Bianca Spezial Band 14

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STADT, LAND ... LIEBE von VICTORIA PADE
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  • Erscheinungstag 24.03.2023
  • Bandnummer 14
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516983
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Victoria Pade, Cheryl St. John, Christine Flynn

BIANCA SPEZIAL BAND 14

1. KAPITEL

„Kommt da etwa gerade jemand die Treppe hoch?“, erkundigte sich Celeste Perry aufgeregt. „Um zehn Uhr abends an einem Sonntag? Das kann doch wohl nicht wahr sein!“

„Keine Angst, ich kümmere mich schon darum. Mach einfach das, was du sowieso gerade machen wolltest.“ Mara Pratt stand auf und reichte der älteren, extrem übergewichtigen Frau die Hand, um sie aus dem Lehnstuhl zu ziehen.

„Wirklich?“

„Natürlich. Dafür bin ich doch auch hier. Um dir lästige Leute vom Hals zu halten.“

Celeste lächelte müde. „Ich weiß wirklich nicht, was ich die letzte Woche ohne dich gemacht hätte.“

„Und ich weiß nicht, was ich die letzten Jahre ohne dich gemacht hätte“, gab Mara zurück.

Celeste umarmte die jüngere Frau herzlich und tippte ihr auf die Nase. „Du hast da noch etwas Mehl vom Plätzchenbacken.“

Lächelnd wischte Mara den Fleck weg. „Mach dich doch schon mal fürs Bett fertig. Du hast einen besonders anstrengenden Tag vor dir, da musst du gut erholt sein. Ich gehe erst mal an die Tür und wimmele diesen Reporter ab, dann schenke ich dir einen Brandy ein, okay?“

Die beleibte Frau nickte und verschwand hinter einer Tür.

Die kleine Wohnung, in der sie lebte, gehörte der Familie Pratt. Bis vor Kurzem hatten die Pratts nicht gewusst, wer die Frau wirklich war, der sie das Apartment seit Jahrzehnten vermieteten und die schon genauso lange in ihrer Reinigung arbeitete: nämlich die berüchtigte Celeste Perry. Stattdessen hatten die Pratts wie alle anderen Bewohner von Northbridge geglaubt, sie hätten es einfach mit einer sehr zurückhaltenden Frau namens Leslie Vance zu tun. Im Jahr 1970 war die Fremde auf einmal hier aufgetaucht.

Ungefähr im gleichen Moment, in dem Celeste ihre Schlafzimmertür schloss, kamen draußen die Schritte zum stehen. Es klopfte.

Mara warf noch einen schnellen Blick in den Spiegel an der Wand, um sicherzugehen, dass sie einigermaßen ordentlich aussah. „Wer ist da?“, rief sie.

„Ich möchte mit Celeste Perry sprechen“, antwortete eine tiefe männliche Stimme.

Das wollte in letzter Zeit jeder. Seit herausgekommen war, dass die vermeintliche Leslie Vance in Wirklichkeit Celeste Perry hieß, stand sie im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Immerhin hatte die ehemalige Pfarrersfrau im Jahr 1960 ihren Mann und zwei Söhne in Northbridge zurückgelassen, um sich mit einem Bankräuber auf und davon zu machen.

„Jetzt weiß ich immer noch nicht, wer Sie sind“, erwiderte Mara und warf einen zweiten Blick in den Spiegel.

Vor einigen Tagen hatte ihr ein Fotograf an der Tür direkt ins Gesicht geblitzt. Das extrem unschmeichelhafte Bild war in allen Zeitungen erschienen. So etwas wollte sie auf keinen Fall noch einmal erleben, also strich sie sich das schulterlange tiefbraune Haar hinter die Ohren und musterte kritisch das dezente Rouge auf ihren hohen Wangenknochen. Am liebsten hätte sie noch schnell etwas Lipgloss aufgetragen. Immerhin waren auf ihrer geraden, schmalen Nase keine Mehlspuren mehr zu sehen, dafür fiel ihr auf, dass die Wimperntusche am linken Auge auf das Unterlid abgefärbt hatte. Schnell rieb sie mit der Fingerkuppe darüber. Mehr konnte sie jetzt nicht tun.

„Ich möchte meinen Namen aber nicht durch ganz Northbridge schreien“, kam es von draußen. Die tiefe Stimme klang angespannt.

Auf keinen Fall wollte Mara den Fremden einfach so hereinlassen. Das würde sie nur tun, wenn sie sicher sein konnte, dass er auf Celestes Seite stand – genau wie sie selbst, ihre Geschwister und die meisten Einwohner der Kleinstadt Northbridge in Montana. Wenn er Celeste aber für eine Zeitung interviewen oder sie sonst wie belästigen wollte, dann würde Mara ihm auf keinen Fall die Tür öffnen.

„Wenn Sie mir nicht sagen, wer Sie sind, mache ich Ihnen auch nicht auf.“

„Celes…“

„Ich bin nicht Celeste“, unterbrach Mara ihn. Er hatte den Namen sehr zögerlich ausgesprochen.

„Wer sind Sie dann?“, wollte er wissen. Das klang gleich viel entschlossener.

„Erst mal will ich wissen, wer Sie sind“, beharrte sie.

„Ich würde gern mit Celeste Perry sprechen“, wiederholte der Mann langsam und deutlich, als hätte Mara ihn bisher nicht richtig verstanden. Etwas lauter fügte er hinzu: „Wenn sie nicht hier ist, wo ist sie dann?“

In der letzten Woche hatte Mara es schon mit einer Menge aufdringlicher Reporter zu tun gehabt, die allesamt ziemlich hartnäckig gewesen waren, manche sogar regelrecht aufdringlich und penetrant. Aber keiner hatte mit einer solchen Selbstverständlichkeit Forderungen gestellt wie der Mann dort draußen. Er trat ja auf, als hätte er einen Anspruch darauf, Celeste zu sehen!

Am liebsten hätte Mara ihm gesagt, er solle einfach wieder verschwinden. Aber wenn er weiter solchen Krach machte, hätten sie bestimmt bald auch noch den Streifenpolizisten auf dem Hals, der dafür sorgen sollte, dass Celeste bis zu ihrem Verhör die Wohnung nicht verließ. Und dann würde die ältere Frau heute Nacht gar keine Ruhe mehr finden.

Also blieb Mara wohl nichts anderes übrig, als dem forschen Fremden ein Stück entgegenzukommen. „Ich heiße Mara Pratt“, erwiderte sie. „Und wer Celeste sehen will, muss erst mal an mir vorbei.“

„Sagten Sie Pratt?“, gab der Mann zurück. „Die Pratts kenne ich. Von früher jedenfalls. Cam und Scott …“

„Meine beiden älteren Brüder. Wenn ich sie anrufe, sind sie in fünf Minuten hier und begleiten Sie wieder die Treppe hinunter. Es sei denn, Sie sagen mir sofort Ihren Namen.“

„Ich heiße Jared Perry.“

Oha, dachte Mara. Jetzt wusste sie ganz genau, wer vor der Haustür stand, obwohl sie den Mann nie richtig kennengelernt hatte. Immerhin war sie erst zwölf Jahre alt gewesen, als er der Stadt den Rücken kehrte. Und da er sechs Jahre älter war als sie, hatten sie kaum etwas miteinander zu tun gehabt.

Trotzdem fiel ihr sofort wieder ein, dass Jared immer als schwarzes Schaf der Familie Perry gegolten hatte. Er hatte Northbridge noch am Tag seines Highschool-Abschlusses verlassen, nachdem er sich bei der Abschlussfeier lautstark und in aller Öffentlichkeit mit seinem Großvater, dem damaligen Pfarrer, gestritten hatte. Seitdem hatte sich Jared nie mehr in Northbridge blicken lassen.

Trotzdem hatte sie mitbekommen, dass er inzwischen als Finanzhai ein Vermögen erworben hatte und dass ihm ein beängstigender Ruf vorauseilte. Wenn es um die Übernahme fremder Unternehmen ging, galt Jared Perry als gnadenlos, knallhart, unerschrocken und unnachgiebig. „Der skrupellose Perry“ hatte die Presse ihn getauft. Wenn er erst mal sein Auge auf ein interessantes Objekt geworfen hatte, konnten ihm die Verantwortlichen eigentlich gleich die Firmenschlüssel in die Hand drücken und sich damit eine Menge Ärger ersparen. Jedenfalls hatte die angesehene Tageszeitung The New York Times das einmal über ihn geschrieben.

Nicht zuletzt aber war Jared Perry der Enkel von Celeste, und der durfte natürlich nicht in dieser eiskalten Januarnacht vor der Wohnungstür seiner Großmutter frieren.

Mara schloss auf und öffnete ihm. Draußen stand ein Mann, der so wirkte, als hätte er es schon mit viel wichtigeren und mutigeren Personen aufgenommen als mit ihr. Er sah aus wie ein richtiger Großunternehmer.

