Bittersüß wie deine Küsse

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Ausgerechnet ihr Boss Dr. Luke Stanley bittet sie, sich um seine kleine Tochter zu kümmern! Chloe kann dem frisch verwitweten Singledad seinen Wunsch nicht abschlagen. Doch bald weckt Luke nicht nur ihr Mitgefühl, sondern auch eine ebenso verlockende wie verbotene Sehnsucht …


  • Erscheinungstag 22.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738815
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Alles Gute zum Geburtstag!“

Jubelrufe und Glückwünsche regneten auf sie herab, bunte Luftballons schwebten an die Decke, und Chloe Kefes wusste nicht, ob sie lachen oder weinen oder die Flucht ergreifen sollte. Zumute war ihr vor allem nach Letzterem, als sie überrascht in die lächelnden Gesichter ihrer Kolleginnen und Kollegen starrte.

Langsam betrat sie das Konferenzzimmer, wurde von allen umringt und umarmt, bis ihr schließlich jemand einen Styroporbecher mit einem kleinen Schluck Sekt in die Hand drückte.

Chloe hatte nicht den geringsten Verdacht geschöpft, als sie kurzfristig zu einer wichtigen Fallbesprechung gerufen wurde. Die Abteilung für Plastische Chirurgie des Gold Coast City Hospitals brummte wie ein Bienenstock, da musste es manchmal schnell gehen. Das hier jedoch war eine raffinierte Finte gewesen.

„Auf Chloe!“ Sie erhoben ihre Becher.

„Alles Liebe, Chloe.“

„Lass dich feiern.“

Wieder wurde sie gedrückt, oder man klopfte ihr auf die Schulter, und dann verschwand die Hälfte der Anwesenden eilig, um wieder an die Arbeit zu gehen.

„Pass auf, dass Richard nicht alle Tim Tams aufisst“, rief Julie, die Röntgenassistentin, ihr noch über die Schulter zu.

Übrig blieben neben ihrer Kollegin Kate und der Stationsschwester diejenigen, die jetzt Dienstschluss hatten: eine Krankenpflegeschülerin, ein Medizinstudent und der Oberarzt Richard, der einen Ruf als Schokoladenjunkie weghatte.

Chloe fand allmählich ihre Sprache wieder. „Oh, Leute, das hättet ihr nicht machen müssen.“ Ich wünschte, ihr hättet es nicht getan.

Keri Letterman, die Stationsschwester, lächelte zufrieden. „Hast du etwa geglaubt, dass wir deinen Dreißigsten sang- und klanglos vorbeiziehen lassen?“

„Wow“, meinte der gerade mal zwanzigjährige Student leise zu der einundzwanzigjährigen Schwesternschülerin. „Für so alt habe ich sie nicht gehalten.“

Ein fröhliches Lächeln wollte Chloe nicht so ganz gelingen, und auch ihre Antwort kam nicht so unbefangen heraus, wie sie es sich gewünscht hätte. „Eigentlich nicht.“ Bis vor wenigen Minuten hatte sie noch geglaubt, dem Radar der Geburtstagspolizei, wie Keri und Kate auch genannt wurden, entgangen zu sein. Allerdings hätte sie es besser wissen sollen nach dem Trubel, den der fünfzigste Geburtstag der Stationssekretärin ausgelöst hatte. Woran Lizzie selbst nicht ganz unschuldig gewesen war, da sie den Countdown Tage vorher schon bei jeder sich bietenden Gelegenheit mitgezählt hatte.

Chloe hingegen hatte keiner Menschenseele verraten, dass sie Geburtstag hatte, und erst recht nicht, dass es der gefürchtete dreißigste war.

„Gut, dass ich Nick und Lucy mit ihren süßen Zwillingen in der Kantine getroffen habe. Sie haben mir erzählt, dass heute dein besonderer Tag ist. Von dir hätten wir es ja wohl nie erfahren.“

Richtig. „Wer braucht Feinde, wenn er einen großen Bruder hat?“, scherzte Chloe. Im Gegensatz zu anderen hier am Krankenhaus brachte sie ihr Privatleben nicht mit an den Arbeitsplatz – auch, weil sie so gut wie keins hatte.

