Bittersüßes Erwachen in Paris

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Einen verwegenen Selfmade-Milliardär wie Sabre d’Aramitz auf eine seiner exotischen Foto-Safaris begleiten? Für die übervorsichtige Arcadia wirkt die Frage ihrer Kollegin, für sie einzuspringen, völlig absurd. Doch dann wird der Rezeptionistin klar, das ist ihre Chance für einen Karriere-Kick. Dabei vergisst sie an der Seite des Abenteurers nicht nur ihre Flugangst, als Sabre sie küsst, fühlt sie sich so geborgen wie noch nie. Heftig verliebt folgt sie ihm nach Paris. Aber statt einem Rendezvous unter dem Eiffelturm erwartet Arcadia eine schockierende Überraschung …


  • Erscheinungstag 23.01.2024
  • Bandnummer 022024
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524490
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Als Arcadia Burton den Empfangsbereich von Victory Marketing in Las Vegas betrat, war es noch früh. Die Sonne, die über dem Horizont hervorlugte, schickte ihre ersten, warmen Strahlen über die Stadt und zauberte so ein Lichtgemälde aus unzähligen, schillernden Rotnuancen auf die Glasfassade des Bürogebäudes.

Noch herrschte Stille in der Agentur. Die Feriensaison hatte begonnen, und die meisten Angestellten waren im Urlaub. Ein Grund mehr für Arcadia, besonders zeitig an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen. Sie legte großen Wert darauf, stets gut vorbereitet in den Tag zu starten. Wenn die Mehrheit der Kollegen sich auf Reisen befand, war es umso wichtiger, dass alles möglichst reibungslos ablief.

Außerdem gab es viel zu tun: die Betreuung der Telefonzentrale, Terminvereinbarungen mit Kunden, Organisation von Konferenzen, Reiseplanung und Recherchen über geeignete Drehorte für Werbeaufnahmen.

Ihre offizielle Berufsbezeichnung lautete Empfangsdame, was Arcadia viel zu altmodisch fand. Weil sie ein Faible für alles Französische hatte, war sie stattdessen dazu übergegangen, sich heimlich selbst als Réceptionniste Extraordinaire zu titulieren. Das klang so schön kosmopolitisch und passte ihrer Meinung nach viel besser zu ihrer Position in einer der wichtigsten Marketingagenturen des Landes.

Nachdem sie den Anrufbeantworter aus- und ihren Computer eingeschaltet hatte, widmete Arcadia sich als Erstes der kleinen Kaffeebar, die in einer Ecke des Foyers untergebracht war. Sie füllte die kleinen Fächer, die mit Kaffee, Espresso, Cappuccino und Heiße Schokolade beschriftet waren, mit den entsprechenden Kapseln und stellte ein neues Glas mit Rührstäbchen aus Bambus bereit. Anschließend platzierte sie ein Tablett mit kunterbunt glasierten Donuts auf dem Dessertwagen und legte einen Stapel von den Papierservietten mit dem hübschen Christbaummotiv dazu, die von der Weihnachtsfeier übrig geblieben waren.

Die Donuts hatte sie aus purer Gewohnheit besorgt. Denn für gewöhnlich stürzten sich sämtliche Kollegen schon in der ersten Kaffeepause darauf. Aber jetzt war kaum jemand im Haus.

Ach, egal, dachte Arcadia versonnen. So bleibt umso mehr für mich!

Sie kehrte an ihren Platz hinter der Empfangstheke zurück und blickte auf den Computerbildschirm. Der Blick in ihren elektronischen Kalender verriet ihr, dass heute nur ein externer Termin anstand. Das bedeutete, dass der Kunde nicht selbst in die Agentur kam, sondern seine zuständige Kontaktperson direkt am Flughafen traf und mit ihr gemeinsam zur entsprechenden Location weiterreiste. Streng genommen war die betreffende Person auch gar kein Kunde, sondern ein preisgekrönter Fotograf, den Victory Marketing engagiert hatte, damit er in der Mojave-Wüste Fotos für die Werbekampagne eines äußerst solventen Klienten schoss. Die Verpflichtung von Sabre d’Aramitz war ein absoluter Glücksfall gewesen. Daher hatte die Agentur die Gelegenheit beim Schopf gepackt und ihm gleich noch einen weiteren Auftrag für eine Fotoserie über die Polarlichter in Finnland erteilt.

