Bianca Jubiläum Band 2

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WENN AUS FREUNDSCHAFT LIEBE WIRD ... von TEMPLETON, KAREN
Mitten im schönsten Geburtstagschaos verlangen seine Töchter Single-Dad Tony alles ab. Jetzt soll er auch noch seine Jugendfreundin Lili treffen. Tony weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Doch als er Lili ansieht, fühlt er sich wie nach dem Sturm im sicheren Hafen …

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  • Erscheinungstag 16.09.2016
  • Bandnummer 0002
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732875
  • Seitenanzahl 608
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Karen Templeton, Bonnie K. Winn, Tina Leonard

BIANCA JUBILÄUM BAND 2

1. KAPITEL

Lili Szabo saß in einer stickigen Küche in Neuengland, wo sie nicht zu Hause war, und schälte Kartoffeln in eine Plastikschüssel, die nicht ihr gehörte. So habe ich mir mein Leben nicht vorgestellt, dachte sie missmutig. Verwaist, allein und auf einem spontanen Besuch bei amerikanischen Verwandten, die sie bis auf wenige Ausnahmen nicht kannte oder kaum erinnerte.

„Kommst du zurecht, Liebes?“, rief ihre Tante Magda Vaccaro von der Tür her.

Lili verdrängte ihr Selbstmitleid und lächelte. „Ja. Geh nur zu deinen Gästen, und genieß deine Party. Hier ist alles unter Kontrolle.“

„In diesem Haus? Niemals!“, widersprach Magda entschieden. Sie war ebenso stolz auf ihren ausgeprägten Akzent wie auf ihre blonde Hochfrisur und das theatralische Make-up, das sie noch immer auflegte, obwohl sie Ungarn und dem Zirkusleben vor über vierzig Jahren den Rücken gekehrt hatte. Normalerweise zwängte sie sich in enge Hosen und noch engere Oberteile, doch für diesen Tag hatte sie einen Sari gewählt, der mit schillernden Pailletten bestickt war. Dazu trug sie hochhackige Sandaletten und reichlich funkelnden Schmuck.

Die meisten Menschen verblassten neben ihr. Denn sie verstand es, sich auch ohne Rampenlicht in Szene zu setzen.

Angesichts dieser Extravaganz fühlte Lili sich in ihrem schlichten weißen Sommerkleid doch sehr unscheinbar.

Ihr Onkel Benny kam herein, holte sich ein Appetithäppchen von einer Platte und einen Kuss von Magda.

Lilis Selbstmitleid kehrte prompt zurück. Plötzlich war sie es leid, immer brav, verlässlich und vernünftig zu sein.

„Hat Tony sich schon blicken lassen?“, wollte Benny wissen.

Unwillkürlich horchte sie auf, obwohl der Name in italienischen Familien sehr gängig war und es sich daher nicht unbedingt um den gewissen Tony handeln musste.

„Noch nicht.“ Magda seufzte. „Aber der Junge kommt ja nie pünktlich, seit Marissa gestorben ist. So ein Jammer.“

Also doch.

Allerdings war es höchst unwahrscheinlich, dass der Tony von damals sich nach all den Jahren nicht verändert hatte, zumal er inzwischen Vater von drei kleinen Mädchen und seit knapp einem Jahr Witwer war. Was in aller Welt konnten sie jetzt noch gemeinsam haben?

Was hat euch denn jemals verbunden?

Benny beugte sich über Magda und gab ihr noch einen Kuss, bevor er aus dem Raum schlenderte wie ein Mann, der mit sich und der Welt absolut zufrieden ist.

Lili schälte weiter und dachte, dass Tony nach all der Verspätung vielleicht gar nicht mehr auftauchte.

„Müssen wir unbedingt dahin?“

Tony Vaccaro hatte alle Hände voll zu tun, um seine zweijährige Tochter anzuziehen, die sich kichernd wie ein Aal schlängelte. Er warf einen Blick zu seiner Ältesten, die mit gerunzelter Stirn in der Tür stand. „Ja, das müssen wir“, erwiderte er, obwohl es auch ihm nicht unbedingt zusagte, für den ganzen Clan eine heitere Miene aufzusetzen. Aber es hätte ernste Konsequenzen nach sich gezogen, die Einladung zur alljährlichen Geburtstagsfeier seiner Tante Magda abzulehnen. „Es wird uns allen guttun, mal aus dem Haus zu kommen und mit anderen Leuten zu reden. Außerdem hast du doch bestimmt nichts Wichtigeres in deinem Terminkalender stehen, oder?“

Endlich gelang es ihm, der Kleinen das Kleid über den Blondschopf zu ziehen. Aufatmend strich er sich sein eigenes Haar aus der Stirn, das etwas zu lang und nicht blond war. Josie nutzte den günstigen Augenblick und sprang vom Bett. Er packte sie mit einem Arm um die Taille und setzte sie zurück auf die Matratze, um ihr die Schuhe anzuziehen. „Sitz doch mal still!“

„Oh mein Gott! So kannst du sie aber unmöglich aus dem Haus lassen!“

Tony schloss die Augen, holte tief Luft und drehte sich zu Claire um. Ihre verdrossene Miene kaschierte kaum den Kummer in ihren kurzsichtigen Augen. Auch er litt immer noch unter Marissas Tod. Zudem quälte es ihn, dass er seinen Töchtern nicht über die Trauer hinweghelfen konnte.

Josie klammerte sich an seinen Hals und gab ihm schmatzende Küsse auf die Wange. Sie gingen ihm nahe, diese feuchten Küsse. Er musterte seine Jüngste und fragte Claire: „Was ist denn daran auszusetzen?“

Strahlend strich Josie über den Seidenbesatz an ihrem roten Samtkleid, das sie ganz hinten in ihrem Kleiderschrank gefunden und so entschieden zu tragen verlangt hatte, wie es nur eine Zweijährige schaffte, die nach einer Kaiserin benannt war. „Ich bin hübsch.“

Claire schob sich die Brille mit dem blauen Rahmen höher auf die Nase und sagte zu Tony: „Zum Beispiel, dass es ein Weihnachtskleid ist.“

„Und was willst du damit sagen?“

„Dass sie darin umkommt, weil wir Juli haben und es mörderisch heiß ist. Außerdem bekleckert sie sich bestimmt mit Senf und Ketchup und solchem Mist.“

„Sag nicht M-i-s-t, und schon gar nicht vor deiner kleinen Schwester“, ermahnte Tony seine Tochter erschöpft. Er schloss die Klettverschlüsse an den winzigen Turnschuhen, obwohl sogar er wusste, dass sie nicht zu dem Kleid passten. Sobald er Josie auf den Fußboden stellte, sauste sie wie eine aufgezogene Laufpuppe durch den Raum und kippte die Spielzeugtruhe aus, die er gerade gefüllt hatte. „Außerdem wird ihr das Kleid zu Weihnachten sowieso zu klein sein. Also, was soll’s?“

Claire stemmte die Hände in die Hüften. „Wer zum Teufel trägt ein Weihnachtskleid zum Grillen im Hinterhof?“

Und wer zum Teufel ist dieses Kind? fragte er sich, als sein Blick auf ihre kurzen Fingernägel fiel, die mit dem roten Lack ihrer Mutter „verziert“ waren. Er wusste nie, mit wem er es bei ihr gerade zu tun hatte, da sie Tag für Tag in neue Rollen schlüpfte. Der Trauerberater behauptete, dass es sich um einen Bewältigungsmechanismus handelte. Tony dagegen wettete darauf, dass es die vorzeitige Pubertät war.

„Sag nicht ständig zum Teufel. Du weißt, dass deine Mutter es gehasst hat. Aber wenn du Josie etwas anderes anziehen willst, dann versuch es doch. Und ruf Daphne, ja? Wir sind schon spät dran.“

Claire stapfte zur Tür und schrie: „Daphne! Wir fahren los!“ Dann stolzierte sie zu Josies Kleiderschrank, wobei sie derart aufreizend mit dem breiten Po wackelte, dass Tony erbleichte. „Mom hat das Kleid damals für mich gekauft“, sagte sie leise. „Vielleicht möchte ich es ja für meine Tochter aufheben oder so.“

Es ging also gar nicht um das Kleid an sich. Claire versuchte vielmehr zu verhindern, dass ihre Welt außer Kontrolle geriet. Sie hatte schon immer heftig auf die kleinsten Veränderungen reagiert. Ein anderer Weg zur Schule, eine neue Wandfarbe in einem Zimmer oder Spaghetti am Dienstag statt wie gewöhnlich am Montag brachten sie bereits aus der Fassung. Es grenzte an ein Wunder, dass sie sich nach dem Tod ihrer Mutter überhaupt noch zurechtfand.

Mir geht es auch nicht anders, dachte Tony.

Claire holte Shorts und T-Shirt aus dem Schrank, packte Josie an der Taille und hob sie auf das Bett. „He, lass uns lieber das hier anziehen …“

„Nein!“ Trotzig verschränkte Josie die Arme vor der Brust und runzelte die Stirn wie ihre große Schwester. „Ich will nicht!“

Tonys Handy klingelte. Er stöhnte, als er die Nummer seiner Schwiegermutter auf dem Display erkannte, und nahm den Anruf an.

„Höre ich da Josie schreien?“, fragte Susan. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, alles bestens. Nur eine kleine Diskussion in Modefragen. Was gibt’s?“

„Ich wollte mich nur vergewissern, ob es dabei bleibt, dass wir die Mädchen morgen holen. Wir hätten nichts dagegen, sie schon heute Abend zu …“ Josies Geschrei wurde lauter. „Ist wirklich alles in Ordnung?“

„Ja, sicher. Und es ist wirklich nicht nötig, dass ihr extra so spät noch von Boston herkommt. Solche Umstände will ich euch nicht machen.“

„Wir würden es gern tun, das weißt du doch.“ Als er nicht reagierte, vergewisserte sie sich: „Aber du hast hoffentlich nichts dagegen, dass wir sie bis Montag bei uns behalten.“

„Natürlich nicht. Die Mädchen lieben es bei euch, mit dem Pool und allem. Ganz zu schweigen davon, dass ihr sie furchtbar verwöhnt.“

„Wir tun nur unsere Pflicht“, sagte Susan mit vorgetäuschter Fröhlichkeit. „Weißt du, wenn wir sie heute Abend schon hätten, könnten wir sie morgen früh mit zur Kirche nehmen und danach zum Lunch in ein Restaurant ausführen.“

„Heute haben wir schon etwas vor“, unterbrach er sanft.

„Wir versuchen nur zu helfen.“

Er seufzte, weil es zutraf. Und die Kinder waren verrückt nach ihren Großeltern. Ganz zu schweigen von dem weitläufigen zweistöckigen Kolonialbau in Brookline mitsamt Köchin, Haushälterin und dem bewussten Pool. Außerdem waren seine Schwiegereltern neben ihm die engsten Angehörigen der Mädchen, da seine Eltern vor fünf Jahren gestorben waren und seine Geschwister im ganzen Land verstreut lebten.

