Bilder der Leidenschaft

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Das Wandgemälde in seinem Schlafgemach muss schuld daran sein, dass Everett, Viscount St. Austell, plötzlich erotische Träume hat! In denen er eine blondgelockte Schönheit so liebt wie Apoll die Nymphe auf dem Bild …


  • Erscheinungstag 23.04.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733760069
  • Seitenanzahl 51
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

* * *

Sie schaute über die Schulter zurück, lächelnd, das Gesicht halb verborgen unter der großen Kapuze ihres Umhangs. Sie sagte nichts, sondern neigte nur leicht den Kopf, unschuldig und einladend zugleich.

Er merkte, dass sein Atem jetzt schneller ging. Er wollte sie aufhalten, streckte die Hand nach dem sich im Wind aufbauschenden Umhang aus. Doch seine Finger glitten durch den Stoff hindurch wie durch Nebel. Dann war das Kleidungsstück verschwunden – und mit ihm auch die Gestalt, die er so verzweifelt hatte festhalten wollen. Er öffnete den Mund, um nach ihr zu rufen, brachte aber keinen Laut über die Lippen. Sie war fort. Und nichts blieb außer einer unstillbaren Sehnsucht und dem Gefühl eines großen Verlustes …

Er erwachte abrupt und setzte sich ruckartig auf. Um ihn her war es dunkel. Seine Lunge schien zu brennen. Er musste wohl etwas Schlimmes geträumt haben. Bestimmt hatte ein Albtraum ihn heimgesucht. Kalter Schweiß bedeckte seinen Körper, und sein Herz raste. Vergeblich versuchte er sich an Einzelheiten zu erinnern. Ja, er hatte geträumt. Von einem Umhang … Mehr wusste er nicht mehr. Oder doch! Er hatte sich etwas gewünscht, das er nicht haben konnte. Man hatte es ihm fortgenommen. Oder hatte er es verloren? Und was hatte dieser Umhang damit zu tun?

Langsam ließ er sich in die Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Auf der Schwelle zwischen Wachen und Schlafen blitzte kurz eine Erinnerung auf. An etwas? Oder an jemanden? Ehe er den Gedanken zu fassen bekam, sank er in einen unruhigen Schlummer.

Everett Fitzhugh, Viscount St. Austell, starrte die Wandgemälde an, die er in Auftrag gegeben hatte, als er beschloss, sein Haus am Grosvenor Square zu renovieren. Insbesondere hatte er das Schlafzimmer umgestalten wollen. Vor Kurzem hatte der Maler mit der Arbeit begonnen.

Eine Zeile aus dem Brief des Künstlers fiel Everett ein.

Möglicherweise werden Sie feststellen, Mylord, dass die Bilder nicht ganz Ihren Erwartungen entsprechen.

Trehearne

Das unpersönlich kalte Mylord hatte ihn so gekränkt, dass er beim ersten Lesen kaum auf den Inhalt des Satzes geachtet hatte. Früher hätte Lionel ihn nie so förmlich angeredet. Auch hätte er ein Schreiben an einen Freund nicht einfach mit Trehearne unterzeichnet.

Die Schuld dafür musste er sich natürlich selbst geben.

Lionels Verhalten war die logische Folge dessen, was er ihm angetan hatte. Also hatte er seinen Ärger, seinen Trotz und sein Schamgefühl hinuntergeschluckt und Lionel den Auftrag erteilt.

Trotz des Klassenunterschiedes – auf der einen Seite der Erbe eines Viscounts und auf der anderen der Sohn eines Schulmeisters – war Lionel einst wie ein großer Bruder für ihn gewesen. Statt ihm zu danken, hatte er seinen Freund hintergangen, hatte sein Vertrauen auf so üble Art missbraucht, dass er noch heute von Gewissensbissen geplagt wurde. Jugend und Unerfahrenheit mochten eine akzeptable Entschuldigung für das Begehen von Dummheiten sein. Eine Entschuldigung für einen Mangel an Moral und Ehre waren sie nicht.

Jetzt, da Everett die Wandgemälde eingehender betrachtete und sich den Inhalt jenes Briefes in Erinnerung rief, stellte er fest, dass Lionels Stil sich tatsächlich verändert hatte. Und zwar grundlegend! Die Maltechnik war noch die gleiche. Einfache Linien, die dennoch ausdrucksstark waren und mit ein paar Holzkohlestrichen alles Wichtige wiedergaben. Doch sechs Jahre zuvor hatten Lionels Bilder – obwohl sie auch damals schon brillant waren – Everett nicht den Atem geraubt. Seine Gemälde hatten schon damals eine starke erotische Ausstrahlung besessen, ja. Aber diese geradezu schmerzliche Sinnlichkeit war neu.