Mit der für sie typischen Gründlichkeit hatte Arcadia alles, was auf den gängigen Social-Media-Plattformen über den Fotografen und Selfmade-Milliardär berichtet worden war, durchforstet. Ein solches Vorgehen war hilfreich, um auf gewisse Bedürfnisse und Vorlieben gefasst zu sein. Dabei hatte sie erfahren, dass Monsieur d’Aramitz gern Proteinriegel als Snack zu sich nahm und sich unterwegs ansonsten hauptsächlich mit Bergquellwasser und Dörrfleisch bei Kräften hielt. Sicherheitshalber hatte sie all diese Dinge dem Reisegepäck der mitreisenden Begleitperson hinzugefügt, damit sie den Fotografen bei Laune halten konnte.

Doch abgesehen von diesen wenigen oberflächlichen Details über seine Ernährungsgewohnheiten und Angaben zu seiner beruflichen Laufbahn hatte die Internetrecherche nur erstaunlich wenige Informationen zutage gefördert. Sabre d’Aramitz legte so großen Wert auf seine Privatsphäre, dass kaum etwas über ihn an die Öffentlichkeit drang. Ironischerweise gab es vom berühmten Fotografen selbst kaum Fotos. Aber die wenigen Aufnahmen, die einigen besonders hartnäckigen Paparazzi gelungen waren, hatten Arcadia schwer beeindruckt.

Denn dieser Sabre war ein echter Hingucker.

Mit den hypnotischen, whiskybraunen Augen unter dunklen Brauen schien er den Betrachter zu fixieren. Der durchtrainierte Körper, die markanten Gesichtszüge unter dem sexy Dreitagebart und das verstrubbelte, kohlrabenschwarze Haar verliehen Sabre das Aussehen eines verwegenen Abenteurers.

Wie aufregend es sein muss, an der Seite eines solchen Mannes die Welt zu bereisen, dachte Arcadia.

Doch dazu würde es niemals kommen.

Sie würde ihm nicht einmal persönlich begegnen!

Dieses Vergnügen blieb ihrer Kollegin Lynn vorbehalten, die die Agentur als Begleitperson für den Fotoshoot eingeteilt hatte. Allerdings bedeutete das für Lynn auch den ganzen Stress und die Verantwortung, wenn unterwegs etwas nicht nach Plan verlief. Im Vergleich dazu war ihr eigener Job auf beruhigende Weise vorhersehbar. Und das war schließlich auch etwas wert. Denn während ihre Kollegin mit Monsieur d’Aramitz in einem Helikopter dem Ungewissen entgegenflog, konnte Arcadia sich in aller Ruhe dem Tagesgeschäft widmen. Und da der Großteil der Belegschaft erst in der zweiten Januarwoche aus den Ferien zurückkehren würde, war nicht mit besonderen Vorkommnissen zu rechnen.

Vielleicht komme ich heute endlich dazu, mich durch den Berg von Weihnachtskarten zu arbeiten, den wir bekommen haben, überlegte sie. Ich muss unbedingt daran denken, mich für die köstlichen Pralinen zu bedanken, die unsere französische Partneragentur geschickt hat. Sie waren himmlisch!

Plötzlich verspürte Arcadia wieder Lust auf etwas Süßes. Aber beim Blick auf die Donuts fiel ihr ein, dass sie über die Feiertage zugenommen hatte.

Ein Espresso muss reichen!

Als sie die Kaffeemaschine in Betrieb setzen wollte, klingelte das Telefon.

