsteigen. Sie war von dem Zauber des Augenblicks zu gefangen gewesen, um zu bemerken, dass sie beide sich allein im Gerichtssaal befanden und dass von diesem Mann eine seltsame Gereiztheit ausging.

Er hörte nicht auf, einen kleinen roten Ball in seiner Hand rhythmisch zu pressen. Und seine Worte … Shelley versteifte sich. Seine Wortwahl war die Wortwahl der Drohbriefe und der Anrufe, auch wenn seine Stimme ihr unbekannt erschien.

„Ich wende nur das Gesetz an.“ Sie hielt ihre Aktenmappe fest in der Hand, um damit wenn nötig zuschlagen zu können.

„Gesetz? Mir scheint, das Gesetz ist blind. Wie können Sie damit leben, dass Sie jemanden wie diesen Garcia frei herumlaufen lassen?“

Shelley sah Zorn in seinen Augen aufblitzen und überlegte blitzschnell, wie viele Schritte sie bis zur Tür benötigte. Sie fühlte sich diesem Mann ausgeliefert. Sie bereute sogar, den Vorschlag abgelehnt zu haben, sich bis zur Abreise einem Leibwächter anzuvertrauen.

Sie hatte gemeint, im Gericht sicher zu sein, weil sie dort von Menschen umgeben war. Aber diesen Vorteil hatte sie im Moment nicht. Überhaupt nicht.

„Ich tue nur meinen Job“, sagte sie rasch und trat einen halben Schritt zurück.

„Ein schöner Job“, murmelte Lucas.

„Was haben Sie mit diesem Fall zu tun?“, fragte sie.

„Nichts. Ich war nur hier, um das Gesetz in Aktion zu sehen.“

„Das Gesetz ist zum Schutz für alle da, oder es schützt keinen. Im Übrigen muss ich jetzt gehen.“ Sie drehte sich um und zwang sich, ruhig zum Ausgang zu gehen, nicht zu rennen.

„Bis bald“, hörte sie den Mann hinter sich sagen, dann lief sie über den menschenleeren Flur, während ihr Herz unnormal schnell schlug. Nur unter größter Anspannung brachte sie sich dazu, keinen Blick zurückzuwerfen, um zu sehen, ob der Mann ihr folgte.

Nachdem Shelley Kingston gegangen war, starrte Lucas sekundenlang auf die Schwingtür des Gerichtssaals. Er hatte keine Ahnung, warum er diese Frau so feindselig behandelt hatte. Noch schlimmer … ihm war unerklärlich, warum ihn der Gedanken, eine Woche um sie herum zu sein, ihm Unbehagen bereitete.

Um vier Uhr heute Nachmittag würde er Shelley Kingston wiedersehen.

Er betrat den Lift und erschrak über sein verzerrtes Gesicht, das ihm im Spiegel entgegenblickte. Hektisch bearbeitete er mit der Hand den roten Ball. Diese Übungen waren beinahe zur Sucht geworden.

Der Schmerz wurde von Minute zu Minute stärker. Aber Lucas wollte nicht noch mehr von den Schmerztabletten einnehmen, die ihm der Arzt verordnet hatte. Bei dem Dienst, den er antreten würde, konnte er es sich nicht länger leisten, seinen Kopf oder seine Reflexe mit Drogen abzustumpfen. Er dachte an Shelley Kingston mit ihren lavendelfarbenen Augen und dem angehobenem Kinn, als sie seinem Sarkasmus trotzig begegnete …

Und in diesem Moment fiel es ihm ein. Er wusste, wo er sie gesehen hatte. Die Beerdigung. Die Frau, die abseitsstand. Blond und blass. Sie war dort gewesen.

Emily hüpfte begeistert auf einem der beiden großen Betten auf und ab. „Mommy, es ist so hübsch und groß, und es federt richtig.“

Shelley sah sich in der Kabine um. Der in Blau und Weiß gehaltene Raum war hell und luftig, und ihre Besorgnis, mit einer übrig gebliebenen Kabine vorliebnehmen zu müssen, hatte sich nicht bestätigt. Die Kabine war geräumig, hatte ein Fenster und ein eigenes Badezimmer.

Nachdem sie Captain Bentley von dem Mann im Gerichtssaal erzählt hatte, wehrte sie sich nicht länger gegen Polizeischutz. Bentley hatte ihr auch gleich die Polizistin Bernice Bonds vorgestellt, die Mutter und Tochter aufs Schiff begleiten und ihr beim Einräumen behilflich sein sollte.

„Mag sein, Emily, aber wenn du weiter so darauf herumspringst, wirst du noch seekrank“, mahnte Shelley.

Emily rümpfte die Nase. „Wie wird die See krank, Mommy?“

„Du bist es, die seekrank wird.“

„Wie kann ich auf dem Bett seekrank werden?“ Emily beharrte auf ihrer glasklaren Logik.

In diesem Moment klopfte es an der Tür.

„Wer ist es?“, fragte Shelley.

„Ich bin’s, Bernice.“

Shelley löste die Kette und öffnete die Tür.

„Sehen Sie mal, wen ich zufällig auf dem Freideck getroffen habe.“ Mit diesen Worten trat Bernice ein.

Der Polizistin folgte ein Mann, den Shelley sofort als den aus dem Gerichtssaal wiedererkannte. Sie konnte direkt fühlen, wie ihr der Mund offenstehen blieb.

Diesmal trug er ein leichtes Baumwollhemd zur ausgewaschenen Jeans und abgetragene Laufschuhe. Sein plötzliches Auftauchen gab Shelley das Gefühl, sich plötzlich inmitten eines absurden Albtraums zu befinden.

Bevor sie noch überlegen konnte, wie sie reagieren sollte, stellte Bernice den Mann vor. „Das ist Lucas Jordon. Er ist der Glückliche, der während der Dauer der Kreuzfahrt Ihr Leibwächter sein wird.“

Shelley starrte ihn an. Sie war sich nicht sicher, ob sie erleichtert sein sollte, weil er nicht die kriminelle Person war, die sie bedroht hatte, oder eher wütend, weil er sie im Gerichtssaal mit Worten gepeinigt hatte, die sie zutiefst erschreckt hatten. Und zweifellos war ihm das nicht verborgen geblieben. Ein Blick in seine nachtschwarzen Augen zeigte ihr, dass er kein bisschen überrascht war, sie wiederzusehen. Also hatte er schon im Gericht gewusst, wer sie war.

„Mrs. Kingston“, murmelte er und streckte ihr die Hand entgegen.