Er schluckte und sah dann noch einmal zu der schlanken Nymphe hin, deren Umrisse jetzt gleich mehrfach seine Schlafzimmerwand zierten. Wer war sie? Noch gab es von der Gestalt nicht viel mehr als Skizzen. Doch auch wenn das Werk vollendet war, würde ihre Identität ein Geheimnis bleiben. In jedem der fünf Gemälde wandte sie das Gesicht ab. Nur einmal schaute sie über die Schulter zurück, wobei die übergroße Kapuze ihres Umhangs ihr Gesicht halb verbarg. Warf sie irgendjemandem einen Abschiedsblick zu?

Im nächsten Bild sah man sie von hinten, da sie sich an ihren Geliebten schmiegte, der gerade den Kopf beugte, um ihre Lippen zu kosten.

Im dritten Gemälde war es eine Fülle von Locken, die das Gesicht der vor einem Mann knienden Nymphe verbarg. Bewundernswert, wie es Lionel gelungen war, mit ein paar Strichen den Glanz ihres Haares einzufangen! Er hatte das Motiv „Die Nymphe huldigt dem Gott Apollo, indem sie ihm den Kuss der Venus überbringt“ genannt.

Die wilden Locken verbargen das eigentliche Geschehen. Doch der nackte Gott warf den Kopf in Ekstase nach hinten. Deutlich konnte man seine angespannten Muskeln erkennen, ebenso die Hand, die halb im Haar der Nymphe verborgen war, und die Finger, die sanft und besitzergreifend zugleich den Nacken der Schönen streichelten. Oh, es konnte kein Zweifel daran bestehen, womit sie gerade beschäftigt war.

Everett schluckte. Seine Kehle fühlte sich plötzlich trocken an. Kaum wagte er, den Blick auf das vierte Gemälde zu richten. Dort gab sich die Nymphe dem leidenschaftlichen Liebesspiel ihres unsterblichen Liebhabers hin.

Auf dem letzten Gemälde lag sie gesättigt und schlafend in den Armen ihres Geliebten, der zärtlich ihr Gesicht streichelte, sodass es auch hier nicht zu erkennen war.

Everett schloss die Augen und stellte sich vor, wie er selbst mit den Fingern sanft über die goldenen Locken der Nymphe strich. Ihm war, als spüre er ihre weiche Wange an seiner Schulter, als höre er ihren leisen Atem. Er würde alles tun, um sie nicht wieder zu verlieren. Ein Leben ohne sie würde er nicht ertragen …

Das Rattern von Kutschenrädern riss ihn aus seinem Tagtraum, und er richtet die Augen wieder auf die Gemälde, die er in Auftrag gegeben hatte.

Wer war sie? Wer hatte für diese Bilder Modell gestanden?

Verflucht, Lionel war der Letzte, den er freiwillig als Maler engagiert hätte!

Vor sechs Jahren hatte Lionel ihm ein Ultimatum gestellt. Er hatte es akzeptiert und versprochen, sich von ihm fernzuhalten. Gewissenhaft hatte er sein Versprechen gehalten. Nur durch Zufall hatte er von einem gemeinsamen Freund erfahren, dass Lionel nach Italien gegangen war. Warum? Ob er ihm trotz allem misstraut hatte?

Nachdem er England verlassen hatte, schien Lionel den Kontakt zu allen alten Bekannten abgebrochen zu haben. Everett hätte niemals von seiner Rückkehr in die Heimat erfahren, wenn sein ehemaliger Freund sich nicht schriftlich bei ihm gemeldet hätte. Lionel hatte ihm einen Brief geschickt, in dem er darum bat, den Auftrag ausführen zu dürfen. Dem Schreiben hatte er ein paar Skizzen beigelegt.

Wie mag Lionel davon erfahren haben, dass ich jemanden suche, der mein Schlafzimmer mit ganz speziellen Wandgemälden ausstattet? fragte sich Everett. War es allgemein bekannt, dass er auf diese Art den Auszug seiner Großtante feiern wollte? Die alte Dame hatte sich entschlossen, das Stadthaus am Grosvenor Square zu verlassen, um zu einem Cousin überzusiedeln, der auf dem Lande lebte.

