Bianca Herzensbrecher Band 8

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BEIM BLICK IN DEINE BLAUEN AUGEN VON VICTORIA PADE
Diese blauen Augen, dieses verführerische Lächeln … Cowboy Seth Camden ist einfach viel zu sexy, um mit ihm Geschäfte zu machen, findet Lacey. Aber sie hat keine Wahl: Wenn sie endlich von ihrem Vater als Unternehmerin ernst genommen werden will, muss sie sich jetzt auf Seth einlassen!


ZWEI EINSAME HERZEN … VON KATHLEEN EAGLE
Lily ist ins wunderschöne Montana zurückgekehrt, um sich um ihre kleine Tochter zu kümmern, und nicht, um mit Haut und Haar einem gewissen Cowboy zu verfallen! Der breitschultrige, muskulöse Jack McKenzie ist unheimlich heiß – und als einsamer Wolf unnahbar…


WIE VERFÜHRT MAN EINEN COWBOY? VON CHRISTINE WENGER
Kurz vor ihrem 30. Geburtstag beschließt Jenna, ihr Leben zu ändern: Statt Pflichtbewusstsein und Ehrgeiz will sie nun Spaß und Liebe! Und zwar mit dem wohlhabenden Ranch-Besitzer Dustin. Mit den Waffen einer Frau möchte Jenna ihn verführen. Aber ein echter Cowboy lässt sich nicht einfangen …


  • Erscheinungstag 06.04.2021
  • Bandnummer 8
  • ISBN / Artikelnummer 9783751502030
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Victoria Pade, Kathleen Eagle, Christine Wenger

BIANCA HERZENSBRECHER BAND 8

1. KAPITEL

Na toll – ausgerechnet heute muss ich Rock und High Heels anziehen …

Seufzend hielt Lacey Kincaid am Rand des Feldwegs und stellte den Motor ab. Seit einer Stunde irrte sie nun schon durch diese abgelegene Gegend von Montana und suchte Seth Camden. Vor einer Weile hatte sie sein Haus gefunden und erfahren, dass er unterwegs war, um kaputte Zäune zu reparieren. Jetzt sah sie den Mann zwar, doch wenn sie zu ihm wollte, musste sie die Böschung hinabsteigen und einen Graben überqueren. Und das in einem engen Rock und auf fast zehn Zentimeter hohen Absätzen.

Aber es ging nicht anders. Sie musste unbedingt mit ihm reden, und das würde sie jetzt auch tun.

Es wäre das erste Mal, dass sie ihm – oder einem anderen Mitglied der legendären Camden-Familie – begegnete. Weil sie dabei so gut wie möglich aussehen wollte, klappte sie die Sonnenblende herunter und warf einen Blick in den Kosmetikspiegel.

Zur Arbeit trug sie ihr hellblondes schulterlanges Haar immer glatt zurückgebunden, und für die lange Besprechung an ihrem zweiten Tag in Northbridge hatte sie es zu einem lockeren Knoten nach oben gebunden.

Um den Businesslook zu unterstreichen, hielt sie sich beim Make-up zurück. Nur ein Hauch Rouge an den hohen Wangenknochen, etwas Gloss auf den von Natur aus rosigen Lippen und eine Spur Mascara, um die grünen Augen zu betonen, mehr nicht. Auf keinen Fall sollte man sie für eine eitle, unfähige Frau halten, die ihren Job vernachlässigte, weil sie dauernd nach einem potenziellen Ehemann Ausschau hielt.

Zufrieden mit ihrem professionellen, aber nicht zu strengen Aussehen, stieg Lacey aus, überquerte den Feldweg, kletterte die Böschung hinab und sprang über den Graben. Dann atmete sie tief durch und ging so würdevoll wie möglich auf den Mann zu, der sie noch immer nicht bemerkt hatte. Er kehrte ihr den Rücken zu und arbeitete so weit vom Weg entfernt, dass er ihren Wagen vermutlich nicht gehört hatte.

Plötzlich knickte sie mit dem rechten Fuß um und behielt nur mühsam das Gleichgewicht. Mit einem kurzen Blick überzeugte sie sich, dass der Absatz nicht abgebrochen war, und stapfte weiter.

Er trug einen grauen Cowboyhut, ein weißes T-Shirt, Lederhandschuhe, Jeans und Stiefel. Er war groß, mindestens eins neunzig, schätzte sie, und hatte breite, kräftige Schultern, die sich bewegten, wenn er die muskulösen Arme hob, um den Erdlochausheber aus dem Boden zu ziehen, die Erde neben dem Loch deponierte und das Gerät wieder kraftvoll einsetzte.

Die verwaschenen Jeans spannten sich um seine Beine und den aufregendsten Po, den sie jemals gesehen hatte. (Und da Lacey die Montana Monarchs, das neue Footballteam ihres Vaters, beim Training beobachtet hatte, kannte sie sich auf dem Gebiet aus.)

Als sie erneut ausrutschte, wäre sie fast auf dem Boden gelandet, aber irgendwie schaffte sie es, aufrecht zu bleiben und Seth Camden keine Sekunde aus den Augen zu verlieren.

Das weiße T-Shirt war zwar nicht eng, aber in der heißen Augustsonne klebte es an ihm wie eine zweite Haut. Um seine kräftigen Rückenmuskeln hätte ihn jeder Hochleistungssportler beneidet.

Genießerisch ließ Lacey den Blick daran hinabwandern, über die schmale Taille, bis er wieder den Po erfasste … Okay, das reicht! Sie riss sich zusammen. „Hallo!“, rief sie.

Aber entweder war sie noch nicht nahe genug, oder das Timing stimmte nicht, denn Seth Camden reagierte nicht, sondern rammte den wie ein X geformten Ausheber wieder in die Erde.

Lacey blieb stehen, zog die Kostümjacke aus und legte sie sich über den Arm. Ihre Bluse war zum Glück ärmellos.

Wenn die Tochter der Football-Legende Morgan Kincaid sich etwas vornahm, gab sie nicht so schnell auf. Den Blick auf seine breiten Schultern gerichtet, ging sie weiter. Ein Camden, der als Cowboy in der glühenden Hitze schuftete? Das passte nicht zu dem Bild einer Familie, die sich als erfolgreiche Geschäftsleute einen Namen gemacht hatte.

Laceys Vater hatte mit dem Ruhm und dem Vermögen, das ihm seine Karriere im Football eingebracht hatte, ein breit gefächertes Unternehmen aufgebaut, das außer Immobilien, Autohäusern und einer Hotelkette auch ein neu formiertes Profiteam umfasste.

Aber so erfolgreich er auch war, verglichen mit dem riesigen Konzern der Camdens waren Morgan Kincaids Umsätze geradezu bescheiden. Ihre Superstores erfüllten jeden Kundenwunsch und warben damit, dass man ein komplettes Haus bauen, einrichten, mit einem Garten umgeben und ein Leben lang bewohnen konnte, ohne jemals einen Fuß in ein anderes Geschäft setzen zu müssen.

Selbst Bankfilialen, Arztpraxen und Anwaltskanzleien beherbergten die gigantischen Konsumtempel von Camden Incorporated. Und als wäre das nicht genug, stellte die Familie auch noch einen großen Teil der Produkte her, die sie dort verkaufte, sogar die preisgünstigen Medikamente, die sie in ihren eigenen Apotheken und Drugstores anbot.

Es gab kaum etwas, womit die Camdens kein Geld verdienten. Auf dem College hatte Lacey an einem Kursus teilgenommen, der sich mit dem Geschäftsmodell von Camden Incorporated beschäftigte, aber über das Privatleben der Familie war wenig bekannt. Hin und wieder tauchte ein Camden im Zusammenhang mit einer Charity in den Medien auf, aber davon abgesehen hielten sie sich bedeckt und protzten nicht mit ihrem Reichtun.

Dennoch fand Lacey es erstaunlich, dass einer der zehn Enkel, die den Konzern inzwischen lenkten, wie ein Kleinstadtcowboy Löcher aushob und Zaunpfosten setzte.

„Hallo!“, versuchte sie es ein zweites Mal.

Kaum hatte sie den Mann gerufen, hob sie einen Fuß, um den nächsten Schritt zu machen, und verlor erst den Schuh, dann wieder die Balance. Mit rudernden Armen gelang es ihr in letzter Sekunde, nicht auf dem Bauch zu landen.

„Wow! Das war knapp!“

Natürlich, jetzt hatte er sie bemerkt.

Lacey richtete sich auf, klopfte sich den Schmutz von den Händen, zog den Schuh mit einem Ruck aus der weichen Erde und streifte ihn über. Als sie den Kopf hob, sah sie, dass Seth Camden – wenn er es denn wirklich war – sein Arbeitsgerät abgestellt und die Handschuhe ausgezogen hatte, um ihre Jacke aufzuheben.

Ihre Blicke trafen sich, und fasziniert schaute sie in die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte. Und da sie zu einem im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubenden Gesicht gehörten, konnte sie nichts anderes tun, als den Mann sprachlos anzustarren. Markante, wie gemeißelt wirkende Züge mit einem energischen Kinn, vollen, aber nicht zu vollen Lippen und einer klassisch geformten Nase, dazu die kobaltblauen Augen unter geraden, dichten Brauen …

„Alles in Ordnung?“, fragte er mit einer tiefen Stimme, die so männlich klang, dass Lacey trotz der Sommerhitze eine Gänsehaut bekam.

„Oh. Ja, es geht mir gut“, erwiderte Lacey. „Sind Sie Seth Camden?“

„Leibhaftig.“

Das ist genau das, woran ich jetzt nicht denken will!

„Haben Sie den beschwerlichen Weg etwa meinetwegen zurückgelegt?“, erkundigte er sich stirnrunzelnd. Er nahm den Hut ab und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab.

Lacey wusste nicht, warum, aber sie fand diese Geste unglaublich sexy. Seine Haarfarbe erinnerte sie an Espressobohnen. An den Seiten war es kurz und oben gerade lang genug, um leicht zerzaust zu wirken.