Shelley übersah Lucas’ Hand, blickte ihm aber offen ins Gesicht. „Könnten Sie mir vielleicht erklären, was das heute Vormittag zu bedeuten hatte?“

„Ich wollte mich nur informieren.“

„Sie versuchten absichtlich, mich mit Ihren Worten einzuschüchtern.“

„Das war nicht meine Absicht. Ich sagte nur meine Meinung.“

Shelley verwünschte insgeheim die Röte, die ihr in die Wangen gestiegen war, und wandte sich Bernice zu. „Das akzeptiere ich nicht.“

Bernice blickte sie verwirrt an. „Was?“

„Ihn. Diesen Mann als meinen Leibwächter.“

„Warum nicht?“

„Er kann mich nicht ausstehen.“

Bernice sah Lucas Hilfe suchend an. „Was redet sie da? Ich dachte, Sie kennen sich nicht.“

„So ist es auch“, sagte Lucas. „Heute Morgen bin ich ihr zufällig in Overtons Gerichtssaal begegnet.“

Shelley wollte sich nicht mit seiner Antwort abfinden. „Er akzeptiert weder was ich tue noch wer ich bin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Motivation ausreicht, mein Leben zu beschützen.“

„Mrs. Kingston, wenn nur der Sie beschützen dürfte, dem gefällt, was Sie sind und was Sie tun, dann würden Sie es verdammt schwer haben, auch nur einen einzigen Polizisten zu finden, der den Job übernimmt.“

Shelleys Wangen glühten. Dennoch wich sie keinen Schritt zurück. „Wer gibt etwas auf Ihre Meinung?“

„Ich bin nur ein Polizist, der in diese Sache verwickelt ist. Ich habe keine Wahl, ebenso wenig wie Sie eine haben.“

Shelley blickte Bernice an. „Könnten Sie uns nicht begleiten oder für einen anderen Leibwächter sorgen?“

Bernice schüttelte den Kopf. „Ich werde für die Feiertage zu Hause erwartet. Und Sie brauchen Bentley gar nicht erst anzurufen. Er hat niemanden zur Verfügung, den er Ihnen an Jordons Stelle zuweisen könnte.“

Shelley hätte Bernice am liebsten aufgefordert, das Schiff samt Lucas Jordon zu verlassen. Sie zog es vor, die Sache allein durchzustehen. Aber als Emily in diesem Moment ihre Hand ergriff, überlegte sie es sich noch einmal. Es ging schließlich nicht allein um sie. Emily war mit hineingezogen. Shelley sah Lucas an. „Vielleicht gibt es sogar ein paar Dinge, die uns beide verbinden.“

Immerhin weckten diese Worte eine Reaktion bei ihm. „Wovon reden Sie denn da?“

„Nun, wir müssen beide mit Menschen umgehen, die wir nicht mögen, aber wir tun unseren Job.“

„Ich bringe die Leute hinter Gitter, die ich nicht leiden kann. Sie lassen sie frei, damit Sie an der Beisetzung ihrer Opfer teilnehmen können.“

Das versetzte Shelley einen Schock. Die Beerdigung. Richtig. Dort hatte sie ihn gesehen. Abseits von der übrigen Polizeiabordnung hatte er gestanden. „Das ist nicht fair“, murmelte sie.

Bernice mischte sich ein. „Okay, Leute, es wird Zeit. Lucas ist hier, um Sie zu beschützen, und das wird er tun. Sie sind hier, weil Ihre Sicherheit gewahrt werden muss, bis man den Psychopathen gefunden hat.“

„Was ist ein Psycho … Psycho …“, fragte Emily.

Lucas zog die Stirn kraus. „Wer bist du?“

„Emily Sarah Kingston.“

„Nun, ein Psychopath, Amely …“

„Emily“, warf das Kind ein. „Mein Name ist Emily.“

Lucas lächelte verhalten. „Okay, Emily. Ein Psychopath ist eine verrückte Person, die die Polizei einsperren muss.“

„Wie der, der meine Mommy bedroht?“

„Genau.“

„Und Sie werden ihn einsperren?“

„Für so lange, bis der Psychopath einen Verteidiger wie deine Mutter findet und wieder auf Wanderschaft geht.“

„Meine Mommy und ich sind auch schon in den Bergen gewandert. Erlauben Sie den bösen Menschen, dass sie auf Wanderschaft gehen?“

Lucas blickte Shelley scharf an. „Manche erlauben es. Nur wandern die Bösen nicht in den Bergen. Sie wandern in den Straßen herum.“

„Genug, Emily“, sagte Shelley. „Wir müssen Mr. Jordon seinen Job tun lassen und uns damit zufriedengeben.“

„Sie tun beide Ihre Jobs“, versuchte Bernice auszugleichen. „Lasst uns also übereinstimmen, dass wir verschiedener Meinung sind, und lasst uns dafür sorgen, dass jedermann in Sicherheit bleibt.“

Shelley biss sich auf die Lippen, um Lucas nicht erneut herauszufordern. „Sie haben recht, Bernice. Das ist im Augenblick das Wichtigste.“

„Wohnen Sie auch in dieser Kabine?“, fragte Emily Lucas.

Shelley errötete erneut. „Natürlich nicht, Emily. Mr. Jordon hat seine eigene Kabine.“

„Und seine Kabine liegt direkt nebenan.“ Bernice ging zu einer Tür, die rechts in die Seitenwand eingelassen war. Sie drehte den Knauf herum und öffnete die Tür zur anschließenden, ein wenig kleineren Kabine, die ebenfalls in Blau und Weiß gehalten war. „Sie brauchen nur zu klopfen, und er ist da, jederzeit, egal ob Tag oder Nacht.“

Emily blickte neugierig in die Nachbarkabine. „Nett, aber nicht ganz so hübsch wie unsere. Und sie hat nur ein Bett.“

Als Lucas an Shelley vorbeiging, hinterließ er einen Hauch seines Aftershaves, und sie war sich verstärkt seiner männlichen Ausstrahlung bewusst. Sie widerstand der Versuchung, den Duft tief einzuatmen, während er in seiner Kabine verschwand. Ohne zu zögern folgte ihm Emily.

Shelley konnte ihre Tochter sprechen hören. Ihren Fragen folgte Lucas’ tiefes Gemurmel, in dem ein wenig Ungeduld mitschwang. Shelley musste lächeln. Geschah ihm recht, dass er ausgefragt wurde. Vielleicht konnte er Emily erklären, was Seekrankheit bedeutete.

Bernice wünschte Shelley zum Abschied frohe Weihnachten und eine angenehme, sorglose Kreuzfahrt. „Die Polizei überprüft alle Mitreisenden, mit denen Sie zu tun haben, und, vertrauen Sie mir …“ Sie blickte zur offenstehenden Tür von Lucas’ Kabine. „Er versteht sein Handwerk wirklich. Er konnte nur längere Zeit seinen Dienst nicht ausüben, und Polizisten pflegen nun einmal unter Ausfallerscheinungen zu leiden, wenn sie nicht arbeiten.“

„Warum konnte er seinen Dienst nicht ausüben?“

„Er hat ein paar Kugeln abbekommen. Die verdammten Dinger haben ihm die Knochen seiner Schulter zerschlagen, aber es geht ihm schon besser.“

Shelley versuchte sich zu erinnern, ob ein weiterer Polizist bei der Schießerei verwundet worden war, während der Hall getötet wurde. Ihr war bei dem Gedanken, dass Lucas dabei gewesen sein könnte und als Augenzeuge mit ansehen musste, wie sein Kollege erschossen wurde, nicht ganz wohl zumute.