„Victory Marketing. Sie sprechen mit Arcadia Burton. Was kann ich für Sie tun?“

„Cady? Ich bin’s, Lynn.“

Lynn Marshall war eine der zwei Mitarbeiterinnen, die für die Kundenbetreuung vor Ort zuständig waren. Ihre Aufgabe war es, den Klienten den Eindruck zu vermitteln, dass ihre Bedürfnisse für die Agentur stets an erster Stelle standen, ohne dass dabei unnötige Gelder verschwendet wurden. Mitunter beneidete Arcadia ihre Kollegin, weil ihre Position es mit sich brachte, dass sie viel reisen durfte. Doch vielleicht ergab sich demnächst die Möglichkeit auf einen Jobwechsel. Denn die andere Kundenbetreuerin war Heiligabend Mutter geworden und trat bald ihre Elternzeit an. Ob sie in ihren Beruf zurückkehrte, war fraglich. Damit würde die Position neu ausgeschrieben …

Doch im Moment war keine Zeit für solche Überlegungen. Jetzt musste sie sich erst einmal um Lynn kümmern.

„Lynn, was ist los? Du klingst fürchterlich.“

„Ich habe mir eine schlimme Erkältung eingefangen. Meine Nase ist total verstopft. Ich kriege kaum Luft.“ Ein lautes Schniefen war zu hören. „Der Arzt hat mich krankgeschrieben.“

„Das geht nicht!“, protestierte Arcadia. „Du musst doch mit Monsieur d’Aramitz in die Wüste fliegen – und der ist in weniger als einer Stunde am Flughafen.“

„Ich weiß“, stöhnte Lynn. „Aber es geht wirklich nicht. Ich fühle mich total elend.“ Sie hustete laut. „Cady, würdest du mir einen Riesengefallen tun?“

„Klar doch“, antwortete Arcadia. Sie war immer froh, wenn sie helfen konnte. Dann blühte sie erst so richtig auf. „Cady, kannst du diesen Tausend-Seiten-Bericht mal eben ausdrucken und heften?“ Kein Problem! „Cady, ich bin mit dem Wagen liegengeblieben. Kannst du mit dem Ersatzkanister vorbeikommen?“ Aber sicher doch! Und wenn ein Model nach einer durchzechten Nacht etwas derangiert beim Werbeshooting auftauchte, fand sie auch für dieses Problem eine Lösung.

„Ich weiß, es ist furchtbar kurzfristig. Und glaub mir, wenn es eine andere Lösung gäbe, würde ich dich nicht damit belästigen. Aber es geht nicht anders. Du muss diesen Fotografen vom Flughafen abholen und ihn auf den Außentermin begleiten“, sagte Lynn und war wegen ihrer verstopften Nase kaum zu verstehen. „Wir können es uns nicht erlauben, ihn zu versetzen. Schließlich ist Monsieur d’Aramitz ein Künstler von Weltrang.“

Sabre d’Aramitz, den die Presse wegen seines Gespürs für einzigartige Motive auch gern „das magische Auge“ nannte, war bekannt für seine einzigartigen Naturaufnahmen. Egal, ob er großformatige Panoramabilder von den entlegensten Landstrichen dieser Erde schoss oder mit seinen Makrofotografien winzige Insekten in Szene setzte: Das Ergebnis war immer spektakulär. Darum hatte ihn das Magazin der geografischen Gesellschaft unter die Top Ten der besten Fotografen des Jahrhunderts gewählt.

Arcadia war durch ihre Recherche bestens über ihn im Bilde, und der Ruf, der ihm vorauseilte, flößte ihr großen Respekt ein.

Sie wurde nervös.

„Aber ich war doch noch nie auf einem Außentermin …“, setzte sie an. Doch dann wurde ihr schlagartig bewusst, dass sich hier gerade die einmalige Gelegenheit ergab, dem Büroalltag ein wenig zu entfliehen. Und das auch noch an der Seite eines sexy Franzosen! Das beschwor sofort gewisse erotische Fantasien herauf.