„Daphne!“, rief Claire vorwurfsvoll. „Was hast du denn jetzt wieder angestellt?“

„Ich muss auflegen“, sagte Tony zu seiner Schwiegermutter und klappte das Handy zu. Langsam drehte er sich zu der Siebenjährigen um, die ihm mit ihren dunklen Locken und dunkelbraunen Augen von seinen drei Töchtern am ähnlichsten sah. Dunkelbraun waren auch die Flecken auf ihrer Kleidung. „Daphne, um Himmels willen! Was ist passiert?“

„Ich habe die Tomaten gegossen. Ed ist in den Strahl gelaufen und hat sich in dem Beet gewälzt, und dann hat er sich geschüttelt.“

„Das sehe ich.“

Ed, der liebenswerte, hoffnungslos verzogene Boxer-Schäferhund-Mischling hatte den Schlamm auf das Kind übertragen und hechelte. Es schien, als ob er triumphierend grinste.

Daphne streckte die schmutzigen Hände aus, in denen sie fleckige Umschläge und Prospekte hielt. „Die Post ist da.“

„Danke.“ Tony nahm den Stapel entgegen und blätterte desinteressiert durch das übliche Sortiment an Rechnungen und Reklamesendungen, bis er auf einen großen Umschlag von seinem Anwalt Phil stieß.

„Soll ich mich umziehen?“

„Was?“ Zerstreut blickte er auf. „Ja, bitte. Aber beeil dich. Wir sollen um fünf da sein.“

„Ich brauche bloß eine Sekunde“, versprach Daphne und lief in ihr Zimmer.

Er klemmte sich die restliche Post unter den Arm und riss den ominösen Umschlag auf. Darin befanden sich ein versiegelter, in Marissas Handschrift an ihn adressierter Brief und eine kurze Notiz auf Anwaltspapier.

Mit klopfendem Herzen las er: „Ich habe keine Ahnung, worum es geht, aber Marissa hat mich gebeten, Dir diesen Brief frühestens sechs Monate nach ihrem Tod zu schicken. Inzwischen sind es neun geworden. Offen gesagt ist es mir jetzt erst wieder eingefallen. Wenn Du etwas brauchst, lass es mich wissen. Phil.“

Was ich brauche, ist ein neuer Anwalt. Tony wandte sich an Claire, die ihr Vorhaben offensichtlich aufgegeben hatte, denn Josie war noch immer in Samt und Seide gehüllt. „Ich bringe die Post schnell in mein Zimmer, und dann geht’s los. Okay?“

Sobald er das Schlafzimmer, das ihm auch als Büro diente, am Ende des Flurs erreichte, riss er den zweiten Umschlag auf und überflog den Brief.

… tut mir schrecklich leid, und ich weiß, dass es feige ist, aber ich habe keinen günstigen Zeitpunkt gefunden, um es Dir zu sagen …

„Dad? Ist alles in Ordnung?“

Er wirbelte herum. Claire stand mit Josie auf dem Arm in der Tür. „Sicher. Alles klar.“ Er schluckte den Kloß in der Kehle hinunter, ging zum Schreibtisch und verstaute den Brief in der obersten Schublade. Dann schaltete er im Geist auf „Super-Daddy“ um und setzte eine gefasste Miene auf, bevor er sich umdrehte. „Seid ihr alle fertig?“

„Ist irgendetwas? Du klingst so komisch.“

„Ich habe bloß einen Frosch im Hals“, brachte er mühsam hervor. Er hatte geglaubt, in den vergangenen neun Monaten durch die Hölle gegangen zu sein. Nun stellte sich heraus, dass er gerade einmal die Eingangspforte passiert hatte.

Tony hielt Daphnes heiße, aber saubere Hand in seiner, während sie durch die stickigen Straßen spazierten. Nur Josies Geplapper und das Poltern des Kinderwagens auf dem alten holperigen Bürgersteig brachen die Stille. Kein Blatt bewegte sich in den Ahornbäumen vor den massiven viktorianischen Häusern, die ein Jahrhundert zuvor zu Zeiten riesiger Familien und billiger Baustoffe entstanden waren. Die bleierne Schwüle des Frühsommers wirkte bedrückend.

Marissa hat dieses Wetter gehasst, weil sich ihr Haar immer wahnsinnig gekräuselt hat …

Die Erinnerung riss nicht gänzlich verheilte Wunden wieder auf. Tony verlangsamte den Schritt, als das Haus seiner Tante und seines Onkels in Sichtweite kam. Wie konnte er eine Party besuchen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre, obwohl seine Welt gerade eben erneut aus den Angeln geraten war? Aber welche Alternative blieb ihm? Umzukehren, hätte unzählige Fragen von der wachsamen Claire aufgeworfen.

Also blieb ihm nichts anderes übrig, als für ein paar Stunden zu schauspielern. Zumindest bekamen die Kinder gut zu essen. Eine Sorge weniger.

Benny öffnete die Tür zu dem alten Backsteinhaus, in dem er und Magda sechs Kinder großgezogen hatten. Er umarmte Tony kurz, aber herzlich, und stellte zufrieden fest: „Du hast es also doch noch geschafft.“

Ein steifbeiniger Golden Retriever und ein Wollknäuel von Zwergpudel liefen zu den Kindern und begrüßten sie bellend, jaulend und schwanzwedelnd.

Gelächter dröhnte aus jedem Winkel des Hauses und schien Tony zu verhöhnen. Er bückte sich und befreite Josie aus dem Kinderwagen.

„Wir dachten schon, du kommst nicht mehr. Oh, gib mir die Kleine.“ Benny streckte die Arme nach Josie aus, die sich aber fest an ihren Dad klammerte und heftig den Kopf schüttelte. Er grinste, kein bisschen beleidigt, und wandte sich an die größeren Mädchen. „Euch beiden kann man ja beim Wachsen zugucken! Eure Cousinen sind oben. Stacey hat schon nach euch gefragt. Lauft ruhig hinauf.“

Daphne, die Unbesiegbare, sauste augenblicklich davon, doch Claire zögerte mit besorgter Miene.

Offensichtlich spürte sie Dinge, die Tony vor ihr verbergen wollte. Er legte ihr einen Arm um die Schultern und fragte sich, wie lange sie wohl bei der Party bleiben mussten. „Geh nur“, ermutigte er sie mit einem schwachen Lächeln und gab ihr einen liebevollen Schubs. Denn wenn er die nächsten Stunden überstehen wollte, musste er sich vor diesen allzu wachsamen Augen schützen. Er wandte sich an Benny. „Dann sind Rudy und Violet auch gekommen?“

„Nur für einen Tag. Sie haben sich eine Vertretung für den Gasthof genommen.“ Sobald Claire außer Hörweite war, fragte Benny: „Ist bei dir alles klar?“

„Ja, mir geht es ganz …“

„Tony?“

Er wirbelte zu der Stimme herum, die er seit ewigen Zeiten nicht gehört und doch nie vergessen hatte. Blaue Augen, die ebenso laserscharf wirkten, wie er sie in Erinnerung hatte, musterten ihn forschend. Bevor er durchatmen und sich von der Überraschung erholen konnte, zappelte Josie wild in seinen Armen, damit er sie hinunterließ. Und dann lief sie zu dieser Frau, die sie in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen hatte, schlang ihr die Arme um die Beine und sah bewundernd zu ihr auf.

Und Tony fühlte sich plötzlich wie im freien Fall von einer steilen Klippe.

2. KAPITEL

„Oh, du meine Güte!“ Lilis strahlendes Gesicht drohte Tony endgültig um den Verstand zu bringen. Sie hob Josie auf die Arme. „Ist sie deine Tochter? Sie ist ja entzückend.“

„Was zum Teufel machst du denn hier?“ Er sah sie ernst werden und murmelte: „Entschuldige. Ich habe mich falsch ausgedrückt, aber verdammt …“

„Schon gut.“ Sie setzte sich Josie höher auf die Hüfte, die seit ihrer letzten Begegnung wesentlich weiblicher geworden war.

„Wie lange ist es her?“ Ihm wurde bewusst, dass Benny diskret verschwunden war. „Zwölf Jahre?“

Sie lächelte erneut und zeigte dadurch die etwas schiefen Eckzähne, für die sie sich immer geschämt hatte. Der Himmel wusste, warum. „Vierzehn.“

„Aha. Und was hat dich hierher zurückgeführt?“

„Meine Mutter ist gestorben“, sagte sie leise. „Vor einem Monat.“

„Oh. Das tut mir leid.“

„Schon gut. Es kam nicht unerwartet“, erklärte sie mit ihrem reizvollen ungarischen Akzent. „Für sie war es eher ein Segen. Jedenfalls …“ Sie lehnte die Stirn an Josies. „Ich dachte, der Tapetenwechsel würde mir guttun.“

Lili war immer noch sehr schlank, abgesehen von ihren weiblichen Rundungen, die sich unter dem Kleid abzeichneten. In eine Sexbombe hatte sie sich trotzdem nicht verwandelt. Für Tony war sie nach wie vor seine kleine, entfernte Cousine mit dem zu großen Mund und den langen braunen Haaren, die sich an den Spitzen lockten. Doch die Brille war nun randlos, und die Lippen wirkten irgendwie voller …

„Tony? Ist dir nicht gut?“

Unvermittelt wurde ihm bewusst, dass sie als Einzige je zu ihm durchgedrungen war. Doch damals als überheblicher Achtzehnjähriger hatte er ganz genau geglaubt zu wissen, was er wollte. Und das war keine fünfzehnjährige naive Cousine aus Ungarn, die nach dem Tod ihres Vaters einen Sommer lang zu Besuch gekommen war, während der Rest ihrer Familie mit ihrem Hochseilakt durch Europa tourte.

Sie war der einzige Mensch, der ihm bereitwillig Gesellschaft geleistet hatte, nachdem er sich durch einen Sturz mit dem Skateboard ein Bein zerschmettert, den ganzen Sommer verdorben und jede Hoffnung zunichte gemacht hatte, bei Marissa Pellegrino zu landen, obwohl er sie mit einer Entschlossenheit begehrte, die schon an Besessenheit grenzte.

„Die letzten Monate waren ziemlich hart“, sagte er nun.

Lili legte den freien Arm um ihn, und sie fühlte sich warm und weich an und gab Tony das Gefühl, ein Fels in der Brandung zu sein. Sie roch nicht mehr wie früher nach Orangensaft und Kartoffelchips, sondern nach etwas Lieblichem und Betörendem. Der Duft war viel zu gefährlich für einen angeschlagenen, überraschten Mann, dessen Leben gerade zerstört wurde.

Dann lehnte sie sich zurück. Ihre Hand lag noch immer auf seinem Arm, und er spürte, dass sie sah, was sonst niemand bemerkte. Ihre tiefen blauen Augen schienen zu sagen: Komm herein aus dem Sturm in den sicheren Hafen.

Als ob das möglich wäre!

Ich kenne diesen Kummer, dachte Lili, als sie in Tonys dunklen Augen forschte und sah, wie sehr er darum kämpfte, nicht die Fassung zu verlieren.

„Sie wird dir bestimmt zu schwer“, vermutete er und nahm ihr Josie ab.

Mitgefühl stieg in ihr auf angesichts der Trauer eines Mannes, der neun Monate zuvor die Liebe seines Lebens verloren hatte.

Doch selbst dieser Gedanke milderte nicht das Prickeln, das aufgestiegen war, als ihr Verstand bei Tonys Anblick einfach ausgesetzt hatte. Sie stellte fest, dass er größer und kräftiger geworden war und sein Mund überaus reizvoll wirkte.