Erst als er den Stetson wieder aufsetzte, fiel ihr ein, dass er sie etwas gefragt hatte. „Ich war zuerst bei Ihnen zu Hause. Jemand hat mir erzählt, wo Sie sind und wie ich herkomme. Ich muss mit Ihnen reden, deshalb …“

„… sind Sie jetzt hier“, beendete er den Satz für sie. „Was kann ich für Sie tun? Oder möchten Sie mir vorher sagen, wer Sie sind?“

Hatte sie das noch nicht getan? Lacey war sonst nie so durcheinander. „Entschuldigung. Ich bin Lacey Kincaid.“

„Ich kenne Morgan Kincaid. Er hat Land von uns gekauft und den Vertrag persönlich unterschrieben. Und Ian und Hutch Kincaid bin ich in der Stadt begegnet.“

„Morgan ist mein Vater, Ian und Hutch sind meine älteren Brüder. Ich weiß nicht, ob mein Vater Ihnen davon erzählt hat, aber auf dem Land, das er Ihnen abgekauft hat, soll das neue Trainingszentrum für die Monarchs entstehen …“

„Richtig, das ist das Footballteam Ihres Vaters.“

„Und das Projekt, dessen Leitung er mir übergeben hat.“ Sie hatte nicht so stolz klingen wollen, aber für sie war es nun mal eine große Sache.

„Und darüber wollen Sie mit mir reden?“, fragte er und reichte ihr die Jacke.

„Ich muss mit Ihnen drei Dinge besprechen“, erwiderte sie in geschäftsmäßigem Ton. „Ich bin erst gestern angekommen und wohne in einem Apartment, das Hutch gehört. Es liegt in Northbridge; ich brauche fünfzehn Minuten zur Baustelle!“

„Fünfzehn Minuten sind für Sie eine Ewigkeit?“

Ja, so hatte es sich wohl angehört. „Ich würde nur gern näher dran wohnen und habe erfahren, dass Sie nicht weit vom Baugelände leben und ein Gästehaus haben. Da habe ich mich gefragt, ob Sie es vielleicht vermieten würden.“

„An Sie?“

„Ja. Aber ich wäre nur selten dort. Ich würde dort nur übernachten, weil ich tagsüber auf der Baustelle bin. Wahrscheinlich würden Sie gar nicht bemerken, dass ich da bin.“

„Oh, ich glaube, das würde ich schon.“

Lacey hatte keine Ahnung, wie er das meinte, aber er hatte dabei den linken Mundwinkel hochgezogen. Obwohl es nicht mehr als ein angedeutetes Lächeln war, erschien es ihr sogar noch attraktiver als die Geste, mit der er sich die Stirn abgewischt hatte. Warum um alles in der Welt bemerkte sie solche Nebensächlichkeiten überhaupt? Sie tat so, als hätte sie seine Antwort überhört.

„Ich brauche nur einen Ort zum Schlafen, Duschen und Umziehen. Und natürlich zahle ich Miete und …“

„Sie brauchen auch eine Küche, oder? Wie wollen Sie sonst Mahlzeiten zubereiten?“

„Eine Küche wäre natürlich schön. Oder eine Kochnische, in der ich Kaffee kochen kann. Meistens esse ich auf der Baustelle. Und wenn Sie das Gästehaus zwischendurch benötigen, könnte ich ein oder zwei Nächte bei einem meiner Brüder verbringen …“

„Und die endlosen fünfzehn Minuten zur Baustelle fahren?“ Sein Lächeln milderte den Spott.

Aber es war unerträglich heiß, und Lacey hatte keine Zeit, um sein Lächeln zu bewundern. „Ja“, sagte sie, als hätte er die Frage ernst gemeint. „Außerdem möchte ich mit Ihnen über das Haus und die Scheune reden, die auf dem Land stehen, das wir Ihnen abgekauft haben.“

„Darüber haben wir lange nachgedacht. Mein Urgroßvater ist in dem Haus geboren, sein Vater hat die Scheune als Sägewerk genutzt, und mein Urgroßvater hat dort unser Unternehmen gegründet. Als Kinder haben wir oft in dem alten Kasten übernachtet. Aber seitdem stehen die Gebäude leer, deshalb haben wir das Land dann doch verkauft.“

„Ja, das verstehe ich“, antwortete Lacey ungeduldig. Seine Familiengeschichte interessierte sie nicht. „Auf dem Dachboden im Haus und in der Scheune stehen noch ein paar Sachen.“

„Tatsächlich? Ich dachte, wir hätten alles ausgeräumt.“

„Offenbar nicht. Da die Sachen Ihnen gehören, sollten Sie auch entscheiden, was Sie behalten möchten und was weggeworfen werden kann. Und dann ist da noch der dritte Punkt, den ich mit Ihnen besprechen muss: Mein Vater war … nicht glücklich darüber, wie es gelaufen ist, als er das Land gekauft hat.“

„Ihr Bruder sollte die Bowen-Farm für das Trainingszentrum bekommen, hat aber das Mädchen bekommen und geheiratet“, sagte Seth Camden belustigt. „Northbridge ist eine kleine Stadt.“

„Stimmt. Jedenfalls dachte Ian, er könnte stattdessen den Besitz der McDoogals kaufen, aber …“

„Den hatte ich bereits erworben.“

„Ja, das hatten Sie.“ Und deshalb hatten die Kincaids statt mit den McDoogals, die dringend Geld brauchten, mit den Camdens verhandeln und für weniger Land einen höheren Preis zahlen müssen.

Lacey hielt sich eine Hand vor die Stirn. „Jedenfalls handelt mein Vater manchmal vorschnell. Weil er es so eilig hatte, das Trainingszentrum zu bauen, hat er nicht bedacht, dass die Zufahrtsstraße über ein Gelände führt, das noch Ihnen gehört.“

„Und Sie sind hier, um mit mir zu verhandeln?“

„Es geht nur um Wegerechte. Mehr brauchen wir nicht. Wir könnten Ihnen den Streifen Land abkaufen.“

„Oder ihn pachten und dauerhaft dafür bezahlen.“

Wieder musste sie an die wenig schmeichelhaften Dinge denken, die man sich über die Geschäftspraktiken der Camdens erzählte.

„Es ist heiß hier draußen, und Sie müssen in den Schatten“, fuhr er fort. „Mal sehen, ob ich alles richtig verstanden habe. Sie möchten in meinem Gästehaus wohnen, ich soll den Dachboden und die Scheune ausräumen, und Sie wollen die Zufahrt zu Ihrem Trainingszentrum auf Camden-Land bauen.“

„Ja.“

„Ja, ja und nein.“

„Ja, ja und nein?“

„Ja, natürlich können Sie mein Gästehaus benutzen, das übrigens über eine Küche verfügt. Ja, ich räume den Dachboden und die Scheune aus. Aber auf gar keinen Fall lasse ich jemanden auf meinem Grund und Boden eine Straße bauen, wenn ich nicht mehr Informationen bekomme und mir nicht sicher sein kann, dass …“

„… die Camdens einen Vorteil davon haben“, murmelte Lacey.

„Dass ich alles weiß, was ich wissen muss“, korrigierte er. „Als Ihr Vater das Land gekauft hat, ging er davon aus, dass die existierenden Wege und Straßen zum Haus und zur Scheune ausreichen. Ich kann nichts dafür, dass er sich getäuscht hat.“

„Aber Sie können etwas dafür, dass Sie den Besitz der McDoogals gekauft haben und wir deshalb unsere Pläne ändern mussten.“

Seth Camden zuckte mit den Schultern. „Der McDoogal-Besitz stand zum Verkauf und grenzt an mein Land. Ich habe ihn gekauft. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

Und sich unschuldig zu geben, obwohl sie es nicht waren, war typisch für seinen Urgroßvater und seinen Großvater gewesen. Aber es wäre sinnlos, ihn zu bedrängen, daher wechselte Lacey das Thema und konzentrierte sich auf ihr akutes Problem. „Aber ich kann Ihr Gästehaus mieten, und Sie räumen den Dachboden und die Scheune aus?“

„Ganz richtig.“

„Dann sollten wir wohl über die Miete sprechen“, schlug sie vor.

Wieder zuckte er mit den Achseln, und ihr entging nicht, was für breite Schultern er hatte …

„Sie können gratis dort wohnen. Als mein Gast – schließlich ist es ein Gästehaus. Nennen wir es einfach gute Geschäftsbeziehungen.“

Wo war der Haken? So viel wusste Lacey über die Camdens – wenn seine Vorfahren etwas taten, gab es immer einen Haken. Sie wollte nicht riskieren, dass Seth Camden die Tradition auf ihre Kosten fortsetzte. „Ich würde lieber dafür bezahlen.“

„Okay, dann zahlen Sie mir, was Sie für fair halten. Sagen Sie mir einfach, wann Sie einziehen wollen.“

„Morgen Abend?“

„Einverstanden. Dann vereinbaren wir einen Termin, an dem ich mir ansehe, was ich noch herausholen muss. Und jetzt sollten Sie in den Schatten gehen oder meinen Sunblocker benutzen.“ Er zeigte auf seinen Werkzeugkasten.

„Ich gehe aus der Sonne“, erwiderte sie. „Aber wir müssen noch über die Straße reden.“

„Bestimmt finden wir eine Lösung“, antwortete er, als wäre es ihm nicht wichtig.

Lacey schwieg. Eine Hand wäscht die andere. An die Devise hatten H. J. und Hank Camden sich immer gehalten.

Sie verabschiedete sich und machte sich auf den Rückweg zum Wagen.

„Vorsicht!“, rief er, als sie fast wieder hingefallen wäre.

Sie warf einen Blick über die Schulter. Er beobachtete sie aufmerksam.

„Alles gut!“, rief sie und ging weiter.

Erst an der Straße riskierte sie einen weiteren Blick in Seth Camdens Richtung. Er schaute noch immer herüber, daher winkte sie ihm zu. Als er sich endlich wieder an die Arbeit machte, starrte sie unwillkürlich erneut auf seinen knackigen Po.

Hör auf damit, befahl sie sich, bevor sie einstieg und den Motor startete.

Doch als sie davonfuhr, musste sie an das Geschäftsmotto seiner Vorfahren denken und malte sich aus, wie Seth ihre Hand wusch. Und sie seine.