Es fing schon damit an, dass er sehr viel besser angezogen war als alle Reporter, die bisher hier aufgetaucht waren. Er trug einen anthrazitfarbenen Kaschmirmantel, der ihm bis zu den Unterschenkeln reichte und dabei fast verbarg, dass er die ganze Zeit ungeduldig von einem Bein aufs andere trat. Aber auch nur fast.

Mara musste zu dem mindestens eins neunzig großen Mann aufschauen und hatte das Gefühl, dass sie der Blick aus seinen eisblauen Augen durchbohren wollte.

Live sah er noch sehr viel besser aus als in Maras Erinnerung und auf den vielen Zeitungsfotos, die sie von ihm schon gesehen hatte. Trotzdem bestand kein Zweifel daran, dass sie tatsächlich den berühmten Jared Perry vor sich hatte.

„Kommen Sie doch rein.“

Selbstbewusst betrat er das Apartment und ging in das kleine Wohnzimmer.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht sofort reingelassen habe“, sagte Mara. „Sie haben ja keine Ahnung, wie viele Leute hier schon mit Celeste sprechen wollten, und nicht alle wollten ihr dabei etwas Gutes. Außerdem ist es ganz schön spät.“

„Ich bin eben erst in Northbridge angekommen und wollte sofort meine Großmutter sehen“, erklärte er ihr mit ausdrucksloser Stimme.

„Celeste ist müde und hat morgen einen ziemlich harten Tag vor sich …“

„Das weiß ich alles von meinem Bruder Noah. Darum bin ich überhaupt hier. Ich will dafür sorgen, dass sie einen anständigen Verteidiger hat, bevor sie aussagt.“

„Na, ich hoffe, sie hört auf Sie“, bemerkte Mara so leise, dass er es nicht hören konnte. Laut erwiderte sie: „Ich sage ihr Bescheid, dass Sie hier sind. Legen Sie doch inzwischen ab und setzen Sie sich.“

Unter dem teuren Kaschmirmantel trug Jared Perry einen braunen Pullover und eine dunkle Hose, die so perfekt saß, als wäre sie extra für ihn angefertigt worden. Wahrscheinlich war sie das auch.

Celestes Schlafzimmer lag am Ende eines kurzen Flurs. Mara klopfte vorsichtig an die geschlossene Tür.

„Les…“, begann sie und unterbrach sich sofort. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass die Frau, die sie jahrzehntelang als Leslie Vance gekannt hatte, in Wirklichkeit Celeste hieß. Aber da sie jetzt auf ihrem richtigen Namen bestand, hielt sich Mara auch daran. „Celeste“, verbesserte sie sich also. „Dein Enkel Jared ist da.“

„Jared?“ Celeste schien sich über den Besuch genauso zu freuen wie über den ihrer anderen Enkel, die diese Woche schon vorbeigekommen waren. Früher hatte sie ihre Verwandtschaft bloß aus der Ferne beobachtet, jetzt durfte sie endlich mit ihnen sprechen. „Jared ist da?“

„Ja, im Wohnzimmer.“

„Ich komme sofort!“, rief Celeste aufgeregt.

Bevor Mara selbst zurückkehrte, sah sie kurz an sich herunter. Sie trug Jeans und ein schlichtes T-Shirt – also nichts, womit sie Jared beeindrucken konnte, aber daran ließ sich jetzt nichts ändern. Und wozu auch?

Als sie wieder ins Wohnzimmer kam, stand Celestes Besucher immer noch. Er betrachtete die kleine Küchennische, die durch eine halbhohe Wand vom restlichen Raum abgetrennt war. „Celeste kommt gleich“, informierte Mara ihn, als er sie erwartungsvoll ansah.

Er nickte und musterte nun stattdessen sie. Sein durchdringender Blick brachte sie völlig aus dem Konzept – gerade weil sein Gesichtsausdruck nicht verriet, was er sich dabei dachte. Gefiel sie ihm? Oder hielt er sie womöglich für ein Landei?

„Warum setzen Sie sich nicht?“, forderte sie ihn auf, damit er endlich aufhörte, sie anzustarren.

Jared Perry ignorierte ihre Worte einfach. „Mara Pratt“, bemerkte er nachdenklich.

„Ja, so heiße ich.“

„Ich konnte mich nur noch an Cam und Scott erinnern, aber jetzt fällt mir wieder ein, dass es noch mehr von Ihrer Sorte gibt.“

„Ja, Cam und Scott sind die Ältesten, dann kommen Neily und ich, dann die Drillinge – Boone, Taylor und Jon“, erklärte sie.

Er nickte. „Und Sie sind mit … Celeste … befreundet, verstehe ich das richtig?“

Offenbar wusste er selbst nicht so genau, wie er die Frau nennen sollte, die er bisher bloß oberflächlich als Aushilfe in der Reinigung kennengelernt hatte.

„Seit sie wieder in Northbridge ist, arbeitet sie unten bei uns im Laden. Als meine Mutter noch lebte, war sie ihre beste Freundin. Inzwischen habe ich die Reinigung übernommen, und ich verstehe mich auch sehr gut mit Celeste“, erklärte Mara.

„Dann spielen Sie jetzt also ihren Wachhund?“

„Kann man so sagen. Ich leiste ihr Gesellschaft und kümmere mich ein bisschen um sie. Sie soll das nicht alleine durchmachen müssen.“

Erneut nickte Jared. „Das ist wirklich nett von Ihnen.“

„Wir haben Les… ich meine, Celeste … also, wir haben Ihrer Großmutter sehr viel zu verdanken“, meinte Mara. Sein Lob war ihr unangenehm.

In diesem Augenblick kam Celeste ins Zimmer. Sie trug einen pinkfarbenen flauschigen Bademantel. Das rabenschwarze Haar, das sie sonst zu einem festen Knoten geschlungen hatte, fiel ihr bis zur Taille. Ihre Wangen glühten rosig. „Jared!“, rief sie aus und strahlte.

„Hallo“, erwiderte ihr Enkelsohn etwas steif. Ihm war anzusehen, dass er sich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlte. Genau wie die anderen Perrys, die Celeste in den letzten sechs Tagen besucht hatten – seit ihre wahre Identität enthüllt worden war.

„Ich wollte Celeste gerade einen kleinen Schlummertrunk einschenken“, sagte Mara. „Kann ich Ihnen vielleicht auch einen Brandy anbieten?“

„Das wäre nett“, erwiderte Jared.

Mara ging in die Küchennische, um die Flasche zu holen. Sie bezweifelte zwar, dass Jared billigem Weinbrand etwas abgewinnen konnte, aber Celeste lebte nun mal in bescheidenen Verhältnissen. Teure Getränke standen bei ihr nicht im Schrank herum.

„Setz dich“, sagte die ältere Frau zu ihrem Enkel und wies auf das Sofa. Mara überreichte jedem ein kleines Glas. Erschöpft ließ sich Celeste mit ihrem ganzen Körpergewicht in den Lehnstuhl sinken. Endlich nahm auch Jared ihr gegenüber auf dem Sofa Platz, auf dem Mara die letzten Nächte geschlafen hatte.

„Bleib doch bei uns, Mara“, forderte Celeste sie auf. Eigentlich hatte sich Mara gerade wieder zurückziehen wollen, damit Großmutter und Enkel für sich sein konnten.

Allerdings schien sich Celeste wohler zu fühlen, wenn sie dabei war, also setzte sie sich auf einen Polsterschemel, der neben dem Lehnstuhl stand.

Sobald sie Platz genommen hatte, richtete Celeste wieder ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Jared, und Mara folgte ihrem Beispiel. Dieser Mann zog automatisch alle Blicke auf sich. Und während Celeste ihm erzählte, wie sie sein Leben und das der anderen Perrys die letzten Jahrzehnte über von ferne verfolgt hatte, nutzte Mara die Gelegenheit, sich den attraktiven Besucher genauer anzuschauen.

Sein braunes, kurz geschnittenes Haar schimmerte rötlich, wo die Sonne es aufgehellt hatte. Mit seiner fein geschnittenen, geraden Nase und den schmalen, trotzdem sinnlichen Lippen wirkte er wie soeben einem Männermodekatalog entstiegen. Aber sein markantes Kinn verriet, dass sich hinter dem ebenmäßigen Äußeren ein eiserner Wille und eine gehörige Portion Durchsetzungsfähigkeit verbargen. Das Einzige, was nicht zu dem Erscheinungsbild des eleganten und weltläufigen Geschäftsmannes passte, waren die unrasierten Wangen, die ihm etwas Wildes, Ungezügeltes verliehen.

Bei den Augen verweilte Mara länger: Sie waren so hellblau, dass sie fast schon farblos wirkten. Mara konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er die Frauen reihenweise aus dem Konzept brachte, wenn er sie nur intensiv genug ansah.

„Es gibt übrigens einen ganz bestimmten Grund, warum ich so spät noch vorbeikomme, statt damit bis morgen zu warten“, sagte er mit seiner angenehm tiefen Stimme. Obwohl er gar nicht mit Mara gesprochen hatte, wurde ihr sofort warm.

„Ich möchte dir nämlich raten, dir einen wirklich guten Anwalt zu nehmen“, fuhr er fort.