Mit beunruhigender Deutlichkeit sah sie das Bild vor sich, wie Lucas Jordon im grauen Nebel mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Friedhof gestanden hatte. Und sie verstand seine Qual. Vor allem verstand sie jetzt auch seinen bitteren Zorn, nachdem ihr bewusst war, dass sie es gewesen war, die Freddy Monroes Freilassung erreicht hatte.

3. KAPITEL

„War Lucas Jordon in jene Schießerei vor ein paar Monaten verwickelt?“, fragte Shelley Bernice, bevor diese sich endgültig verabschiedete.

Bernice wurde ernst. „Es hatte zu der Zeit mehrere gegeben. Die, in welche Lucas verwickelt war, endete glücklicher. Immerhin wurde er nicht getötet wie der andere Polizist.“

Irgendwie war Shelley erleichtert, als sie hörte, dass Lucas an dem Horror nicht teilgenommen habe, bei dem Hall getötet wurde. „Er ist jetzt in Ordnung?“

„Er hat noch Probleme, aber es geht ihm schon viel besser. Glauben Sie mir, er ist ein guter Polizist. Geben Sie ihm eine Chance.“

„Ich habe keine andere Wahl.“

„Richtig.“ Bernice lächelte wieder. „Viel Spaß. Ich sehe Sie dann nach Ihrer Rückkunft.“

Nachdem Bernice gegangen war, verriegelte Shelley hinter ihr die Tür. Dann warf sie einen Blick durch die Tür in die Nachbarkabine. Lucas packte seine Sachen in eine Kommode, während Emily neben ihm stand und ihm dabei zusah.

„Was ist denn das?“, fragte Emily, als Lucas einen Stapel weißer Wäsche aus einem Koffer nahm.

„Meine Unterwäsche.“ Lucas legte die Wäsche in die oberste Schublade der Kommode.

„Moms Unterwäsche ist bunt und seidig. Warum ist deine weiß?“

„Männer tragen Weiß“, murmelte Lucas.

„Warum?“

„Frag deinen Vater.“

„Geht nicht.“

Lucas sah das Kind an. „Warum nicht?“

„Er ist beschäftigt. Er fliegt in der Welt herum. Er war in Japan, Australien und in London. Er ist damit beschäftigt, viel Geld zu verdienen, deshalb kann ich ihn nicht anrufen. Es kostet zu viel.“

„Ich denke er verdient so gut.“

„Tut er auch, aber meine Mom muss schwer arbeiten, um Geld zu verdienen. Pflichtverteidiger verdienen nicht viel, wissen Sie? Deshalb müssen sie sich finz… finanz…“

„Finanziell einschränken“, half Lucas aus und begann, seine Hemden auf die Bügel zu hängen.

„Ja. Deshalb dürfen wir nicht so viel telefonieren, oder die Rechnung ist ein Killer.“

Lucas musste tatsächlich lächeln. „Ein Killer?“

„Das sagt Mom immer.“

Shelleys Herz schlug schneller, als sie den Mann lächeln sah. Die Veränderung war erstaunlich. Von dunkel und grimmig veränderte er sich in … Sie konnte es nicht beschreiben, aber am nächsten kam wohl menschlich, und wenn sie aufrichtig war, sexy.

„Was sagt denn deine Mom sonst noch?“

„Dass das Geld knapp ist, und dass die See krank werden kann. Und Mom lügt nie. Sie sagt, Lügen sind Verbrechen und müssten bestraft werden.“

„Was für Lügen?“

Emily ging zum Fenster und zog die Vorhänge beiseite, sodass der helle Sonnenschein durch das Bullauge in die Kabine fiel. „Vielleicht die vom Weihnachtsmann.“

„Der Weihnachtsmann lügt?“

„Mr. Jordon …“

„Sag Lucas zu mir.“

„Lucas, jeder weiß, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Sie wissen das auch. Also kann er auch nicht lügen.“

Lucas schien erstaunt. „Wie alt bist du?“

„Sieben.“

„Emily …“, unterbrach Shelley die Unterhaltung und trat einen Schritt näher in den Raum. „Wir müssen auspacken.“

Emily sah Lucas an. „Wir können uns später weiter unterhalten, nicht?“

„Ich glaube schon.“

Nachdem Emily aus dem Zimmer gehüpft war, sah Shelley Lucas an. „Und wir unterhalten uns auch später.“

„Wir unterhalten uns jetzt“, verbesserte er. „Wir müssen einige Grundsatzregeln aufstellen, damit wir uns nicht gegenseitig auf die Füße treten.“

„Sie haben recht.“ Shelley blickte durch die Verbindungstür und sah Emily vor ihrem geöffneten Koffer auf dem Bett. „Fang schon an auszupacken, Liebling. Geh auf gar keinen Fall ans Telefon oder an die Tür, sondern sag mir Bescheid.“ Als Emily sie fragend anblickte, setzte sie hinzu: „Du weißt, was los ist. Tu, was ich gesagt habe. Verstanden?“

„Ja, Mommy.“

„Ich muss nämlich noch etwas mit Mr. Jordon besprechen, bevor die Reise beginnt.“ Sie schloss die Tür.

Als sie sich umdrehte, war Lucas nur einen halben Meter von ihr entfernt. Ihr war sofort klar, dass es ein Fehler gewesen war, die Tür zu schließen. Sie hatte damit nur bewirkt, dass ihr der Raum noch kleiner erschien.

„Regeln?“ Shelley verschränkte die Arme vor der Brust. Sie wusste, dies war eine defensive Haltung, aber im Moment wollte sie die Angelegenheit nur so rasch wie möglich hinter sich bringen. „Was für Regeln?“

Lucas trat noch einen Schritt näher. „Erstens … Sie unternehmen nichts, aber auch rein gar nichts, ohne mich vorher zu informieren.“

Sie nickte schweigend.

„Zweitens … Sie verhalten sich den anderen Mitreisenden gegenüber äußerst zurückhaltend. Erkundigen Sie sich nach den Namen, damit ich sie überprüfen kann. Drittens … Erlauben Sie nicht, dass das Kind mit irgendjemandem mitgeht, den ich nicht überprüft habe. Viertens … Sagen Sie niemandem, aus welchem Grund wir wirklich hier sind. Sie machen eine Ferienreise.“

Der Polizist in ihm ließ sich nicht verleugnen. Shelley wünschte nur, sie könnte ignorieren, dass er so außerordentlich attraktiv und männlich wirkte. „Bekomme ich das schriftlich?“

Er überging ihren Sarkasmus. „Haben Sie die Regeln verstanden?“

„Selbstverständlich.“

„Die Regeln brauchen Ihnen nicht zu gefallen. Hauptsache, Sie befolgen sie.“

„Ist das alles?“

„Nein, noch etwas, Mrs. Kingston. Das Kind …“

Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu. „Das Kind heißt Emily.“

Er lächelte unerwartet. „So hat man es mir gesagt. Emily.“ Das Lächeln schwand. „Ich bin kein Babysitter. Bentley sagte, er habe sich mit dem Hauptbüro dieser Linie in Verbindung gesetzt, um jemanden zu finden, der sich um das … um Emily kümmern würde. Die Frau wurde überprüft. Sie ist bereits auf dem Schiff, und ich suche sie wenig später auf.“

Ohne eine weitere Entgegnung verließ Shelley Lucas’ Kabine.