Stattdessen redete sie über ihr neues Apartment mit Meerblick – es brauchte ja niemand zu wissen, dass sie vom Ozean nur einen kleinen Ausschnitt von ihrer Küchenzeile aus sah – und von Wanderungen im Regenwald rund um den Mount Warning oder ihren jüngsten Abenteuern beim Seekajakfahren. Viel persönlicher wurde sie nicht.

Aus gutem Grund. Schon vor langer Zeit hatte Chloe gelernt, dass die Leute umso mehr fragten, je offener man aus seinem Leben erzählte. Solange sich die Fragen um die letzten beiden Jahre drehten, war alles in Ordnung. An die Zeit davor mochte sie nicht einmal denken.

„Und, was hast du geschenkt bekommen?“ Richard leckte sich Schokolade von den Fingern.

Sie holte ein Foto aus ihrer Kitteltasche. „Chester.“

„Oh, ist der niedlich!“ Ihre Kollegin Kate überschlug sich fast vor Begeisterung. „Wie alt ist er?“

„Acht Wochen.“

„Der ist ja noch klein. Wer passt auf ihn auf, wenn du arbeitest?“

„Ich bringe ihn in die Hunde-Kita.“

„Hunde-Kita?“ Richard verdrehte die Augen. „Wenn du uns hier Fotos von einem Hund zeigst, ist das nur ein Zeichen, dass du einen Mann und ein Baby brauchst.“

Die Worte waren wie Messerstiche, und sie hatte Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Richard war ein netter Kerl, der allerdings keine Ahnung hatte, wie sehr sie sich nach einer eigenen Familie sehnte.

Ein Wunsch, der nie in Erfüllung gehen würde.

„Hunde sind viel einfacher“, entgegnete sie betont unbekümmert. „Und im Gegensatz zu dir ist mein Hündchen gut erzogen.“

Richard lachte gutmütig. Sein Pager klingelte, und nach einem kurzen Blick darauf bedeutete er Student und Schülerin, ihm zu folgen, schnappte sich die letzten beiden Schokoladenkekse und verließ mit einem verschmitzten Lächeln den Raum.

Keri betrachtete das Bild von Chester. „Er ist wirklich süß. Habe ich dir schon das Foto von Tahlia gezeigt, wo sie als Katze verkleidet ist?“

„Ja.“ Chloes Lächeln drohte einzufrieren. Sie hatte alle Fotos von Tahlia gesehen, angefangen von dem Moment, als sie nach der Entbindung auf der Brust ihrer Mutter lag, bis zu den jüngsten Aufnahmen von der Feier zu ihrem zweiten Geburtstag. Ganz die stolze Mutter, teilte Keri ihre Freude über jeden Entwicklungsschritt ihrer kleinen Tochter mit jedem, der es hören wollte. Und mit allen anderen auch.

„Jack fährt jetzt ohne Stützräder.“ Kate holte ihr Handy aus der Tasche und zeigte eine Aufnahme ihres zweiten Sohns.

„Er ist so groß geworden“, meinte Keri.

„Wahnsinn, wie schnell das geht. Ich weiß noch, wie er seine ersten Schritte machte, und jetzt ist er sechs und fährt Fahrrad.“ Kate wischte über das Display. „Hier, Chloe, das musst du dir ansehen.“

„Toll“, antwortete sie schwach. Mit dem Foto von Chester wollte sie sich eigentlich vor solchen Situationen schützen. Leider schien die Sache nach hinten loszugehen. Der tapsige Welpe erinnerte die anderen nur daran, dass sie süße Kinder hatten.

„Alles okay, Chloe?“

Sie besserte ihr Lächeln nach, strahlend, so gut es ging. „Klar, wieso?“

„Du zerdrückst gleich deinen Becher.“

„Dann brauche ich wohl mehr Sekt.“ Sie schnappte sich die Flasche, goss sich einen großen Schluck ein und kippte ihn hinunter.