Everett versank wieder in seine Gedanken. Vor vier Jahren, als er den Titel seines Vaters erbte, hatte er kurz überlegt, ob er das Haus am Grosvenor Square umgestalten und beziehen sollte. Denn natürlich konnte er mit seinem Besitz tun und lassen, was er wollte. Dann hatte er sich jedoch entschieden, seiner Großtante zu gestatten, auch weiterhin dort zu leben. Er selbst würde vorerst in seiner Junggesellenwohnung bleiben. Eines wusste er nämlich genau: Seine Großtante Millicent würde ihm jedes Mal die Leviten lesen, wenn er etwas auch nur im Entferntesten Skandalöses tat.

Was er ihr besonders verübelte, war die Tatsache, dass sie sein Interesse an Kunst rundheraus verdammte. Genauer gesagt, sie lehnte eher seinen künstlerischen Geschmack ab als die Kunst als solche. Das allein war schlimm genug. Unverzeihlich jedoch war, dass sie eines seiner Lieblingsbilder, einen wunderschönen Akt, der in einem der wenig benutzten Gästezimmer hing, mit scharlachroter Farbe bespritzt hatte.

Dafür wollte er sich nun rächen. Ja, die Wandgemälde waren eine wundervolle Rache. Vielleicht würde der Schlag Großtante Millicent treffen, wenn sie erfuhr, was die Bilder darstellten. Nun, dann würde sie zumindest nicht mehr unentwegt über die Tugenden ihres frommen Vaters sprechen. Da dieser schon vor vielen Jahren gestorben war, konnte er sich im Gegensatz zu seiner Tochter nicht mehr über die erotischen Bilder aufregen, die jetzt die Wände seines ehemaligen Schlafzimmers bedeckten.

Ein halbes Dutzend Maler hatte Vorschläge gemacht, wie das Zimmer gestaltet werden könne. Doch nicht eine Idee, nicht eine der eingereichten Skizzen hatte Everett gefallen. Sicher, er hatte etwas eindeutig Erotisches verlangt. Aber was man ihm zeigte, war geschmacklos und lüstern. Auch wenn es ihm in erster Linie darum ging, seine Großtante zu ärgern, so wollte er doch auf keinen Fall in einem Raum voll drittklassiger Bilder schlafen.

Lionels Skizzen waren die einzigen gewesen, die ihm zusagten. Als er sie betrachtete, hatte sein Pulsschlag sich beschleunigt. Trotzdem hätte er auch sie beinahe zurückgewiesen. Denn auch nach sechs Jahren konnte eine Wunde noch brennen, wenn man Salz auf sie streute. Doch dann hatte er den Absender gelesen. Eine Adresse in der Nähe der Westminster Bridge – was nur bedeuten konnte, dass es Lionel finanziell schlecht ging.

Nun fühlte er sich verpflichtet, Lionel den Auftrag zu erteilen. Denn dadurch konnte er ihm helfen und so vielleicht ein wenig von dem wiedergutmachen, was er ihm damals angetan hatte. Es quälte ihn noch immer, dass sein unehrenhaftes Verhalten zum Bruch ihrer Freundschaft geführt hatte.

Damit hatte er seine Entscheidung gerechtfertigt. Dann hatte er noch einmal die Skizze der Nymphe betrachtet, wie sie dem Gott huldigte. Erregung hatte ihn ergriffen.

Später hatte er einen Antwortbrief an Lionel verfasst, in dem er Einzelheiten bezüglich des Auftrags aufzählte, aber mit keinem Wort den Anlass ihres Streits erwähnte. Zum Schluss hatte er höflich angefragt, ob es ihm und seiner Schwester gut ginge.

Auch heute noch schämte er sich, wenn er an Loveday Trehearne dachte. Nie würde er aufhören zu bereuen, was er aus Selbstsucht, Dummheit und jugendlichem Leichtsinn getan hatte. Er hätte es nicht über sich gebracht, ihren Namen in einem Brief an Lionel zu erwähnen. Erst recht nicht in einem Brief, in dem es um diese besondere Art von Wandgemälden ging. Nein, er würde nicht einmal andeutungsweise etwas über Loveday schreiben.

In seiner Antwort war Lionel nur auf die Gemälde und die vorgeschlagene Entlohnung eingegangen. Er hatte allen Bedingungen zugestimmt, selbst aber auch eine Forderung gestellt: Das Honorar sollte bei der Hoare’s Bank eingezahlt werden, man würde nur schriftlich Kontakt halten und sich niemals treffen.

Das – fand Everett – legte die Vermutung nahe, dass Loveday noch in seinem Haushalt lebte.