„Mommy, weiß Lucas viel über Verrückte?“

Shelley sah ihre Tochter verdutzt an. Sie hatte noch immer nicht ausgepackt.

„Ich glaube, ja. Immerhin ist er Polizist. Aber warum hast du noch nicht ausgepackt?“

„Ich wusste nicht, ob wir hierbleiben.“

„Liebling, im Moment sind wir hier sicher, und wir werden auf dem Schiff viel Spaß haben. Wir kehren erst nach Hause zurück, wenn die Polizei die Person gefunden hat, die uns mit diesen scheußlichen Anrufen belästigt.“

Emily schmiegte sich an sie.

Shelley hielt Emily ein Stück von sich, um ihr ins Gesicht zu sehen. „Aber du musst lächeln. Das gehört zu den Regeln.“

„Oh, Mommy.“

„Komm schon. Lächle, sonst können wir nicht bleiben.“

Emilys Mundwinkel zuckten, aber sie zwang sich, nicht zu lächeln. „Ich kann nicht lächeln, Mommy.“

„Oh, ja, das kannst du, und ich helfe dir dabei.“ Shelley packte sie spielerisch und kitzelte sie am Bauch. Emily hatte nur darauf gewartet und kreischte auf.

Als Emily im Spiel die Hand ihrer Mutter ergriff, um sie vom Kitzeln abzuhalten, sanken beide zurück aufs Bett, und der Koffer rutschte auf den Fußboden. Emily schrie auf: „Aufhören, bitte, nein!“ Sie balgte sich mit ihrer Mutter. „Bitte, aufhören.“

Eine Tür wurde aufgerissen. Shelley presste blitzschnell Emily schützend an sich und wirbelte herum.

Lucas stand auf der Türschwelle. Er war nur in Jeans bekleidet. Auf seiner sonnengebräunten Brust schimmerten dunkle Haare. Mit beiden Händen hielt er eine Pistole umfasst, deren Lauf auf Shelley und Emily gerichtet war.

Einen Moment wirkte er verunsichert, dann fragte er barsch: „Was zum Teufel geht hier vor?“

Shelley hatte nur Augen für Lucas und die Waffe. Eine Sekunde verging, ehe sie atemlos hervorstieß: „Stecken Sie die Pistole fort!“

„Wer hat geschrien?“, fragte er.

„Wir haben gespielt“, erklärte Shelley.

Sie und Emily hockten mitten auf der verhedderten Tagesdecke, während Emily vorsichtig um Shelley herumspähte und den Mann mit der Waffe groß ansah.

Lucas senkte den Lauf. „Tun Sie das nie wieder.“

Emily zupfte an Shelleys Ärmel. „Mommy, was ist los?“

„Nichts, Liebling. Ein Missverständnis. Mr. Jordon wusste nicht, dass wir nur spielen. Er dachte, jemand würde dir etwas antun.“

„Du hast mich gekitzelt.“

„Ja. Räum deine Sachen auf, während ich Mr. Jordon etwas erkläre.“ Sie sah Lucas an, der noch in der offenen Tür stand. „Ihre Kabine?“

Sie folgte ihm in seine Kabine. Die Tagesdecke auf seinem Bett war zerdrückt. Offensichtlich hatte Lucas auf dem Bett gelegen.

„Ich habe meine eigenen Regeln, Mr. Jordon“, begann Shelley. „Nummer eins … Wenn Emily in der Nähe ist, zeigen Sie sich niemals mit der Waffe. Haben Sie verstanden?“

Lucas war dicht vor Shelley stehen geblieben. Sein Gesichtsausdruck schien angespannt. „Ich dachte, das Kind würde umgebracht“, erklärte er und rieb sich die Schulter.

In diesem Moment sah Shelley die Narbe … Ein Wust heilender Haut, die aussah, als wäre das ganze Schulterblatt abgerissen und wieder angeheftet worden. Ihr Ärger war verflogen. „Wir … wir haben wirklich nur gespielt.“ Sie versuchte, nicht auf die zerschundene Haut zu blicken.

Lucas starrte Shelley ernst an, und auf einmal hatte sie das Gefühl, dass er gar nicht erbost war. Er litt Schmerzen. „Tun Sie das nicht wieder“, murmelte er.

„Alles okay?“, fragte Shelley.

Er sah sie erstaunt an. „Es war ein Missverständnis.“

„Ich meinte, Sie … Sie sehen aus, als fühlten Sie sich nicht gut.“

„Ich habe mich zu rasch bewegt.“ Er begann, seine Schulter zu drehen, unterließ es dann aber, als ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach.

Der Anblick des Mannes, der mit nacktem Oberkörper vor ihr stand, brachte Shelley vollkommen aus der Fassung. Faszinierend, dieser sonnengebräunte, schlanke, muskulöse Körper! Shelleys Mund war plötzlich ganz trocken.

Dennoch zwang sie sich, ihm in die Augen zu blicken, und für einen winzigen Moment fürchtete sie, dass er genau wusste, wohin ihre Gedanken gewandert waren. „Bernice erzählte mir, dass Sie vor wenigen Monaten verwundet wurden.“

„Ja, zwei Wochen bevor Larry Hall getötet wurde“, sagte er kurz angebunden.

Sie hasste das Gefühl, sich entschuldigen zu wollen, ihm zu sagen, dass sie keine Ahnung gehabt habe, wie Monroe sich entwickeln würde, und dass sie nur getan habe, was sie tun musste. „Sie wurden angeschossen?“

„Ein Dumdumgeschoss zerriss meine Schulter und zerstörte einige Nerven.“ Er hob die linke Hand und spreizte und schloss abwechselnd die Finger. „Sie mussten operieren, meinten sogar, amputieren zu müssen, aber schließlich haben sie darauf verzichtet. Es wird eine Weile dauern, bis ich den Arm voll gebrauchen kann. Wenn überhaupt.“

„Schmerzt er sehr?“

„Wenn es eine Schmerzskala von eins bis zehn gäbe, wäre ich inzwischen im Durchschnitt bei fünf angelangt. Im Moment erreiche ich wohl den Spitzenwert von acht.“

Shelley murmelte etwas von Bedauern, konnte aber nur an ihre Reaktion denken, die sie im Gerichtssaal auf Lucas gezeigt hatte. Offensichtlich war ihre Beziehung sogar noch problematischer. Dieser Mann vermittelte ihr ein äußerst ungutes Gefühl, und sie hatte nur den einen Gedanken … wie sie den Raum verlassen konnte.