Kate hielt ihr ihren Becher hin, damit sie nachfüllte. „Und, was hast du heute Abend Schönes vor?“

Mit Chester am Strand spazieren gehen, mir was vom Inder holen und ins Bett kriechen und alle vier Staffeln der neuen Serie sehen. Kate wäre allerdings entsetzt. Verheiratet und als Mutter kleiner Kinder sah sie das Single-Dasein und die damit verbundenen Freiheiten in verklärtem rosigem Licht.

„Ich bin mit ein paar Freunden im Bedroom.“ Was nicht völlig gelogen war. Schlafzimmer ist Schlafzimmer.

Kates Augen leuchteten auf. „Oh, ich war ewig nicht mehr in einem Nachtklub. Du bist zu beneiden, Chloe.“

„Ich wette, Nick und Lucy werden dich von vorn bis hinten verwöhnen.“ Keri fing an, aufzuräumen.

Chloe dachte an ihren wunderbaren großen Bruder, den einzigen Menschen, auf den sie sich seit ihrem sechzehnten Lebensjahr immer hatte verlassen können. Sie hatten viel durchgemacht, sich oft gegenseitig aufgerichtet, wenn einer von ihnen den Mut zu verlieren drohte. Das hatte sie nur noch mehr zusammengeschweißt.

Vor Kurzem hatte Nick geheiratet, und Chloe freute sich sehr für ihn. Ihre Schwägerin Lucy war genau die Frau, die er brauchte. Aber mit der Hochzeit und der Geburt der Zwillinge änderte sich sein Leben, und natürlich stand jetzt nicht mehr seine Schwester für ihn im Mittelpunkt. Chloe mochte Lucy, und sie liebte auch ihre kleinen Nichten. Trotzdem fiel es ihr schwer, sie um sich zu haben, und manchmal vermisste sie ihren Bruder einfach.

„Nick hat es geschafft, dass das Café Sunset heute für uns schon um sechs aufgemacht hat. Wir haben draußen gefrühstückt und den Sonnenaufgang …“

„Tut mir leid, wenn ich die Feier unterbrechen muss.“

Chloe fuhr herum. Die tiefe, leicht abschätzige Männerstimme hörte sich nicht so an, als ob ihrem Besitzer auch nur irgendetwas leidtäte.

„Luke?“ Keri stieß einen kleinen Freudenschrei aus und lief zu ihm, umarmte ihn.

Steif blieb er stehen und ließ die Sympathiebekundung über sich ergehen wie jemand, der ohne Schirm im Regen warten muss – in der Hoffnung, dass der Schauer bald vorübergeht.

Chloe blinzelte, hätte am liebsten ihre Brille geputzt. Dieser hagere Mann mit den silbergrauen Schläfen sollte Luke Stanley sein? Der Chirurg, der nicht nur für seine herausragenden Fähigkeiten auf dem Gebiet der plastischen Chirurgie, sondern auch für seine humorvolle, entspannte Art äußerst beliebt war? Ihre Erinnerungen passten nicht zu dem Bild, das er jetzt bot.

Nicht dass sie ihn persönlich gut gekannt hätte. Im Grunde waren sie sich nur ein einziges Mal begegnet, vor ungefähr einem Jahr. Chloe wurde heute noch rot, wenn sie daran dachte.

Es war ihr erster Tag auf der Station gewesen.

Wegen ihres Alters hielt jeder sie für eine erfahrene Krankenschwester. Woher sollten sie auch wissen, dass ihr Leben mit sechzehn eine dramatische Wendung genommen hatte, die alle ihre Pläne für Schule und Beruf über den Haufen warf? Chloe war achtundzwanzig, als sie ihr Studium abschloss. Deshalb musste sie doppelt so hart arbeiten wie ihre jüngeren Kolleginnen, denen man aufgrund ihrer Jugend einiges nachsah.

Chloe war also entschlossen, keine Fehler zu machen. An jenem ersten Tag konzentrierte sie sich auf den Verbandswechsel bei einem Patienten, dem ein Finger wieder angenäht worden war. Während sie in Gedanken abhakte, was zu tun war und welches Material sie brauchte, ertönte hinter ihr eine tiefe, wohlklingende Stimme.