Stirnrunzelnd wandte er sich wieder den halb vollendeten Wandgemälden zu. Bisher handelte es sich um kaum mehr als Holzkohleskizzen von fünf verschiedenen Motiven. Mit dem Auftragen der Farben würde Lionel erst beginnen, wenn er den ersten Abschlag auf sein Honorar erhalten hatte. Die Bezahlung musste dringend in die Wege geleitet werden. Denn je eher Lionel sein Geld erhielt, desto eher würden die Gemälde fertig werden. Und desto eher kann ich das Haus beziehen, dachte Everett.

Er hätte nicht hier sein sollen. Schließlich hatte er sich damit einverstanden erklärt, dass es keine Treffen geben würde. Warum, zum Teufel, war er also in das Viertel an der Westminster Bridge gegangen und hatte dort einen Ladeninhaber bestochen, damit dieser ihm die genaue Adresse verriet?

Längst hatte Everett die Summe, die er Lionel schuldete, bei der Hoare’s Bank eingezahlt. Trotzdem stand er jetzt am Eingang zu einem ärmlichen, von schiefen Häusern umgebenen kleinen Platz, einem Hof eher, der den Namen Little Frenchman’s Yard trug. Er war im Begriff, die Vereinbarung mit Lionel zu brechen, obwohl es überhaupt keinen Grund dafür gab. Es sei denn …

Verflucht, ich will Lione leben unbedingt wiedersehen! Sonst nichts.

Vielleicht konnte er so etwas wie Wiedergutmachung leisten. Ganz gewiss würde er nicht noch einmal etwas tun, das er sein Leben lang bereuen musste. Allerdings kam es ihm nun, da er sich der feuchten stinkenden Passage näherte, die den einzigen Zugang zum Hof bildete, äußerst unwahrscheinlich vor, dass Loveday noch bei ihrem Bruder lebte. Lionel hätte niemals zugelassen, dass seine Schwester an einem Ort wie diesem wohnte. Vielleicht hatte sie geheiratet oder …

Geheiratet!Everett bemerkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, und zwang sich, sich zu entspannen. Es ging ihn nichts an, wenn Loveday geheiratet hatte. Er selbst war im Begriff, sich zu verloben. Sicher, noch hatte er Miss Angaston nicht persönlich kennengelernt. Doch seine Tanten hatten sich sehr taktvoll mit der Familie der jungen Dame in Verbindung gesetzt. Alle Beteiligten waren sich darüber einig, dass es eine hervorragende Partie sein würde. Phoebe Angaston war reich und schön, und er war ebenfalls reich und trug zudem einen Titel. Es war genau die Art von Verbindung, die er nach der Meinung all seiner Verwandten schließen sollte.

Seit seiner Kindheit hatte man ihm immer wieder erklärt, dass die Ehe eine Verpflichtung sei, der er sich nicht entziehen könne. Es ging um die Sicherung der gesellschaftlichen Stellung, um die Vermehrung des Reichtums, um das Fortbestehen der Familie. Liebe spielte keine Rolle.

Lionel hatte das nie infrage gestellt. Und er selbst? Nun, er konnte sich noch gut daran erinnern, wie sein Vater mit ruhiger Stimme die Namen von Mädchen aufgezählt hatte, die er für passende Ehekandidatinnen hielt, ehe er lächelnd sagte, dass nichts übereilt werden müsse. Dass Everett, wenn es sein Wunsch sei, sich vor der Hochzeit ruhig etwas austoben könne, wie es so viele Männer täten. Damals war ihm das vollkommen normal und logisch erschienen. So ging es in der Welt nun einmal zu.

Inzwischen allerdings war sein Vater seit vier Jahren tot, und Everett spürte, dass es an der Zeit war, eine Familie zu gründen. Die wiederholten, nur allzu deutlichen Hinweise seiner Tanten waren völlig überflüssig. Er wusste selbst, was zu tun war. Er wusste es, seit er am Morgen seines letzten Geburtstags mit schmerzendem Kopf und trockenem Mund aufgewacht war und sich im Spiegel kaum erkannt hatte. In jener Sekunde war ihm klar geworden, dass er als Viscount Verantwortung trug, dass es Menschen gab, die von ihm abhängig waren, dass er endlich erwachsen werden musste.

Everett blieb am Eingang der Passage stehen. Ihm war, als höre er jemanden schnarchen. Er schnupperte vorsichtig. Es roch unangenehm sauer. Welch schreckliche Gegend! Dabei hatte Lionel noch vor sechs Jahre mit Loveday, die ihm den Haushalt führte, in einer hübschen Wohnung in Bloomsbury gelebt. Sicher, es hatte sich um kein besonders elegantes Haus gehandelt, aber die Zimmer waren nett und bequem eingerichtet gewesen. Und Lionel hatte alles problemlos von seinen Einkünften als Maler finanzieren können. Warum, um Himmels willen, lebte er jetzt hier?