„Ach, das wird wohl nicht nötig sein“, erwiderte Celeste leichthin.

Sofort schaltete sich Mara ein. „Natürlich ist das nötig“, widersprach sie, glücklich über die Gelegenheit, die ältere Frau doch noch umzustimmen. „Ein Pflichtverteidiger reicht einfach nicht. Du wirst morgen vom FBI befragt, außerdem noch von der Bundespolizei und dem Bezirksstaatsanwalt. Und bisher hat dein Pflichtverteidiger gerade mal zehn Minuten mit dir telefoniert.“

„Das macht nichts, ich habe nämlich nichts Schlimmes getan“, beharrte Celeste – wie schon so oft in den letzten Tagen.

„Stimmt“, wandte Jared ein. „Aber du weißt noch nicht, was man morgen alles gegen dich vorbringt. Es kann durchaus sein, dass einige der Tatsachen verdreht werden. Immerhin geht es um einen Banküberfall … und jetzt, wo sie die Leiche des zweiten Verbrechers gefunden haben, vielleicht sogar um Mord. Das würde ich nicht auf die leichte Schulter nehmen.“

Offensichtlich war Jared Perry voll im Bilde. Trotzdem schüttelte Celeste energisch den Kopf. „Ich nehme das nicht auf die leichte Schulter, Jared“, widersprach sie. „Aber ich bin völlig unschuldig.“

„Schön, das kann dann ja deine Anwältin für dich klären. Ich habe dir auch schon jemanden organisiert“, sagte er und fing an, alle Argumente aufzulisten, die für einen professionellen Rechtsbeistand sprachen. So wie er es darstellte, steckte Celeste schlimm in der Klemme – ganz unabhängig davon, ob sie schuldig oder unschuldig war. Dabei ließ Jared kein Horrorszenario aus, sodass Mara bei seiner Schilderung mehrmals zusammenzuckte. Und Celeste, die bis eben noch ganz zuversichtlich gewirkt hatte, war inzwischen leichenblass geworden.

Offenbar entging ihm das nicht. „Tut mir leid, wenn ich eben so deutlich geworden bin, aber als ich von meinen Geschwistern gehört habe, dass du dich mit einem Pflichtverteidiger zufriedengeben willst, musste ich einfach etwas unternehmen. Also bin ich hergekommen, um dir zu sagen, worum es hier geht: Du brauchst nämlich einen wirklich guten Anwalt, sonst kann das ganz böse nach hinten losgehen.“

„Er hat recht“, meldete sich Mara zu Wort. „Das habe ich ja auch schon die ganze Zeit versucht, dir zu erklären.“

Celeste leerte das Brandyglas, an dem sie bisher nur genippt hatte, in einem Zug. Dann blickte sie ausdruckslos auf den Boden. „Ich war wohl etwas naiv“, sagte sie leise. „Wenn ihr euch beide so sicher seid …“

„Am besten, ich kümmere mich sofort darum.“ Blitzschnell zog ihr Enkel ein superflaches Mobiltelefon aus der Hosentasche, als hätte er die ganze Zeit auf genau diesen Moment gewartet.

Mara nahm Celestes Hand und drückte sie. „So ist es wirklich am besten“, versicherte sie ihr. Sie war erleichtert, dass endlich jemand die ältere Frau überzeugt hatte. „Es kann nicht schaden, einen richtig guten Verteidiger zu haben.“

„Aber es wirkt bestimmt verdächtig, wenn ich jetzt auf einmal jemanden engagiere. Obwohl ich den Leuten schon gesagt habe, dass es mir egal ist, wer mich verteidigt, weil ich nichts zu verbergen habe“, sprudelte es aus Celeste heraus.

Offenbar hatte Jared Perry aufmerksam zugehört. Bevor Mara seine Großmutter beruhigen konnte, schaltete er sich ein: „Das wirkt überhaupt nicht verdächtig. Für jemanden in deiner Situation ist das völlig normal.“ Dann begann er in sein Handy zu sprechen.

„Stimmt“, bestätigte Mara, holte die Brandyflasche aus der Küchennische und schenkte Celeste nach. Die leerte das Glas in einem Zug.

Nachdem Jared Perry sein Gespräch beendet hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder seiner Großmutter zu. Dabei wirkte er allerdings sehr nüchtern und geschäftlich – als ginge es um eine Firmenübernahme.

„Jetzt gibt es nur noch ein Problem“, begann er, „ich hatte schon befürchtet, dass es so kommen würde. Das Verhör findet ja morgen statt, aber Stephanie kann erst am Mittwoch herkommen. Wir müssen versuchen, den Termin zu verschieben …“

„Ich will die Sache aber endlich hinter mich bringen!“ Celeste klang beunruhigt.

Mara konnte sich nur zu gut in sie hineinversetzen. Also schaltete sie sich ein, bevor Jared Perry seine Großmutter und ihre Sorgen einfach übergehen konnte. „Du bist dir im Moment ganz sicher, dass du morgen bloß deine Aussage zu machen brauchst, und schon ist alles vorbei. Aber manchmal läuft es eben nicht so, wie man es gern hätte, und dann ist es am besten, besonders vorsichtig zu sein.“

Celeste sah beunruhigt aus. „Können wir die Vernehmung denn überhaupt verschieben?“, erkundigte sie sich bei ihrem Enkelsohn.

„Ich weiß nicht, ob das geht. Aber wir tun, was wir können, damit es klappt. Und dann überlässt du Stephanie die ganze Sache. Sie ist die Beste auf ihrem Gebiet“, sagte er. Es klang ein bisschen stolz, und Mara fragte sich, ob er diese Stephanie nur wegen ihrer Kompetenz so bewunderte.

„Und was soll das alles kosten?“, fragte Celeste.

„Keinen Cent“, beruhigte Jared sie. „Ich kenne die Frau, sie schuldet mir noch einen Gefallen und schreibt dafür keine Rechnung. Und wenn sonst noch Kosten entstehen, komme ich dafür auf.“

Seine Worte machten Mara noch neugieriger, wie genau die Beziehung zwischen dieser Stephanie und Jared Perry aussah. Doch sie verkniff sich ihre Fragen und blickte Celeste an, die zwar bereitwillig nickte, aber immer noch sehr angespannt aussah.

„Und wann erfahren wir, ob das Verhör verschoben werden kann?“, erkundigte sich die ältere Frau vorsichtig.

„Nicht vor morgen früh. Ich rufe dich an, sobald ich Bescheid weiß.“

Celeste nickte und schluckte. „Ich würde jetzt gern ins Bett gehen, wenn ich darf.“

„Auf jeden Fall“, erwiderte Jared. „Du sollst ja morgen gut ausgeschlafen sein.“

Mara half ihr zum zweiten Mal an diesem Abend aus dem Lehnstuhl. „Ruh dich erst mal aus.“

Celeste nickte. Sie ging zu ihrem Enkel und nahm seine Hand zwischen ihre. „Danke dafür, dass du extra angereist bist. Und dass du mir helfen willst.“

„Ich will dir nicht nur helfen, ich tue es auch, darauf kannst du dich verlassen.“

Nachdem sie Mara und Jared eine gute Nacht gewünscht hatte, verschwand sie und ließ die beiden allein.

Erst als die Schlafzimmertür ins Schloss gefallen war, wandte Mara sich an Jared Perry. Sie seufzte. „Ich hatte auch schon versucht, Celeste zu einem Anwalt zu überreden. Aber es hat nicht geklappt, ich wollte ihr nämlich keine Angst machen.“

Jared hob die Augenbrauen. „Sie finden also, dass ich zu hart zu ihr war.“

„Na ja, ich selbst hätte das nicht übers Herz gebracht, außerdem hätten Sie ruhig etwas vorsichtiger …“

„Tja, ich bin eben jemand, der tut, was getan werden muss“, erwiderte er, während er sich den Mantel überzog. „Auch wenn es unangenehm ist und niemand sonst sich traut. Allerdings erreiche ich damit auch ziemlich viel.“

Die Presse hatte ihn wohl nicht umsonst „den skrupellosen Perry“ getauft. Auf einmal war Mara sich überhaupt nicht mehr sicher, ob das, was er getan hatte, wirklich so gut war. Er hatte die arme Celeste ja völlig eingeschüchtert!

„Es ist doch wirklich besser für Celeste, wenn sie eine Profianwältin an ihrer Seite hat, oder?“, hakte Mara unsicher nach.