„Hallo, Mr Benjamin.“

Erschrocken wirbelte sie herum und vergaß dabei völlig, dass sie eine offene Flasche mit Jodlösung in der Hand hielt. Angetrieben von der plötzlichen Bewegung schoss die rotbraune Flüssigkeit heraus, flog durch die Luft, verharrte einen Moment, wie um Chloe und ihre Ungeschicklichkeit zu verspotten, bevor sie sich der Schwerkraft ergab und auf Chefarzt Dr. Stanley landete. Ihrem neuen Boss.

Als die hässlichen dunklen Flecken sich auf seinem fein gestreiften Hemd ausbreiteten, hätte Chloe in Tränen ausbrechen können.

„Oh, es tut mir so leid“, stammelte sie. „Natürlich werde ich Ihnen das Hemd ersetzen.“ Auch wenn ihr Gehalt nicht darauf ausgelegt war, Zweihundert-Dollar-Hemden einzukaufen, so musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Und mal wieder in den Topf mit dem mühsam angesparten Geld für einen Wagen greifen.

Dr. Stanley hob den Kopf und lächelte. Sein gelocktes schwarzes Haar schimmerte im Licht wie Rabengefieder. „Das ist nun heute schon der dritte Angriff, den dieses Hemd aushalten muss. Meine Frau verzieht jedes Mal das Gesicht, wenn ich es trage. Damit meint sie anscheinend, dass es nicht meine Farbe ist und ich Hemden lieber nicht allein aussuchen sollte“, meinte er gut gelaunt. „Unser Baby scheint der gleichen Ansicht zu sein, sonst hätte es sich nicht darauf erbrochen, als ich schon fast zur Tür hinaus war. Und jetzt dies. Ich glaube, Sie haben mir einen Gefallen getan, Schwester … Entschuldigung, ich weiß gar nicht Ihren Namen.“

„Kefes. Chloe Kefes. Ich habe heute hier angefangen.“

„Sie kümmert sich großartig um mich, Doc“, mischte sich Mr Benjamin ein.

Chloe hätte ihn umarmen können.

„Davon bin ich überzeugt.“ Dr. Stanley machte ein nachdenkliches Gesicht. „Unser Geburtshelfer hieß Kefes. Er arbeitet auch hier am Gold Coast City, und ich glaube, meine Frau hat sich heimlich in ihn verliebt, als er unsere kleine Amber auf die Welt holte.“ Er lachte, zog sein Smartphone hervor und zeigte ihr ein Neugeborenes in einer Babybadewanne.

Mit den großen dunklen Augen und dem schwarzen Haarschopf sah das Kind seinem Vater sehr ähnlich. Chloe dachte an ein anderes, ein verlorenes Baby und zitterte am Abgrund der tiefen Schlucht voll Trauer und Reue, die sich immer wieder in ihr auftat.

„Das ist Amber, eine Stunde nach ihrer Geburt.“ Dankbarkeit und Respekt schwangen in seiner Stimme mit. „Glauben Sie mir, ich habe ihn genauso bewundert wie meine Frau. Sie sind nicht zufällig mit ihm verwandt?“

Um nicht an Babys denken zu müssen, griff sie nach der Unterhaltung über ihren Bruder wie nach einer Rettungsleine, und der bedrohliche Abgrund wich zurück. „Nick ist mein Bruder, und er ist wirklich bewundernswert, nicht nur als Arzt.“

Chloe allein wusste, welche Opfer Nick gebracht und wie hart er gearbeitet hatte, um dort anzukommen, wo er heute stand. Deshalb freute sie sich besonders, wenn jemand ihn so begeistert lobte wie Dr. Stanley.