Unter der Dusche …

2. KAPITEL

„Hey, Cade, hier ist Seth.“

„Oh, Mann, du hast schon wieder vergessen, dass ich nicht so früh aufstehe wie ihr Farmer“, beschwerte sich Cade mit belegter Stimme.

Seth lachte. „Ich dachte, im Big Business wird man wach, wenn die Sonne aufgeht.“

„Heute habe ich keine Besprechungen. Deshalb wollte ich bis halb acht schlafen.“

Es war erst sieben. „Ich bin seit Stunden wach, weil ich mit unserem Verwalter auf der Farm in Kentucky reden musste, und jetzt muss ich gleich los, um einen Zaun zu Ende zu reparieren. Deshalb rufe ich dich an, solange du noch zu Hause bist.“

Obwohl Seth als ältester Enkel der Camdens die Möglichkeit gehabt hätte, den Familienkonzern zu leiten, hatte er sich entschieden, sich um die Farm in Northbridge und sämtliche anderen landwirtschaftlichen Aktivitäten von Camden Incorporated zu kümmern. Seitdem führte sein ein Jahr jüngerer Bruder Cade als Vorstandschef die Geschäfte.

Außer Seth lebten alle Camdens vorzugsweise in Denver, wo sie aufgewachsen waren. Er dagegen liebte das Land und machte sich gern die Hände schmutzig.

„Haben wir in Kentucky noch mehr Rinder verloren?“, fragte Cade.

„Nein, und wir haben die Übeltäter geschnappt. Es waren Kinder, deren Familie vor Generationen das Land besessen hat. Du kennst die Geschichte.“

„Jemand hat seinen Groll auf uns vererbt.“

„Genau die meine ich.“

„Was willst du unternehmen?“

„Die Kinder kommen aus der Nachbarschaft. Es ist eine Kleinstadt wie Northbridge, und ich will böses Blut vermeiden. Wenn sie den Schaden abarbeiten, verzichte ich auf eine Anzeige. Der Verwalter kennt sie und kümmert sich darum.“

„Klingt gut“, sagte Cade.

Seth hörte, dass sein Bruder aufgestanden war und Kaffee kochte. „Du kommst doch in drei Wochen zu GiGis Geburtstag, oder?“

GiGi war der Kosename ihrer Großmutter, kurz für Grandma Georgianna. Nach dem Tod ihrer Eltern waren die Brüder und ihre Cousins bei ihr aufgewachsen. Sie wurde fünfundsiebzig.

„Auf jeden Fall.“

„Ist sonst noch was los bei euch?“, erkundigte sich Cade.

Von einer Sekunde zur anderen sah Seth die junge Frau vor sich, die ihn gestern auf dem Feld aufgespürt hatte. „Ich habe Morgan Kincaids Tochter kennengelernt und glaube, sie ist überzeugt, dass wir ihren Vater hereingelegt haben.“

„Dieselbe Geschichte, ein anderes Kapitel.“

„Genau.“

Sie hatten sich daran gewöhnt, dass ihr Nachname die Leute misstrauisch machte.

„Hast du ihr erklärt, dass es dir nur um den Besitz ging?“

„Nein, sie hat es nicht ausgesprochen, nur gedacht.“

„Kenne ich.“

„Jetzt wollen sie eine Straße bauen, die über unser Land führt. Dass ich nicht sofort nachgegeben habe, hat sie noch misstrauischer gemacht“, erzählte Seth. „Als hätte ich geahnt, dass sie eine Zufahrtsstraße brauchen, und das Land nur deshalb gekauft.“

„Wir Camdens sind schon ein gerissener Haufen, was?“, scherzte Cade. „Diese Lacey Kincaid ist also ein echter Drachen?“

Seth lachte. „Nein, das glaube ich nicht.“ Aus irgendeinem Grund gefiel es ihm nicht, wenn jemand sie so nannte. „Aber wahrscheinlich wäre sie dem alten H. J. und Grandpa eine würdige Gegnerin gewesen. Sie weiß, was sie will, und gibt nicht so schnell auf. Sie hat mich mitten in der Einöde aufgespürt und ist eine Viertelmeile über ein Feld marschiert. In der Hitze, im Kostüm und auf High Heels.“

„Nur um über eine Zufahrtsstraße zu reden?“

„Und um mir zu sagen, dass wir noch Sachen auf ihrem Dachboden und in der Scheune haben. Außerdem hat sie gefragt, ob sie in meinem Gästehaus wohnen kann, weil sie sonst eine Viertelstunde zur Baustelle braucht.“

„Fünfzehn Minuten Fahrzeit sind ihr zu viel?“

„Sieht so aus. Aber sie hat nicht versucht, mich unter Druck zu setzen. Ehrlich gesagt kam es mir eher vor wie damals, als die Mädchen noch klein waren, sich verkleidet haben und in GiGis Schuhen herumstolziert sind. Ich glaube, Lacey Kincaid probiert gerade Schuhe aus, die ihr ein paar Nummern zu groß sind.“

Trotzdem hatte sie einen spektakulären Anblick abgegeben, als sie zum Wagen zurückgegangen war. Zuerst hatte Seth ihr nur nachgeschaut, weil er nicht wollte, dass sie sich den Hals brach, aber dann hatte sein Blick sich förmlich an ihrem runden Po festgesogen. Natürlich war die Vorderansicht auch nicht zu verachten gewesen …

„Wir haben noch Sachen auf der alten Farm?“, holte Cade ihn in die Gegenwart zurück.

„Das behauptet sie jedenfalls. Ich dachte, wir hätten alles ausgeräumt, aber offenbar nicht. Viel kann es nicht sein. Ich erledige das.“

„Und sie will im Gästehaus wohnen?“

„Sie will es mieten. Ich habe ihr gesagt, sie kann es gratis nutzen, aber sie besteht darauf, uns etwas zu zahlen.“

„Stört es dich nicht, wenn sie dort absteigt?“, fragte Cade neugierig. „Also irgendwo zwischen dem männermordendem Drachen und dem kleinen Mädchen in zu großen Schuhen ist Lacey Kincaid … Wie ist sie denn nun wirklich?“

„Ich habe mich höchstens fünf Minuten mit ihr unterhalten. Und wie gesagt, sie war äußerst geschäftsmäßig.“

„Wie sieht sie aus?“

Kein Zweifel, sein Bruder witterte etwas. Aber was sollte Seth darauf antworten? Dass Lacey Kincaid aussah wie eine blonde Göttin in einem grauen Kostüm?

Dass ihr Haar den Sonnenschein in sich aufzunehmen und zu verströmen schien?

Dass er noch nie solche Augen gesehen hatte – wie zwei identische, mit Sternenstaub bestreute Smaragde?

Dass sie eine makellose Haut und eine perfekt geformte Nase hatte?

Dass ihre Lippen die Farbe von Rosenblüten hatten und wie geschaffen zum Küssen waren?

Dass sie höchstens einen Meter sechzig groß war und sein Blick wie von selbst auf den Ausschnitt ihrer weißen Bluse gefallen war?

Nein, nichts davon ging Cade etwas an.

„Blondes Haar, grüne Augen, gute Figur. Sie sieht aus wie eine ganz normale, berufstätige junge Frau.“

„Und du hättest nichts dagegen, sie hin und wieder zu sehen, wenn du aus dem Fenster schaust“, sagte sein Bruder belustigt.

„Stimmt“, gab Seth zu. „Aber sie behauptet, ich würde gar nicht merken, dass sie da ist, weil sie immer nur arbeitet. Und ich glaube ihr.“

„Schade.“

„Hör schon auf. Du weißt, was ich von Workaholics halte. In der kurzen Zeit, die uns mit Dad geblieben ist, haben wir ihn kaum zu Gesicht bekommen. Und seit Charlotte weiß ich, dass ich ein Problem mit Frauen habe, deren Ehrgeiz größer ist als meiner.“ Es tat noch immer weh, an seine Exverlobte zu denken.

„Dein wunder Punkt, was?“, sagte Cade mehr zu sich selbst als zu ihm. „Trotzdem willst du Lacey Kincaid das Gästehaus überlassen?“

„Es wäre gut für unseren Ruf, und ich will nicht schon wieder böses Blut.“

„Aha.“

Demonstrativ wechselte Seth das Thema und fragte seinen Bruder, ob er schon ein Geburtstagsgeschenk für ihre Großmutter besorgt hatte. Als er auflegte, war er in Gedanken noch immer bei Lacey Kincaid. Und bei all den Gründen, aus denen er nicht mehr als einen gelegentlichen Blick auf sie riskieren würde.

Sein Großvater, Vater und Onkel hatten nur für Camden Incorporated gelebt, alles andere ihrem Ehrgeiz geopfert und wenig Rücksicht auf ihre Mitmenschen genommen. Und die letzte Frau, in die Seth sich verliebt hatte, war der lebende Beweis dafür, dass beruflicher Erfolg und privates Glück sich nicht immer vertrugen.

Zugegeben, Lacey Kincaid war hübsch anzusehen, und er war nicht blind. Aber das hieß noch lange nicht, dass er sich für sie interessierte. Er legte einfach nur Wert auf eine gute Nachbarschaft. Aber warum hatte er heute seine Termine so gelegt, dass er rechtzeitig zu Hause war und duschen und sich rasieren konnte, bevor sie ankam?

Weil er ein freundlicher Vermieter sein wollte, sonst nichts.

Erst am Dienstagabend gegen neun traf Lacey auf der Camden-Ranch ein. Die lange Zufahrt verlief zwischen weißen Holzzäunen, hinter denen Pferde unter hohen Eichen grasten, und endete an einem gewaltigen Springbrunnen mit einem künstlichen Wasserfall.

Das Haus hatte zwei Geschosse unter einem steilen Dach, aus dem zahlreiche Schornsteine aufragten. Sämtliche Fenster waren mit braunen Läden versehen, und zur breiten Flügeltür führte eine halbkreisförmige Treppe mit fünf breiten Stufen.

Lacey war gestern schon mal hier gewesen und nicht erstaunt, dass die Camdens ein so imposantes Herrenhaus bewohnten. Allerdings hätte es besser in eine englische oder walisische Grafschaft oder an die Küste von Connecticut als nach Northbridge gepasst.