Nicht, dass sie blutsverwandt waren. Die Verwandtschaft ihrer Eltern beruhte nur auf der Heirat von Magda und Benny. Sie hatten kein einziges Gen gemeinsam. Trotzdem. Was ihr damals falsch erschienen war, konnte auch jetzt nicht richtig sein. Zum Beispiel, dass sie ihn umarmte. Obwohl es keine große Sache war. Alle umarmten und küssten sich in dieser Familie. So war es nun einmal üblich in südländischen Kreisen, selbst in denen, die seit drei Generationen nicht mehr in ihrem Heimatland lebten.

Und das Prickeln legte sich gewiss wieder. Irgendwann. Ebenso wie die peinliche Rückbesinnung auf ihre Jugend mit all den liebeskranken Fantasien.

„Wie alt ist sie?“ Lili strich über das seidige blonde Haar der Kleinen und spürte einen Anflug von Sehnsucht aufsteigen.

„Ich bin so viele“, sagte die Kleine und hielt zwei Finger hoch.

„So ein großes Mädchen bist du schon! Und wie heißt du denn?“

„Josie. Du bist hübsch.“

„Danke, meine Süße. Du bist auch hübsch.“

„Ich weiß.“

Lili lachte. Ehe sie reagieren konnte, kam eine ihrer zahlreichen Cousinen vorbei und nahm das Kind mit sich.

Tony und Lili blieben allein zurück, verlegen und ohne Puffer zwischen ihnen. Bekümmert blickte er seiner Tochter nach. Dann wandte er sich mit einem Lächeln an Lili. Es wirkte unverkrampft und aufrichtig – im Gegensatz zu jenem Sommer, in dem sich seine Unterhaltungsmöglichkeiten darauf beschränkt hatten, sich mit seiner jüngeren Cousine abzugeben, die nicht einmal nach ungarischen Maßstäben cool war. „Wow! Du bist es wirklich.“

„Wie du siehst.“

Aber er hatte sie nie höhnisch oder herablassend behandelt. Und gegen Ende des Sommers war es ihm leichter gefallen, mit ihr zu scherzen und zu plaudern und dadurch ihre chronische Unsicherheit zu mildern. Daher war es nicht weiter verwunderlich, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Doch sein Herz hatte einer anderen gehört, und Lili hatte nach Ungarn zurückkehren müssen.

Die Schwärmerei war im Laufe der Zeit verblasst, jedoch nicht die Erinnerung an jenen Sommer. Dass er nun so viel Leid ertragen musste, machte ihr das Herz schwer. „Du hast noch mehr Kinder?“, fragte sie.

„Ja. Noch zwei Mädchen. Sie treiben sich hier irgendwo herum. Sicher laufen sie dir noch über den Weg.“

„Das denke ich auch.“ Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: „Es tut mir leid wegen Marissa.“ Sie sah, wie er zusammenzuckte und die Lippen zu einer schmalen grimmigen Linie verzog, und sie fragte sich ironisch: Warum trittst du zur Abwechslung nicht mal wieder in ein Fettnäpfchen?

Bevor ihr etwas einfiel, was sie sagen konnte, legte Magda einen Arm um sie, hüllte sie in eine Wolke schweren Parfums und stellte entzückt fest: „Tony, mein Lieber, du hast es tatsächlich geschafft! Jetzt ist mein Geburtstagsfest vollkommen.“

Verwundert beobachtete Lili, wie er seinen Kummer wie einen schlecht sitzenden Mantel abzulegen schien. Er beugte sich vor und küsste Magda auf die Wange. „Als ob ich mir deinen Ehrentag entgehen lassen könnte!“

„Du Charmeur! Hat sich unsere Kleine hier nicht zu einer hübschen jungen Frau gemausert?“

Er musterte Lili eindringlich und bestätigte: „Ja, das hat sie wirklich.“

Ihre Hormone gerieten in Aufruhr. Hastig wirbelte sie herum und lief davon.

„Nein, du kommst mit mir“, entschied Magda, als Tony sich anschickte, Lili zu folgen.

„Aber …“

„Sie kommt schon wieder, wenn sie so weit ist. Wie ein Kätzchen, das sich unter dem Bett verkrochen hat.“ Magda zog ihn hinter das Haus und schob ihn sanft auf die Terrasse, und das Klirren ihrer Armreifen mischte sich mit dem Stimmengewirr unzähliger Vaccaros.

Sommerliche Gerüche nach frisch gemähtem Gras, gegrilltem Fleisch und Bier empfingen ihn, schienen ihn mit ihrer Aura der Fröhlichkeit und Normalität zu verspotten. Tony verdrängte die unliebsame Erregung, die Lili in ihm erweckt hatte, und musterte die anwesenden Frauen, Männer und Kinder, die fröhlich miteinander plauderten und schäkerten. Er war verdammt neidisch und versuchte nicht einmal, es zu leugnen.

„Warum ist Lili hier?“, fragte er in scharfem Ton.

„Das ist eine lange Geschichte. Du kannst sie nachher selbst fragen.“ Magda sah eines ihrer Kinder mit Enkeln und Geschenken eintreffen. „Entschuldige mich“, bat sie und rauschte davon.

Kurz darauf riss ihn ein herzhafter Schlag auf die Schulter aus trübsinnigen Gedanken.

Rudy Vaccaro, groß und kräftig wie ein Bär und der Cousin, der Tony altersmäßig am nächsten stand, drückte ihm ein eiskaltes und sehr willkommenes Bier in die Hand. „Schön, dich zu sehen, Mann.“

Sie hatten viel zusammen unternommen, in der Kindheit und auch danach. „Ja. Gleichfalls. Aber denk nicht mal daran, mich zu fragen, wie es mir geht.“

Rudy akzeptierte die Warnung, obwohl in seinen scharfsinnigen blauen Augen deutliches Mitgefühl zu erkennen war. „Würde mir nicht im Traum einfallen.“

Violet, seine kleine hübsche Frau, trat zu ihnen. „Komm her, du!“ Sie zog Tony zu sich hinunter und schlang ihm die Arme um den Hals. Ihre roten Locken kitzelten ihn am Kinn, bevor sie ihn losließ und forschend musterte. „Wie geht es den Mädchen?“

„Ganz gut.“ Er suchte die Menge nach Lili ab, ohne zu wissen, warum. „Dafür, dass … unter den Umständen.“

„Ich habe deine Jüngste vorhin gesehen“, sagte Violet. „Celeste hat sie so stolz herumgezeigt, als wäre sie ihr eigenes Kind. Die Kleine ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten. Abgesehen von dem blonden Haar“, fügte sie hinzu, ohne zu ahnen, dass die Worte ihm einen Stich mitten ins Herz versetzten.

Rudy hob seine Bierflasche und prostete Tony zu. „Du solltest mit den Mädchen für ein paar Tage zu uns kommen.“

„Unbedingt“, pflichtete Violet ihm bei. „Wir sind an allen Wochenenden ausgebucht, aber manchmal haben wir unter der Woche etwas frei. Und du hast doch den ganzen Sommer über Urlaub, oder? Es täte den Mädchen bestimmt gut, und unsere Kinder wären begeistert.“

„Genau. Stacey wäre im siebten Himmel, wenn sie alle herumkommandieren könnte.“ Rudy stöhnte. „Mensch, ich dachte, dreizehn wäre ein furchtbares Alter, aber das war nichts im Vergleich zu vierzehn. Falls wir jemals noch ein Mädchen kriegen, werde ich sie im Alter zwischen zwölf und achtzehn in ein Internat stecken.“

„Spuck doch nicht so große Töne“, entgegnete Violet. „Mit dir wäre doch überhaupt nichts anzufangen, wenn Stacey nicht da …“

Tony hörte ihr nicht länger zu, denn er sah Lili auf die Terrasse treten. Erneut erwachte seine Erregung, diesmal stärker und daher viel beunruhigender. „Entschuldigt mich bitte.“

Rudy wandte den Kopf zur Terrasse und lächelte. „Du solltest sie mitbringen. Sie hat gesagt, dass sie noch nie in New Hampshire war.“

Entgeistert starrte Tony ihn an.

„Was ist denn los? Ich schlage doch nichts Unsittliches vor. Außerdem muss sie in ein paar Wochen dringend gerettet werden.“ Grinsend deutete er mit dem Kopf zu seiner Mutter. „Vor ihr.“

„Danke, ich werde es mir überlegen“, murmelte Tony und eilte zu Lili, bevor sie ihm wieder entwischen konnte.

Dabei war es eigentlich verrückt. Schließlich war es nur die kleine Lili. All der Unsinn, dass sie ihm unter die Haut ging oder was auch immer mit ihm bewirkte, rührte nur daher, dass sein Verstand ihm aus Mangel an Schlaf und Sex böse Streiche spielte. Also wollte er einfach mit ihr reden und die Situation entschärfen.

Doch dann sah er sie tief Luft holen, und ihre Miene verriet: Ich verstehe es auch nicht.

Und seine innere Stimme antwortete: Vielleicht ist es gar nicht so verrückt.

Das musste bedeuten, dass er nur noch einen winzigen Schritt von der Unzurechnungsfähigkeit entfernt war.

Und doch ging er unbeirrt weiter.

Lili stand reglos da und beobachtete, wie Tony sich ihr näherte. Sie redete sich ein, dass sie keine Angst vor ihm hatte, dass ihr nur die eigenen wirren Gefühle zu denken gaben.

Mit finsterer Miene baute er sich vor ihr auf. „Warum bist du vorhin weggelaufen?“

„Sei nicht albern. Ich bin gar nicht weg…“

„Bist du doch! Und wenn ich mich nicht sehr täusche, möchtest du es jetzt am liebsten wieder tun.“

„So, wie du dagegen gekämpft hast, zu mir zu kommen?“, konterte sie ungewöhnlich mutig.

„Du hast ja keine Ahnung“, sagte er düster und leise.

Sie sah sich um, doch niemand schien ihnen auch nur die geringste Beachtung zu schenken. Erneut begegnete sie seinem Blick, der von innerer Zerrissenheit kündete. „Worum geht es hier eigentlich?“

„Keine Ahnung.“ Er nahm ihren nackten Arm und zog sie hinunter in den Garten, der von dem schweren Duft von Magdas preisgekrönten Rosen erfüllt war.

„Wo gehen wir hin?“

„In den Schatten.“ Tony deutete mit dem Kopf zu der riesigen alten Eiche, in die ein rustikales Baumhaus gebaut war, das Kindern seit zwei Generationen Zuflucht bot.

So auch Lili in jenem Sommer. Endlose Stunden hatte sie durch das Blätterdach in die Sterne geguckt und ihren heißen Fantasien freien Lauf gelassen. Genau wie damals war der Holzzaun dicht bewachsen – von Ringelblumen, Petunien und Rhododendren in schwerer Blüte. Doch die runde Steinbank, die den alten Baumstamm umgab, war neu.