Zögernd ging Everett weiter. In der Passage war es erstaunlich dunkel. Trotzdem erkannte Everett jetzt, dass das Schnarchen von einem Menschen kam, der in der Nähe der feuchten Wand inmitten alter Zeitungen auf der Erde lag und den er zunächst für einen Haufen weggeworfener Kleidungsstücke gehalten hatte.

Wegen des unangenehm sauren Geruchs atmete er flach und ging rasch weiter. Dennoch konnte er, als er an dem schlafenden Mann vorbeieilte, deutlich dessen Gin-Fahne riechen. Rasch trat er auf den Hof. Im Dämmerlicht des hereinbrechenden Abends wirkten die Häuser noch trostloser. Um überhaupt aufrecht stehen zu können, schienen sie sich aneinander zu lehnen. Everett versuchte sich einzureden, bei Tageslicht sähe alles besser aus. Vergeblich. Alles hier würde immer feucht und ärmlich wirken. Und an einem regnerischen Abend wie diesem schien jede Kleinigkeit Verzweiflung auszudrücken.

In einer offenen Tür stand ein Junge und starrte ihn an. Als Everett sich dem Knaben näherte, flammte in dessen trüben Augen Angst auf. Er blieb stehen. „Hallo, ich will zu Lionel Trehearne.“

Der Junge zuckte die Achseln.

Eine zerzauste rotgefleckte Katze schlich vorbei. Im Maul trug sie eine Ratte, die beinahe ebenso groß war wie sie selbst.

Everett wandte keinen Blick von dem Kind ab, als er die Hand in die Tasche steckte und begann, mit ein paar Münzen zu spielen. Klirrend schlugen sie gegeneinander. „Ist das deine Zunge, die die Katze gestohlen hat?“

Der Junge schüttelte den Kopf, und vielleicht glomm einen Moment lang so etwas wie Humor in seinen Augen auf. „Nee, ne Ratte, ne dicke fette Ratte.“

„Stimmt. Und wie ich höre, kannst du tatsächlich sprechen. Also, wo wohnt Mr Trehearne?“ Wieder klimperte er mit den Münzen.

Der Knabe hob scheinbar gelangweilt den Arm und wies auf eine Tür auf der anderen Seite des Platzes hin. Ein paar schiefe Stufen führten zu ihr hinauf. „Da vielleich’. Sons’ wohnt hier keiner, der nen Kerl wie Sie kenn’ könnt’.“

„Danke.“ Everett warf dem Jungen eine Münze zu.

Überraschend geschickt fing er sie auf, und schon war sie irgendwo in den dreckigen Lumpen, mit denen er bekleidet war, verschwunden.

Nachdem er den Platz überquert hatte, stieg Everett vorsichtig die hölzernen Stufen hinauf. Sie gaben seltsame Laute von sich, so als wollten sie dagegen protestieren, dass jemand auf sie trat. Tatsächlich fürchtete Everett, die Konstruktion könne jeden Augenblick zusammenbrechen. Doch sie hielt stand, und dann hatte er die Tür erreicht, die aus verschiedenfarbigen Brettern zusammengenagelt war. Er musterte sie misstrauisch und klopfte dann. Da sie nicht gleich in ihre Teile zerfiel, konnte er wohl darauf hoffen, dass Lionel sie öffnen würde.

Wenn er mich nur nicht gleich die Treppe hinunterwirft, ohne mich ausreden zu lassen, dachte Everett.

Nach einer Weile hörte er, wie sich leichte Schritte näherten. Dann fragte jemand: „Wer ist da?“

Sein Herz machte einen Sprung. Das war nicht der männliche Bariton, mit dem er gerechnet hatte. Er kannte diese sanft klingende helle Stimme, die ihn unweigerlich an ein Musikstück erinnerte. In seinem Kopf ging plötzlich alles durcheinander, und einen Moment lang brachte er kein Wort über die Lippen. Dann war da nur noch ein einziger Gedanke: Loveday!

Autor

Elizabeth Rolls
<p>Elizabeth Rolls, Tochter eines Diplomaten, wurde zwar in England geboren, kam aber schon im zarten Alter von 15 Monaten in die australische Heimat ihrer Eltern. In ihrer Jugend, die sie überwiegend in Melbourne verbrachte, interessierte sie sich in erster Linie für Tiere – Hunde, Katzen und Pferde – las viel...
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