Sie fuhr um den Brunnen herum, parkte direkt vor dem Haus, ging die Treppe hinauf und läutete. Hoffentlich war sie nicht so spät dran, dass Seth schon zu Bett gegangen war.

Seth Camden im Bett …

Warum fragte sie sich plötzlich, in was er schlief?

Die Tür wurde geöffnet, und er stand vor ihr. Er sah so gar nicht wie ein Gutsherr aus. Er trug keinen seidenen Smoking, sondern Jeans und ein schlichtes weißes Poloshirt, dessen Ärmel eng an den muskulösen Oberarmen saßen. Der Mann sah noch immer gut aus. Wirklich gut …

„Ich habe mich schon gefragt, ob Sie es sich anders überlegt haben“, sagte er.

„Nein. Es tut mir leid, dass ich so spät komme. Einige Besprechungen haben länger gedauert, und danach hatte ich noch ein Dutzend Dinge zu erledigen. Ich wollte anrufen, aber ich habe Ihre Nummer nicht. Es tut mir wirklich leid.“

„Kein Problem. Ich hatte ohnehin noch am Schreibtisch zu tun.“

„Am Schreibtisch? Soll ich einen Mietvertrag unterschreiben? Wir haben noch nicht über eine Kaution gesprochen.“

Er runzelte die Stirn, und wie von selbst wanderte ihr Blick zu seinem Haar. Die dichten dunkelbraunen Locken waren frisch gewaschen, und die Frisur sah so lässig aus, als könnte er sie mit gespreizten Fingern kämmen.

Sexy. Äußerst sexy.

„Es wäre schön, wenn Sie einfach nur mein Gast sein und das mit der Miete vergessen könnten.“

„Nein, ich bestehe darauf“, entgegnete sie schärfer als nötig. „Ich habe mich erkundigt, wie viel es kosten würde, in der Stadt ein kleines Haus zu mieten. Wenn es nicht genug ist …“ Sie zog einen ausgeschriebenen Scheck aus der Hosentasche.

Kopfschüttelnd nahm er ihn und warf einen flüchtigen Blick darauf. „Das reicht“, sagte er und stopfte den Scheck in die Tasche seiner Jeans, als wäre er Papiermüll. „Und nein, ich brauche weder einen Mietvertrag noch eine Kaution.“ Er verdrehte kurz die faszinierend blauen Augen. „Kommen Sie. Das Gästehaus ist hinten. Ich zeige es Ihnen, und dann holen wir Ihren Wagen.“

„Gern.“

Seth trat zur Seite und winkte Lacey herein. Er hatte sich rasiert und duftete nach frischem Holz, wie der leichte Wind, der über das Anwesen strich. Lacey atmete unauffällig ein.

Und dann stand sie im Haus der Camdens.

Wow! Ehrfürchtig schaute sie sich um. Elegant und herrschaftlich zugleich führte eine geschwungene Treppe ins erste Stockwerk und mündete in einer Galerie, die um die gesamte Eingangshalle verlief. Rechts lag ein großer Wohnraum, dahinter ein kaum kleineres Esszimmer. Vor ihr erstreckte sich ein breiter Flur, an dessen Ende sich vermutlich die Küche befand.

„Das Haus ist … wow“, sagte sie, weil ihr nichts Passenderes einfiel. „Hier könnten Sie wahrscheinlich ganz Northbridge unterbringen.“

„Mir ist es etwas zu groß. Mein Urgroßvater hat es gebaut, um Eindruck zu machen. Er ist in Northbridge aufgewachsen und wollte den Leuten zeigen, wie weit er es gebracht hat. Meistens wohne ich hier allein und nutze nur ein paar Räume im Erdgeschoss.“

Seth drehte sich auf den Absätzen der Cowboystiefel um und ging mit Lacey den Flur entlang. „Ich habe daran gedacht, ins Gästehaus zu ziehen, aber mein Arbeitszimmer ist hier, deshalb bleibe ich auch.“

Im ersten Zimmer, an dem sie vorbeikamen, stand ein Billardtisch, im zweiten sah sie einen großen Fernseher und eine Hi-Fi-Anlage, im dritten einen wuchtigen Schreibtisch, der von hohen Regalen und Aktenschränken umgeben war.

„Dies ist die Küche“, erklärte er, als sie einen Raum betraten, der so groß wie ein Restaurant war. Die Einrichtung hätte jeden Sternekoch begeistert, und der ausladende Eichentisch und die hölzernen Hocker an der Theke aus Granit sorgten für eine gemütliche Atmosphäre.

Die rückwärtige Wand bestand aus mehreren Glastüren. Seth öffnete eine und ließ Lacey den Vortritt auf eine große überdachte Terrasse, vor der sich ein üppig blühender Garten mit weiteren hohen Bäumen erstreckte.

In der Ferne standen drei Scheunen und eine Garage für acht Autos. Näher am Haus gab es einen Swimmingpool und direkt daneben zwischen einigen Bäumen eine kleinere bescheidene Version des Haupthauses.

„Ihr neues Zuhause.“ Seth ging die Stufen in den Garten hinunter.

„Toll“, entfuhr es Lacey, als sie ihm um den Pool herum folgte.

Er öffnete die Tür des Bungalows, schaltete das Licht ein und ließ ihr auch hier den Vortritt in den großen, luftigen Raum – ein Wohnzimmer mit Sofa, Sessel, Couchtisch, Fernseher, Musikanlage, Kamin und einer komplett eingerichteten Küche mit einem runden Tisch und zwei Stühlen.

„Hinten gibt es eine kleine Terrasse.“ Seth nickte in Richtung einer Glastür. „Im Kühlschrank finden Sie das Nötigste, Kaffee, Tee und Cornflakes in der Speisekammer. Der Schlüssel liegt auf der Arbeitsfläche.“ Mit dem Daumen zeigte er auf einen Durchgang an der Seite. „Dort geht es ins Bad und ins Schlafzimmer mit Doppelbett, einem zweiten Fernseher, Schrank und einigen Kommoden. Laken und Handtücher finden Sie im Bad. Eigentlich müssten Sie alles haben, was Sie brauchen. Falls nicht, melden Sie sich.“

„Ich bin begeistert.“

„Das freut mich. Kommen Sie, wir holen Ihren Wagen und bringen Ihre Sachen herein.“

„Oh, Sie müssen nicht den Umzugshelfer spielen.“

„Hey, wenn der Service gut genug ist, springt für mich vielleicht ein Trinkgeld heraus“, scherzte er.

Einem Camden ein Trinkgeld in die Hand zu drücken wäre etwas ganz Neues. Aber er klang, als würde er zur Belohnung mehr als Geld erwarten …

Oder auch nicht. Offenbar ging die Fantasie mit Lacey durch. Das musste aufhören!

„Nehmen Sie es als Entschädigung dafür, dass wir Ihren Dachboden nicht ausgeräumt haben.“

Sie protestierte nicht, denn wenn sie seine Hilfe ablehnte, würde er verschwinden. Und das wollte sie nicht. Noch nicht. Sie durchquerten den Garten und das große Haus, und Lacey setzte sich ans Steuer ihres Wagens, Seth auf den Beifahrersitz. Als hätte er es schon eine Million Mal getan, legte er einen Arm auf ihre Lehne und wies Lacey mit dem anderen den Weg.

„Fahren Sie um den Brunnen herum und zwischen den Bäumen zur Garage.“

Dort angekommen, lehnte sie den angebotenen Platz in der Garage ab. „Danke, aber ich parke lieber daneben. Meistens habe ich Arme und Hände voll.“

„Wenn Sie meinen.“ Auch das schien ihn nicht zu überraschen. „Aber falls doch …“

„Danke.“

Der Mann wirkte unglaublich entspannt. Wo blieb die Rücksichtslosigkeit und Entschlossenheit, von der ihr Professor am College in der Vorlesung über das Geschäftsmodell der Camdens erzählt hatte? Seth schien das Leben viel lockerer zu sehen.

Sie luden ihre Koffer, die beiden Laptops, den Drucker, das Faxgerät und mehrere Kartons mit Unterlagen aus. Während Seth die letzten Sachen ins Gästehaus trug, stellte Lacey die Koffer ins Schlafzimmer. Es besaß einen eigenen Zugang zur Terrasse, die von einer hohen, gepflegten Hecke und Schatten spendenden Bäumen umgeben und vom Garten des Haupthauses nicht einzusehen war.

Sie ließ die kühle Abendluft herein, und als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, trat Seth gerade mit den Kartons ein. Er trug sie auf den ausgestreckten Armen, und unter ihrem Gewicht spannten sich die kräftigen Muskeln.

Laceys Mund wurde trocken. „Stellen Sie die einfach zu den anderen Sachen“, bat sie leise.

„Ich habe den Wagen abgeschlossen, obwohl das hier eigentlich gar nicht nötig ist.“ Er stellte die Kartons ab, drehte sich zu ihr um und schob eine Hand in die Tasche der Jeans.

Ohne dass sie es wollte, folgte ihr Blick der lässigen Geste. Als ihr bewusst wurde, wohin sie starrte, hob sie ruckartig den Kopf.

„Die haben Sie im Zündschloss gelassen.“ Er reichte ihr die Wagenschlüssel.

Er war nett und rücksichtsvoll, aufmerksam und gewissenhaft. Und ich denke nur an Sex. Wütend auf sich selbst suchte sie nach einem harmlosen Thema. Es dauerte einen Moment. „Wie kommt es, dass ein Camden als Cowboy arbeitet?“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Finden Sie, dass Jobs ohne Anzug und Krawatte nicht zählen?“

Hatte sie sich etwa so angehört?