Lili wollte sich setzen, doch Tony hielt sie zurück. „Vogeldreck. Setz dich lieber ins Gras.“

„Sind denn da nicht genauso viele Kleckse?“

„Das schon, aber man kann sie wenigstens nicht sehen. Nein, warte.“ Er streifte sich das Hemd ab, das er aufgeknöpft über einem T-Shirt trug, und breitete es galant auf dem Boden aus. „Grasflecken sind aus weißem Stoff verdammt schwer zu entfernen.“ Als sie ihn verwundert anblickte, zuckte er die Schultern. Der Versuch, sich gelassen zu geben, stand in starkem Kontrast zu dem Kummer, der in seine Züge eingemeißelt schien. „Durch Daphne, die sich überall schmutzig macht, bin ich zu einem erstklassigen Experten für das Entfernen von Grasflecken geworden.“

Lilis Herz pochte. Sie streifte sich die Sandalen ab und setzte sich auf das weiche Baumwollhemd.

Tony ließ sich neben sie ins Gras fallen, nahe genug, sodass sein Duft die bittersüße Erinnerung an unerwiderte Sehnsüchte wachrief. „Ist es jetzt besser?“, fragte er.

„Ja. Viel besser. Danke.“ Sie lächelte schüchtern und wandte den Kopf zum Haus. „Ich habe mich in großen Gruppen nie besonders wohlgefühlt.“

„Was meinst du wohl, warum ich dich gerettet habe?“

„Dich selbst etwa nicht?“

Er lehnte sich zurück auf die Ellbogen. „Doch, mich auch. Normalerweise bin ich ja für diese Clan-Treffen zu haben, aber heute nicht.“ Er schüttelte den Kopf und trank einen großen Schluck Bier.

„Also hast du dir gedacht, dass wir gemeinsam ausreißen könnten.“

„Ja. Genau wie in alten Zeiten. Weißt du noch? Du und ich gegen den Rest der Welt.“

„Waren wir so? Gemeinsam gegen alle anderen?“

Seine Mundwinkel zuckten. „Jedenfalls kam es mir so vor. Ich war wütend über meinen verhunzten Sommer, und du warst sauer, weil deine Familie dich bei Magda und Benny abgeladen hatte.“

„Das stimmt überhaupt nicht! Ich war nicht sauer. Es war nämlich viel besser als die Alternative.“

Tony lächelte gedankenverloren. Sie hatte ihm damals erzählt, dass sie entgegen der Hoffnung ihres Vaters weder Talent noch Begeisterung für das Trapez aufbrachte. Ihm war auf Anhieb klar geworden, dass sie alles am Zirkusleben hasste. Leider hatte ihre Familie etwas länger gebraucht, um es zu akzeptieren. „Du warst wohl das einzige Kind auf der ganzen Welt, das vom Zirkus weglaufen wollte.“

„Kann sein.“ Sie blickte erneut zur Terrasse. „Führt es nicht zu Spekulationen, wenn wir beide allein hier draußen sind?“

„Und wenn schon! Immer noch besser als die ganze Fragerei. So lassen sie uns beide in Ruhe. Zumindest für den Moment.“

„Du bist es leid, nach außen hin immer den Starken zu spielen, oder?“, fragte sie leise, ohne ihn anzusehen.

Er lachte humorlos auf. „Du warst schon immer eine beängstigende Frau, weißt du das?“

„Ich bin in etwa so beängstigend wie ein neugeborenes Kätzchen. Und du hast meine Frage nicht beantwortet.“

„Das habe ich auch nicht vor.“

„Magda sagte, dass du in einer Schule unterrichtest.“

„Ja. Sport an einer Highschool. Außerdem trainiere ich das Footballteam. Ich lebe nicht gerade den Traum, den ich damals hatte. Aber wie viele Menschen tun das schon?“

„Du scheinst nicht besonders unglücklich darüber zu sein.“

„Jetzt? Nein. Damals? Der komplizierte Beinbruch hatte mir jede Chance vermasselt, es in ein College-Team zu schaffen, geschweige denn in die Profiliga. Also habe ich das Nächstbeste getan und Sportpädagogik studiert. Das war das Klügste, was ich tun konnte.“ Er atmete tief durch. „Verdammt, Lili, es ist, als ob überhaupt keine Zeit vergangen wäre.“

Wie wahr, dachte sie und befahl ihrem Herzen und ihren Hormonen diskrete Zurückhaltung. „Ich weiß, was du meinst.“

„Trotzdem. Irgendetwas hat sich verändert.“

„Kein Wunder. Vierzehn Jahre hinterlassen nun einmal ihre Spuren.“

„Ich rede nicht von Äußerlichkeiten. Obwohl du gut aussiehst. Du bist zwar immer noch sehr zugeknöpft, aber …“

Sie sah zu ihrem Kleid hinunter. „Was ist denn an meiner Aufmachung auszusetzen?“

„Nichts. Ich habe doch gesagt, dass du gut aussiehst. Dein Wesen hat sich verändert. Du warst schon immer still, aber warum bist du vorhin einfach weggelaufen?“

Sie zog die Knie an, drapierte den weiten Rock um die Beine und schlang die Arme um die Knie. Dann verscheuchte sie eine Fliege von ihrem Arm, bevor sie sagte: „Weil ich nicht sicher bin, was du von mir willst. Es kommt mir wirklich so vor, als ob alles noch ganz genau wie früher wäre, obwohl nichts mehr so ist.“

„Ich weiß selbst nicht, was ich von dir will.“

Entschieden kämpfte Lili gegen ihre unangebrachte Enttäuschung. Selbst wenn sie außer Acht ließ, dass zwischen ihnen nie mehr als Freundschaft bestanden hatte – und das auch nur für einen kurzen Sommer vor einer Ewigkeit –, war nicht daran zu rütteln, dass er seit Kurzem Witwer war, den unzählige andere Dinge beschäftigten. Was in aller Welt erwartete sie? Ein Happy End wie im Märchen?

„Welches sind denn deine beiden anderen Töchter?“, fragte sie, um das Gespräch auf ein unverfänglicheres Thema zu lenken.

Tony setzte sich auf, um einen besseren Blickwinkel zu bekommen, und streifte dabei ihre Schulter. „Der kleine Wildfang mit dem Lockenkopf, der gerade mit Rudys Stiefsöhnen herumtollt, das ist Daphne. Sie ist sieben, verdammt schlau und macht sich andauernd schmutzig. Und die da drüben mit der Baseballkappe und dem grimmigen Gesicht neben Stacey, das ist Claire. Sie ist fast elf.“

„Oh, die wird aber mal sehr hübsch. Da kommen sicher noch einige Probleme auf dich zu.“

„Musst du mir das unter die Nase reiben? Ich mache mir auch so schon Sorgen, dass die Jungs bald vor ihrer Tür Schlange stehen werden. Dabei isst sie zu viel, seit ihre Mutter gestorben ist. Meine Schwiegermutter macht ständig Anspielungen wegen einer Diät. Aber soll ich meiner Tochter die gelegentliche Tüte Pommes frites verbieten? Nach allem, was sie durchgemacht hat?“

„Natürlich nicht.“ Lili konnte sich lebhaft vorstellen, wie schwierig manchmal zu vereinbaren war, was für ein Kind das Beste war und was es glücklich machte. Gedankenverloren beobachtete sie, wie Josie über die Terrasse rannte, stolperte und von Claire aufgefangen wurde. „Sie kann sehr gut mit der Kleinen, oder?“

„Ja, aber sie ist verdammt streng. Mit uns allen. Angeblich ist das normal für das älteste Kind. Besonders nach einem schweren Verlust.“

„Das erklärt wohl auch den finsteren Blick in meine Richtung.“

„Nimm’s nicht persönlich. Sie sieht jeden finster an.“ Er seufzte. „Ich verstehe nur nicht, wie sie in einem Moment so selbstbewusst und im nächsten so unsicher sein kann.“

Spontan legte sie ihm eine Hand auf den Arm. Seine Muskeln fühlten sich hart an. „Es ist noch zu frisch. Sie braucht einfach Zeit. Dann renkt sich alles wieder ein.“

„Das hoffe ich auch.“

Verlegen zog Lili die Hand zurück, schlang die Arme wieder um die Knie und begegnete dem durchdringenden Blick seiner ältesten Tochter über den Garten hinweg. „Du bist ein fürsorglicher Vater und erziehst deine Kinder liebevoll. Das merke ich.“

„Manchmal bin ich da nicht so sicher. Aber niemand kann sagen, dass ich nicht mein Bestes gebe. Meine Kinder sind mein Leben.“

„Offensichtlich.“ Lili zupfte mit den Zehen an einem Büschel Klee und lenkte damit seine Aufmerksamkeit auf ihre blassrosa lackierten Fußnägel. „Also, willst du die Situation jetzt ausnutzen oder nicht?“

„Wie bitte?“

„Ich kann immer noch so gut zuhören wie früher. Vielleicht möchtest du mir ja erzählen, was dich wirklich bedrückt.“

Ihr Tiefblick überraschte Tony. Erst in diesem Moment merkte er, wie sehr er darauf brannte, sich die bedrückenden Gefühle von der Seele zu reden. Stattdessen zerdrückte er die leere Bierdose und fragte: „Und was hast du in den letzten vierzehn Jahren so getrieben?“ Da sie nicht antwortete, erklärte er: „Ich kann nicht darüber reden. Noch nicht.“

„Tut es so sehr weh?“

„Verdammt, Lili …“

„Entschuldige“, flüsterte sie.

Das eine Wort wirkte sanft wie eine Liebkosung und verheerend auf seine Selbstbeherrschung.

Zu seiner Erleichterung antwortete sie dann auf seine Frage. „Ich habe zwei Examen in Sprachwissenschaft abgelegt und spreche fünf Sprachen fließend.“

„Mein Kompliment.“

„Das ist das einzig Gute daran, dass ich als Kind durch ganz Europa getourt bin. Jedenfalls übersetze ich jetzt freiberuflich. Fachbücher, Romane und so weiter.“ Sie zögerte. „Und ich hätte fast geheiratet.“

Er verspürte einen unerwarteten Stich in der Brust. „Fast?“

Sie nickte. „Aber dann hat mein Stiefvater meine Mutter verlassen.“ Sie zog sich den Kleidersaum über die Zehen. „Wegen einer Zweiundzwanzigjährigen.“

„Autsch! Wann war das?“

„Vor ungefähr fünf Jahren.“

„Das war bestimmt hart für deine Mutter. Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun?“

Lili strich sich eine lange Haarsträhne hinter das Ohr, in einer typischen Geste der Nervosität. „Mom war am Boden zerstört, wie du dir denken kannst.“

Tony nickte.

„Deshalb mochte sie nicht allein bleiben. Meine Brüder konnten sie nicht zu sich nehmen, weil sie mit dem Zirkus auf Tournee waren. Also habe ich meine Studenten-WG aufgegeben und bin bei ihr eingezogen. Ich bin davon ausgegangen, dass sie später bei meinem Verlobten und mir wohnen könnte, zumindest vorübergehend. Aber Peter hat sich nie mit ihr vertragen. Er hat mich vor die Wahl gestellt. Er oder sie.“

„Was für ein netter Kerl.“

„Das Ironische an der ganzen Sache ist, dass Mom und ich uns eine ganze Weile vorher entfremdet hatten. Aber sie hat mich gebraucht, und deshalb habe ich mich um sie gekümmert. Weil es sich so gehört, dass Eltern und Kinder gegenseitig füreinander da sind. Aber Peter konnte das nicht verstehen. Das hat zur Trennung geführt.“

„Und was hast du danach getrieben?“

Sie antwortete nicht.