„Davon hat sie mehr als von einem überarbeiteten, unterbezahlten und desinteressierten Pflichtverteidiger, das können Sie mir glauben. Sehr viel mehr.“

„Und diese Anwältin, die Sie mit der Sache beauftragt haben … steht die auch hundertprozentig auf Celestes Seite?“

Jared schien sie mit einem Blick aus seinen eisblauen Augen durchbohren zu wollen. „Sie trauen mir wohl nicht über den Weg, was?“

Mara wusste, dass er daran dachte, wie lange sie gebraucht hatte, ihm überhaupt die Tür zu öffnen. „Na ja, ich kenne Sie ja kaum. Und Sie kennen Celeste kaum. Aber ich kann doch davon ausgehen, dass Sie nicht bloß so tun, als wollten Sie ihr helfen, bloß um sie dann zu verletzen. Oder?“

Er verzog die Mundwinkel. „Und warum sollte ich das tun?“

„Anscheinend glauben einige Leute, dass Celeste an dem Banküberfall damals beteiligt war und vielleicht sogar den Komplizen ihres Geliebten auf dem Gewissen hat.“

„Kann sein, aber ich denke das nicht.“

„Vielleicht wollen Sie sich an ihr rächen, weil sie Ihren Großvater damals einfach verlassen hat. Und Ihren Vater auch. Weil sie nicht als Großmutter für Sie da war, als Sie noch klein waren.“

Jetzt lächelte Jared breit. „Eigentlich habe ich immer geglaubt, dass meine Großmutter und ich seelenverwandt sein müssten“, sagte er. „Und ich habe überhaupt kein Bedürfnis, mich an ihr zu rächen. Ich bin wirklich bloß hier, weil ich ihr helfen will.“

Das konnte natürlich jeder behaupten, nachprüfen konnte Mara es nicht. Immerhin hatte Jared Perry das erreicht, was sie selbst die ganze Zeit vergeblich versucht hatte: Er hatte Celeste dazu gebracht, sich eine kompetente Anwältin zu nehmen. Jetzt konnte Mara nur noch hoffen, dass alles gut ausging.

Sie hob den Kopf, um dem großen und überwältigend selbstsicheren Mann ins Gesicht zu sehen. „Wenn Sie mich anlügen und auch nur irgendetwas tun, das Celeste schaden könnte …“

Diese Drohung fand Jared offenbar besonders amüsant. Seine Augen funkelten, und unter ganz anderen Umständen hätte Mara die Lachfältchen in seinem Gesicht ungemein sexy gefunden.

„Ja, was passiert dann?“, hakte er nach.

Dummerweise hatte Mara sich vorher nicht überlegt, womit sie ihn einschüchtern könnte. „Ich möchte Ihnen bloß raten, mich nicht anzulügen“, sagte sie einfach.

„Ich an Ihrer Stelle würde aufpassen, mit wem ich mich anlege.“

„Passen Sie lieber selbst auf, sonst werden Sie sich noch umgucken.“ Die Worte waren Mara einfach so rausgerutscht, und sie war überrascht, wie bestimmt ihre Stimme dabei geklungen hatte.

Eine ganze Weile lang sahen sie sich fest in die Augen.

Bis Jared plötzlich blinzeln musste – und anfing zu lachen. „Keine Angst, ich will Ihrem Schützling wirklich nur helfen“, sagte er und ging zur Wohnungstür. „Ich melde mich morgen“, fügte er noch hinzu, dann war er auch schon draußen.

Mara atmete tief durch. Die Begegnung mit Jared Perry hatte sie ganz schön aufgewühlt … Aber zu ihrer Überraschung fand sie dieses Gefühl keineswegs unangenehm. Überhaupt nicht.

2. KAPITEL

Am Montagmorgen stand Jared Perry schon um fünf Uhr auf, um wenige Minuten später seinen Assistenten in New York anzurufen, wo es gerade kurz nach sieben war. Das bedeutete, dass er Lloyd zu Hause am Apparat hatte, aber das machte nichts. Lloyd war es gewohnt, dass sich Jared bei ihm zu den unmöglichsten Zeiten meldete.

Nachdem er seinen Assistenten zu der neuesten Firmenübernahme befragt und ihm ein paar Anweisungen gegeben hatte, duschte er, rasierte sich und erledigte etwas Büroarbeit. Als es halb neun war, konnte er endlich Stephanie anrufen und sie fragen, ob sie Celestes Termin hatte verschieben können.

Leider hatte sie keine guten Neuigkeiten für ihn. Da Celeste schon ihren Pflichtverteidiger hatte, wurde sie aus Sicht der Behörden angemessen vertreten, und es bestand kein Grund, warum man ihr Verhör noch weiter verschieben sollte. Wenn Celeste es sich in letzter Minute anders überlegt und nun doch Stephanie engagiert hatte, dann war das ihr Problem. Immerhin würde der Bezirksstaatsanwalt extra ihretwegen nach Northbridge anreisen.

„Dann lässt sich daran also nicht rütteln?“, hakte Jared nach. „Das Verhör findet ohne dich statt?“

„Na ja, ich habe inzwischen auch mit dem Pflichtverteidiger gesprochen, ich unterstütze ihn per Konferenzschaltung“, sagte Stephanie. „Es tut mir wirklich leid, Jared, aber mehr konnte ich nicht tun. Ich verteidige heute und morgen jemanden, dem möglicherweise die Todesstrafe droht, da kann ich unmöglich früher abreisen.“

„Aber wenn du nicht hier bist, um Celeste Anweisungen zu geben, sagt sie vielleicht etwas Falsches. Darüber mache ich mir wirklich Sorgen.“

„Ich rufe sie in einer Stunde an und rede mit ihr. Aber heute soll sie sowieso nur die Geschichte von damals aus ihrer Sicht erzählen. Natürlich wird sie auch befragt, aber dabei geht es bloß um reine Fakten. Das FBI, die Polizei von Montana und der Bezirksstaatsanwalt wollen erst mal Informationen sammeln. Damit ziehen sie sich eine Weile zurück und vergleichen alles mit den Indizien, die ihnen schon vorliegen. Und dann wird man weitersehen. Sobald ich hier fertig bin, komme ich nach Montana und kümmere mich um alles Weitere.“

Es war wohl völlig überflüssig, Stephanie danach zu fragen, ob sie auch wirklich nichts unversucht gelassen hatte, das wusste Jared. Also bedankte er sich nun aufrichtig bei ihr.

„Ach, du weißt doch, dass ich alles für dich tun würde, auch wenn du manchmal ein ganz schön knallharter Mistkerl bist“, erwiderte die Strafverteidigerin warmherzig.

Jared lachte leise und verabschiedete sich. „Bis übermorgen dann.“

Als Nächstes musste er seiner Großmutter mitteilen, dass das Verhör wie geplant stattfinden würde.

Gedankenverloren betrachtete er sein Handy. Wer wohl gleich ans Telefon gehen würde? War Mara Pratt vorübergehend zu Celeste gezogen oder gestern bloß so lange bei ihr geblieben, bis sie schlafen gegangen war? Und falls sie anderswo übernachtete: War sie schon wieder bei seiner Großmutter?

Wenn ja, dann würde sie wahrscheinlich den Hörer abnehmen – zu Celestes Schutz. Seltsamerweise gefiel Jared die Vorstellung, möglicherweise gleich mit Mara Pratt zu telefonieren.

Früher hätte er sie auf seine etwas überhebliche Art als „ganz normale Durchschnittsfrau“ abgetan. Frauen wie sie verband er mit seiner Heimatstadt Northbridge: nett, bodenständig, rechtschaffen. Während seiner Jugend hier hatte er sich immer nach dem genauen Gegenteil gesehnt. Und als Erwachsener hatte er diese Träume schließlich verwirklicht und sich an große, langbeinige, sinnliche Blondinen gehalten: weltgewandte, gebildete Frauen mit Geld. Frauen wie Stephanie.

Aber obwohl Mara überhaupt nichts mit Stephanie oder ihresgleichen gemeinsam hatte, sprach sie etwas in ihm an. Das hatte er nicht gleich auf Anhieb bemerkt, sondern eher nach und nach.

Zuerst waren ihm ihre unglaublich dunkelblauen Augen aufgefallen … und dann ihr Haar, das die gleiche Farbe hatte wie Schokolade und dabei so seidig glänzte, dass er am liebsten mit den Fingern hindurchgefahren wäre. Kurz nachdem er einen Schluck von dem schlechtesten Brandy seines Lebens getrunken hatte, war sein Blick an ihrer seidigen Haut hängen geblieben. Schließlich war ihm bewusst geworden, was für einen wunderschönen sinnlichen Mund sie hatte.

Und während sie seiner extrem übergewichtigen Großmutter aus dem Lehnstuhl geholfen hatte, hatte er Maras festen Körper betrachtet, die schmale Taille, die sanften Rundungen. Wahrscheinlich würde sie in einem New Yorker Nobelrestaurant keine weiteren Blicke auf sich ziehen, aber Jared hatte sie den ganzen Abend lang anschauen müssen.

Mit ihrer natürlichen Schönheit hatte Mara Pratt ihn viel mehr fasziniert als alle extravaganten, perfekt gestylten Frauen zusammen, mit denen er sonst zu tun hatte.

Darum saß er jetzt im Arbeitszimmer seines Elternhauses am Schreibtisch und konnte einfach nicht aufhören, an sie zu denken, obwohl er eigentlich so viele andere Dinge erledigen musste.

Mara Pratt.

Cam und Scott Pratts kleine Schwester.