„Nein, natürlich nicht! Es ist nur so, dass die Camdens … Big Business sind. Jeder kennt den Namen. Über Ihren Urgroßvater und Großvater habe ich sogar im College einiges erfahren. Daher war ich überrascht, als mein Vater mir erzählte, dass Ihre Familie in einem Kaff wie Northbridge Land besitzt. Und dann finde ich Sie auch noch auf einem Feld, mit einem Spaten in der Hand …“

In der glühenden Hitze, verschwitzt und sexy …

Hastig zügelte sie den Gedanken. „Ich wusste nur nicht, dass es einen Camden gibt, der in seinem Beruf keine Anzüge und Krawatten trägt.“

„Oh, das kommt schon mal vor“, erwiderte er, als wäre nichts dabei. „Und uns verbindet etwas mit Northbridge.“

„Ihr Urgroßvater hat hier angefangen.“

„Und meine Großmutter ist hier geboren und aufgewachsen. Hier haben sie und mein Großvater sich kennengelernt.“

„Wirklich? Ihre Großmutter stammt aus Northbridge?“

„Ja, und meine Mutter auch. Sie ist meinem Vater begegnet, als er nach der Highschool herkam. Meine Großmutter hat sich schnell an das Leben in der Großstadt gewöhnt, meine Mutter nie. Hier gefiel es ihr besser. Deshalb hat sie – wenn mein Vater arbeitete, und das tat er meistens – mit uns Kindern hier gewohnt. Nach dem Tod meiner Eltern ist meine Großmutter nur ab und zu mit uns hergefahren, aber als ich alt genug war, habe ich beschlossen, auf dem Land zu leben.“

„Sind Sie der Einsiedler der Familie?“

Er lachte. Auch das mochte sie.

„Nein, ich bin kein Einsiedler“, antwortete er. „Ich mag das Landleben und arbeite gern auf Weiden und Feldern und mit Tieren. Aber wir besitzen dreißig Farmen, Ranches und Molkereien, und ich bin für alle verantwortlich. Natürlich gibt es auf jeder einen Verwalter, der mir regelmäßig Bericht erstattet. Mehrmals im Jahr unternehme ich eine Inspektionsreise. Auf dem Flughafen in Billings steht eine kleine Maschine, mit der ich schnell vor Ort sein kann, wenn es irgendwo ein Problem gibt.“

Klar. Seth Camden sah aus wie ein Cowboy und arbeitete wie einer, aber natürlich begnügte jemand wie er sich nicht damit, eine schlichte Kleinstadtranch zu betreiben. Bevor sie etwas erwidern konnte, wechselte er das Thema.

„Ich kann morgen zur Baustelle kommen, um nachzusehen, was wir zurückgelassen haben. Wahrscheinlich schaffe ich es erst nachmittags, sodass keine Zeit zum Ausräumen bleibt. Aber dann weiß ich wenigstens, ob ich allein ausräumen kann oder Hilfe und einen Anhänger brauche.“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen, aber hinter der Scheune steht so ein landwirtschaftliches Dingsbums …“

Er lachte fröhlich. „Landwirtschaftliches Dingsbums?“

„Ich weiß nicht, wie man so etwas nennt. Es sieht aus, als könnte man es an einen Traktor hängen. Keine Ahnung, was man damit macht.“

„Passt es Ihnen morgen?“

Obwohl sie es nicht sollte, freute sie sich darauf, ihn schon bald wiederzusehen.

„Ja, morgen geht“, erwiderte sie, als wäre es nicht weiter wichtig. „Später Nachmittag ist ideal, weil ich vorher jede Menge Besprechungen habe. Sobald die Architekten und Bauleiter fort sind, setze ich mich ins Büro und kann gestört werden …“

Das hörte sich auch nicht gut an …

„Das heißt natürlich nicht, dass Sie stören. Ich meine nur, dann hätte ich Zeit für Sie.“

Es gab noch andere Leute, die ihm zeigen konnten, was er ausräumen musste. Aber aus irgendeinem Grund wollte Lacey es selbst tun.

„Gegen fünf?“

„Einverstanden“, antwortete sie kurz, denn jedes Mal, wenn sie mehr sagte, gab sie etwas von sich, das er falsch verstehen konnte.

Seth ging zur Tür. „Das Telefon ist an der Küchenwand.“ Er zeigte darauf. „Meine Handynummer und der Anschluss im Haus stehen auf dem Notizblock daneben. Rufen Sie an, wenn Sie etwas brauchen. Meistens erreichen Sie mich auf dem Handy.“

„Haben Sie keine Haushälterin?“ Ihr Vater hatte eine Sekretärin und eine Haushälterin, die immer wussten, wie er zu erreichen war.

Seth Camden lächelte. „Ich habe eine Hilfe, die einmal pro Woche die Zimmer sauber macht, die ich benutze. Wenn meine Familie sich ansagt, bringt sie zwei Freundinnen mit und macht das ganze Haus präsentabel. Alle anderen Angestellten arbeiten auf dem Land.“

Lacey nickte. Wieder einmal entsprach er nicht dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte. „Danke für Ihre Hilfe.“

„Keine Ursache.“ Er öffnete die Tür.

Und ohne dass sie einen Grund dafür hätte nennen können, wollte sie, dass er noch einen Moment blieb. „Sie wissen, wie Sie zur Baustelle kommen?“, fragte sie.

Verdammt. Etwas Dämlicheres hätte sie gar nicht von sich geben können.

Er lächelte, die Hand auf dem Türknauf. „Ja, das weiß ich. Ich war mal der Besitzer, schon vergessen?“

Lacey verzog das Gesicht. „Ich kann mir einfach nicht merken, wer von hier stammt und wer nicht. Deshalb frage ich jeden, ob er den Weg kennt. Ganz automatisch.“

„Ich kenne ihn.“

„Natürlich. Dann sehen wir uns morgen.“

„Richtig.“

Seth ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Durchs Fenster sah sie ihm nach, als er um den Pool herum und zum Haupthaus ging.

Mit dem für Cowboys typischen wiegenden Gang. Wieder wurde ihr Mund trocken.

Hastig wandte sie sich ab.

3. KAPITEL

Normalerweise schaute Lacey nicht dauernd auf die Uhr. Seit sie die Planung und den Bau des Trainingszentrums übernommen hatte, dauerte ihr Tag oft achtzehn Stunden, und sie machte erst Feierabend, wenn sie zu erschöpft war, um weiterzuarbeiten.

Doch als sie am Freitag an ihrem Schreibtisch im alten Farmhaus saß, fiel ihr Blick immer wieder auf die beiden Zeiger, die nur so dahinzukriechen schienen.

Warum war sie so ungeduldig? Warum konnte sie es kaum erwarten, dass es halb fünf wurde und Seth Camden kam?

Was um alles in der Welt war los mit ihr? Warum konnte sie nicht aufhören, an den Mann zu denken? Selbst wenn sie spätabends endlich einschlief, träumte sie anschließend von ihm. Und nachdem sie heute Morgen aufgestanden war, schaute sie dauernd zum Pool hinüber, um einen Blick auf ihn zu erhaschen.

Und das ausgerechnet jetzt, da sie die Chance bekam, nach der sie sich schon als kleines Mädchen gesehnt hatte. Die Chance, zum Kincaid-Team zu gehören und Aufgaben zu übernehmen, die ihr Vater sonst nur einem Sohn anvertraute. Bisher war Morgan Kincaid der festen Ansicht gewesen, dass Frauen in der Geschäftswelt und vor allem im Football an die Seitenlinie gehörten. Als Cheerleader, Empfangsdame, Sekretärin. Mit viel Glück und noch mehr Fleiß vielleicht als Eventplanerin. Weil jede Frau irgendwann den Mann ihres Lebens kennenlernte und heiratete, um eine Familie zu gründen.

Morgan Kincaid war sexistisch und altmodisch. Immer wieder hatte Lacey mit ihm diskutiert und all die erfolgreichen Frauen aufgezählt, die seiner Theorie widersprachen. Mit dem Ergebnis, dass sie neue Geschäftsräume einrichten, Personal fürs Büro und die Kantine einstellen, mit dem Koch die Speisepläne durchsprechen und im Marketing und in der Öffentlichkeitsarbeit arbeiten durfte.

Aber ein wichtiges neues Projekt leiten, noch dazu, wenn es um Football ging? Niemals.

Bis jetzt.

Jetzt durfte Lacey den Bau des Trainingszentrums der Monarchs beaufsichtigen. Die Monarchs waren das neueste NFL-Team. Eine Profimannschaft, die ihrem Vater gehörte. Sein wahr gewordener Traum.

Aber sie hatte den Job nur bekommen, weil ihre Brüder dafür nicht mehr infrage kamen. Hutch hatte vor langer Zeit dem Football den Rücken gekehrt und seinen Vater damit schwer enttäuscht. Inzwischen besaß er seine eigene Kette von Sportgeschäften und wollte mit der Kincaid Corporation nichts zu tun haben.

Sein Zwillingsbruder Ian hatte sich in Jenna Bowen verliebt, sie geheiratet und ihr geholfen, die Farm zu behalten, auf der sein Vater das Trainingszentrum hatte errichten wollen. Und als wäre das schon nicht schlimm genug gewesen, hatte er sich auch noch den Besitz der McDoogals vor der Nase wegschnappen lassen. Von den Camdens.

Morgan Kincaid war außer sich gewesen. Um Ian zu bestrafen, hatte er das Projekt Lacey übergeben. Aber nicht ohne sie wissen zu lassen, dass er sie dabei im Auge behalten würde.

Ian hatte es nichts ausgemacht. Er war glücklich verheiratet und hatte Abby, Jennas verwaiste Nichte, adoptiert. Außerdem nahm er es Lacey nicht übel, dass sie das Projekt leitete. Im Gegenteil, er hatte sogar angeboten, ihr dabei zu helfen.

Aber sie wollte es allein schaffen und ihrem skeptischen Vater beweisen, dass sie eine leitende Position im Familienkonzern verdiente.

Und deshalb durfte sie sich von nichts und niemandem ablenken lassen.

Schon gar nicht von Seth Camdens knackigem Po.

Oder irgendeinem anderen Körperteil.

Trotzdem musste sie immer wieder an den Mann denken. An die strahlend blauen Augen. Das lässige Lächeln. Die breiten Schultern und kräftigen Oberschenkel. Die Muskeln, die sich bei ihrer ersten Begegnung unter der verschwitzten Haut gestrafft hatten. Und gestern Abend unter dem Gewicht der Kartons …

Sein Anblick verfolgte sie, und sie schien ihn einfach nicht abschütteln zu können.