„Ich muss zu Emily zurück. Ich wollte Ihnen jedenfalls klarmachen, dass Emily nicht an Gewalt gewöhnt ist und dass ich es nicht gut finde, wenn Sie in ihrer Gegenwart die Waffe zeigten.“

Lucas betrachtete sie mit finsterer Miene. „Wie können Sie in Ihrem Beruf von ihr Gewalt fernhalten?“

„Sie weiß, was ich tue. Ich habe es ihr erklärt, was aber noch lange nicht heißt, dass sie im Gericht sitzt und mich bei meiner Arbeit beobachtet.“

„Ich habe Sie bei Larry Halls Beerdigung gesehen.“

„Ich weiß. Es war eine schreckliche Tragödie.“ Shelley erkannte sogleich, wie wenig diese Worte aussagten.

Lucas ging zu der eingebauten Bar nahe der Flurtür. „Ein Drink?“

„Nein, danke. Ich möchte noch auspacken. Danach können wir mit der Frau sprechen, die sich um Emily kümmern soll.“

„Okay. Anschließend gehen wir etwas essen. Wir wurden aufgefordert, am Kapitänstisch zu sitzen, aber ich halte das nicht für klug. Um nicht weiter aufzufallen, sitzen wir mit anderen Gästen zusammen.“

„Und wie sieht das mit uns beiden aus? Kennen wir uns?“ Niemand hatte ihr diesen Teil des Plans erklärt.

Lucas zuckte die Schultern. „Wir haben uns kennengelernt, als wir an Bord gingen. Und zufällig liegen unsere Kabinen nebeneinander. Den Rest überlegen wir uns später.“

„Ich bin keine geschickte Lügnerin.“

„Ich weiß. Lügen sollten bestraft werden. Bleiben Sie bei schlichten lockeren Ausreden, und lassen Sie mich das Übrige machen.“

„Gut. Dann, bis später.“

„Ich ziehe mich jetzt um.“

Als Shelley ihre Kabine betrat, stolperte sie beinahe über Emily. „Mommy, Mommy“, flüsterte das Kind atemlos. „Jemand versucht, in unsere Kabine zu kommen.“

„Was?“

„Sie haben einmal ganz leise geklopft, und nun drehen sie am Knopf.“

Aber Lucas war schon zur Stelle, deutete auf das Badezimmer hinter sich und flüsterte: „Gehen Sie dort hinein.“

Shelley nahm Emily bei der Hand und schob sie ins Badezimmer. „Bleib ganz still. Okay?“

„Mommy, ich …“

„Emily, bitte, tu es für mich. Es ist wirklich wichtig.“ Sie hasste es, ihr Kind in Angst zu sehen, aber sie konnte jetzt nichts anderes tun. Sie umarmte Emily und schloss die Tür hinter sich.

Lukas holte seine Pistole aus dem Gurt. Er entsicherte sie und öffnete die Eingangstür, wobei er sich seitlich dahinter stellte.

Sein Herz klopfte. Er wusste, er hatte zu lange keinen Dienst getan. Seine Hände wurden feucht.

Eine ihm unbekannte Frau stand an der Tür. Sie trug keine Uniform wie die Besatzung des Schiffes, war ganz in Weiß gekleidet, in Leggings und einem übergroßen Hemd, das ihre mächtige Gestalt noch unterstrich.

„Gibt es ein Problem?“, fragte Lucas.

Aus tief liegenden Augen sah sie Lucas kurz an. „Ein Problem?“

Sein Blick richtete sich auf ihr grob geschnittenes Gesicht und das extrem kurze schwarze Haar. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Der Schlüssel passt nicht“, sagte sie und hielt ihn in die Höhe.

Lucas steckte die Pistole zurück in den Gurt. „Ich weiß, wer die Kabine bewohnt, aber man hat mir nichts von einer weiteren Begleitung gesagt.“

Die Frau senkte den Kopf zur Seite. „Wer sind Sie?“

„Wer sind Sie?“

„Martha Webb.“

Lucas entspannte sich. „Martha Webb“, wiederholte er. So hieß die Frau, die sie an Bord treffen sollten.

Schnell ging er zur Badezimmertür und öffnete sie. Als er Shelleys besorgten Blick bemerkte, wurde ihm bewusst, warum er so übernervös reagiert hatte. Er hatte Angst um sie. Trotz ihres selbstbewussten Verhaltens wirkte sie verletzlich. Er hatte gehandelt, wie es sein Job erforderte, aber er wusste, seine Motive gingen weiter …

„Es ist Martha Webb“, erklärte er Shelley. „Die Frau, die Bentley für Emily ausgesucht hat.“

Als Shelley erleichtert aufatmete, wandte Lucas sich rasch ab. Nur mit Mühe vermochte er sich davon abzuhalten, ihre Wange zu berühren und ihr zu versichern, dass alles okay sei, dass er bei ihr war, um sie zu beschützen.

Als Emilys blasses Gesichtchen hinter ihrer Mutter auftauchte, machte er sich Vorwürfe. Wie konnte er nur so übertrieben reagieren?

„Alles in Ordnung, Liebling“, sagte Shelley. Doch bevor sie aus dem Badezimmer heraustrat, flüsterte sie noch schnell Lucas zu: „Sie kennen die Frau, Mr. Jordon?“

„Nicht persönlich. Aber Bentley kennt sie. Kommen Sie herein, Mrs. Webb, ich mache Sie bekannt.“

4. KAPITEL

Lucas ließ Martha Webb eintreten. Emily stellte sich sogleich neben ihn. „Ich bin Emily.“

Martha lächelte und streckte dem Kind die Hand entgegen. „Ich freue mich, dich kennenzulernen, Emily. Wir werden sicher gute Freunde werden.“ Martha blickte über das Kind hinweg auf Shelley. „Und Sie müssen Mrs. Kingston sein.“

Als Shelley die Frau anlächelte, dachte Lucas, wie es wohl sein würde, wenn er selbst der Grund für ein Lächeln bei dieser Lady wäre. „Ich bin Shelley.“

„Dick Bentley hat mir alles von Ihnen erzählt. Er ist ein Freund meines Vaters, und er prüfte meine Referenzen. Soll ich sie gleich jetzt holen?“

Shelley vertraute der Frau, und sie vertraute Dick Bentley. „Das hat Zeit bis später.“

Martha wandte sich an Emily. „Wie wär’s mit einer Besichtigungstour, und zwar jetzt gleich? Vielleicht können wir auch im Pool schwimmen, falls deine Mutter nichts dagegen hat. Nimm also deinen Badeanzug mit. Wir finden sicher etwas, was dir Spaß macht.“

Emily strahlte, als hätte ihr jemand ein Geschenk gemacht. „Oh, ja, das will ich. Ist es dir recht, Mommy?“

„Sicher. Geh und zieh dich um. Und vergiss Handtuch und Sonnenöl nicht.“

„Okay.“ Emily eilte ins Badezimmer.