Der lächelte anerkennend. „Geschwister, die sich beide für die Medizin entschieden haben. Sind Sie in einer Arztfamilie aufgewachsen?“

Sie schüttelte den Kopf, wehrte die bedrückenden Erinnerungen heftig ab. „Sind Sie sicher, dass ich Ihnen das Hemd nicht ersetzen soll?“

„Absolut.“ Wieder lächelte er auf diese unbefangene, charmante Art. „Machen Sie sich keine Gedanken. Anna wird sich vielleicht sogar bei Ihnen bedanken, dass Sie es endgültig ruiniert haben.“ Er wandte sich seinem Patienten zu. „So, Mr Benjamin, dann zeigen Sie mir mal Ihre Hand. Wir wollen sehen, ob meine Näharbeit Ihre Begegnung mit der Kreissäge wieder wettgemacht hat.“

Es war Chloes erste und einzige Begegnung mit Luke Stanley – bis heute. Nicht lange danach verschickte die Verwaltung eine Rundmail mit der Information, dass Dr. Stanley ein Sabbatjahr nehmen würde. Damals hatte Chloe nicht weiter darüber nachgedacht. Chefärzte kamen und gingen, für Chloe blieben die Patienten das Wichtigste.

Wenn sie den Chirurgen so betrachtete, fragte sie sich unwillkürlich, ob er seine Auszeit an einem Ort verbracht hatte, wo nie die Sonne schien. Hätte sie ihn früher als groß, gut aussehend, sonnengebräunt und charmant mit einem umwerfenden Lächeln beschrieben, so wirkte er jetzt blass, müde und angespannt.

Keri lächelte, während sie einen Schritt zurücktrat. „Ich habe Ihren Namen auf der OP-Liste gesehen und mich schon gefragt, wann Sie bei uns Hallo sagen.“ Sie deutete auf die beiden Krankenschwestern. „An Kate erinnern Sie sich bestimmt, aber Chloe kennen Sie, glaube ich, noch nicht.“

Kate hob grüßend die Hand. „Willkommen zurück, Luke.“

„Danke.“ Das klang fast knurrig.

Dann wandte er sich Chloe zu. In den einst tiefgründigen, vor Lebensfreude leuchtenden grünen Augen lag ein undurchdringlicher Schatten. Auch schien er sie nicht wiederzuerkennen. Luke nickte nur knapp. Dabei fiel ihm eine dunkle Strähne in die Stirn.

Damals hatte jedes Haar an seinem Platz gelegen, akkurat geschnitten von einem teuren Herrenfriseur, und seine Haut war glatt rasiert. Heute bedeckten Bartstoppeln sein markantes Kinn, und das sicher schon länger als drei Tage. Und statt der maßgeschneiderten Anzughose und einem eleganten Hemd trug Luke ein dunkelrotes Poloshirt und zerknitterte Chinos, die aussahen, als hätte er darin geschlafen. Vielleicht kam er gerade vom Flughafen und litt unter Jetlag?

„Diese Woche steht ein komplizierter Eingriff bei einem Jungen an, den die Stiftung aus Bali hat herfliegen lassen“, sagte er zu Keri. „Nach einem Unfall mit siedendem Öl hat er starke Vernarbungen davongetragen und kann weder den Mund schließen noch den Kopf bewegen. Er braucht Einzelbetreuung, und ich möchte, dass er nicht in der Pädiatrie, sondern von einer Krankenschwester aus der Plastischen gepflegt wird.“

Die Stationsschwester nickte. „Wann ist die OP?“

„Donnerstag.“

Keri blickte auf den Dienstplan. „Chloe ist bis Sonntag eingeteilt.“

„Gut.“

Nein, überhaupt nicht! Das beklemmende Gefühl wurde stärker. Sie pflegte Erwachsene, keine Kinder!

Luke musterte sie. Seine trostlose Miene verriet eine Traurigkeit, die sie selbst nur zu gut kannte. Chloe hatte gelernt, ihr nicht auf den Grund zu gehen, sie möglichst wegzuschieben. Als sie versuchte, die melancholische Stimmung abzuschütteln, die sein Blick ausgelöst hatte, blitzte in den grünen Augen unerwartet etwas auf.

Ihre Haut prickelte, und ein erregender Schauer rieselte ihr über den Rücken. Gefühle, die hier nichts zu suchen hatten. Der Mann war verheiratet, hatte Familie, und damit war er für Chloe verbotenes Terrain.