Aber das würde sie! Hier und jetzt!

Leider schaute sie in genau diesem Moment auf die Uhr in der Ecke des Bildschirms. Es war fast halb fünf. Sie speicherte ihre Arbeit ab und eilte ins Bad, um zu überprüfen, ob die Frisur noch richtig saß, ob die weiße Bluse ordentlich in der grauen Hose steckte und ob die Mascara verschmiert war. Und ein Hauch Lipgloss wäre auch nicht schlecht …

Hatte ihr Vater etwa recht? Endlich hatte sie die Verantwortung, die sie sich immer gewünscht hatte. Und was tat sie? Sie arbeitete nicht, sondern zerbrach sich den Kopf darüber, wie sie auf einen Mann wirkte. Ihr Computer war auf Stand-by, während sie in den milchigen Spiegel über dem verrosteten Waschbecken starrte.

Delegieren, dachte Lacey. Ich kann es delegieren.

Jemand anderes konnte Seth Camden zeigen, was seine Familie auf dem Dachboden und in der Scheune zurückgelassen hatte. Sie musste sich nicht persönlich darum kümmern.

Aber dann würde sie ihn nicht sehen …

Und wenn schon, sagte sie sich streng. Sie nahm sich fest vor, Seth einem Mitarbeiter zu überlassen und sich wieder an den Schreibtisch zu setzen.

Doch bevor sie ihren Entschluss in die Tat umsetzen konnte, knirschte der Kies vor dem alten Farmhaus unter den Reifen eines Wagens. Ohne zu überlegen, warf sie einen Blick in den Spiegel und ging nicht in ihr Büro zurück, sondern zur Haustür.

Und als sie sah, wie Seth Camden aus seinem weißen Pick-up stieg, in Cowboystiefeln, Jeans und einem Westernshirt, wusste sie, dass sie die Aufgabe nicht delegieren konnte.

Lacey ging hinaus und begrüßte ihn.

„Meine Brüder, meine Schwester, meine Cousins und ich haben immer in der Scheune gespielt und so getan, als wäre das Haus verwunschen“, erzählte Seth auf dem Weg übers Gelände. „Nachdem es verkauft war, habe ich mich kurz umgesehen. Weil ich geschäftlich verreisen musste, habe ich zwei meiner Mitarbeiter gebeten, sich um die Übergabe zu kümmern. Offenbar habe ich ihnen nicht gesagt, dass sie auch auf dem Dachboden und hinter der Scheune nachsehen sollen.“

„In der Sattelkammer steht noch ein alter Schreibtisch“, sagte Lacey, als sie die Scheune erreichten. „Ich nutze das Haus als Büro und die Scheune, um Baumaterial zu lagern. Meine Leute wollen in der Sattelkammer kleinere Werkzeuge, Nägel und Schrauben unterbringen. Sie wollen Regale aufstellen, und ich habe sie gebeten, damit zu warten, bis der Schreibtisch herausgeholt ist. Vielleicht hat er für Sie noch einen Wert, und ich möchte nicht, dass er beschädigt wird.“

„Danke, dass Sie daran gedacht haben.“

In der Scheune stapelte sich Bauholz. Sie ging mit Seth zwischen den Brettern und Balken nach hinten, öffnete die Tür zur Sattelkammer und ließ ihm den Vortritt.

Er trat ein, und obwohl sie es auf keinen Fall tun wollte, starrte sie auf seinen Po.

„Ja, jetzt erinnere ich mich an den Schreibtisch“, sagte er, als sie ihm rasch in den Raum folgte.

Er ging um ihn herum und hob ihn an einer Seite an. Dabei verrutschte der Schreibtisch ein wenig. „Was haben wir denn hier?“ Er schob ihn weit genug aus dem Weg, ging in die Hocke und betrachtete die Luke, die sich darunter verborgen hatte.

Lacey starrte auf die Jeans, die sich um die Oberschenkel spannten, den breiten Rücken, die dunklen Locken an seinem Nacken. Als er die Luke anhob, strafften sich die Bizepse, und sie spürte ein Kribbeln im Bauch.

„Ein versteckter Schatz?“, scherzte sie, als Seth eine staubige Truhe aus dem Hohlraum unter dem Fußboden hob. Ihre Stimme klang brüchig, aber er schien es nicht zu bemerken.

„Sieht aus wie eine Piratenkiste, nicht wahr?“ Er stellte die Truhe neben die Luke. „Aber soweit ich weiß, sind die Camdens nie zur See gefahren, und für einen richtigen Schatz ist das Ding wohl zu klein genug.“

Die Truhe war aus Metall, in etwa so groß wie zwei Schuhkartons übereinander und mit einem verrosteten Vorhängeschloss versehen.

„Ich möchte wissen, wo der Schlüssel ist. Wahrscheinlich längst verschwunden. Ich muss das Schloss aufsägen, um nachzusehen, was drin ist.“

„Golddublonen?“

Er hob die Truhe an und schüttelte sie. Was immer darin war, es klang nicht nach Münzen. Dazu war das Geräusch zu dumpf.

„Das glaube ich nicht“, erwiderte er und stützte die Truhe auf eine Hüfte. „Ich nehme sie mit. Vielleicht finde ich einen Schlüssel, der passt. Der Schreibtisch muss warten.“ Er lächelte. „Wollen Sie mir jetzt das landwirtschaftliche Dingsbums zeigen?“

„Hier entlang.“ Lacey öffnete eine ins Freie führende Tür.

„Ach, das ist nur eine alte Bodenfräse“, sagte Seth, als sie auf das Gerät zeigte. „Sie haben recht, so einfach ist die nicht wegzuschaffen. Ich brauche einen anderen Wagen, um sie mit einem Tieflader abzuholen.“

„Also müssen Sie noch einmal herkommen.“ Sie klang fröhlicher, als sie wollte, und ärgerte sich darüber.

„Kann es bis Freitag warten?“, fragte er, bevor er die Truhe auf seinem Pick-up verstaute. „Der Tieflader ist anderswo und steht erst dann zur Verfügung. Ich würde gern alles auf einmal erledigen.“

„Natürlich.“

„Ihre Leute können gern in der Sattelkammer Regale aufstellen. Zu mehr als Brennholz dient der Schreibtisch nicht mehr, da macht es nichts, wenn sie ihn beschädigen.“

Inzwischen waren sie wieder am Haus, und Lacey stieg vor ihm die Treppe zum Obergeschoss und die vier Stufen zum Dachboden hinauf. Viel zu spät wurde ihr bewusst, dass ihr Po sich dabei direkt vor seinen Augen befand. Oben angekommen, drehte sie sich hastig um und sah, wie Seth ebenso rasch den Blick hob. Dass er verlegen lächelte, tröstete sie etwas.

Die Decke war hoch genug, um aufrecht stehen zu können, aber Seth musste den Kopf einziehen, als er nachsah, was er abholen sollte. Ein alter aufgerollter Teppich. Kartons voller Weihnachtsschmuck, Spielzeug, Bücher und Kleidung. Ein antiker Spiegel. Ein Schaukelstuhl. Und diverse andere Sachen, die kein Mensch mehr brauchte.

„Die Sachen liegen hier offenbar schon sehr lange herum“, sagte er. „Aber ich kümmere mich nächste Woche darum.“

„Wann immer es Ihnen passt“, hörte Lacey sich antworten. „Wir benötigen den Platz in der Scheune, aber dieser Krempel kann hier oben bleiben, bis das Haus abgerissen wird. Das passiert erst, wenn die neuen Gebäude errichtet sind. Wo jetzt noch das Haus und die Scheune stehen, kommen Trainingsplätze hin, deshalb brauchen wir eine neue Zubringerstraße.“

„Ich habe unten das Modell gesehen. Zeigen Sie mir, was Sie planen?“

Lacey war stolz darauf, dass sie trotz all der Ablenkung an die Straße gedacht hatte, und freute sich, ihm ihr erstes großes Projekt präsentieren zu können. Am Modell, das im ehemaligen Wohnzimmer aufgebaut war, beschrieb sie ihm das Verwaltungsgebäude und die Trainingseinrichtungen mit Umkleidekabinen, Schwimm- und Entmüdungsbecken, Besprechungsräumen, Fitnesscenter und Videoabteilung.

Sie erzählte ihm von den drei geplanten Spielfeldern, eins davon mit Kunstrasen, die anderen beiden mit Naturrasen, von denen eins beheizt werden sollte, damit das Team auch im Winter trainieren konnte. Sie zeigte ihm die Wohnquartiere und schwärmte von den zwei Racquetball-Courts, die nicht nur den Spielern, sondern auch dem Personal zur Verfügung stehen würden.

„Aber wo jetzt noch das Farmhaus und die Scheune stehen, ist der Boden ebener, deshalb werden die Spielfelder hier angelegt. Wir drehen das Ganze einfach in die andere Richtung. Das einzige Problem ist die neue Zugangsstraße. Wir möchten, dass sie zum Verwaltungsgebäude führt, möglichst weit von den Spielfeldern entfernt. Dort befinden sich der Besucherbereich, der Medienraum für Pressekonferenzen und der Schauraum für all die Trophäen, die das Team hoffentlich gewinnt.“

Sie warf Seth einen prüfenden Blick zu. Er schien sich nicht zu langweilen. „Das heißt, die neue Straße muss ungefähr hier vom Highway abzweigen“, mit dem Zeigefinger auf dem Modell zog sie den Verlauf nach, „und zwar über Ihr Land.“

„Ja, das sehe ich.“ Er nahm den Blick vom Modell und sah sie an. „Das hier ist Ihr Baby, was?“

„Wobei mein Vater mir dauernd über die Schulter schaut, weil er mir zum ersten Mal etwas so Großes anvertraut. Aber ja, es ist allein mein Projekt.“

„Was haben Sie vorher gemacht?“

Wollte er von der Straße ablenken, oder interessierte es ihn wirklich?

„Öffentlichkeitsarbeit, Eventplanung, Personaleinstellung auf unterer Ebene, Büromanagement.“

Bevor er nachfragen konnte, warum sie keine wichtigeren Aufgaben übernommen hatte, erzählte sie ihm, was wirklich ihr Baby war.