Nachdem die Tür hinter ihr geschlossen war, sagte Martha: „Sie ist wirklich eine kleine Schönheit. Sie sieht Ihnen sehr ähnlich, Mrs. Kingston.“

„Danke.“

„Wie steht es mit den Schwimmkünsten?“

„Wie ein Fisch im Wasser.“

„Gut. Ich bringe sie zum Pool und lasse Ihnen und Mr. Jordan Zeit, alles zu besprechen. Ich finde, wir sollten nicht in Emilys Gegenwart über die Probleme sprechen.“

„Emily weiß Bescheid. Sie brauchen keine Rücksicht vor ihr zu nehmen.“

„Wie alt ist sie?“

„Sieben.“

„Eine Schande, dass jemand, der Ihnen so nahesteht, in diese unangenehme Sache hineingezogen wird.“

„Was wissen Sie darüber?“, mischte sich Lucas ein.

„Captain Bentley klärte mich auf“, antwortete Martha. „Er fand, dass es so am besten sei, um das Kind zu beschützen.“

Gegen diese Logik konnte Lucas nichts einwenden. „Wieso ist die Wahl gerade auf Sie gefallen?“

„Wie gesagt, Captain Bentley kennt meinen Vater. So bin ich dem Captain ein paarmal privat begegnet. Als er die Liste der Besatzung überprüfte, sah er meinen Namen und rief mich an. Ich war für diese Kreuzfahrt nicht vorgesehen, aber mein Boss hatte nichts gegen diesen Job einzuwenden und erlaubte mir freien Zutritt zu allen Einrichtungen. Wie konnte ich da widerstehen?“

Bentley hatte tatsächlich an alles gedacht. „Welches sind normalerweise Ihre Aufgaben während einer Kreuzfahrt?“

„Ich bin für Haushaltsfragen zuständig, habe zuvor aber auch bei Aktivitäten für die Kinder ausgeholfen.“

Schließlich stellte Lucas die Frage, die ihn am meisten beschäftigt hatte. „Und wie kamen Sie in den Besitz des Schlüssels?“

Martha blickte auf den Schlüssel in ihrer Hand. „Er gehört zu den Hauptschlüsseln. Ich wusste nicht, ob Sie schon an Bord sind, deshalb kam ich nachsehen. Als ich klopfte und niemand antwortete, dachte ich, ich könnte drinnen auf Sie warten. Offensichtlich hatte ich für diesen Bereich den falschen Hauptschlüssel.“

In diesem Moment kam Emily aus dem Bad. „Ich bin fertig, Martha.“

Martha blickte Shelley an. „Wir treffen uns in zwei Stunden wieder hier, in Ordnung?“

„Ausgezeichnet. Und danke für Ihre Hilfe.“

„Gern geschehen.“ Martha öffnete die Tür. „Komm, Kindchen, beginnen wir die Show.“

Als Lucas mit Shelley allein war, murmelte er: „Das hätten wir zumindest unter Kontrolle.“

„Sie scheint nett zu sein“, sagte Shelley, blickte aber mit gerunzelter Stirn zur Tür.

„Aber?“

„Diese Situation macht mich zu einer übernervösen Mutter. Ich sorge mich um Emilys Sicherheit, und ich bin halbwegs in Panik, sobald sie nicht in meiner Nähe ist.“

„Das kann ich verstehen.“

Mit ihren lavendelfarbenen Augen blickte sie Lucas groß an. „Tatsächlich?“

Es war nicht die Sicherheit des Kindes, um die er sich Sorgen machte und die sein Herz schneller schlagen ließ. Er wandte sich ab und ging zur Verbindungstür. „Ja, das kann ich. Ich möchte, dass die Menschen auf dieser Erde in Sicherheit leben können, deshalb tue ich meinen Job und versuche, Positives zu erreichen.“

„Höre ich da auch ein Aber heraus?“

Lucas sah sie an … diese attraktive Frau, die sein Blut in Wallung brachte, diese Verteidigerin, die sein Blut auch zu Eis erstarren lassen konnte. „Ich tue meinen Job. Sie tun Ihren. Aber wir untergraben gegenseitig unsere Bemühungen, finden Sie nicht?“

„Nein, wir ergänzen uns.“

„Wie bitte?“

Sie ging zu ihm. „Sie beschützen Menschen. Ich tue das Gleiche.“

„Sie holen die Menschen wieder aus dem Gefängnis heraus.“

„Ich schütze die Rechte, die ihnen verfassungsmäßig zustehen.“

Diese und ähnliche Worte hatte Lucas oft genug gehört. Er hasste sie. „Und wie gefällt es Ihnen, wenn Sie jemanden auf freien Fuß setzen, von dem Sie wissen, dass er sehr wohl schuldig ist? Das geschieht doch häufig, oder?“

Eine feine Röte überzog Shelleys Wangen. „Es kann passieren.“

Lucas starrte Shelley an. Er wusste, warum er nicht einverstanden war mit dem, was sie tat, und er wusste, dass er ihren Job auch in Millionen von Jahren nicht würde akzeptieren können. „Wenn Sie mich brauchen, klopfen Sie“, sagte er und ging zu seiner Kabine. „Und gehen Sie nirgendwohin, ohne mich zu informieren.“

In seiner Kabine griff er nervös nach dem roten Trainingsball auf der Ankleidekommode, als das Telefon neben seinem Bett läutete.

„Lucas? Hier spricht Dick Bentley.“

„Hallo, was gibt’s?“

„Das wollte ich Sie fragen. Wie läuft es?“

Lucas atmete tief durch und presste den Ball so fest in seiner Hand, dass er das Gefühl hatte, die Sehnen seines Arms würden reißen. „Es hat ja noch kaum begonnen.“

„Haben Sie sich inzwischen eingerichtet?“

„Sicher.“

„Aber?“, drängte Bentley.

„Sie wissen schon, dies entspricht nicht dem, was ich im Sinn hatte, als ich bat, mich wieder arbeiten zu lassen. Ich kann es noch immer nicht glauben, dass Sie mich als Leibwächter für diese Frau abstellen.“

„Auf einer netten, erholsamen Kreuzfahrt, wo Sie nichts weiter zu tun haben, als ein Auge auf diese Lady zu werfen.“

„Haben Sie sonst noch Wünsche?“

„Wir sind noch bei der Überprüfung der Passagiere. Wir geben Ihnen, sobald wir mehr wissen, Nachricht.“

„Martha Webb ist hier.“

„Gut. Das sollte Ihnen die Angelegenheit erleichtern.“

„Stimmt.“ Lucas legte auf und ging zum Badezimmer.