Und vom Moralischen einmal abgesehen, sie kannte ihn nicht einmal. Warum fühlte sie sich plötzlich zu ihm hingezogen? Ihr Körper musste da etwas falsch verstanden haben. Mitgefühl, geweckt von dem freudlosen Ausdruck in seinen Augen, sollte das einzige Gefühl sein, das sie für ihn hegte. Sonst nichts – und auf keinen Fall Lust.

„… um acht im OP, Chloe.“

Da war es wieder, das verbotene Prickeln, nur weil er ihren Namen aussprach. Ohne es zu wollen, lauschte sie dem Klang seiner tiefen Stimme nach, bis sie begriff, was er gesagt hatte. Ihr klopfte das Herz im Hals, und sie sah Keri Hilfe suchend an. „Jackie hat viel mehr Erfahrung mit Kindern.“

„Stimmt, aber du hast Dienst und sie nicht.“

„Ich könnte tauschen.“ Sie wandte sich an Kate. „Wie wär’s, Kate? Als Geburtstagsgeschenk für mich?“

„Tut mir leid, Chloe, wir haben ein Familientreffen. Du weißt ja, wie das ist.“

Eben nicht. Außer Dinner mit Nick hatte sie seit vierzehn Jahren kein Familientreffen mehr gehabt.

Luke stieß einen frustrierten Seufzer aus, leise nur, aber seine Missbilligung hallte laut von den Wänden wider. Der Chirurg bedachte Chloe mit einem düsteren Blick, der die dunklen Schatten unter seinen Augen nur verstärkte. „Verzeihen Sie, wenn meine Pläne Ihnen lästig sind.“

Für gewöhnlich ließ sie sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen, aber mit seinem beißenden Sarkasmus traf er einen Nerv. Chloe drückte die Schultern durch. „Davon kann keine Rede sein, Dr. Stanley. Ich weise nur darauf hin, dass meine Erfahrungen erwachsene Patienten betreffen und ich Ihrem Patienten deshalb nicht gerecht werden könnte.“

„Ach, verdammt, ich verlange ja nicht von Ihnen, dass Sie mit ihm spielen sollen.“ Er fuhr sich durchs Haar. „Hören Sie, ich brauche eine fähige Krankenschwester aus der Plastischen. Entweder Sie können den Job übernehmen, oder Sie können es nicht.“

„Sie kann es auf jeden Fall“, meldete sich Keri besänftigend zu Wort und warf Chloe einen Blick zu. Was ist denn mit dir los? „Chloe wird ein Team von drei Schwestern leiten, sodass das Kind rund um die Uhr betreut wird, solange es nötig ist.“

Chloe atmete tief durch, um der aufsteigenden Panik Herr zu werden. Um Kinder machte sie einen großen Bogen. Selbst während der Ausbildung war es ihr mit einer gehörigen Portion Glück gelungen, so wenig wie möglich mit kleinen Patienten zu tun zu haben. Während ihres Praktikums auf der Kinderstation brach eine Grippe-Epidemie aus, und die Betten mit der bunten Eulen-Bettwäsche wurden für Erwachsene gebraucht. Um die sich Chloe sofort freiwillig kümmerte.

Jetzt schien ihr Glück jedoch mit fliegenden Fahnen die Seite zu wechseln.

Keri nahm Luke am Arm und lotste ihn zur Tür. „Wie geht es Anna und Amber? Freuen sie sich, wieder im sonnigen Australien zu sein?“

Luke wurde bleich. „Wissen Sie es etwa nicht?“

Bei der tonlosen Frage rann es Chloe eiskalt über den Rücken.

„Ich glaube nicht“, antwortete Keri zögernd.

Er mied ihren Blick, sah hinaus in den Flur. „Anna ist vor dreizehn Monaten gestorben.“

Chloe spürte seinen Schmerz körperlich und so stark, dass sie unwillkürlich den Becher in ihrer Hand zerquetschte. Der erfolgreiche, vom Glück verwöhnte Chirurg hatte alles verloren.