Arcadia Burton! Du reißt dich jetzt sofort zusammen!

Sicher, die Aussicht auf einen Trip mit dem heißen Franzosen war verlockend, aber hier ging es um viel mehr. Wenn sie sich bei diesem Einsatz bewährte, kam das ihrem Lebenslauf zugute. Und vielleicht rückte die ersehnte Beförderung zur Kundenbetreuerin damit ein ganzes Stück näher. Was sich auch auf ihrem Konto bemerkbar machen würde.

Dann kann ich die Hypothek auf mein Haus schneller abbezahlen! Und der ein oder andere Shoppingtrip wäre auch noch drin!

Lynn, die nicht wusste, dass Arcadia längst Feuer und Flamme für ihre Idee war, redete weiter auf sie ein. „Du musst einfach für mich übernehmen, Cady. Lisa ist in Mutterschutz, und sonst ist keiner da, der einspringen könnte.“ Es folgte ein längerer Hustenanfall. „Du musst nur dafür sorgen, dass Monsieur d’Aramitz immer alles hat, was er braucht, ohne ihm dabei zu sehr auf die Nerven zu gehen. Das schaffst du doch, oder?“

Klingt machbar, dachte Arcadia, sagte aber nichts.

„Cady?“, krächzte Lynn. „Sag mir jetzt bitte, dass du in einer Dreiviertelstunde am Flughafen sein kannst!“

„Ja, das geht“, bestätigte Arcadia. „Aber, Lynn …“

„Kein: aber Lynn! Du machst das jetzt.“ Schnief. „Das ist ein verdammt wichtiger Auftrag.“

„Eben. Was ist, wenn ich’s verbocke?“, fragte Arcadia zaghaft.

„Das wirst du nicht“, beruhigte Lynn sie. „Du weißt doch, worauf es ankommt. Schließlich bist du diejenige, die mir immer meine Ausrüstung für die Exkursionen zusammenstellt.“

Arcadia dachte an den Rucksack, den sie für Lynn gepackt hatte. Darin waren die wichtigsten Utensilien für den Trip: Snacks, Mineralwasser, Bargeld, ein Antiserum gegen Schlangenbisse, ein Notizbuch samt Stift und eine warme Jacke. Denn in der Wüste konnte es abends empfindlich kalt werden. Zur Sicherheit hatte sie auch noch einen faltbaren Trekkingstock und Multifunktionshandschuhe zum Schutz vor Kakteen und spitzen Steinen eingepackt. Niemals hätte sie sich erträumen lassen, dass sie all diese Dinge nun selbst brauchen würde.

„Cady? Ich stehe hier kurz vorm Exitus“, flüsterte Lynn dramatisch. „Jetzt sag endlich was!“

Arcadia sah an sich hinab und musste schmunzeln. Ihre Kleidung entsprach nicht gerade dem typischen Outfit für einen Trip in die Wüste. Aber zusammen mit den Wanderschuhen, die im Kofferraum ihres Autos lagen, würde es schon irgendwie gehen.

„Du kannst dich wieder abregen, Lynn“, sagte Arcadia. „Ich übernehme das mit Monsieur d’Aramitz.“

„Dem Himmel sei Dank!“, rief Lynn ins Telefon und nieste dann laut. „Es ist auch wirklich nur für diesen einen Tag. Der Arzt hat mir eine halbe Apotheke verschrieben. Mit den ganzen Pillen bin ich morgen bestimmt wieder so fit, dass ich den guten Sabre bei der Weiterreise nach Finnland begleiten kann.“ Noch ein Niesen. „Dann will ich dich auch nicht weiter aufhalten. Hast du es gut! Darfst mit so einem Sahneschnittchen Helikopter fliegen, während ich mich hier in Hustensaft ertränken muss. Die Welt ist so ungerecht.“

Auf ein lautes Klicken in der Leitung folgte plötzlich Stille.

Lynn hatte einfach aufgelegt.

Auf einmal wurde Arcadia ganz flau im Magen.