„Du hast dich die ganzen fünf Jahre um deine Mutter gekümmert?“

„Ich konnte ja nicht wissen, dass sich die Dinge so entwickeln. Oder dass sie krank wird.“ Mit gerunzelter Stirn starrte Lili auf ihre Zehen. „Ich weiß selbst nicht, wie es dazu gekommen ist. Vielleicht war es eine Reaktion auf die Trennung von Peter, oder es hat mir einfach Spaß gemacht, meine Mutter wieder neu kennenzulernen, gemeinsam shoppen zu gehen und zu kochen, Filme anzusehen und zu reden.“

Versonnen stützte sie das Kinn in die Handfläche. „Wir sind sehr gute Freundinnen geworden. Das Zusammenleben war nie wirklich eine Last für mich. Nicht mal, als sie krank wurde. Ich war einfach froh, dass ich für sie da sein konnte. Vor allem am Anfang hat es irgendwie auch mir Halt gegeben.“ Sie seufzte. „Die meisten Menschen würden das bestimmt nicht gerade mutig nennen. Was ich wohl auch nicht bin. Da bin ich zum ersten Mal seit Jahren völlig frei, und was mache ich? Ich besuche meine Tante und meinen Onkel für einen Monat. Wie feige ist das denn!“

„Okay, da könnte etwas dran sein“, räumte Tony ein und brachte sie damit zum Lachen. „Aber weißt du was? Vergiss die anderen Leute. Es ist dein Leben. Gestalte es so, wie du willst. Du und nicht mutig?“ Er schüttelte den Kopf. „Dich gegen den Zirkus zu stellen und damit gegen deine Familie aufzulehnen, deine kranke Mutter zu pflegen, deinen Verlobten in die Wüste zu schicken … Verdammt, Lili, du hast mehr Mumm als neunzig Prozent der Menschen auf diesem Planeten.“

„Du bist sehr lieb.“

„Ich sage nur, wie ich es sehe. Und nebenbei bemerkt, dein Verlobter war ein egoistischer Idiot, der dich nicht verdient hat. Ebenso wenig wie deine Mutter.“

Sie lächelte. „Das kann auch nur jemand sagen, der meine Mutter nicht gekannt hat.“

„War sie etwa wie Magda?“

„Schlimmer.“

„Oh.“

Lili seufzte. „Jedenfalls versuche ich immer noch zu ergründen, wie ich in diese seltsame neue Welt des Alleinseins passe.“

Magdas ansteckendes herzhaftes Lachen war von der Terrasse zu hören. Tony dachte daran zurück, wie Benny sich vor vielen Jahren Hals über Kopf in das Mädchen vom Zirkus verliebt hatte. „Glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?“

„Du meinst die Art, die sich anschleicht und einen völlig unverhofft überfällt? Ja, ich denke schon. Obwohl es völlig unlogisch ist.“

„Ich glaube nicht, dass Liebe viel mit Logik zu tun hat.“

Sie sah ihm in die Augen und murmelte: „Wie tiefgründig.“

Etwas Sanftes, Warmes und äußerst Bedrohliches stieg in ihm auf. Ihm wurde bewusst, wie leicht es ihm fiel, mit Lili zu reden und zu lachen. Dann merkte er, dass Claire sie immer noch voller Sorge beobachtete. Dieser Blick rief ihm in Erinnerung, dass gar nichts leicht war und er sich nicht einfach nehmen konnte, was er wollte. „Tiefgründig bin ich bestimmt nicht. Eher ein durchschnittlich oberflächlicher Typ.“

„Daran ist nichts auszusetzen. Trotzdem. Manchmal denke ich, die beste Liebe ist die Art, die sich fast mühelos entwickelt – wie eine Pflanze, die von selbst Wurzeln schlägt.“

„Wie Unkraut?“

Belustigt schüttelte sie den Kopf. „Wie Wildblumen. An meiner Beziehung mit Peter war bestimmt nichts mühelos. Nicht, dass selbst die stärkste Liebe keine Pflege bräuchte. Aber ich hätte merken müssen, dass es in einen regelrechten Kampf ausartete.“ Sie presste die Lippen zusammen. „Entschuldige. Ich will dich nicht mit Geschichten aus meinem jämmerlichen Liebesleben langweilen.“

Es ist immer noch besser als meines, dachte Tony. Häufig ging auch ihm durch den Kopf, wie viel Kraft es ihn und Marissa in den letzten Jahren gekostet hatte, die Flamme in Gang zu halten. Sicherlich erforderte jede Ehe eine gewisse Mühe auf beiden Seiten, aber wenn jedes einzelne Gespräch zu einer Pflichtveranstaltung wurde, dann ließ sich nicht leugnen, dass einiges im Argen lag.

Benny, hinter einer dichten Rauchwolke vom Grill kaum auszumachen, rief seine Gäste zum Dinner.

Ich wusste nur nicht, wie viel schiefgelaufen ist. Niedergeschlagen dachte Tony an den ominösen Brief, den er in seinem Büro in die Schublade gestopft hatte, dessen Inhalt ihn zu erdrücken drohte.

Lili war bereits aufgestanden. Sie hielt ihre Sandalen in der Hand, und der Wind zerzauste ihr Haar. „Kommst du?“

Er stand ebenfalls auf. Der Drang, sie zu berühren und Trost bei ihr zu suchen, war unglaublich ausgeprägt und schien sich zu steigern. Doch es wäre beiden gegenüber sehr unfair gewesen, diesem Impuls nachzugeben.

Denn er wusste verdammt gut, dass er viel mehr von Lili wollte. Er kam sich gemein vor, weil er auch nur daran dachte, seinen Zorn und Kummer bei ihr abzuladen und durch sie der Einsamkeit zu entfliehen. „Geh doch schon mal vor. Ich komme gleich nach.“

Es überraschte ihn nicht, Verwirrung in ihrem Blick zu sehen. Damit kam er klar. Doch das verständnisvolle Mitgefühl raubte ihm beinahe die Fassung.

3. KAPITEL

Zwei Stunden später war die Party zu Ende, und der letzte Gast hatte sich gerade verabschiedet. Zurück blieben nur Lili, ihre Tante und ihr Onkel, die beiden Hunde und genügend Essen, um ein ganzes Obdachlosenasyl zu ernähren. Für eine volle Woche.

Die Hunde tobten übermutig durch das Haus. Lili putzte die Küche und grübelte immer noch über Tonys offensichtliche Abfuhr. Magda und Benny trugen die Überreste von der Terrasse herein.

„Habe ich dir nicht gesagt, dass du viel zu viel gemacht hast?“ Benny wuchtete eine riesige, fast volle Schüssel mit Kartoffelsalat auf den Küchentisch und wandte sich an Lili. „Ich sage ihr immer wieder, dass keiner mehr so viel isst wie früher, als die Jungs noch Teenager waren. Und die Frauen halten meistens Diät. Oder sie sind schwanger.“

Magda seufzte. „Das muss an der Hitze liegen. Zu Thanksgiving fallen sie wie die Heuschrecken über mein Essen her.“ Sie sah die blitzblanke Spüle und die sauberen Arbeitsflächen. „Ehrlich, Lili, in meinem ganzen Leben habe ich nie jemanden kennengelernt, der so gern putzt wie du. Meine Kinder würden lieber nackt durch die Straßen laufen, als zu einem Lappen zu greifen. Aber dich muss ich nicht mal darum bitten. Du tust es einfach.“

„Ich habe schon immer Freude daran gehabt, Dinge in Ordnung zu bringen. Das wirkt beruhigend.“

„Du bist eine seltsame junge Frau“, meinte Magda auf Ungarisch.

Benny stöhnte. „Du weißt ganz genau, wie sehr ich es hasse, wenn du das tust.“

„Ha! Weißt du nicht mehr, was du gemacht hast, kurz nachdem wir uns kennengelernt haben und ich noch nicht so gut englisch sprechen konnte wie jetzt? Wie du mit deinen Eltern immer in meiner Gegenwart englisch gesprochen hast und ich nur ‚Magda hier‘ und ‚Magda da‘ verstehen konnte? Das ist jetzt meine Rache!“

Lili lachte und erklärte: „Mein Putzfimmel kommt daher, dass ich zu viele Jahre mit meinen unordentlichen Brüdern in winzigen Wohnwagen gelebt habe. Das hat mich verrückt gemacht. Und Mom konnte auch keine Ordnung halten. Also habe ich immer aufgeräumt, wenn sie Vorstellung hatten.“ Sie strich mit einem Finger über die saubere Arbeitsfläche. „Ich bringe immer noch gern Ordnung ins Chaos. Nicht, dass deine Küche chaotisch ist …“

„Mein ganzes Leben ist chaotisch.“

„He, das ist eine Frechheit!“, beklagte sich Benny.

Magda umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die bärtige Wange. „Ich liebe das Chaos.“

„Ich nicht“, sagte Lili. Aufregung und Chaos waren nichts für sie. Deswegen hatte sie Tony auch nicht gedrängt, ihr zu verraten, was ihn bedrückte.

„Und trotzdem bist du zu uns gekommen?“, wunderte sich Benny.

Magda schob ihn sanft zur Tür.

„Was? Du wirfst mich raus?“

„Ja. Lili und ich müssen reden. Von Frau zu Frau.“

„Aber, Tante …“

„Keine Widerworte!“ Magda deutete mit einem frisch aufgeklebten Acrylnagel in Lilis Richtung und seufzte schwer, sobald Benny gegangen war. „Bei deinem letzten Besuch habe ich mir große Sorgen um dich gemacht. Du warst wie ein eckiger Pflock in einem runden Loch. Immer so still und mit der Nase in einem Buch.“ Sie löffelte den Kartoffelsalat in eine Plastikdose. „Aber ich hatte gehofft, dass es nur eine vorübergehende Phase wäre.“

„Was? Dass ich nicht zum Zirkus wollte? Bist du deswegen enttäuscht?“

„Natürlich nicht! Ich könnte nicht stolzer auf dich sein. Fünf Sprachen und zwei akademische Grade! Ich meine etwas ganz anderes. Damals habe ich beobachtet, wie du dich von einem kleinen verängstigten Häschen in eine selbstbewusste, optimistische junge Frau verwandelt hast.“

Das lag an Tony. Er hat es mit mir, für mich gemacht.