Keri sank gegen den Türrahmen. „Es tut mir so leid, Luke. Wir hatten ja keine Ahnung …“

„Jetzt wissen Sie es.“ Luke hatte sich wieder unter Kontrolle, als er sich zu Chloe umdrehte. „Donnerstag um acht. Seien Sie pünktlich.“ Aufrecht und mit steifen Schritten verließ er das Zimmer.

In diesem Augenblick hätte Chloe alles gegeben, um dem Donnerstag aus dem Weg zu gehen. Vage bekam sie mit, wie Kate und Keri schockiert die Neuigkeiten verarbeiteten. Sie selbst war in Gedanken schon bei den nächsten Tagen, wahrscheinlich Wochen, die vor ihr lagen. Verschwunden war der Mann, der bei allen wegen seines lockeren, humorvollen Wesens beliebt gewesen war. Stattdessen musste sie mit einem Chirurgen zurechtkommen, der nur noch ein Schatten seiner selbst schien und für andere kaum ein freundliches Wort, geschweige denn ein Lächeln übrig hatte.

Was für ein Start in ihr einunddreißigstes Lebensjahr!

2. KAPITEL

„Wie war es heute mit ihr?“

Luke saß mit seiner Schwester am Gartentisch unter einem riesigen Sonnensegel und beobachtete, wie Amber mit ihren älteren Cousinen durch die Gegend flitzte. Er mochte nicht daran denken, dass er mit ihr gleich nach Hause fahren musste. In ein leeres, totenstilles Zuhause.

„Die Mädchen haben die ganze Zeit mit ihr herumgetollt. Sie hat drei Stunden lang geschlafen.“ Steph zuckte bedauernd mit den Schultern. „Wahrscheinlich wirst du sie heute Abend nicht so schnell ins Bett kriegen. Tut mir leid.“

„Vielleicht tobt sie sich jetzt noch ein bisschen aus und schläft dann um sieben ein.“

Seine Schwester warf ihm einen fragenden Blick zu. „Und, wie war’s?“

„Was?“

„Wieder im Gold Coast City zu sein.“

Er sah die erschrockenen Gesichter der Krankenschwestern vor sich. „Sie wussten nichts davon.“

„Oh, Luke.“ Sanft berührte sie seinen Arm.

„Ich dachte, sie hätten es irgendwie erfahren.“ Er schwenkte sein Glas, die Eiswürfel klirrten. „In Krankenhäusern wird so viel getratscht.“

„Vielleicht haben sie nichts davon gehört, weil es in Frankreich passiert ist.“

„Kann sein.“ Luke leerte sein Glas, versuchte, nicht an jenen Abend zu denken, als die Gendarmen ihm erklärten, dass sein Wagen auf die Gegenfahrbahn geraten war. „Ich musste es ihnen sagen, Steph. Ich musste mir ansehen, wie schockiert sie waren. Mir ihr Mitleid anhören. Und ich hatte gedacht, dass das vorbei ist. Wenigstens das.“

„Es wird mit der Zeit einfacher.“

„Sag das nicht.“ Verärgert sah er sie an. Er hasste diese Plattitüden. Luke hatte zu viele gehört, ohne ihnen einen Trost abgewinnen zu können. Besser fühlten sich hinterher nur die anderen, die, die solche Worte aussprachen. Ihm halfen sie nichts. Nichts konnte ihn über die bittere Wahrheit hinwegtäuschen, dass er seine geliebte Frau getötet hatte.

Steph presste die Lippen zusammen. „Anna wird uns immer fehlen“, sagte sie. „Aber du weißt, was ich meine. Das Krankenhaus betreten, mit den Leuten reden – das wird dir irgendwann leichter fallen. Außerdem haben sie die Neuigkeiten bis Donnerstag verdaut und längst ein neues Thema. Und wenn man bedenkt, wie oft das Personal seit letztem Jahr gewechselt hat, kennt dich die Hälfte wahrscheinlich nicht einmal.“

Unerwartet dachte er an grünbraune Augen hinter einem schwarzen Brillengestell und schimmerndes kastanienbraunes Haar. Die Krankenschwester schien ihm vertraut, und doch war er sicher, dass er ihr nie zuvor begegnet war. An diese Augen, grün mit braunen Pünktchen und berührend tiefgründig, hätte er sich erinnert. Andererseits wusste er, dass starke Trauer das Erinnerungsvermögen trüben konnte. Die Krankenschwester hatte auch nicht so reagiert, als ob sie ihn kannte. Verdammt, er wusste nicht, warum er überhaupt an sie dachte.