Sie hatte völlig verdrängt, dass der Transfer in die Wüste per Helikopter erfolgen würde. Der Fotograf hatte es ausdrücklich so verlangt. Anscheinend gehörte er zu den Menschen, die überall das Abenteuer und den Nervenkitzel suchten.

Und ich bin bisher noch nicht einmal in einem normalen Flugzeug geflogen, geschweige denn in einem Helikopter, dachte sie panisch. Die Vorstellung, in einer transparenten Kugel, über der messerscharfe Rotorblätter kreisten, durch die Luft zu segeln, war beängstigend.

Lynn ahnt gar nicht, was sie da von mir verlangt, dachte Arcadia. Sie kann sich schön in ihr Bett legen, und ich muss mit so einem Höllengefährt in die Luft steigen!

Sie schloss die Augen und versuchte, sich ganz auf ihre innere Stärke zu konzentrieren. Positive Selbstaffirmation war jetzt gefragt.

Arcadia Burton, du hast schon wesentlich schwierigere Herausforderungen in deinem Leben gemeistert. Da ist so ein Helikopterflug doch ein Klacks! Jetzt geh und zeig der Welt, dass du diese Beförderung verdient hast!

Der Flug aus New York war vor zwanzig Minuten auf dem Harry Reid International Airport in Las Vegas gelandet. Sabre d’Aramitz checkte noch einmal die SMS, die er gestern von der Agentur erhalten hatte. Laut Textnachricht würde ihn die Mitarbeiterin von Victory Marketing mit dem Wagen am Flughafen abholen. Von dort ging es dann zum Hubschrauberlandeplatz, wo sie die Reise mit dem Helikopter fortsetzen würden.

Er hängte sich den schwarzen Seesack über die Schulter, nahm die zwei großen, gepolsterten Taschen mit der Kameraausrüstung vom Gepäckband und stellte sie vor sich ab. Der Flug über den Ozean von Paris nach New York und dann direkt weiter nach Las Vegas war ziemlich lang gewesen. Normalerweise gelang es ihm gut, sich unterwegs zu entspannen. Er nutzte die Zeit an Bord entweder dazu, seine Fotografien auf dem Laptop zu sichten, oder um zu schlafen. Beides war normalerweise äußerst erholsam.

Nur heute hatte die Strategie nicht gefruchtet. Zwar war er vom Jetlag verschont geblieben, verspürte aber ein zermürbendes Gefühl von Nervosität und Anspannung, das ihm fremd war.

Natürlich ahnte er, woran das lag: Es war das erste Mal nach langer Zeit, dass er sich wieder unter Menschen begab. Nach dem Tod seines geliebten Großvaters Gaston hatte er sechs Monate lang keine Aufträge mehr angenommen, sich weder auf Familienfeiern noch auf dem gesellschaftlichen Parkett gezeigt.

Gastons Tod hatte Sabre völlig aus der Bahn geworfen. Auch ein halbes Jahr später war es immer noch schwer für ihn zu akzeptieren, dass der wichtigste Mensch in seinem Leben nun für immer fort war.

Einerseits fühlte es sich so an, als hätte er seinen grand-père erst gestern verloren. Andererseits schien es bereits tausend Jahre her zu sein, seit er den Sarg gemeinsam mit seinen zwei Brüdern zum Familienmausoleum auf dem Père-Lachaise-Friedhof getragen hatte.

Eigentlich war Sabre es gewohnt, auf sich allein gestellt zu sein. Wer wie ein Nomade an die entlegensten Orte der Welt reiste, knüpfte meist keine engen Bekanntschaften. Doch der Verlust seiner engsten Bezugsperson hatte ihn in eine tiefe Krise gestürzt. Mit Gastons Tod hatte sich ein Gedanke unwiderruflich in seinem Kopf festgesetzt.

Nun bin ich ganz allein.