Sie senkte die Stimme, als dürfte sie eigentlich nicht darüber reden. Dabei war es längst kein Geheimnis mehr. „Vor anderthalb Jahren habe ich mit etwas begonnen, mit dem meine Familie nichts zu tun hat.“

„Ihr eigenes Footballteam“, scherzte er.

„Das nicht, aber ich habe mich schon immer für den Sport interessiert und festgestellt, dass es viele weibliche Fans gibt. Leider gibt es die Sachen mit Teamlogos fast nur für Männer. Deshalb habe ich Frauenmode in den Farben und mit den Emblemen der bekanntesten Teams entworfen, produziert und auf den Markt gebracht, für den Fitness- und den Freizeitbereich.“

„Tatsächlich?“

„Die Kollektion nennt sich Lacey Kincaid Sportswear.“

„Und wie läuft es?“

„Gut. Zuerst habe ich sie nur übers Internet vertrieben, aber jetzt verkauft mein Bruder Hutch ausgewählte Artikel in seinen Geschäften. Erst kürzlich hat er mir erzählt, dass sie reißenden Absatz finden. Er will die gesamte Kollektion verkaufen, und ich muss mehr produzieren.“

„Und das alles neben diesem Projekt?“

„Ich weiß, wahrscheinlich sollte ich mich allein auf das Trainingszentrum konzentrieren, aber …“

„Die Mode macht Ihnen Spaß.“ Seth klang, als wüsste er, wie viel ihre eigene Kollektion ihr bedeutete.

„Stimmt“, gab sie zu. Allen anderen gegenüber tat sie so, als wäre Lacey Kincaid Sportswear nur ein Hobby, das sich selbst finanzierte. Sie verstand nicht, warum sie zu Seth Camden ehrlich war.

„In gewisser Weise ist das Trainingszentrum das Baby meines Vaters. Und die Sportswear meins.“

„Warum muten Sie sich dann auch noch das hier zu?“ Er zeigte auf das Modell. „Warum beschränken Sie sich nicht auf die Mode und überlassen jemand anderem die Kopfschmerzen, die das Projekt mit sich bringt?“

„Diese Chance durfte ich mir nicht entgehen lassen. Ich bin wie ein Einwechselspieler, der von der Ersatzbank kommt und beim Super Bowl zeigen kann, was er drauf hat. Nichts wird mich davon abhalten. Ich will nur nicht auf das andere verzichten.“

„Da haben Sie sich viel vorgenommen.“

„Sehr viel sogar.“

„Aber Sie schaffen es, oder? Die Chance wollen Sie sich auch nicht entgehen lassen.“

„Heute Vormittag habe ich den Hersteller beauftragt, die Produktion zu erhöhen. Zwischen zwei Besprechungen über das Bauprojekt.“

Seth musterte sie einen Moment lang, und Lacey fragte sich, was er dachte.

„Vielleicht geht es mich nichts an“, begann er. „Aber mir ist aufgefallen, wenn Sie über das Trainingszentrum sprechen, wirken Sie angespannt … so, als würden Sie gegen den Strom schwimmen. Wenn Sie über ihre Modekollektion reden, lächeln Sie und begeistern sich dafür, als würde es Ihnen viel mehr Spaß bereiten. Fühlen Sie sich zu dem hier“, er zeigte auf das Modell, „nur verpflichtet? Ihrem Vater gegenüber?“

„Verpflichtet? Nein! Im Ernst, das hier ist die Chance meines Lebens. Die Mode ist nur … eine Art Freizeitvergnügen. So wichtig ist sie nicht.“

„Ihnen scheint sie aber wichtig zu sein.“

„Ach, das ist nur so eine alberne Mädchensache. Aber das Trainingszentrum … das ist riesig, und ich kann froh sein, dass ich dafür verantwortlich bin.“

„Ja, es ist riesig“, bestätigte er, als würde er sie nicht darum beneiden.

„Aber ich werde damit fertig.“

Warum wollte sie, dass er ihr glaubte?

„Wenn Sie meinen.“

„Ja, das meine ich. Ich würde es mir für nichts auf der Welt entgehen lassen.“

Seth nickte, dann nickte er in Richtung der Tür. „Sie sind sehr beschäftigt. Ich will Sie nicht länger aufhalten.“

Ihr lag auf der Zunge, dass er sie so lange aufhalten konnte, wie er Lust hatte. Aber das durfte sie nicht mal denken und erst recht nicht aussprechen. „Wir wollten uns über die Zufahrtsstraße unterhalten“, erinnerte sie ihn.

„Darüber muss ich nachdenken.“

Sie folgte ihm durchs Haus. „Es ist nur ein schmaler Streifen Land …“

„… der über eins meiner Maisfelder verläuft. Ich muss ausrechnen, wie viel mich die entgangene Ernte kostet.“

„Wir brauchen nur den Streifen für die Straße, das Land links und rechts davon können Sie behalten“, beharrte Lacey, als sie durch die Nachmittagshitze zu seinem Pick-up gingen.

„Wir haben unseren Besitz immer zusammengehalten.“

Aber wenn die einzige Straße zum Trainingszentrum den Camdens gehörte, könnten sie damit drohen, den Zugang zu sperren, und die Kincaids erpressen.

„Vielleicht könnten Sie eine Ausnahme machen …“ Lacey fragte sich verärgert, warum sie sich anhörte, als wolle sie mit ihm flirten.

Lächelnd öffnete Seth die Fahrertür, stieg jedoch nicht ein, sondern stellte einen Fuß auf die Kante, legte den Arm auf die Tür und sah Lacey mit seinen ausdrucksvollen blauen Augen an.

„Ich gehe ein paar Zahlen durch, schaue auf die Landkarte und lasse mir etwas einfallen“, erwiderte er in einem Tonfall, der auch nicht gerade geschäftsmäßig klang.

„Dafür wäre ich Ihnen dankbar.“

„Wie sehr?“, fragte er mit einem Blick, der verriet, dass sie beide sich alles andere als professionell verhielten.

„Sehr“, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln.

Er lachte. „Das könnte mir reichen“, sagte er leise.

Wie von selbst zuckte ihr Blick zu seinem Mund, und plötzlich spürte sie, dass die Atmosphäre zwischen ihnen zu mehr als einem spöttischen Geplänkel führen konnte. Vielleicht sogar zu einem Kuss …

Als seine vollen Lippen sich zu einem noch breiteren, fast herausfordernden Lächeln verzogen, wünschte sie, dass Seth sie tatsächlich küssen würde. Nur um zu wissen, wie es sich anfühlte …

Wie unprofessionell war das denn?

Warum ging dieser Cowboy namens Camden ihr so unter die Haut?

Ohne eine Antwort darauf – und wütender auf sich als je zuvor – unterbrach sie den Blickkontakt und wich einen Schritt zurück. „Ich muss wieder an die Arbeit“, sagte sie resolut.

„Natürlich.“ Er stieg ein. „Wir sehen uns zu Hause“, fügte er hinzu, bevor er die Wagentür schloss.

Hoffentlich, dachte sie.

Er startete den Motor, legte den Gang ein, warf ihr einen letzten Blick zu, winkte kurz und fuhr davon.

Lacey blieb, wo sie war, und starrte auf die Staubwolke, die seine Reifen aufwirbelten.

Du hast ein Trainingszentrum zu bauen, sagte sie sich. Und ein eigenes Unternehmen, um das du dich kümmern musst.

Trotzdem stand sie in der Hitze und schaute einem Wagen – und dem Fahrer – nach, bis beide nicht mehr zu sehen waren.

Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen den Wunsch, der plötzlich in ihr aufstieg. Den Wunsch, jetzt neben Seth Camden zu sitzen.

Und sich von ihm küssen zu lassen …

Am Freitag kehrte Lacey erst kurz vor Mitternacht ins Gästehaus zurück. Im großen Haus brannte kein Licht. Sie konnte nicht wissen, ob Seth schon zu Bett gegangen war, anderswo schlief oder zu Hause war und sein Bett mit jemand anderem teilte. Sie wollte es sich nicht fragen, doch genau das tat sie, als sie den kleinen Bungalow betrat.

Am Samstag stand sie um halb fünf auf und verließ das Gästehaus um fünf. Wieder war von Seth nichts zu sehen.

Erst nach zehn Uhr am Abend kam sie zurück, und als sie erschöpft und mit schweren Schritten am Haupthaus vorbeiging, nahm sie den Duft von italienischem Essen wahr. Er kam aus der Terrassentür, die die hintere Wand der Küche bildete. Wer kochte um zehn Uhr an einem Samstagabend?

„Hallo! Kommen Sie jetzt erst von der Arbeit?“

Es war Seth Camdens Stimme. Bitte, lass ihn nicht gerade ein Date haben …

„Ja“, antwortete sie und schaute zum Haupthaus.

Außer Seth sah sie niemanden. Er stand an der Spüle und beobachtete sie durchs Fenster. Sein Haar war nach hinten gekämmt und feucht. Hatte er gerade geduscht? Außerdem schien er keinen Besuch zu haben, denn er trug ein altes Sweatshirt mit abgeschnittenen Ärmeln und – soweit sie erkennen konnte – verwaschene Jeans.

Aber vielleicht hatte er auch einige Stunden voller wildem Sex hinter sich, und er und seine Partnerin hatten rasch geduscht und sich irgendetwas angezogen, um ein spätes Abendessen zuzubereiten. Dass die andere Frau nicht in der Küche war, änderte nichts an dem Szenario, das Lacey sich ausmalte. Denn bestimmt verbrachte ein Camden, schon gar nicht ein so attraktiver wie Seth, den Samstagabend nicht allein …

„Augenblick“, sagte er und warf einen Blick in einen Topf auf dem Herd, bevor er wieder am Fenster auftauchte.

„Sie kochen? Um diese Zeit?“

„Ja. Möchten Sie mit mir essen?“

Es klang harmlos. Dennoch schossen ihr Hintergedanken durch den Kopf, als sie überlegte, warum sie ablehnen sollte.