Na, so was …

Auf einmal war er wie verzaubert von einer Frau, die er früher keines zweiten Blickes gewürdigt hätte. Und das ausgerechnet jetzt, wo er geglaubt hatte, dass ihn nichts und niemand mehr berühren konnte.

Eigentlich war er nach Northbridge gekommen, um seine Großmutter kennenzulernen, über die er schon so viel nachgedacht hatte … und natürlich, um ihr zu helfen. Er war sich sicher gewesen, dass er sich nach kurzer Zeit in seiner verhassten Geburtsstadt nach seinem eigentlichen Leben zurücksehnen würde. Damit, dass ihm hier in Northbridge irgendetwas oder irgendjemand gefallen könnte, hatte er wirklich nicht gerechnet.

Was ist bloß auf einmal mit mir los, bin ich etwa urlaubsreif? fragte er sich. Vielleicht sollte er einfach mal ein paar Monate lang durch Europa reisen. Oder sich auf Tahiti oder den Bahamas am Strand entspannen. Oder alles zusammen. Vielleicht würde er das sogar tun, wenn diese ganze Angelegenheit erst vorbei war. Einfach bloß rumliegen und schlafen und viel zu viel essen und trinken. Frauen kennenlernen, die ihn auf andere Gedanken bringen würden … bis er nicht mehr wusste, was ihn an diesem Kleinstadtmädchen so sehr faszinierte.

Jared schloss die Augen und schüttelte dann den Kopf, um Maras Bild aus seinem Kopf zu vertreiben. Trotzdem stand ihm immer noch der Anruf bei Celeste bevor, also hatte er Mara wahrscheinlich gleich am Telefon. Und später würde sie wohl mit zum Verhör kommen – genau wie er.

Die Vorstellung gefiel ihm verdächtig gut.

Erst klopfte es an der Tür, dann klingelte das Telefon.

„Das ist wahrscheinlich die Anwältin, sie wollte sich ja noch mal melden.“ Celeste wies mit dem Kopf zum Telefon und arbeitete sich mühevoll aus dem Sessel hoch. „Und draußen steht bestimmt Jared.“

Mara versuchte sich einzureden, dass ihr Herz deswegen raste, weil das Klopfen sie so erschreckt hatte. Nicht etwa wegen Celestes Enkel.

„Ich gehe nebenan ans Telefon, du kannst ja schon mal Jared reinlassen“, sagte Celeste und verschwand in Richtung Schlafzimmer.

Sicherlich hatte Jared sie schon durch das Fenster neben der Wohnungstür entdeckt, sodass sie nicht erst warten konnte, bis sie sich wieder beruhigt hatte: Sie musste ihm sofort öffnen.

Es fiel ihr nicht leicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Frisch rasiert sah er noch tausendmal besser aus, als sie ihn von gestern in Erinnerung hatte.

Automatisch murmelte sie eine Begrüßung, dann trat sie schnell einen Schritt zur Seite, um ihn in die Wohnung zu lassen. Er trug wieder denselben Mantel wie gestern, hatte ihn aber nicht zugeknöpft. Darunter hatte er eine braune Hose und ein weißes, perfekt gebügeltes Hemd an … und sah umwerfend aus. Man erkannte sofort, dass er nicht in Northbridge wohnte.

„Hat es einen tieferen Sinn, dass Sie die Tür nicht schließen?“

Seine Frage holte Mara wieder in die Wirklichkeit zurück. Auf einmal wurde ihr klar, dass sie immer noch dastand und die Tür aufhielt. Und dass sie die ganze Zeit vergessen hatte zu atmen.

Sie holte tief Luft und ließ die Tür zufallen, während er den Mantel auszog.

Mara nahm ihm das wunderbar weiche Kleidungsstück ab, das wahrscheinlich mehr gekostet hatte als ihre gesamte Garderobe, und hängte ihn an einen Haken im Flur. Dabei stieg ihr ein ganz leichter Zitrusduft in die Nase – wahrscheinlich sein Rasierwasser. Am liebsten hätte sie ihr Gesicht in dem schweren Gewebe vergraben, um den Geruch tief einzuatmen.

„Celeste ist im Schlafzimmer und telefoniert“, erklärte sie ihm. „Diese Anwältin hat heute Morgen schon angerufen. Sie meinte, sie würde vor dem Verhör noch mal mit ihr sprechen und alles ganz genau durchgehen. Wahrscheinlich tun sie das gerade.“

„Sie heißt übrigens Stephanie. Die Anwältin, meine ich.“

Sofort musste Mara wieder daran denken, wie vertraut es geklungen hatte, als er mit ihr telefoniert hatte. Wie die beiden wohl zueinander standen? Und hatte es nicht eben geradezu besitzergreifend geklungen, als er ihren Namen gesagt hatte? Allmählich wurde Mara die Frau unsympathisch – obwohl sie sie noch überhaupt nicht kannte.

„Ist diese … Stephanie … eine Freundin von Ihnen?“ Die Frage war Mara einfach so rausgerutscht.

„Ja.“

„Eine besondere Freundin?“

Jared sah Mara direkt in die Augen und zog dann eine Braue hoch. „Ja, Stephanie ist eine langjährige Freundin von mir.“

Damit war sie keineswegs schlauer. Obwohl sie genau wusste, dass es sie nichts anging, konnte sie das Thema nicht ruhen lassen. „Eine langjährige Freundin, die Ihnen noch etwas schuldig ist, deswegen übernimmt sie Celestes Fall“, erinnerte sie sich laut.

„Ganz genau“, bestätigte er. „Machen Sie sich etwa schon wieder Sorgen, dass wir meiner Großmutter etwas Böses wollen? Dass Stephanie nicht ehrlich arbeitet, weil sie mit mir befreundet ist? Sondern mich bei meinen finsteren Machenschaften unterstützt?“

Mara zuckte mit den Schultern. Insgeheim war sie erleichtert: Offenbar hatte Jared nicht gemerkt, dass sie vielmehr an der Rolle interessiert war, die Stephanie in seinem Leben spielte. „Ich frage ja nur.“

„Sie können alles fragen, was Sie wollen. In New York ist Stephanie eine der Besten auf ihrem Gebiet, sie wird oft über die Grenzen des Bundesstaats hinaus engagiert. Darum hat sie auch für viele andere Staaten die Zulassung als Anwältin, unter anderem für Montana. Wenn wir nicht befreundet wären, würde sie sich mit Celestes Fall gar nicht abgeben. Also hat Celeste nur Vorteile von unserer Freundschaft, keine Nachteile.“

Freundschaft. Schon wieder dieses Wort! Waren sie wirklich nur Freunde? Oder steckte mehr dahinter?

„Hat Stephanie heute etwas am Telefon gesagt, das Sie misstrauisch gemacht hat?“, erkundigte sich Jared.

„Nein“, erwiderte Mara schnell. „Sie hat morgens lange mit Celeste telefoniert, danach war Ihre Großmutter sehr viel ruhiger als vorher. Außerdem hat die Anwältin gesagt, dass ich beim Verhör dabei sein darf – und Sie natürlich auch, das hatten Sie ja so geplant. Diese Anw… also, Stephanie besteht darauf, dass Celeste einfach als Zeugin zu einem Verbrechen befragt wird, das schon sehr lange zurückliegt. Nicht als Verdächtige.“

„Das gefällt mir … Celeste einfach als Zeugin zu sehen“, sagte Jared. Er klang beeindruckt.

Schlagartig wurde Mara klar, dass Jared und Stephanie einer ganz anderen Welt angehörten als sie – ganz egal, ob sie eine Beziehung hatten oder nicht. Aber jemand wie Jared würde sich nie von einer Frau beeindrucken lassen, die eine einfache kleine Reinigung betrieb. Das musste sie sich vor Augen führen, wenn ihr sein Rasierwasser mal wieder zu Kopfe stieg.

„Da parkt gerade jemand vor dem Haus“, sagte Jared und wies mit dem Kinn in Richtung Wohnungstür.

Mara stellte sich an das Fenster, von dem aus sie schon den ganzen Tag die Straße beobachtet hatte. Auf einmal stand dort ein Geländewagen, der der Polizei von Northbridge gehörte, und dahinter parkte eine schlichte schwarze Limousine.

„Ich glaube, es geht gleich los“, bemerkte Mara mit einem Blick auf die Leute, die gerade aus den Wagen stiegen. Einer davon war ihr Bruder. „Cam ist …“

„Ja, ich weiß“, sagte Jared. „Ihr Bruder ist doch bei der Polizei und hat mit den Ermittlungen zu tun. Ich habe heute schon mit ihm gesprochen, als ich den Termin verschieben wollte.“

In diesem Moment kam Celeste aus dem Schlafzimmer. Sie hielt Jared das schnurlose Telefon hin. „Stephanie möchte dich noch mal sprechen“, erklärte sie anstelle einer Begrüßung.

Er nahm das Telefon mit in die Küche.

Maras Blick folgte ihm. Was die beiden sich wohl zu sagen hatten? Und ob es dabei nur um den Fall ging? Oder erzählten sie sich womöglich gerade, dass sie es gar nicht erwarten konnten, sich wiederzusehen?