Auch wenn das nicht den Tatsachen entsprach. Denn es gab durchaus noch weitere Familienmitglieder. Soweit Sabre wusste, hielt sich sein Vater Pierre zurzeit in Marseille auf und erfreute sich bester Gesundheit. Seine beiden Brüder waren gerade in Paris. Jacques, der Älteste, war meist viel zu beschäftigt, um sich daran zu erinnern, dass er Geschwister hatte, die sich vielleicht gern einmal auf ein Glas Wein mit ihm getroffen hätten. Und Blaise, der Jüngste, hatte sich gerade von seiner letzten Flamme getrennt, einer bekannten Schauspielerin. Zumindest hatten das die Klatschblätter am Zeitschriftenkiosk des Pariser Charles-de-Gaulle-Flughafens in großen Lettern auf ihren Titelseiten verkündet.

Ja, Sabre hatte Familie. Aber er stand weder seinem Vater noch seinen Brüdern wirklich nah. Großvater Gaston war der Einzige gewesen, dem er sich verbunden gefühlt hatte, denn er hatte ihn bedingungslos akzeptiert. Während sein Vater den künstlerischen Neigungen seines Sohns stets mit Missbilligung begegnet war, hatte der Großvater ihm seine erste Kamera geschenkt und ihm damit eine völlig neue Sicht auf die Welt ermöglicht.

Gaston d’Aramitz war selbst ein begnadeter und preisgekrönter Fotograf gewesen. Er hatte Sabre alles über seine Kunst und über das Leben im Allgemeinen beigebracht. Kurz, er hatte ihm die so heiß ersehnte Aufmerksamkeit geschenkt, die sein Vater ihm verwehrt hatte.

Darum war er es seinem grand-père auch schuldig, sein Vermächtnis fortzuführen.

Sabre richtete sich auf.

Nein, er würde nicht wieder unter seiner Trauer zusammenbrechen. Sechs Monate Selbstmitleid in seinem einsamen Apartment waren mehr als genug!

Sein Großvater hatte Sabre den Weg in ein Leben voller Wunder und Abenteuer gewiesen. Jetzt lag es an ihm selbst, dieses Leben so zu gestalten, dass er endlich sein Glück fand.

Was er am dringendsten brauchte, war eine Kur gegen die Einsamkeit. Sabre sehnte sich nach einer Partnerin, die ihn in allen Lebenslagen begleitete. Doch bisher waren alle Frauen geflüchtet, sobald sie erkannt hatten, welches Nomadenleben sie an seiner Seite führen würden.

Aber er gab die Hoffnung nicht auf. Irgendwo auf der Welt wartete die Richtige auf ihn.

Er musste sie nur finden.

Allerdings würde das nur geschehen, wenn er sich nicht weiter verkroch. Diese Erkenntnis gab ihm endlich den nötigen Antrieb für die bevorstehende Herausforderung.

„Die nächste Fotoserie widme ich ganz allein dir, grand-père“, flüsterte Sabre leise. „Wünsch mir Glück.“

Er nahm sein Gepäck und verließ das Flughafengebäude.

Es dauerte nicht lange, bis er die Kontaktperson, die ihm die Agentur geschickt hatte, entdeckte. Das lag vor allem daran, dass sie ein Schild mit seinem Namen hochhielt. Aber auch ohne dieses Erkennungszeichen wäre sie ihm sofort ins Auge gefallen. Denn er hatte noch nie zuvor eine Frau mit einer so fantastischen roten Haarpracht gesehen. Unwillkürlich stellte Sabre sich vor, wie es wäre, sie zu küssen und dabei die Hände in ihren wunderbaren kupfernen Locken zu vergraben.

Diese erotische Anwandlung kam völlig überraschend. Schließlich hatte er in den vergangenen sechs Monaten wie ein Mönch gelebt. Ob das ein Zeichen war, dass er sich langsam wieder aus dem tiefen Tal der Traurigkeit zurück ins Leben bewegte? Das würde sich bald zeigen.