„Und jetzt sehe ich dich an und frage mich, was passiert ist. Hier kommt die Antwort: Meine Schwester hat zugelassen, dass du dich für sie aufopferst und dein Eigenleben aufgibst.“

„Das stimmt gar nicht! Außerdem weißt du genauso gut wie ich, wie sie war. Wenn ich nicht gewesen wäre …“

„… hätte sie die Dinge selbst in die Hand genommen. Und vielleicht hätte sie dann mehr gemacht, als die letzten fünf Jahre auf das Ende ihres Lebens zu warten.“

„Willst du damit andeuten, dass ich sie von etwas abgehalten habe?“

„Ich deute gar nichts an, sondern sage es direkt: Ihr habt euch gegenseitig in euren Freiräumen eingeschränkt. Herrje, Lili, du wolltest heiraten!“

„Ich habe eben eingesehen, dass ich für Peter damals keine Zeit hatte. Und er hat mich schon gar nicht gebraucht. Im Gegensatz zu Mom.“

„Aber es hat dir wehgetan.“

„Natürlich. Es ist hart herauszufinden, dass jemand nicht derjenige ist, für den man ihn gehalten hat.“ Sie hob das Kinn. „Aber jetzt ist ja alles wieder gut. Mein Herz ist geheilt. Sogar stärker denn je.“

„Du glaubst, Herzen sind wie Knochen und werden stärker, wenn sie gebrochen wurden?“

„Vielleicht. Jedenfalls glaube ich, dass die Dinge sich so entwickeln, wie es vorherbestimmt ist. Außer …“

„Dachte ich’s mir doch, dass es da eine Ausnahme gibt.“

Lili setzte sich auf einen Stuhl. „An dem Tag, als Mom gestorben ist, habe ich mitten in der Küche gestanden und erkannt, dass ich fast dreißig bin und noch genauso wenig wie vor zehn Jahren weiß, was ich mit meinem Leben anfangen will. Weil ich wirklich nirgendwo hineinpasse, wie du gesagt hast. Solange ich zurückdenken kann, war ich immer die kleine Zirkusgöre, die anders als die anderen Kinder und der Querkopf in der Familie ist. Jetzt fühle ich mich, als hätten alle anderen es ins Boot geschafft, während ich an der Küste auf dem Trockenen sitze.“

„Ach, Liebes.“ Magda nahm Lilis Gesicht zwischen die Hände. „Glaub mir, es gibt mehr als nur ein Boot.“

Die Geste erinnerte Lili so sehr an ihre Mutter, dass ihre Augen brannten. „Das kann ich nur hoffen. Sonst bin ich erledigt.“

„Und wie willst du es anstellen, deine Rolle im Leben zu finden?“

„Das weiß ich noch nicht. Meine Übersetzungsarbeit macht mir zwar Spaß, füllt mich aber nicht unbedingt aus.“

„Dir fehlt das Gefühl, gebraucht zu werden, oder?“

„Das ist es wohl.“

Magda nickte bedächtig, stand auf und holte einige Plastiktüten aus dem Schrank unter der Spüle. „In meiner Familie hat mich jeder für verrückt erklärt, weil ich einen Mann heiraten wollte, den ich kaum kannte, mit dem ich kaum sprechen konnte.“ Sie füllte die Tüten mit den Essensresten. „Aber nach zwei Treffen mit Benny wusste ich, dass er ein guter Mensch ist und mich braucht.“ Sie legte ein Vollkornbrot in die zweite Tüte. „Nicht, dass er es mir sagen konnte. Aber was sind schon Worte? Sie kommen zu oft aus dem Kopf und nicht von Herzen. In Wahrheit zählt doch nur, was ein Mensch tut und wer er ist.“ Sie trug die Essensreste zum Tisch. „Sitz nicht einfach herum. Steh auf, und nimm die Tüten.“

Lili gehorchte. „Und was soll ich damit?“

„Wir können das nicht alles aufessen. Es würde nur verderben. Von unserer Familie braucht es niemand. Tony dagegen …“

„Oh nein.“ Lili stellte die Tüten zurück auf den Tisch. „Ich werde bestimmt nicht die barmherzige Samariterin spielen.“

„Und warum nicht?“

„Das weißt du sehr gut.“

„Nein. Erklär es mir.“

„Der Mann hat gerade seine Frau verloren. Und Claire sieht mich an, als hätte ich eine ansteckende Krankheit. Reicht das als Erklärung?“

„Du willst doch gebraucht werden. Ich habe in meinem ganzen Leben niemanden gesehen, der so sehr jemanden braucht wie Tony momentan.“

„Aber er braucht nicht mich.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Glaubst du, ich hätte nicht gemerkt, welche besondere Bindung früher zwischen euch bestand?“

„Hör doch auf! Für ihn war ich bloß wie eine kleine Schwester. Noch dazu eine nervtötende.“

„Ich rede nicht von seiner Einstellung zu dir. Aber ein junges Mädchen entwickelt leicht Gefühle für einen älteren Jungen, der so nett zu ihr ist.“

Lili kniff die Augen zusammen. Sie hatte nie ein Wort zu ihrer Tante – oder zu sonst jemandem – über ihre Schwärmerei verloren. So dumm war sie nicht einmal damals gewesen. „Worauf willst du hinaus?“

Magda lächelte versonnen. „Erinnerst du dich an das Tagebuch, das du damals verloren hast?“

„Ja.“ Lilis Wangen glühten. „Hast du es gefunden?“

„Mag sein.“ Magda gab vor, ihre Fingernägel zu inspizieren. „Vielleicht habe ich auch ein bisschen darin gelesen. Natürlich nur, bis ich gemerkt habe, was es ist. Du hast also zwei Möglichkeiten. Bring dem Mann das Essen, oder ich mache dir das Leben zur Hölle.“

„Das ist Erpressung!“

„Na und? Ich kämpfe eben mit unfairen Mitteln.“

Lili sah noch einmal nach den Plastiktüten und musste plötzlich lächeln. Sie bezweifelte zwar, dass Magda so tief sinken und Tony – oder sonst jemandem – das peinliche Gekritzel einer liebeskranken Fünfzehnjährigen zeigen würde. Doch wieder einmal zog sie es der Einfachheit halber vor, mit dem Strom zu schwimmen und zu tun, was von ihr erwartet wurde, anstatt sich dagegen aufzulehnen.

Kurz darauf fuhr sie in Magdas Kleinwagen von der Auffahrt. Beim ersten Stoppschild lachte sie laut auf. Denn ihr fiel ein, dass jenes Tagebuch vollständig auf Ungarisch verfasst und somit für Tony unverständlich war.

Den ganzen Weg über zu seinem Haus lachte sie leise vor sich hin.

Während Josie übermütig in der Wanne planschte, lehnte Tony sich erschöpft gegen die Wand neben dem Waschbecken. Seufzend schloss er die Augen und kämpfte gegen die Angst an, die ihn quälte, seit er den ominösen Brief von seinem Anwalt erhalten hatte.

„Daddy? Schläfst du?“

„Nein.“ Er lächelte schwach und öffnete die Augen.

Das Kinn auf den Rand der rosa Badewanne gestützt, die Wimpern vom Badewasser verklebt, beobachtete Josie ihn so fasziniert, als wäre er ein Weltwunder. Die Angst rückte erneut in den Vordergrund. Was, wenn …

„Dad!“, rief Daphne die Treppe hinauf. „Tante Magda kommt!“

Tony stand auf und hob Josie aus dem lauwarmen Wasser. Er wickelte sie in ein Handtuch und stürmte die Stufen hinunter.

Doch es war nicht Magda, die mit prall gefüllten Einkaufstüten auf seiner Schwelle stand, sondern Lili. Sie hatte ganz große Augen und eine sanfte Miene und weibliche Rundungen.

Lauf weg, solange du kannst, lag ihm auf der Zunge. Dann fiel ihm ein, dass sie bestimmt in der Lage war, einen verrückten Mann mit leicht entflammbarer Leidenschaft abzuwehren. Vor allem, wenn er gar nichts unternehmen konnte, selbst wenn er wollte, weil drei Kinder …

Ed bellte.

… und ein Hund im Haus waren.

Lili ließ die Tüten fallen und klopfte sich auf die Oberschenkel. Ed sprang an ihr hoch. „Was bist du doch für ein süßes Hündchen! Oh! Nein, nein!“ Lachend wehrte sie die nassen Hundeküsse ab. „Wie heißt er?“

„Ed.“

„Ja, Eddie, ich liebe dich auch!“

„Bist du schon auf der Flucht vor deiner Tante?“

„Nein, obwohl ich manchmal kurz davor bin.“ Sie zog Eds Kopf aus einer der Tüten und hob sie wieder auf. „Magda meint, dass du etwas von den Überresten der Party haben solltest …“

„Dad? Wer ist da? Oh!“

„Hallo, Claire.“

Als keine Antwort kam, räusperte Tony sich bedeutungsvoll.

Claire seufzte theatralisch. „Hi, Lili.“ Es klang nicht gerade überglücklich, doch sie bot pflichtbewusst an: „Soll ich Josie ins Bett bringen, Dad?“

Gleichzeitig fragte Daphne, bereits im Nachthemd: „Liest du mir jetzt etwas vor oder nicht?“

„Oh, tut mir leid“, murmelte Lili. „Ich wollte euren Tagesablauf nicht stören.“

„Du störst überhaupt nicht.“ Tony gab Josie an Claire weiter und nahm Lili die Tüten aus der Hand. Dabei nahm er einen sinnlichen Duft wahr, der ihn verwirrte und erregte. Ein letzter Rest Verstand warnte ihn, dass nichts Gutes dabei herauskommen konnte, und gleichzeitig dachte er, dass es gar kein „Dabei“ gab und niemals geben konnte. „Komm doch herein“, sagte er.

Mit verschränkten Armen stand Lili in der Tür und versuchte, Claires finsteres Gesicht zu ignorieren, während Tony die Einkaufstüten in die Küche brachte und wieder herauskam.

„Ich komme!“, rief er zu Daphne hoch, die ganz oben auf der Treppe wie eine Stoffpuppe über dem Geländer hing. Er legte einen Arm um den Pfosten und schwang sich die Stufen hinauf. Gehetzt wandte er sich an Lili: „Ich bin gleich wieder da. Im Kühlschrank steht Limonade, wenn du möchtest.“ Auf halber Treppe blieb er stehen. „Was denke ich bloß? Du hast bestimmt etwas anderes vor, oder?“

„Nicht wirklich. Aber ich kann nicht lange bleiben. Ich habe Magda versprochen, nachher ein Video mit ihr anzusehen.“ Sie deutete mit dem Kopf zur Küche. „Ich kann das Essen wegräumen, wenn du möchtest.“

„Gern. Claire, zeigst du ihr bitte die Küche?“

Lili entgegnete: „Wenn sie noch dort ist, wo sie früher war, finde ich allein hin.“

„Ich muss sowieso Josie ins Bett bringen.“ Mit ihrer kleinen Schwester auf der Hüfte stürmte Claire an ihm vorbei die Stufen hinauf.

Tony blickte den beiden nach und schüttelte den Kopf. „Heranwachsende Kinder“, murmelte er und schlug mit der flachen Hand auf das Geländer. „Okay, ich bin gleich bei dir.“

Ed, Lilis neuer bester Freund, folgte ihr in die Küche, legte sich geräuschvoll auf den Linoleumboden und beobachtete sie mit seelenvollen braunen Augen.

Sie sah sich in dem vertrauten Raum um, der früher einmal die Kommandozentrale für Tonys große Familie gewesen war, unter Rhea Vaccaros Vorsitz, die mit eiserner Hand und doch großzügig regiert hatte. Der Fußboden, die Schränke aus dunklem Holz und die senfgelben Arbeitsflächen waren noch dieselben. Doch ein riesiger, zweitüriger Kühlschrank aus Edelstahl hatte das alte Modell abgelöst, und an einer rostroten Wand kündeten breite Pinselstriche in verschiedenen Blau- und Grüntönen von geplanten Veränderungen.

Längst überfällige Veränderungen, dachte Lili, als sie die Plastiktüten auf dem Küchentisch ausleerte. Sobald sie den Kühlschrank öffnete, sprang der Hund mit gespitzten Schlappohren auf seine großen Pfoten.