Eigentlich kann mir das ja egal sein.

Jared Perry hielt sich zwar im Moment in Northbridge auf, würde aber bald schon wieder das Weite suchen. Für immer. Er spielte keine Rolle in ihrem Leben, und was er mit der Anwältin Stephanie zu tun hatte, ging sie gar nichts an.

„Jetzt geht’s los“, flüsterte Celeste ihr zu.

Mara riss den Blick von dem Mann in der Küche los, um wieder aus dem Fenster zu sehen. Draußen kamen gerade einige Männer und Frauen auf die Holztreppe zu, die zur Wohnungstür führte.

Mara schaute sich nun zu Celeste um. „Ist alles in Ordnung?“

Die ältere Frau nickte und ließ sich majestätisch in ihrem Lehnstuhl nieder. Dabei stellte sie die Füße fest auf den Boden, hob das Kinn und faltete die Hände im Schoß.

Jared hatte sein Telefonat inzwischen beendet, er legte den Hörer neben Celeste auf das Tischchen. „Stephanie hat mit dem Pflichtverteidiger verabredet, dass er sie anruft, sobald es anfängt“, erklärte er. Dann hörten sie draußen Stimmen und Schritte, die die Stufen heraufkamen.

Sofort ging Mara nun zur Tür, konnte sich aber nicht überwinden, sie zu öffnen. Eine ganze Woche lang hatte sie Celeste gegen die Klatschpresse und andere Neugierige abgeschirmt, aber noch nie hatte sie so stark gespürt, dass sie ihren Schutz brauchte. Jeden Augenblick konnte tatsächlich eine echte Katastrophe über diese Frau hereinbrechen, die für Mara fast so wichtig gewesen war wie ihre eigene Mutter. Und sie war diejenige, die diesen Leuten die Tür öffnete …

Reglos blieb Mara stehen, auch als es schon laut klopfte.

„Mara?“, sagte Celeste.

Sie konnte sich immer noch nicht bewegen. Die Vorstellung, was alles Schreckliches passieren konnte, ließ sie nicht los.

Auf einmal stand Jared neben ihr. Sie hatte ihn nicht kommen hören, roch aber sein frisches Aftershave und spürte seine Körperwärme. Sanft legte er ihr seine kräftige Hand auf den Arm, und die Berührung beruhigte sie.

„Es ist alles in Ordnung“, raunte er ihr leise zu. „Sie können das nicht verhindern.“ Als wüsste er genau, was gerade in ihr vorging.

Langsam hob Mara den Kopf und sah ihm in die Augen. Sein Blick war warm, fast liebevoll.

„Es ist alles in Ordnung“, wiederholte er sanft.

Mara nickte. Sie vertraute ihm.

Dann nahm er vorsichtig ihre Hand von der Türklinke, als hätte er verstanden, dass sie unmöglich die Menschen dort draußen zu Celeste hereinlassen konnte.

„Setzen Sie sich bitte zu ihr“, sagte er. „Ich kümmere mich schon darum.“

Mara schluckte. „Danke“, erwiderte sie leise und ging ins Wohnzimmer, um neben Celeste auf dem Schemel Platz zu nehmen – so schwer es ihr auch fiel, sich aus Jareds Nähe zu entfernen.

3. KAPITEL

In Celestes kleiner Wohnung liefen Polizisten und FBI-Mitarbeiter durcheinander, darunter Maras Bruder Cam. Mara blieb die ganze Zeit neben Celeste auf dem Schemel sitzen, während Jared sich hinter den Lehnstuhl seiner Großmutter gestellt hatte. Ihr Pflichtverteidiger saß zu ihrer Rechten. Sein Handy hatte er laut gestellt und das Mikrofon so ausgerichtet, dass Stephanie von New York aus teilnehmen konnte.

„Meine Anwältin hat mir geraten, Ihnen die ganze Geschichte von Anfang an zu erzählen“, sagte Celeste, sobald die Videokamera auf sie gerichtet wurde.

„Nur zu“, ermutigte Cam sie.

Mara war froh, dass ihr Bruder in dieser Angelegenheit die Führung übernahm. Ihm konnte sie uneingeschränkt vertrauen, weil sie wusste, dass ihm Celeste ebenfalls viel bedeutete.

„Ich habe Armand damals nur aus purer Verzweiflung geheiratet“, begann Celeste zu erzählen. „Meine Eltern sind beide gestorben, als ich siebzehn war, und ich hatte sonst keine Verwandten. Damals habe ich mich als Verkäuferin durchgeschlagen und gerade mal so viel verdient, dass ich mir ein Zimmer in einer kleinen Pension leisten konnte. Ich hatte keine Ahnung, was aus mir werden sollte. Aber Armand …“

Celeste schüttelte den Kopf, als sie an den Gemeindepfarrer Armand Perry dachte. „Na ja, Armand wusste ganz genau, wer er war, welches Ziel er hatte und was er tun musste, um es zu erreichen. Armand wusste überhaupt immer, was zu tun war. Das hat mich damals wohl beeindruckt, weil ich mich so sehr nach Sicherheit und Stabilität in meinem Leben gesehnt habe.“

„Wann war das genau? In welchem Jahr?“, erkundigte sich ein Mann, den Mara nicht kannte.

„Wir haben 1951 geheiratet. Kaum ein Jahr später kam Carl auf die Welt und elf Monate später dann Jack. Es ging alles so schnell … Ich war noch nicht mal zwanzig und schon eine Pfarrersfrau mit zwei Söhnen. Gut, das war damals wohl ziemlich normal, die meisten Frauen haben früh geheiratet und dann eine Familie gegründet. Und ich war auch erst froh, dass ich es so weit gebracht hatte, obwohl ich keinerlei leidenschaftliche Gefühle Armand gegenüber hatte. Und Armand … na ja, er hat sowieso nie Gefühle gezeigt.“

Celeste lächelte traurig.

„Erzählen Sie bitte weiter“, forderte sie einer der Zuhörer auf.

Sie atmete tief durch. „Ich habe mich als Pfarrersfrau überhaupt nicht wohlgefühlt. Alle haben irgendetwas von mir erwartet: die Gemeinde, Armand … ich hätte übermenschliche Fähigkeiten entwickeln müssen, um allen Anforderungen gerecht zu werden – jedenfalls kam es mir damals so vor.“

Mara griff nach Celestes Hand und drückte sie sanft. Die ältere Frau warf ihr einen dankbaren Blick zu, bevor sie fortfuhr: „Egal, was ich getan habe, es war nie gut genug. In der Kirchengemeinde nicht und zu Hause auch nicht. Meine beiden Söhne habe ich wirklich von ganzem Herzen geliebt, und ich habe mir so gewünscht, dass sie mich auch lieben. Ich wollte mit ihnen spielen und ihnen eine glückliche Kindheit schenken. Ich wollte sie nicht durch lauter Verhaltensregeln und Verbote einschränken …“

„Wie es Pfarrer Perry gewünscht hätte“, warf Jared ein.

Celeste lächelte kurz zu ihm hoch, dann fuhr sie fort: „Ich wollte Spaß mit meinen Kindern haben. Aber Armand hat immer nur seine eigene Sichtweise gelten lassen, alles andere war automatisch falsch. Er kann ganz schön hart sein, wenn man sich nicht nach ihm richtet. Mich hat er davon überzeugt, dass ich eine schlechte Mutter bin. So schlecht, dass es schlimmer nicht geht. Und als ich gerade ganz weit unten war und mich vor lauter Kritik wie der letzte Dreck gefühlt habe, kamen Mickey Rider und Frank Dorian nach Northbridge.“

Celestes Stimme verriet ihre innere Unruhe. Während sie sprach, nahm sie Maras Hand zwischen ihre und drückte sie fest.

„Damals bin ich völlig durchgedreht“, erklärte die ältere Frau beschämt. „Ich habe mich selbst nicht mehr verstanden, aber das hat mich nicht davon abgehalten, mich heimlich mit Frank zu treffen. Oder mit Frank und Mickey in der Bar zu sitzen und zu trinken oder zu der Musik aus der Jukebox zu tanzen. Und dann habe ich mich verliebt … jedenfalls hat es sich so angefühlt. In Frank.“

Celeste klammerte sich so sehr an Maras Hand, dass es wehtat. Aber Mara entzog sie ihr nicht, weil sie wusste, wie schwer der Frau, die ihr so viel bedeutete, solche Geständnisse fallen mussten.

Seufzend fuhr Celeste fort. „Ich hatte mich also in Frank verliebt, fühlte mich zu Hause furchtbar unwohl und hatte außerdem das Gefühl, eine schreckliche Mutter zu sein, die ihren Söhnen mehr schadet als nützt. In so einer Verfassung war ich, als Frank mich gefragt hat, ob ich mit ihm fortgehen will.“

Hilflos zuckte sie mit den Schultern. „Ich habe mir so sehr gewünscht, mit ihm zusammen zu sein … aber ich dachte damals auch, dass es für meine Söhne so am besten ist.“

„Also hast du dich entschieden, mit Frank Dorian und Mickey Rider die Stadt zu verlassen“, hakte Cam nach.