Die Frau trat auf ihn zu und lächelte. „Monsieur d’Aramitz?“

Sabre musterte sie aufmerksam.

Dieses wunderbare Wesen mit den Wahnsinnskurven wird mich auf meinem Trip begleiten? Heute muss mein Glückstag sein!

Oui.“ Er trat näher und begrüßte Arcadia mit einem Kuss auf beide Wangen. Dabei nahm er deutlich ihr Parfum wahr, dessen Kopfnote an den Duft von frischen Äpfeln erinnerte.

„Mmh, délicieux“, murmelte er hingerissen.

„Wie bitte?“, fragte die Frau leicht irritiert.

Was ist nur in mich gefahren? fuhr es Sabre durch den Kopf. Das war total unprofessionell! So begrüßt man doch keinem Geschäftskontakt!

„Oh, Verzeihung.“ Er trat einen Schritt zurück, immer noch ganz berauscht von ihrem Duft. „Ja, ich bin Sabre d’Aramitz. Und Sie sind …“

„Arcadia Burton.“ Sie streckte die Hand aus. „Aber nennen Sie mich ruhig Cady. Eigentlich sollte Lynn Marshall Sie begleiten, aber sie ist leider unpässlich. Darum werden Sie heute mit mir vorliebnehmen müssen.“ Sie wies auf eine der Buchten, in der eine schwarze Limousine stand. „Wenn Sie einverstanden sind, bringt uns der Fahrer jetzt zum Helikopter.“

„Dann mal los“, verkündete Sabre, verstaute das Gepäck im Kofferraum und hielt Cady die Wagentür auf. Als sie einstieg, fiel ihm ihre eigentümliche Kleidung auf, die so gar nicht zu einem Ausflug in die Wüste passte: schwarze Jeans mit Glitzersteinchen und ein kuschliger blauer Weihnachtspullover mit Schneekristallmotiv. Er nahm neben ihr Platz. Sobald er die Tür geschlossen hatte, rollte der Wagen auch schon los.

„Schneeflocken und Eiskristalle“, sinnierte Sabre, während sie das Flughafengelände verließen. „Da muss ich wohl den neuesten Trend in der Outdoormode verpasst haben. Denn mit Las Vegas haben diese Motive nichts zu tun, oder?“

„Es tut mir wirklich leid, dass ich Sie in diesem Aufzug begrüße“, entschuldigte sich Cady. „Ich war davon ausgegangen, den Tag heute allein im Büro zu verbringen. Und da dachte ich, es wäre eine gute Idee, nochmal meinen Feiertagspullover auszuführen.“

„Dafür habe ich vollstes Verständnis“, erwiderte Sabre gönnerhaft. „Er sieht aber auch wirklich festlich aus.“

„Und dabei haben Sie das Beste noch gar nicht gesehen.“ Cadys meergrüne Augen blitzten schelmisch, als sie an einer versteckten Schnur zog und die Schneekristalle auf dem Pullover plötzlich in bunten Farben aufleuchteten. Ein weiterer kräftiger Zug an der Schnur und das Spektakel verschwand wieder wie von Zauberhand.

Sabre lachte. „Ach ja, Las Vegas, die Stadt der Neonlichter. Jetzt passt es wieder.“ Er sah Cady interessiert an. „Sie müssen mir erlauben, Sie später in Ihrer ganzen glitzernden Pracht zu fotografieren. Sie sehen in diesem Pullover wirklich fabelhaft aus.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das ernst meinen oder mich nur aufziehen wollen.“

Ich muss ganz schön eingerostet sein, dachte Sabre. Sie merkt nicht einmal, dass ich mit ihr flirten will!

2. KAPITEL

Während Sabre gemeinsam mit dem Piloten das Gepäck verlud, wartete Cady vor dem Hangar und blickte skeptisch auf den Helikopter. Allein das dumpfe Wummern der Maschine verursachte ihr schon Übelkeit. Als sie dann noch auf den sich in rasender Geschwindigkeit drehenden Propeller blickte, fühlte sie sich an ein außer Kontrolle geratenes Karussell erinnert. Ihr wurde furchtbar schwindelig.