Er drehte die Dusche auf und sah in dem vom Wasserdampf getrübten Spiegel sein Spiegelbild. Seine grimmigen Miene, die gerunzelte Stirn und die Narbe auf seiner Schulter schienen ihn in eine Art Monster zu verwandeln.

Außer Martha Webb gab es absolut nichts, was ihm die Kreuzfahrt hätte erleichtern können. Er zerquetschte fast den Ball in seiner Hand und ließ erst nach, als die Schmerzen in Schulter und Hand unerträglich wurden. Dann schloss er die Augen, und auf einmal wusste er, was der Grund für diese enorme innere Anspannung war.

Shellys Bild stand ihm vor Augen. Rasch öffnete er die Augen und warf laut aufstöhnend den Ball in die Kabine. Der peinigende Schmerz, den ihn diese Anstrengung kostete, ließ ihn alles andere vergessen …

Zwei Stunden benötigte Shelley zum Auspacken und Aufräumen, dann kleidete sie sich um. Als sie die Stille nicht länger ertragen konnte, ging sie zur Verbindungstür. Erst nach längerem Zögern klopfte sie an. Nichts rührte sich auf der anderen Seite. Schon wollte sie sich umdrehen, als die Tür aufging, und Lucas vor ihr stand.

Der Mann hatte sich von einem ungehobelten Polizisten in legerer Kleidung in einen geheimnisvoll wirkenden, außerordentlich maskulinen Mann verwandelt in dunkelblauem Sportjackett zur grauen Hose und schwarzem Rollkragenpullover.

Shelley wurde erst bewusst, dass sie ihn anstarrte, als er die Augen zusammenkniff und die Lippen zu einem spöttischen Lächeln verzog. „Habe ich mich hübsch genug gemacht?“, fragte er.

Und auf einmal fühlte sie sich verunsichert. Neben Lucas kam sie sich zu klein, zu unscheinbar vor. Er besaß nun einmal diese Ausstrahlung, und sie selbst war schlicht sie selbst.

„Sehr hübsch“, murmelte sie. „Ich überlegte gerade, ob ich in diesem Kleid elegant genug bin.“

Während er sie musterte, wünschte sie, sie hätte nichts dergleichen gesagt. Wo sein Blick sie traf, begann ihre Haut zu prickeln, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht einen Schritt zurückzutreten, um mehr Distanz zwischen sie beide zu legen.

„In diesem Kleid würde Sie niemand für eine Pflichtverteidigerin halten.“ Bevor sie darauf etwas erwidern konnte, stand Lucas in ihrer Kabine. „Hat Martha Emily zurückgebracht?“

„Nein, aber sie sollten eigentlich bald zurück sein.“

In diesem Moment klopfte es an die Kabinentür, und Shelley eilte hin, um die Tür zu öffnen. Lucas folgte ihr sofort, und seine Hand bedeckte ihre, noch bevor sie nach dem Türknauf greifen konnte. Sie war ihm so nahe, dass sie die Wärme seines Atems auf ihrer Haut fühlte. „Öffnen Sie nie, ohne zu fragen, wer es ist“, flüsterte er.

Shelley zwang sich, ihm ruhig in die Augen zu schauen. „Das wollte ich gerade“, erwiderte sie ebenso leise.

Er gab ihre Hand wieder frei. „Wer ist es?“, fragte sie.

„Emily und Martha.“

Shelley sah, wie Lucas Hand langsam aus der Innenseite seines Jacketts hervorkam. Die Waffe! Sie öffnete die Tür.

Emily stürzte freudestrahlend in den Raum und warf etwas auf das Bett. „Mommy, du wirst nie, niemals erraten, was Kinder hier tun dürfen.“

Emily so glücklich zu sehen, glich alles aus, was Shelleys Welt belastete. „Was ist es, Liebling?“

„Glücksspiel!“, rief Emily. „Kannst du das glauben?“

„Nein, unmöglich.“ Shelley sah Martha an, die in diesem Moment eintrat.

„Das gefällt mir, und ich habe gewonnen“, plapperte Emily begeistert weiter.

Shelley sah auf den Berg in Glanzpapier eingepackter Bonbons auf der blauen Bettdecke. „Ist das dein Gewinn?“

„Ja. Zweiundfünfzig. Ich habe gefischt und bekam eine Sechs und durfte noch einmal drehen. Und der Ball lag auf der richtigen Nummer auf dem Rad. Ich habe gewonnen.“

Plötzlich hörte sie auf zu strahlen und drückte eine Hand auf ihren Magen. „Ich habe auch ein paar Bonbons gegessen.“

„Davor hatte sie einen Hotdog und Limonade.“ Martha setzte sich neben Emily aufs Bett. Dann blickte sie Shelley an. „Warum gehen Sie und Mr. Jordon nicht zum Dinner hinauf? Emily ist sicher nicht mehr hungrig. Ich bleibe gern bei ihr, bis Sie zurückkommen.“

Shelley ging vor ihrer Tochter in die Hocke. „Bist du in Ordnung, Liebling?“

„In meinem Bauch grummelt es so.“

„Ich lasse dir etwas Ginger Ale und Toast schicken. Das hilft“, sagte Martha und tätschelte Emilys Rücken. „Keine Sorge. Gehen Sie nur hinauf und amüsieren Sie sich. Wir kommen hier schon klar. Wenn wir Sie brauchen, können wir Sie ja ausrufen lassen.“

„Was halten Sie davon, Lucas?“, fragte Shelley. „Sollten wir nicht einfach unten bleiben?“

„Ich denke, wir sollten uns auf dem Schiff umschauen. Wenn Martha bei dem Kind bleibt, können wir ruhig hinaufgehen. Wir müssen ja nicht lange bleiben.“

Shelley ermahnte Emily noch einmal, auf Martha zu hören, dann wandte sie sich an Lucas. „Wie soll sich das abspielen?“, fragte sie ihn.

„Sie gehen zuerst hinauf, setzen sich an den uns zugewiesenen Tisch, ich komme in zehn Minuten nach.“

Aus irgendeinem Grund hatte Shelley gehofft, sie würden zusammenbleiben. Der Gedanke, den Weg allein zu suchen, behagte ihr nicht. „Ist das erforderlich?“

„Absolut. Und denken Sie daran: Wir haben uns hier nach der Ankunft an Bord kennengelernt.“

Sie küsste Emily auf die Stirn. „Pass auf dich auf, Liebling. Ich bin bald zurück.“

Lucas sah Shelley nach, als sie den Raum verließ. Das Kleid, das sie schlicht nannte, wirkte an ihr ganz und gar nicht schlicht. Es betonte jede ihrer Kurven und schmiegte sich elegant um ihre Beine, die so überraschend lang und wohlgeformt waren. Bevor er die Kabinentür hinter sich zuzog, fing er einen Blick von Martha auf. Sie schien sich über ihn lustig zu machen.