„Genau. Ich hatte ja keine Ahnung, dass die beiden diesen Banküberfall geplant hatten. Davon habe ich erst hinterher erfahren – Frank und ich hatten uns nachts an der alten Brücke verabredet.“

An dieser Stelle gab es ein paar Zwischenfragen, bis klar war, dass es sich um die Brücke handelte, nach der Northbridge benannt war und bei der man Mickey Riders Seesack und vor Kurzem schließlich auch seine sterblichen Überreste gefunden hatte.

„Es ist sehr wichtig, dass du uns ganz genau erzählst, was in dieser Nacht passiert ist, Celeste“, sagte Cam.

„Ich kann auf jeden Fall schon mal sagen, was damals nicht passiert ist“, erwiderte Celeste. „Die Zeitungen übertreffen sich ja gegenseitig mit wilden Vermutungen. Aber Mickey Rider ist nicht kaltblütig ermordet worden. Mickey war stocksauer, als ich nachts bei der Brücke aufgetaucht bin. Erst habe ich gar nicht verstanden, was daran so schlimm sein sollte, dass Frank mich mitnehmen wollte. Aber dann habe ich die Geldsäcke von der Bank gesehen, und Frank hat mir die Sache mit dem Überfall erzählt. Da wollte ich gar nicht mehr mitkommen, aber Frank hat das nicht zugelassen. Auch nicht, als Mickey meinte, dass ich sie nur aufhalten würde.“

Sie schluckte, dann fuhr sie fort: „Frank meinte, dass ich mitkommen müsste, ob es uns passte oder nicht. Dann gab es einen Riesenstreit und eine heftige Schlägerei zwischen Frank und Mickey. Sie haben sich richtig die Gesichter blutig geschlagen, und …“

Celestes Pupillen waren geweitet, ihr stand die Angst von damals ins Gesicht geschrieben. „Es war schrecklich“, flüsterte sie.

„Warum sind Sie denn nicht einfach weggelaufen, als sich die Männer geschlagen haben?“, erkundigte sich eine der Ermittlerinnen nun.

„Ich war wie gelähmt, und in meinem Kopf hat sich alles gedreht. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Sollte ich zu Armand zurück? Und so, wie Frank sich mit Mickey geprügelt hat, habe ich mich auch gefragt, ob er Armand etwas antun würde … oder meinen beiden Jungen.“

Celeste schloss die Augen, als ließe sie alles noch mal Revue passieren. „Gerade sah es so aus, als würde Mickey die Oberhand behalten, da hat Frank wohl noch mal alle Kraft zusammengenommen und ihn weggestoßen, und zwar ziemlich heftig. Mickey ist auf den Rücken gefallen und hat sich den Kopf an einem scharfkantigen Stein aufgeschlagen. Er hat noch einmal kurz gezuckt, dann ist er ganz still liegen geblieben.“ Sie erschauerte. „Er war sofort tot.“

„Soll ich dir schnell ein Glas Wasser holen?“, erkundigte sich Mara besorgt. Celestes Gesicht sah aschfahl aus.

Es dauerte einen Augenblick, bis die ältere Frau reagierte. „Nein, vielen Dank, meine Liebe. Ich will das jetzt ganz schnell hinter mich bringen.“ Sie suchte Cams Blick, um ihre Geschichte wenigstens einer vertrauten Person erzählen zu können. „Frank hat den toten Mickey in den Wald gezogen, um ihn zu vergraben. Da habe ich auch wieder überlegt, ob ich schnell weglaufen sollte. Aber in dem Moment kam Armand auf uns zu. Er hatte sich hinter den Büschen versteckt.“

Mara sah zu Jared und stellte dabei fest, dass er genauso entsetzt war wie sie selbst.

„Dann war der Pfarrer also auch im Wald?“, hakte er nach.

„Ja. Er meinte, er sei mir gefolgt, als ich aus dem Haus gegangen war.“

„Aber … wenn er selbst mitbekommen hat, dass du nichts getan hast, warum hat er das nie gesagt?“, wollte Jared wissen. Er klang wütend.

Bevor Celeste darauf eingehen konnte, schaltete Cam sich ein und brachte das Gespräch wieder auf eine sachlichere Ebene. „Wusste der Pfarrer denn, dass du nichts mit dem Banküberfall zu tun hattest?“

„Ja. Er ist aus seinem Versteck gekommen, weil er wollte, dass ich wieder mit ihm nach Hause komme. Er meinte, er habe mitgekriegt, dass ich nichts mit dem Überfall zu tun hatte. Aber wenn ich mit Frank die Stadt verließe, würde ich mich der Mittäterschaft schuldig machen.“

„Und trotzdem sind Sie mit Frank Dorian mitgegangen?“, erkundigte sich ein FBI-Agent.

„Bevor ich überhaupt darüber nachdenken konnte, ist Frank auf einmal aufgetaucht und hat sich Armand geschnappt. Er war schrecklich wütend und hatte große Angst, so hatte ich ihn noch nie erlebt. Er wollte Armand töten und die Leiche mit Mickeys zusammen vergraben.“

„Na ja, aber offenbar hat er den Pfarrer dann doch leben lassen“, warf jemand ein.

„Ich habe ihn auf Knien darum gebeten“, erwiderte Celeste. „Ich habe ihm versprochen, dass ich mit ihm komme und alles tue, was er will – wenn er Armand in Ruhe lässt.“

„Dann hast du ihm also das Leben gerettet“, sagte Jared.

„Das kann man wohl so sehen, andererseits lag es an mir, dass Armand überhaupt in diese Situation gekommen war. Wenn Frank ihn umgebracht hätte, wäre das meine Schuld gewesen, also musste ich dafür sorgen, dass ihm nichts passiert. Ich habe Frank gesagt, dass er mich gleich mit umbringen muss, wenn er Armand tötet, weil ich nämlich sonst direkt zur Polizei gehen würde.“

Celeste wirkte inzwischen unendlich erschöpft, trotzdem redete sie weiter. „Es hat lange gedauert, bis wir uns einig geworden sind. Ich musste lange bitten und betteln und mit Frank verhandeln. Schließlich musste ich ihm versprechen, mit ihm zu kommen, wenn er Armand in Ruhe lässt. Und Armand musste ihm dann versprechen, niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen zu erzählen. Schließlich hat Frank Armand gefesselt und im Wald zurückgelassen. Dann sind wir verschwunden.“

Ganz leise sprach Celeste weiter: „Von da an habe ich mir jeden Tag das Leben zurückgewünscht, vor dem ich hatte fliehen wollen.“ Immer wieder schüttelte sie den Kopf, als könnte sie nicht fassen, wie sich die ganze Sache entwickelt hatte.

„Und dann?“, hakte Cam nach.

„Wir sind immer weiter nach Norden geflohen, und nach ein paar Monaten waren wir in Alaska. Inzwischen war ich völlig am Ende. Ich konnte kaum schlafen und habe die ganze Zeit nur geweint. Und wenn es mir schlecht geht, dann esse ich zwanghaft viel. Ich stopfe alles in mich rein.“

Sie lachte freudlos und klopfte sich auf den Bauch. „Na ja, das sehen Sie ja. Frank hat natürlich gar nicht gefallen, was da aus dem hübschen, schlanken jungen Mädchen geworden war, das er in Northbridge kennengelernt hatte. Er wurde immer ungeduldiger und hat mich immer mieser behandelt und mir sogar das Geld weggenommen, das ich jahrelang mühsam zusammengespart und mitgenommen hatte …“

„Wie bitte, er hat dich auch noch bestohlen?“ Cam wirkte entsetzt.

„Ja, als ich geschlafen habe. Und ich weiß überhaupt nicht, wieso. Er hatte doch das ganze Geld aus dem Bankraub, seinen und Mickeys Anteil. Und trotzdem hat er mir meine lächerlichen 167 Dollar auch noch abgenommen, um mich mutterseelenallein und mittellos in einem Motel in Alaska sitzen zu lassen.“

Celeste holte tief Luft. „Von da an gibt es nicht mehr viel zu erzählen. Ich wusste nicht, ob ich wegen Mittäterschaft von der Polizei gesucht wurde, wollte es aber nicht drauf ankommen lassen. Mein größter Wunsch war, zurück nach Northbridge zu kommen und meine Jungs wiederzusehen. Also habe ich jeden Job angenommen, den ich kriegen konnte … meistens als Kellnerin. Und immer, wenn ich gerade wieder genug Geld zusammenhatte, habe ich mir eine Busfahrkarte in Richtung Northbridge gekauft. So habe ich mich stückweise weiter vorgearbeitet, Meile für Meile. Wenn ich schon nicht ganz zurück zu meinen Söhnen Carl und Jack konnte, dann wollte ich wenigstens in ihrer Nähe sein. Irgendwann bin ich in dieser Gegend angekommen. Und was dann passiert ist, wissen Sie ja wohl schon.“

Celeste hatte Cam und Mara davon erzählt, dass sie zunächst in der Nähe von Northbridge gewohnt hatte und dabei immer die Ohren offen gehalten hatte, um hier und da Informationen über ihre Söhne aufzuschnappen. Eines Tages hatte sie sich doch nach Northbridge getraut und dabei festgestellt, dass niemand sie wiedererkannte, weil sie so stark zugenommen hatte. Also war sie schließlich in die Kleinstadt zurückgezogen. Hier konnte sie Carl und Jack wenigstens von Weitem aufwachsen sehen … und schließlich auch ihre Enkelkinder. Seit 1970 wohnte sie in Northbridge, hatte dort aber zu niemandem persönlich Kontakt – mit Ausnahme der Pratts, denen die Reinigung gehörte.