Luke versuchte, das Bild beiseitezuschieben, doch wie in einem Film spulte sein Gehirn weitere Eindrücke ab. Ein lächelndes Gesicht, ein rubinroter Kussmund und weibliche Rundungen. Kurven, die in Zeiten dürrer Models bei den heutigen Frauen nicht besonders beliebt waren. Aber sie strahlten eine betörende Sinnlichkeit aus.

Sein Mund wurde trocken, und wieder durchfuhr ihn das gleiche flüchtige, doch intensive Verlangen wie vorhin in ihrer Gegenwart. Er rieb sich den Nacken. Was war mit ihm los? Anna war erst ein Jahr tot, und er vermisste sie an jedem einzelnen Tag. Luke wollte keine andere Frau ansehen, geschweige denn, sie begehren.

„Alles okay, Luke?“

Nein. „Klar.“ Der prüfende Blick seiner Schwester gefiel ihm nicht, und er beschloss, das Thema zu wechseln. „Vom Kindergarten hat jemand angerufen. Sie nehmen Amber auch an den anderen Tagen, wenn du deine große Reise machst.“

„Gut zu hören“, sagte sie erleichtert. „Na ja, wenn du das Haus um die Ecke nicht verkauft hättest …“

Luke schüttelte den Kopf, als er an das stilvolle moderne Haus mit den fünf Schlafzimmern, dem Swimmingpool und dem spektakulären Blick auf den Gezeitenkanal mit dem regen Bootsverkehr dachte.

Anna und er hatten es gekauft, als er am Gold Coast City Hospital anfing. Das Kinderzimmer für Amber eingerichtet. Luke hatte selbst tapeziert, und er wusste noch wie heute, dass Anna einen Blick auf die Tapete mit den pastellfarbigen Luftballons darauf geworfen und ihn geneckt hatte. Bleib bloß bei deinem Job, sagte sie.

„Ich könnte nicht mehr in dem Haus leben, auch wenn es praktisch wäre, weil ihr in der Nähe wohnt. Außerdem spielt es vorerst sowieso keine Rolle, weil ihr zwei Monate unterwegs seid.“ Er fuhr sich durchs Haar. „Ich bin dir sehr dankbar, dass du dich an drei Tagen der Woche um Amber gekümmert hast, damit ich überhaupt praktizieren konnte. Aber ich möchte nicht, dass du dein Leben völlig auf mich abstellst. Seit ich Marty kenne, redet er von diesem Trip quer durch den Kontinent von Adelaide nach Darwin. Ihr sollt das meinetwegen nicht noch länger aufschieben.“

„Luke, wir sind eine Familie. Da hilft man sich gegenseitig. Und sobald wir zurück sind, nehme ich Amber gern wieder drei Tage wöchentlich.“ Lächelnd beugte sie sich vor. „Sie ist ein süßer Schatz, und wir lieben sie. Seit sie bei uns ist, liegen mir die Mädchen nicht mehr damit in den Ohren, dass sie noch ein Geschwisterchen haben wollen. Wenn du so willst, eine Win-Win-Situation.“

Er versuchte, ihr Lächeln zu erwidern. „Also keine Nachwuchspläne mehr?“

Autor

Fiona Lowe
Fiona Lowe liebt es zu lesen. Als sie ein Kind war, war es noch nicht üblich, Wissen über das Fernsehen vermittelt zu bekommen und so verschlang sie all die Bücher, die ihr in die Hände kamen. Doch schnell holte sie die Realität ein und sie war gezwungen, sich von den...
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