Lächelnd holte sie einen Hotdog heraus.

Ed schnappte gierig danach und verschlang ihn in einem einzigen Bissen.

„Er soll kein Menschenessen kriegen“, verkündete Claire von der Tür her.

Lili zuckte zusammen. „Oh! Es tut mir leid.“ Sie drehte sich zum Kühlschrank um und ordnete die zahlreichen Reste aus Chinarestaurants und Delikatessenläden, um Platz für die Gaben ihrer Tante zu schaffen.

„Davon kriegt er echt eklige Blähungen.“

Wie aufs Stichwort gab Ed ein entsprechendes Geräusch von sich.

Mit schuldbewusster Miene wandte Lili sich ab, musste dann aber ein Lachen unterdrücken.

Denn Claire erklärte dem Hund: „Heute schläfst du auf keinen Fall in meinem Zimmer.“ Dann fragte sie Lili: „Du warst also schon mal hier?“ Ihre argwöhnische Miene widersprach total ihrer gekrümmten Haltung und der monotonen Bewegung, mit der sie sich unaufhaltsam eine Haarsträhne um den Zeigerfinger wickelte.

„Vor einer Ewigkeit.“ Lili quetschte Behälter mit Salaten in ein Fach, entdeckte einen Becher Hüttenkäse mit abgelaufenem Verfallsdatum und stellte ihn auf den Tisch. „Als es noch das Haus deiner Großeltern war.“

„Du meinst Dads Eltern? Die sind jetzt beide tot.“

„Ich weiß. Ich habe sie gemocht. Sehr sogar.“

„Ich kann mich fast gar nicht an sie erinnern, und Daphne war noch nicht mal geboren.“

Lili holte den nächsten Stapel Plastikdosen vom Tisch. Auf der verzweifelten Suche nach einem anderen Gesprächsthema deutete sie mit dem Kopf zu den Pinselstrichen an der Wand. „Mir gefällt die zweite von rechts am besten. Und dir?“

„Ach, die sind noch von damals, bevor Mom krank wurde. Dad hatte keine Zeit, sie zu übermalen.“

„Wieso nehmt ihr nicht eine von den neuen Farben?“

„Mir gefällt es so, wie es jetzt ist. Ich finde das Rot sehr schön.“

Kapiert. Lili verstaute die Hotdogs, die vermutlich niemand essen würde. Ed gab wieder ein Geräusch von sich, als wolle er ihr mitteilen, dass er in dieser Hinsicht gern aushelfen wollte. Schmollend schlich er davon, nachdem Lili den Kühlschrank geschlossen hatte. „Na ja, eine neue Farbe wäre wohl gewöhnungsbedürftig. Aber manchmal macht es Spaß, die Dinge zu ändern. Findest du nicht?“

„Nicht wirklich.“ Claires Miene verriet, dass sie nicht verstehen konnte, wie Leute auf so verrückte Ideen kamen. Sie schob sich die Brille höher. „Stacey sagt, dass du auch aus Ungarn kommst.“

„Stacey? Ach ja, Rudys Tochter.“ Lili trat an den Tisch, an dem sie einen Sommer lang Erdnussbutter-Bananensandwiches gegessen hatte, strich die Tüten flach und legte sie zu übertrieben ordentlichen kleinen Quadraten zusammen. „Das stimmt.“

„Du redest aber nicht wie Tante Magda.“

„Weil ich schon seit meiner frühesten Kindheit englisch spreche, während meine Tante es erst gelernt hat, als sie längst erwachsen war.“

„Und wie lange bleibst du diesmal?“

Die Worte hallten durch den großen Raum wie eine Peitsche, die ein tief verletztes Kind schwingt, das total verunsichert in einer zerbrechlichen neuen Welt herumirrt.

„Ein paar Wochen. Ich bin nur zu Besuch.“

„Hast du einen Freund zu Hause?“

Lili unterdrückte ein Lächeln. „Nein. Weder dort noch sonst wo.“ Sie konnte die Angst hinter der Frage nachempfinden. In den Augen eines Kindes, das kürzlich ein Elternteil verloren hatte, stellte sie eine ernste Bedrohung dar. Die Vorstellung, die verlorene Mutter könnte ersetzt werden, war wesentlich verhasster als die Leere, die durch den Verlust entstanden war. „Dein Vater und ich sind alte Freunde“, erklärte sie sanft. „Eigentlich nicht mal das, weil wir uns sehr lange nicht gesehen oder gesprochen haben.“

„Ihr seid außerdem Cousins, oder?“

„Nur angeheiratet, nicht blutsverwandt. Aber Cousins können auch miteinander befreundet sein.“

„Zehn Seiten“, sagte Tony von der Tür her, „und dann ist sie eingeschlafen.“ Er blickte zwischen den beiden hin und her. „Was ist los?“

Claire stieß sich vom Schrank ab. „Nichts. Ich gehe etwas lesen, wenn das okay ist.“

„Sicher, Liebes.“ Er blickte ihr nach und wandte sich an Lili. „Habe ich etwas verpasst?“

„Nur den grellen Scheinwerfer und den Einwegspiegel.“

„Oh. Sie hat dich also ins Kreuzverhör genommen, wie?“

„Meine mitgebrachten Essensreste haben offensichtlich Alarmglocken zum Schrillen gebracht.“

„Diese Alarmglocken haben sehr sensible Auslöser. In letzter Zeit schrillen sie ständig. Ich denke, es ist ein Schutzmechanismus.“

„Das denke ich auch. Sie erinnert mich sehr an mich selbst. Nach dem Tod meines Vaters war ich genauso misstrauisch.“

„So kam es mir gar nicht vor. Sicher, du warst irgendwie reserviert, als du hier angekommen bist. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass du ständig auf der Hut bist.“

Weil du mir nie das Gefühl gegeben hast, dass ich mich vor dir hüten müsste. „Zu dem Zeitpunkt war ich schon halbwegs darüber hinweg.“ Sie deutete zu den Wandfarben. „Anscheinend scheut sie Veränderungen.“

„Das ist reichlich untertrieben. Ich dränge sie ständig, sich einen neuen Farbton auszusuchen. Sie liegt mir in den Ohren, dass ich es mit der alten Farbe überstreichen soll. So geht das schon seit Monaten.“

„Hat ihre Mutter die Farben ausgesucht?“

„Ja. Deswegen dachte ich auch, dass ein neuer Anstrich helfen könnte. Dass es Marissas Geist lebendig hält oder so.“ Er räusperte sich. Sein Gesicht wirkte angespannt. „Das zeigt nur, wie wenig Ahnung ich habe.“

„Lass ihr Zeit. Und dir selbst auch.“ Lili griff zu den übertrieben ordentlich gefalteten Plastiktüten. „Ich sollte jetzt lieber gehen.“ Sie wandte sich zur Tür um und zuckte zusammen, als Tony sie am Arm nahm.

„Du hast damals verhindert, dass ich durchdrehe. Ich weiß nicht, ob ich es dir je gesagt habe, aber so war es.“

„Und jetzt ist die Gelegenheit günstig, damit ich mich bei dir revanchieren kann?“

Er zog die Brauen zusammen. „Ach, darum ging es?“

„Willst du damit fragen, ob es eine lästige Pflicht für mich war, dir Gesellschaft zu leisten? Natürlich nicht. Schließlich hast du mir auch durch eine schwierige Phase geholfen.“

Tony schien sich etwas zu entspannen. „Obwohl es dir nicht viel Spaß gemacht haben kann. Ich war eine Nervensäge, wenn ich mich recht erinnere.“

„Von meinen Brüdern war ich Schlimmeres gewohnt.“ Sie überlegte. Sollte sie jetzt wie eine verängstigte Maus davonhuschen? Aber Tony hatte ihr in jenem Sommer über ihren schlimmsten Kummer hinweggeholfen, und sie mochte ihm jetzt nicht den Rücken kehren. Schließlich wollte sie noch drei Wochen bleiben. Da konnte sie sich genauso gut nützlich machen. „Du warst ein guter Zuhörer. Damals, meine ich.“

„Ich hatte ja keine andere Wahl. Mit dem Bein in Gips.“

„Doch, du hattest eine Wahl. Ich meine es ernst. Wenn du jemanden zum Reden brauchst, revanchiere ich mich gern.“

„Du hast bestimmt etwas Besseres zu tun, als einem Typen zuzuhören, der über sein versautes Leben jammert.“

„Das hängt von dem Typen ab“, konterte sie spontan und bereute es sofort.

Tonys Augen wurden dunkler, bevor er sich abwandte. Er sah in den Kühlschrank. „Das wäre heute ein Festtag für die Katastrophenhilfe.“ Er schloss die Tür, lehnte sich dagegen und runzelte nachdenklich die Stirn. „Hast du auch manchmal das Gefühl, dass du Sand schaufelst? Dass das Loch immer wieder zufällt, egal, wie schnell du gräbst?“

Vor fünfzehn Jahren hatte Lili selbst erfahren, welche Verzweiflung der vorzeitige Tod eines Elternteils einer Familie bereitet. Nun brachte der gequälte Ausdruck in Tonys Augen die Erinnerungen zurück. Doch sie spürte, dass er eher Ablenkung als Trost suchte. Anstatt Mitgefühl auszudrücken, konzentrierte sie sich daher auf praktische Aspekte. „Hast du eigentlich eine Haushaltshilfe?“

„Vom Gehalt eines Sportlehrers? Das kann ich mir nicht leisten. Aber ich komme auch so zurecht, und die Mädchen verbringen jedes Wochenende bei Marissas Eltern. Dann kann ich aufräumen und putzen, ohne alle zwei Sekunden gestört zu werden.“ Schuldbewusst und erleichtert zugleich fügte er hinzu: „Susan und Lou holen sie übrigens morgen nach der Kirche ab und bringen sie Montag zurück.“

„Du räumst auf?“ Sie lächelte in Erinnerungen an die damaligen Klagen von Rhea Vaccaro über ihren faulen Sohn und all das eklige Getier, das in seinem Zimmer wuchs und gedieh.

„Da sich der Haushalt nicht von allein macht, ja.“ Er rieb sich den Nacken. „Allerdings habe ich mich in den ersten Wochen nach der Beerdigung überhaupt nicht ausgekannt. Den Kindern habe ich auch alles durchgehen lassen. Claire hat praktisch das Regiment übernommen, bis ihr armseliger Vater erkannt hat, dass er sich nicht ewig in eine Ecke verkriechen und den Rest der Welt ignorieren kann.“ Er ging zur Spüle und füllte ein Glas mit Wasser. „Aber ich hatte keine Ahnung, wie anstrengend es ist, sich um drei Kinder zu kümmern.“ Er drehte sich zu Lili um. „Versteh mich nicht falsch. Vor Marissas Tod habe ich natürlich mitgeholfen. Ich habe Windeln gewechselt und manchmal eingekauft und Wäsche zusammengelegt. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was Marissa Tag für Tag geleistet hat.“

„Du hattest doch auch noch deine Arbeit, oder?“

Er verzog das Gesicht. „Eine Horde Teenager über ein Spielfeld treiben und Körbe werfen lassen, ist lange nicht so anstrengend wie drei Kinder und ein Haus in Schuss zu halten.“ Er starrte blind auf irgendeinen Punkt über Lilis Schulter und trank einen großen Schluck Wasser. „Ich war in meinem ganzen Leben noch nie so müde.“

„Daddy?“ Josie tapste in kurzärmligem Schlafanzug, mit zerzausten Haaren und einem seltsamen langbeinigen Plüschvogel unter einem Arm in die Küche.