Shelley schaute sich im Hauptspeisesaal um. Er war in drei Ebenen angelegt, die tiefste befand sich in der Mitte und war nach beiden Seiten durch ein Messinggeländer abgegrenzt, das mit Girlanden und Stechpalmen geschmückt war. Dort befand sich auch eine Tanzfläche und ein riesiger Weihnachtsbaum, der mit Kristallschmuck verziert und leuchtenden Kerzen besteckt war. Einige Gäste tanzten zu den Klängen einer kleinen Band. Der Raum erstrahlte in einem Gewirr aus Rot und Gold, das im milden Schein der Kerzen ganz zauberhaft wirkte.

Die Tischnummern waren diskret an kleine silberne Vasen gestellt, und schließlich erspähte Shelley auch ihren Tisch auf der linken Seite über dem Tanzboden.

Langsam ging sie auf den elegant gedeckten Tisch zu. Einige Mitreisende hatten bereits Platz genommen, aber drei Stühle waren noch frei. Für gewöhnlich hätte sie jetzt gelächelt, hätte „hallo“ gesagt und sich gesetzt. Aber heute war ihr, als würde sie von den Gästen am Tisch beobachtet.

Zwei ältere Damen, offensichtlich Zwillingsschwestern, waren ihr am nächsten. Identisch in ihrem Äußeren, von dem krausen grauen Haar bis zu den braunen Augen, der randlosen Brille und der vollbusigen Figur, blickten beide auf und lächelten. „Oh, ein neues Gesicht“, freute sich die eine.

„Setzen Sie sich, und machen Sie es sich bequem“, sagte die andere.

„Wir wollten eigentlich warten, bis alle da sind, bevor wir uns vorstellen“, sagte die erste. Sie warf einen Blick auf die beiden noch leeren Stühlen. „Aber unsere letzten beiden Dinnergäste scheinen sich zu verspäten. Wir können uns ebenso gut gleich bekannt machen und ein bisschen von uns erzählen.“ Lächelnd schaute sie von einem zum anderen über den großen Tisch. „Ich bin Jessie Warden, und dies ist meine Schwester Lillian. Wir sind Lehrerinnen und gerade in Pension gegangen, und dies ist unsere erste Kreuzfahrt.“ Sie blickte zu dem Herrn an der Seite ihrer Schwester. „Und Sie, Sir?“

Der Mann mittleren Alters hatte graue Haare und blassblaue Augen. Er trug eine Hornbrille. „Lawrence Washburn“, stellte er sich vor.

„Und?“, drängte Jessie.

„Ich bin Mathematikprofessor an der Universität. Ich mache Ferien.“

„Wunderbar.“ Jessie wandte sich dem jüngeren Paar an seiner Seite zu. „Und Sie beide?“

Der Mann mit dem schmalen Gesicht und dem dunklen Haar sagte höflich: „Wir sind Rory und Diane Lewis. Wir sind auf Hochzeitsreise und kommen aus San Francisco.“

Lillian strahlte sie an. „Wie reizend, wirklich.“

Jessie unterbrach sie und deutete auf den nächsten Herrn. „Und Sie, Sir?“

„Ich bin James Sloan.“ Seine Stimme klang rau. Er war ein drahtiger hochgewachsener Mann mit dunklen Augen und einer groben Haut. Er hätte genauso gut vierzig wie sechzig sein können. Sein Lächeln begrenzte sich auf seine Lippen. „Im Urlaub.“

Rechts neben ihm saß ein blonder Mann. Seine sonnengebräunte Haut wurde durch ein weißes Dinnerjackett betont. Er machte sich bekannt, noch bevor Jessie ihn auffordern konnte. „Brant Weston. Aus Mill Valley. Single. Im Urlaub. Ansonsten Banker.“ Er warf Jessie einen schrägen Blick zu. „Habe ich etwas vergessen?“

Im Gegensatz zu Jessie hörte Shelley den Sarkasmus in seiner Stimme. „Nein, nichts.“ Dann wandte sie sich Shelley zu. „Und Sie, meine Liebe?“

„Shelley Kingston.“ Shelley neigte sich ein wenig zur Seite, damit der Kellner ihr den Cocktail servieren konnte. „Ich mache einen Kurzurlaub und lebe in San Francisco.“

„Sie sagten nicht, welchen Beruf Sie ausüben“, drängte Jessie.

„Ich bin Anwältin.“

Brant stieß einen leisen Pfiff aus. „Wenn ich einen Anwalt wie Sie hätte, würde ich dafür sorgen, öfter in Schwierigkeiten zu geraten.“

Der Professor schüttelte den Kopf. „Eine Anwältin? Himmel, das ist aufregend.“

„Ebenso aufregend wie das Handeln mit Müll, möcht ich wetten“, warf James Sloan ein.

Shelley sah ihn verblüfft an. „Wie bitte?“

„Der Abschaum dieser Welt ist es, der die Anwälte benötigt, es sei denn, Sie gehören zu den extrafeinen Anwälten, die in die Prozesse eingreifen und diese Art von Geschichten …“

Shelley drehte sich der Magen um. Wäre doch Lucas gleich mit ihr zusammen heraufgekommen! „Ich helfe Menschen, die Hilfe brauchen.“

„Und ich wette, darin sind Sie einzigartig“, murmelte Sloan.

„Was für eine schöne Welt, in der die Frauen sich den Beruf nach ihrem Geschmack wählen können“, freute sich Jessie. „In unserer Jugend war der Lehrerberuf das Höchste, was eine Frau erreichen konnte. Nicht, dass ich das bereuen würde. Jetzt haben wir Zeit zu reisen.“

Der Professor sah auf. „Zeit ist ein Freund der Jugend.“

Shelley begrüßte den Wechsel des Themas. „Und ein geliebter Feind der Alten.“

Überrascht blickte sie der Professor an. „Ich bin beeindruckt. Nicht viele Menschen Ihres Alters wissen das.“

Shelley spielte mit der roten Leinenserviette neben ihrem Teller. „Ein Zitat von Shakespeare. Literatur war ein Fach, das ich im zweiten Collegejahr wählte.“

Der Professor schob seine Brille höher auf die Nase. „Ein Wahlfach, natürlich. Oh, wenn doch die Jugend einsehen könnte, wie wertvoll die englische Sprache in all ihren Formen ist. Aber die jungen Menschen scheinen sich ganz dem Vergnügen hinzugeben … eine zweifellos oberflächliche Entscheidung angesichts der Probleme, die das Leben für uns bereithält.“

Autor

Karen Toller Whittenburg
Karen Toller – Whittenburg hat an beiden Küsten Amerikas gelebt – der Atlantik- und der Pazifikküste. Sie bevorzugt die Landschaft von Nordost – Oklahoma, wo sie aufgewachsen ist. Sie mag den Wechsel der Jahreszeiten in Tulsa, wo sie mit ihrem Ehemann, einem Fotografen lebt. Schon in frühen Jahren hat Karen...
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