„Der Pfarrer ist gerade unterwegs“, sagte Cam. „Wir konnten noch nicht mit ihm sprechen.“

„Wir werden uns aber Ihre Aussage von ihm bestätigen lassen“, fügte einer der Ermittler hinzu. „Wenn Sie also noch etwas ergänzen wollen, sollten Sie das jetzt tun.“

„Es gibt nichts mehr zu ergänzen, ich habe Ihnen schon die ganze Wahrheit gesagt“, erwiderte Celeste. Sie klang müde.

Es wurden noch ein paar Detailfragen darüber gestellt, wo Frank Dorian das geraubte Geld versteckt haben könnte, bevor das FBI ihn überwältigte und bei einem Fluchtversuch erschoss. Aber Celeste wusste kaum mehr zu sagen. Sie versicherte, Frank Dorian nie mehr wiedergesehen zu haben, seit er sie in Alaska verlassen hatte. Wohin er dann gereist war und was er mit dem Geld gemacht hatte, hatte sie nie erfahren.

„Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich selbst keinen Cent von dem geraubten Geld gesehen habe.“ Dabei betonte sie jede einzelne Silbe überdeutlich.

„Außerdem war sie ja selbst Opfer, Frank Dorian hat ihre ganzen Ersparnisse gestohlen“, erinnerte Jared die Anwesenden. Allmählich verlor auch er die Geduld.

Trotzdem zog sich das Verhör weiter hin, ohne dass Mara einen tieferen Sinn in den Fragen erkennen konnte. Celeste ließ alles ruhig über sich ergehen, bis sich die Verantwortlichen endlich darüber einig wurden, dass sie nicht mehr aus ihr herausholen konnten. Vorerst.

Draußen war es längst dunkel geworden.

Celeste wurde angewiesen, Northbridge nicht zu verlassen. Immerhin konnte ihre Anwältin erreichen, dass sie ihre Wohnung verlassen und sich innerhalb der Stadt frei bewegen durfte.

Kaum hatten die Polizisten die Wohnung verlassen, als auch schon das Telefon klingelte: Stephanie. Sie wollte die Befragung mit Celeste noch einmal durchgehen. Celeste nahm das Mobilteil mit ins Schlafzimmer und ließ Mara und Jared allein zurück.

„Und, wie geht es Ihnen?“, erkundigte er sich. Es klang, als interessierte ihn das wirklich.

„Ich bin froh, dass es vorbei ist“, gestand Mara.

„Ich auch. Was wollen wir jetzt mit dem angebrochenen Abend anfangen?“

„So weit hatte ich noch nicht gedacht.“

„Also gut“, sagte Jared entschlossen. „Dann schenken Sie sich doch schon mal einen Schluck von diesem extrem schlechten Brandy ein, während ich einkaufen gehe. Und dann koche ich Ihnen und meiner Großmutter das perfekte Dinner.“

„Sie können kochen?“

Er zwinkerte ihr zu. „Lassen Sie sich überraschen.“

Jared konnte sogar ganz hervorragend kochen. Es gab Brathähnchen, selbst gemachtes Kartoffelpüree, Maisbrot und Salat. Allerdings dauerte es eine Weile, bis alles fertig war. Als Mara und Celeste gegessen hatten, schlug die Uhr zehn.

„Geh du ruhig schon ins Bett, ich räume alles weg“, bot Mara der älteren Frau an. Keine leichte Aufgabe, denn Jared konnte zwar wunderbar kochen, hatte in der Küche aber ein Schlachtfeld hinterlassen.

„Ich bleibe auch noch da und helfe mit“, sagte er, als Celeste zögerte, Mara mit der ganzen Arbeit allein zu lassen. Seine Großmutter wünschte ihnen eine gute Nacht und verschwand im Schlafzimmer.

„Wie kommt sie wohl mit der ganzen Sache klar?“, erkundigte sich Jared, sobald sich die Tür hinter Celeste geschlossen hatte.

„Ganz gut, glaube ich, unter den gegebenen Umständen“, erwiderte Mara. „Ich hoffe aber, dass sie nun das Schlimmste hinter sich hat und nicht noch einmal so etwas in der Art durchmachen muss.“

„Kann ich mir nicht vorstellen, sie hat doch wirklich alles erzählt. Aber das hängt wohl auch davon ab, ob der Pfarrer ihre Aussage bestätigt.“

Alle Enkel von Armand Perry nannten ihren Großvater immer nur „den Pfarrer“, also wunderte Mara sich bei Jared nicht weiter darüber.

„Cam meinte, er sei bisher nicht besonders entgegenkommend gewesen“, erinnerte sich Mara. „Ich hoffe, das ändert sich noch.“

„Glaube ich nicht“, sagte Jared verächtlich. „Dieser Mann ändert sich nicht, vergibt nichts, versteht nichts, toleriert nichts und kennt auch kein Mitgefühl. Jedenfalls hatte ich davon nie etwas mitbekommen.“

„Sie mögen ihn überhaupt nicht, stimmt’s?“

Zum Kochen hatte Jared sich schon die Ärmel hochgekrempelt, jetzt öffnete er auch noch die obersten Hemdknöpfe. Offenbar fühlte sich ihre Gegenwart allmählich vertraut genug an.

„Na ja, es ist kein Geheimnis, dass mein Großvater und ich uns überhaupt nicht verstehen“, beantwortete Jared ihre Frage. „Bei meiner Schulabschlussfeier haben wir ja ganz Northbridge zusammengeschrien. Bestimmt haben sich danach alle die Mäuler darüber zerrissen.“

„Wahrscheinlich, ich war damals noch ziemlich klein“, sagte Mara. „Ich weiß zwar, dass Sie sich mit ihm gestritten haben, aber das ist auch schon alles. Worum ging es denn?“

„Es ging um meine Pflichten im Leben“, erklärte Jared. „Als Enkelkinder des Pfarrers hatten wir es alle nicht leicht. Celeste hat ja auch schon gesagt, er habe Übermenschliches von ihr erwartet. Das kann ich nur bestätigen. Noah und unsere Schwester und die Cousins und Cousinen bestimmt auch. Aber an mich hatte er ganz besondere Erwartungen. Ich war der älteste Enkel, also durfte ich überhaupt gar nicht menschlich sein, nicht mal übermenschlich.“

„Dummheiten wurden nicht geduldet“, vermutete Mara.

„Das sowieso nicht. Ich musste immer perfekt angezogen sein, meine Haare mussten immer gekämmt sein und meine Schuhe immer sauber. Ich musste leise sein, auch beim Spielen, und fluchen durfte ich schon gar nicht. Außerdem hatte ich gute Noten nach Hause zu bringen und mich vorbildlich zu benehmen.“

Er seufzte. „Und während sich alle anderen Jungs als Teenager so richtig austoben konnten, durfte ich noch nicht mal Jeans tragen, sondern musste immer in Anzughosen und gebügelten Hemden herumlaufen, weil ich ja der Enkel des Pfarrers war. Und das ausgerechnet in Montana! Überall bin ich aufgefallen. Aber nicht so, wie man als Teenager gern auffallen würde.“

„Wie war das damals mit den Mädchen?“, hakte Mara nach und bemühte sich, ihre Gedanken an die Anwältin Stephanie zu verdrängen. „Hatten Sie wenigstens ein paar Dates?“

„Dates? Das kann nicht Ihr Ernst sein! Der Pfarrer hat dafür gesorgt, dass ich nie mit einem Mädchen allein sein konnte. Mein erster Kuss fand statt, als ich sechzehn war – hinter der Kirche, nach der Chorprobe. Als mein Großvater das rausfand, hat er mir eine lange Predigt über das Übel der fleischlichen Gelüste gehalten und mich für die Sommerferien ins Bibelcamp geschickt.“

„Bloß weil Sie ein Mädchen geküsst haben?“

„Ja, es ist wirklich ein Wunder, dass er mir nicht völlig den Spaß daran verdorben hat.“ Jared lächelte – provozierend, wie Mara fand. Wie es wohl wäre, ihn zu küssen? Schnell verdrängte sie den Gedanken.

„Sie haben mir immer noch nicht erzählt, worüber Sie sich mit dem Pfarrer nach Ihrer Schulabschlussfeier so gestritten haben“, erinnerte Mara ihn.

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Victoria Pade
Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...
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