Aber außer einem kalten Burger und einem Fitnessriegel aus ihrer Handtasche hatte sie nichts gegessen. Im Gästehaus hatte sie die Wahl zwischen Crackern und Cornflakes. „Sehr gern sogar! Es duftet köstlich, und ich bin halb verhungert.“

Oh. Aber wenn er nun doch ein Date hatte und die Frau gleich aus dem Bad kommt …

„Das Nudelwasser kocht noch nicht“, sagte er. „Und mit dem Salat habe ich gerade erst angefangen. Aber falls Sie noch kurz ins Gästehaus gehen möchten, in fünfzehn bis zwanzig Minuten ist alles fertig.“

Lacey wusste, dass man ihr den langen Arbeitstag ansah. Noch ein Grund, warum sie inständig hoffte, dass er keine titelbildschöne Freundin zu Besuch hatte.

„Sind Sie allein?“

Demonstrativ blickte Seth über die Schulter, bevor er Lacey wieder ansah. „Ja. Es sei denn, hier ist noch jemand, von dem ich nichts weiß“, erwiderte er, als fände er die Frage seltsam.

Also kein Date. Kein romantisches Abendessen nach stundenlangem Sex. Nur Seth.

Und ich …

„Kann ich noch schnell duschen?“

„Klar.“

„Ich bin gleich wieder da.“

Beschwingt umrundete Lacey den Pool, betrat das Gästehaus und zog die Bluse aus, während sie gleichzeitig die Schuhe mit den Füßen abstreifte. Ihre Hose landete auf der Couch, bevor sie nur ganz kurz duschte. Danach schlüpfte sie in bequemere Unterwäsche, weiße Shorts und ein schlichtes rotes T-Shirt mit V-Ausschnitt. Sie bürstete sich das Haar, band es mit einem Gummiband hoch, legte etwas Rouge, Mascara und Lipgloss auf, zog Sandalen an und eilte hinaus.

Seth deckte bereits einen der kleinen Tische am Pool.

„Ich hatte schon befürchtet, ich würde vielleicht bei einem Date stören“, sagte sie so beiläufig wie möglich.

„Nein, kein Date. Davon habe ich nicht viele“, erwiderte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, mit Lacey über sein Liebesleben zu reden.

„Also springt nicht gleich eine Freundin, Verlobte oder Ehefrau aus dem Gebüsch?“

„Keine Freundin. Keine Verlobte. Und erst recht keine Ehefrau.“

Mit anderen Worten, Seth war frei wie ein Vogel …

„Was ist mit Ihnen?“, fuhr er fort. „Freund? Verlobter? Ein Ehemann, der irgendwo wartet, während Sie in der Einöde ein Trainingszentrum bauen?“

„Bei meinem Terminplan?“, entgegnete sie lachend. „Ich könnte nicht mal eine Topfpflanze am Leben erhalten, geschweige denn eine Beziehung.“

„Sie arbeiten viel.“

Das schien ihm nicht zu gefallen, daher umging sie das Thema. „Und Sie? Warum essen Sie so spät?“

Er lächelte. „Ich habe heute länger als sonst gearbeitet, wenn auch nicht freiwillig. Eine Kuh hat gekalbt und brauchte Hilfe.“

Gekalbt. Heißt das, sie hat ein Junges zur Welt gebracht?“

„Ja. Und sie hat es nicht allein geschafft. Ich bin erst vor einer Stunde nach Hause gekommen, habe geduscht und beschlossen, das ausgefallene Abendessen nachzuholen.“

„Daher diese tollen Düfte, die aus der Küche kommen?“

„Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und selbst gepflanztes Basilikum.“

„Ich bin beeindruckt.“

„Warten Sie lieber, bis Sie es probieren. Alles ist fertig, ich muss es nur noch holen. Und ich kann den Wein empfehlen. Der Koch hat schon ein Glas getrunken und meint, er schmeckt ganz gut.“

Lacey lachte. „Dann haben Sie ein Glas Vorsprung.“

„Nur eins.“

„Ich helfe Ihnen beim Aufdecken.“

Sie holten die Flasche Wein, zwei Gläser, eine Schüssel mit Pasta, eine mit Salat und einen Korb mit Brot aus der Küche. Als sie am Tisch saßen, schenkte Seth den Wein ein und forderte Lacey auf, sich zu bedienen.

Nach dem ersten Bissen stöhnte sie genießerisch auf.

„Das schmeckt wundervoll! Und Sie haben alles selbst zubereitet?“

Er lächelte. „Sie kochen nicht?“

„Nicht mal Wasser“, gab sie zu. „Man hat oft versucht, es mir beizubringen, weil Mädchen so etwas können müssen. Aber ich habe mich geweigert. Meine Grundregel lautete: Wenn meine Brüder etwas nicht tun müssen, muss ich es auch nicht.“

„Aus Prinzip?“

„Aus Prinzip.“

„Hmm. Ich weiß nicht, ob ich damit durchgekommen wäre.“

„Es war nicht einfach, aber ich habe es durchgehalten. Dann wurde ich älter, und mit der Freiheit war es vorbei. Um in der Kincaid Corporation eine Rolle zu spielen, musste ich die Jobs übernehmen, von denen mein Vater fand, dass sie zu einer Frau passten. Bis jetzt.“ Sie probierte den Salat, mit seinem ebenfalls selbst angerührten Dressing, das nach mildem Essig und Gewürzen schmeckte.

„Ein Camden kocht selbst? Haben Sie denn nicht die Gerichte des persönlichen Küchenchefs der Familie mit einem silbernen Löffel zu sich genommen?“

Lachend trank Seth einen Schluck Wein. „Oh, Sie kennen meine Großmutter nicht.“

„Die aus Northbridge?“

„Ja, die aus Northbridge. Wir nennen sie GiGi. Sie heißt Georgianna, aber das war uns zu lang. Sie hat uns aufgezogen, mit der Hilfe meines Großvaters und eines Ehepaars, das schon ewig für sie arbeitet. Obwohl GiGi der unumstrittene Kapitän war, hat sich die ganze Besatzung um meine Brüder Cade und Beau, meine Schwester January, unsere Cousins Dane, Dylan und Derek und um die Drillinge Lang, Lindie und Livi gekümmert.“

„Nachdem Ihre gesamte Familie bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, richtig?“ Auch das wusste sie aus ihrem Kursus am College.

„Ja. Ich war elf. Es passierte bei einem Ausflug für die Erwachsenen. Die Männer wollten angeln, die Frau shoppen. Die Kinder blieben mit den Nannies zu Hause.“

„Also gab es Nannies“, warf Lacey ein. Endlich bestätigte sich eins ihrer Vorurteile.

„Ja, damals. Vor dem Absturz lebten wir mit unseren Eltern in unserem Haus, die Cousins bei ihren Eltern. H. J., unser Urgroßvater, hatte sich wegen seiner Herzbeschwerden zur Ruhe gesetzt und war bei GiGi und Großvater eingezogen. Margaret und Louie, das Haushälterehepaar, wohnen über der Garage.“

„Und bei Ihnen zu Hause gab es Nannies. Vermutlich auch Köche und Dienstmädchen und Butler?“

„Meine Mutter und meine Tante legten viel mehr Wert auf Standesbewusstsein als GiGi, deshalb gab es bei meinen Eltern tatsächlich Köche, Dienstmädchen und Haushälterinnen, aber an einen Butler erinnere ich mich nicht.“

Lacey neckte ihn, aber es schien ihm nichts auszumachen. Auch das gefiel ihr.

„Also hat Ihr Urgroßvater H. J., der den Reichtum der Camdens begründet hat, sich irgendwann zur Ruhe gesetzt? Ich dachte, er hat bis an sein Lebensende gearbeitet.“

„Wissen Sie das auch aus dem Kursus am College?“

„Ja.“

„Etwa drei Monate vor dem Familienausflug hatte er die Leitung des Unternehmens an meinen Großvater, Vater und Onkel übergeben. Zwei Tage vor dem Abflug hat er sich bei einem Sturz den Rücken verletzt. GiGi ist zu Hause geblieben, um ihn zu betreuen.“

„Aha, deshalb waren H. J. und Ihre Großmutter nicht an Bord.“

„Aber alle anderen“, sagte Seth ernst.

„Sie waren erst elf, nicht wahr? Wie alt waren die anderen Kinder?“

„Ich war das älteste Enkelkind. Die jüngsten, meine Schwester Jani und die Drillinge, waren sechs.“

„Keine Babys mehr, aber immer noch kleine Kinder.“

„Ja“, bestätigte er betrübt. „Zehn traumatisierte, verängstigte Kinder.“

„Ich weiß noch, wie es war, als meine Mutter starb. Hutch und Ian waren zwölf. Es war schrecklich. Kein Geld der Welt, kein gesellschaftlicher Status oder was auch immer konnte uns trösten. Aber wenigstens hatten wir noch unseren Vater. Ich will mir nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, ihn auch zu verlieren …“

„Zum Glück hatten wir GiGi. Und H. J. und Margaret und Louie“, erzählte er leise. „GiGi hat uns alle zu sich genommen und uns gesagt, dass sie jeden von uns liebt, dass wir weiterleben und zusammenhalten müssen, als eine große Familie. Und das haben wir auch getan. H. J. hat sich um das Unternehmen gekümmert, bis er mit neunundsechzig starb, und Margaret und Louie waren für uns wie Ersatzeltern.“

„Ihre Großmutter hat ihren Schwiegervater betreut und gleichzeitig zehn Enkelkinder großgezogen? Und das alles ohne jemanden, der ihr das Kochen abnahm?“, fragte Lacey, um die Stimmung aufzuhellen.

Es wirkte, denn Seth lachte. „Vergessen Sie Margaret nicht. Aber sie und ihr Mann gehörten praktisch zur Familie. GiGi wäre niemals auf die Idee gekommen, uns Kinder fremden Menschen zu überlassen oder uns auch nur in ein Internat zu stecken.“

„Aber Sie sind doch auf eine Privatschule gegangen, schon aus Sicherheitsgründen?“, fragte sie und dachte dabei an das Gerücht, dass jemand sich am Flugzeug der Camdens zu schaffen gemacht hatte, damit es abstürzte.

Autor

Victoria Pade
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