Tony hob sie hoch. „Wieso bist du denn auf?“

„Ich habe Durst.“ Sie gähnte. „Es ist so heiß.“

„Ja, ich weiß.“ Er balancierte sie auf der Hüfte, während er sein Glas auffüllte. „Daddy muss endlich die Klimaanlage reparieren, stimmt’s?“

Sie nickte ernst und trank einen Schluck Wasser. Dann lehnte sie sich mit dem Daumen im Mund an Tonys Schulter und war keine Sekunde später eingeschlafen.

Lili lächelte. „Sie ist entzückend“, flüsterte sie und versuchte gar nicht erst, die ausgeprägten Muttergefühle zu unterdrücken, die in ihr aufstiegen.

„Aber auch nur, wenn sie schläft“, flüsterte er sanft. Er rückte zur Tür. „Tja, ich muss sie wieder ins Bett bringen.“

„Natürlich. Ich bin sowieso schon zu lange hier.“ Sie folgte Vater und Tochter aus der Küche. „Geh nur nach oben. Ich finde allein hinaus.“

An der Haustür drehte Lili sich noch einmal um und stellte fest, dass Tony sie von der Treppe aus beobachtete. Bei seinem eindringlichen Blick bekam sie Schmetterlinge im Bauch. Was auch immer zwischen ihnen vorgehen mochte, er sah sie ganz gewiss nicht mehr so unschuldig an wie in jenem Sommer.

4. KAPITEL

Kurz nach Mittag am nächsten Tag stand Lili erneut vor Tonys Haustür, diesmal mit einem Mopp und einem Eimer voller Reinigungsmittel.

„Oh Gott, bitte nicht!“, flehte er, als Ed seinen typischen Freudentanz aufführte, doch schon breitete sich eine Lache auf dem Boden aus.

Seelenruhig griff Lili in den Eimer und reichte Tony eine Rolle Küchenkrepp. Er hockte sich hin, um die Pfütze zu beseitigen, und ignorierte Ed, der ihn schuldbewusst mit der Schnauze anstieß. „Hat Magda dich wieder geschickt?“

„Nein. Diesmal war es meine eigene Idee. Ich bin gestern Abend darauf gekommen.“

Tony stand auf. Dabei bemerkte er, dass sie verdammt kurze Shorts trug. Für einen Moment lang vergaß er, dass sein Leben – abgesehen von den Kindern – die reine Hölle war. Dann zwang er sich, ihr ins ungeschminkte Gesicht zu sehen. „Worauf bist du gestern Abend gekommen?“

„Dass ich dir beim Putzen helfen kann, solange ich hier bin. Ich nehme an, die Kinder sind weg?“

„Ja, aber …“

„Gut.“ Sie zwängte sich an ihm vorbei. Ihr Pferdeschwanz wippte, während sie in die Küche eilte. Ed folgte ihr auf den Fersen.

Einer von beiden verströmte einen blumigen Duft. Höchstwahrscheinlich war es nicht der Hund. Tonys Blick klebte förmlich auf der glatten hellen Haut unterhalb dieser äußerst kurzen Shorts. „Was soll das?“, rief er ihr verwirrt nach. „Willst du mein persönliches Heinzelmännchen spielen?“

„Ich putze gern.“ Lili verschwand in der Küche. Eine Sekunde später rief sie enttäuscht: „Du hast ja schon ohne mich angefangen!“

Er ging ihr bis zur Küchentür nach und verschränkte die Arme vor dem weiten T-Shirt, das über der uralten Trainingshose hing, die eigentlich niemand sehen durfte, der nicht denselben Nachnamen trug. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass du kommst. Aber keine Angst, ich bin noch nicht im Badezimmer gewesen.“

Ihr Gesicht erhellte sich. Ihre Augen funkelten so klar und blau wie das Wasser in der Werbung für tropische Paradiesurlaube. „Wundervoll!“

„Das war doch bloß ein Scherz“, erklärte er.

Doch sie war bereits fort, mit Mopp und Eimer in der Hand. Tony folgte ihr die Treppe hinauf, nahm zwei Stufen auf einmal und stolperte beinahe über den dummen Hund. Ihre Beine waren nicht nur hübsch anzusehen, sie bewegten sich auch mit Lichtgeschwindigkeit. „Jetzt mal im Ernst. Ich kann nicht zulassen, dass du …“

„Oh je! Hast du den Hund in dieser Wanne gewaschen?“

Ed sah tief gekränkt zu Tony auf.

„Nein. Ich habe nur Daphne gebadet.“

„Wie kann ein kleines Mädchen nur so schmutzig werden?“

„Daphne ist eben ein Naturtalent.“

Seufzend griff Lili zu einer Flasche Badreiniger, goss etwas in die Wanne und sank mit einem Putzschwamm in der Hand auf die Knie.

Unwillkürlich starrte er auf ihren Po, der erstaunlich verführerisch war. „Du bist verrückt.“

Während sie schrubbte, summte sie fröhlich vor sich hin.

Fasziniert setzte Tony sich auf den Toilettendeckel und beobachtete Lili.

„Du sollst nicht zugucken, sondern auch putzen.“

Ihr verdammt niedlicher Akzent, ihre hübschen leuchtenden Augen und ihr überaus reizvoller Po – all das wirkte faszinierend und verdrängte sein Selbstmitleid so weit, dass er einen flüchtigen Blick auf einen Silberstreifen am Horizont seiner düsteren kleinen Welt sah. Dann dachte er an Marissas Brief, und schon war der Lichtblick vorbei. „Hast du vergessen, dass ich die Küche bereits fertig habe?“

Sie zuckte die Schultern und drehte den quietschenden alten Wasserhahn auf. „Hast du nicht vielleicht Wäsche zusammenzulegen oder so etwas?“

„Es gibt immer etwas zu tun“, murmelte Tony über das Plätschern des Wassers hinweg.

Lili holte eine andere Flasche aus den Tiefen des Zaubereimers und besprühte Armaturen und Kacheln. Noch ein bisschen Schrubben, noch etwas Powackeln, und alles würde glänzen wie neu.

„Wie hast du das bloß geschafft?“

„Ich habe da so meine Mittel und Wege.“ Sie stieß ihn mit einer Hand an. „Los, beweg dich.“

Er blieb sitzen. „Du wirst nicht meine Toilette putzen.“

„Sei nicht albern. Ich putze schon Toiletten, seit ich sieben war. Also geh mir aus dem Weg.“

Tony gab sich geschlagen und stand auf. Er schickte sich an, den Raum zu verlassen, doch an der Tür drehte er sich noch einmal um. „Danke.“

Sie lächelte ihn an. „Das gefällt mir schon besser.“

Zwei Stunden später beendete Lili die Aufräumungsarbeiten. Sie fand Tony hinter dem Haus, auf Händen und Knien mitten im Gemüsebeet, das von Unkraut überwuchert war. Er attackierte jedes einzelne Büschel wie einen persönlichen Erzfeind.

„Fleißig, fleißig“, bemerkte sie belustigt.

„Es hat in den letzten Wochen viel geregnet, und ich bin nicht zum Jäten gekommen.“ Er richtete sich auf und wischte sich die Stirn mit dem Saum seines T-Shirts ab. Dabei enthüllte er seinen flachen Bauch, an dem der Zahn der Zeit spurlos vorübergegangen war.

„Woher nimmst du bloß so viel Zeit für Muskelaufbau?“

„Das bringt schon allein mein Beruf mit sich, und sooft ich kann, gehe ich joggen, um Stress abzubauen. Ein Kleinkind herumzuschleppen, trägt auch einen Teil dazu bei.“ Er bückte sich wieder und riss ein Büschel Unkraut heraus. „Mich in Form zu halten, gibt mir die Illusion, dass ich alles unter Kontrolle habe, verstehst du?“

Lili setzte sich auf die oberste Stufe der Veranda und schlang die Arme um die angezogenen Knie. „Soll ich dir helfen?“

„Bloß nicht! Du hast schon mehr gearbeitet, als ich hätte zulassen dürfen.“ Er hockte sich auf die Fersen, ließ den Blick über das Gewirr an Grünzeug wandern und schüttelte den Kopf. „Der Garten war nicht meine Idee. Marissa hatte den grünen Daumen, nicht ich. Aber die Kinder wollen ihn unbedingt behalten, also habe ich eingewilligt.“

„Ein Garten macht viel Arbeit.“

„Wem sagst du das!“

„Meine Großmutter hat den Sommer über den ganzen Tag in ihrem geschuftet. Der war allerdings doppelt so groß wie deiner. Helfen dir die Mädchen wenigstens?“

„Ein bisschen. Daphne mehr als Claire. Diese Therapeutin, zu der wir nach Marissas Tod gegangen sind, hat gesagt, dass es wichtig ist, für Kontinuität zu sorgen.“ Tony stand auf und ging zu einer Reihe Tomatenpflanzen, die sich unter dem Gewicht unzähliger reifer Früchte beugten. „Viele Leute nehmen sofort, wenn jemand gestorben ist, große Veränderungen vor. Hausverkauf, Umzug, was auch immer. Aber das ist, als ob man vor dem Kummer wegläuft, anstatt sich damit auseinanderzusetzen und sich mit dem neuen Loch im Leben abzufinden. Für Veränderungen ist später noch Zeit genug.“ Er deutete mit dem Kopf zur Veranda. „Reichst du mir bitte den Korb da hinter dir? Ich hätte schon längst ernten sollen.“

Lili holte den Korb und ging hinunter in den Garten. Die Sonne brannte ihr auf den Kopf. Vorsichtig pflückte sie die prallen Tomaten. „Ich sehe sehr viel Spaghettisoße in deiner Zukunft.“

„Die meisten gebe ich Magda. Marissa hat immer viel eingekocht, aber das liegt mir nicht.“

Verstohlen warf sie einen Blick in sein Gesicht. „Ich hoffe, die Mädchen wissen deine Mühe zu schätzen.“

„Glaubst du, dass ich mich zu sehr ihren Bedürfnissen unterordne?“

„Hallo, Mr. V.!“, schrie jemand von der Straße her. „Ich habe Ihre alte Klapperkiste vor dem Haus gesehen, also weiß ich, dass Sie da sind!“

Tony grinste und rief: „Hollis Miller? Bist du das wirklich?“

Einen Moment später tauchte ein dunkelhäutiges, ebenso grinsendes Gesicht über dem Gartentor auf. „Niemand sonst, Mr. V. Oh, Entschuldigung. Ich wollte nicht stören.“

„Das tust du auch nicht. Komm rüber.“

Autor

Bonnie K Winn
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Tina Leonard
Bestseller-Autorin Tina Leonard hat über 40 Romane geschrieben und stand schon auf den „Waldenbooks" und "Bookscan“ Bestsellerlisten. Geboren auf einem Militärstützpunkt, lebte sie in vielen verschiedenen Staaten, bevor sie schließlich ihren Mann kennenlernte und heiratete. Sie hat eine blühende Fantasie und liebt Ihre Arbeit, bei der sie am liebsten über...
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Karen Templeton
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