So wird das nichts, dachte sie benommen. Ich muss mich irgendwie ablenken.

Also blickte sie zu Sabre und musterte ihn akribisch. Seine Kleidung verriet, dass er gut auf den Trip vorbereitet war. Eine Outdoorjacke, strapazierfähige Cargohosen und robuste Trekkingschuhe. Alles in beruhigenden Erdtönen.

Ja, Cady, so ist es gut. Denk an Erde. An festen Boden unter den Füßen!

Ihr Blick glitt zu den Accessoires, die er dazu gewählt hatte: dunkle Handschuhe, ein geflochtenes Lederarmband am Handgelenk und eine verspiegelte Pilotenbrille.

Das setzte sofort eine Assoziationskette in Gang. Was flogen Piloten? Flugzeuge! Und was passierte häufig mit denen? Sie stürzten ab!

Ihr fiel ein Bericht aus den Nachrichten ein. Da war eine ganze Passagiermaschine einfach so über dem Ozean verschwunden. Aber in einem solchen Fall bestand wenigstens die geringe Chance, sich auf eine einsame Insel zu retten und so lange von Kokosnüssen zu leben, bis Hilfe kam. Aber was passierte, wenn Sand ins Getriebe geriet und ihr Helikopter an eine Felsformation in der Wüste stieß? Dann war sofort alles aus!

Cady kniff die Augen zu und ballte die Hände zu Fäusten.

Ich. Schaffe. Das. Einfach. Nicht.

Doch während sie spürte, wie helle Panik in ihr aufstieg, kam ihr ein Gespräch in den Sinn, das sie vor langer Zeit mit ihrer Mutter geführt hatte.

„Cady, wenn du etwas von der Welt sehen willst, musst du irgendwann in ein Flugzeug steigen“, hatte sie gesagt. „Oder willst du den Rest deines Lebens eingesperrt in einem Bürogebäude in Las Vegas verbringen, wo du Kaffee kochst und Papierstapel durch die Gegend schleppst?“

Diese Vorstellung war schrecklich. Nein, Arcadia Burton war nicht dazu bestimmt, hinter einer Empfangstheke zu versauern! Und jetzt, wo sich endlich die Gelegenheit ergab, ein Abenteuer zu erleben, durfte sie nicht länger zögern. Schließlich ging es hier um einen Trip, der ihre Karriere vorantreiben würde. Und als Bonus durfte sie sich auch noch über einen äußerst attraktiven Reisebegleiter freuen!

Der kam gerade zielstrebig auf sie zu und grinste breit.

„Na, was halten Sie von unserem Transportmittel?“, rief Sabre und wies auf den Hubschrauber. „Es ist das neueste Modell. Kleiner und leiser als die üblichen Varianten. Und durch die Rundumverglasung werden wir einen spektakulären Panoramablick haben.“

Cady spürte, wie ihre Knie weich wurden. Die Vorstellung, in ein paar tausend Metern Höhe in einer Glaskugel herumzuschaukeln, war zu beängstigend. Dagegen konnten auch die netteste Begleitung oder der schönste Ausblick nichts ausrichten. 

„Ich weiß nicht so recht …“, antwortete sie langsam. Und rief sich sofort wieder zur Ordnung. Arcadia Burton, jetzt ist aber Schluss mit diesem Unsinn!

Klar, theoretisch konnte sie den Fotografen auch allein losfliegen lassen. Aber damit hätte sie ihn dann gleich in zweifacher Hinsicht in die Wüste geschickt. Und das würde ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen.

Lynn wäre stocksauer auf mich, weil ich sie im Stich gelassen habe. Der Ruf unserer Firma würde Schaden nehmen. Und die Beförderung könnte ich garantiert vergessen!

Nein, schlimmer, dachte Cady. Ich würde vermutlich meinen Job verlieren!

Autor

Michele Renae
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