Blutsbande Buch 1 & 2

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DIE VERWANDLUNG

Ein Biss - und Carrie ist wie verwandelt. Nachdem die junge Ärztin in der Pathologie von einem Toten angefallen wurde, kann sie auf einmal kein Sonnenlicht mehr ertragen, verspürt plötzlich einen unerklärlichen Blutdurst. Ist sie etwa Opfer eines Vampirs geworden? Auf der Suche nach den Gründen für ihre rätselhaften neuen Gefühle lernt sie den charismatischen Vampirjäger Nathan kennen - und verliebt sich unsterblich in ihn. Doch die Blutsbande, die sie an ihren 'Erschaffer' Cyrus fesseln, sind stärker ... Gleichzeitig fasziniert und abgestoßen von dem ebenso attraktiven wie bösartigen Untoten, gerät sie immer mehr in seinen finsteren Bann ...

BESESSEN

Seit zwei Jahren lebt Carrie glücklich mit dem Vampir Nathan zusammen, als er plötzlich eine dunkle, bösartige Seite entwickelt. Von Albträumen gequält, scheint er nicht mehr Herr seiner selbst zu sein. Schließlich fällt er sie wie rasend an, ehe er hinaus in die Nacht flieht. Carrie muss ihn finden, ehe er zur tödlichen Gefahr oder gar selbst umgebracht wird. Denn sie hat erfahren, dass Nathan ausgerechnet von einem der mächtigsten und bösesten Vampire besessen ist - dem Soul Eater ...


  • Erscheinungstag 10.12.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765217
  • Seitenanzahl 940
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Jennifer Armintrout, Martha Windgassen

Blutsbande Buch 1 & 2

DAS ENDE

Ich habe einmal einen Zeitungsartikel gelesen, in dem eine Umfrage über Ängste zitiert wurde. Diese besagte, dass die Amerikaner zwischen 18 und 65 Jahren am meisten Angst davor haben, in der Öffentlichkeit eine Rede zu halten. An zweiter Stelle stand die Angst vor Spinnen, an dritter Stelle mit großem Abstand der Tod. Ich habe vor allen diesen Dingen Angst. Aber am meisten fürchte ich mich davor, zu versagen.

Ich bin kein Feigling. Das will ich auf jeden Fall klarstellen. Aber mein Leben hat sich in wenigen Tagen von „eigentlich ziemlich perfekt“ in einen Horrorfilm verwandelt, und daher hat das Gefühl von Angst für mich eine ganz neue Bedeutung gewonnen.

Meinen Plan, was ich alles im Leben erreichen wollte, habe ich zielstrebig und fast bis ins Detail verfolgt und nur einige kleine Umwege zugelassen. Ich bin von der kleinen Ms. Carrie Ames zu Ms. Doktor Ames aufgestiegen, das war nur acht Monate vor dieser Nacht, die ich jetzt als „Die große Veränderung“ bezeichne. Ich bin aus dem verschlafenen Städtchen an der Ostküste, in dem ich aufgewachsen bin, ausgebrochen, um mich schließlich in einer verschlafenen Stadt mitten in Michigan wiederzufinden. Dort hatte ich eine Planstelle in der Notaufnahme des städtischen Krankenhauses. Die Stadt an sich und die umliegenden Dörfer boten mehr als genug Gelegenheiten, Verletzungen, die von urbanem Kriegsgeschehen oder tückischen Landmaschinen herrührten, kennenzulernen und zu behandeln. Da ich tat, was ich mir immer erträumt hatte, war ich mir nie so sicher wie damals, dass ich erfolgreich war und mein Schicksal fest im Griff hatte, was mir in meinen wilden College-Jahren nie gelungen war. Aber natürlich werden auch Städte mitten in Michigan irgendwann langweilig, besonders in den kalten Winternächten, wenn es so frostig ist, dass sich noch nicht einmal der Schnee vor die Tür trauen würde. Und in genau solch einer Nacht, in der ich nach einer grauenhaften Zwölf-Stunden-Schicht nur für knapp vier Stunden nach Hause gefahren war, stand ich schon wieder im Krankenhaus, um mitzuhelfen, einem Strom neuer Patienten Herr zu werden. Die Notaufnahme war für so einen eiskalten Abend erstaunlich voll, aber die drohenden Feiertage schienen alle Menschen, die noch einen Pulsschlag hatten, hinauszulocken. Wie immer hatte ich es meinem verdammten Schicksal zu verdanken, dass ich es in dieser Nacht nur mit den schwersten Fällen zu tun bekam, mit Patienten, die schwere Verletzungen hatten oder unter Krankheiten litten, die sie in unmittelbare Lebensgefahr brachten. Oder, um präziser zu sein, mit Unmengen konsumwütiger Besucher von Einkaufszentren, die in ihren Einzelteilen eingeliefert wurden, nachdem sie auf der 131 nach Süden in vereisten Kurven von der Fahrbahn abgekommen waren.

Nachdem ich drei Patienten aufgenommen hatte, stellte ich fest, dass ich dringend Nikotin brauchte. Obwohl ich ein schlechtes Gewissen hatte, meinen Kollegen noch mehr Einlieferungen aufzubürden, schlich ich mich hinaus, um mir eine kurze Zigarettenpause zu gönnen.

Ich ging in Richtung Rampe für die Krankenwagen, als John Doe eingeliefert wurde.

Dr. Fuller, der diensthabende und dienstälteste Arzt des Krankenhauses, lief neben einer Krankentrage her und bellte Befehle. Dabei fragte er die Rettungssanitäter in seinem breiten texanischen Slang aus.

Abgelenkt von der Tatsache, dass sich Dr. Fullers sanfter Südstaaten-Tonfall in ein hohes abgehacktes Stakkato verwandelt hatte, beachtete ich den Patienten auf der Liege nicht. Noch nie zuvor hatte ich meinen Vorgesetzten dabei erlebt, wie er seine Gelassenheit verlor. Ich war erschrocken.

„Carrie, hilfst du uns jetzt oder bist du auf dem Weg ins Marlboro-Land?“, schrie er mich an und erschreckte mich damit noch mehr. Als ich einen Satz zur Seite machte, zerbrach die Zigarette zwischen meinen Fingern so, dass der trockene Tabak auf die Erde rieselte. Meine Pause war nun offiziell für beendet erklärt.

Ich wischte mir die Hände an meinem Kittel ab und lief neben der Trage her. Erst dann sah ich, in welchem Zustand sich der Patient befand.

Sein Anblick versetzte mich in noch größeren Schrecken, während wir den Vorraum erreichten und die Rettungssanitäter hinausgingen, um den Intensivschwestern Platz zu machen.

„Okay, meine Damen, ich hätte gern Mundschutz, OP-Kittel, eine Schutzbrille – die ganze Verkleidung. Und zwar schnell, bitte!“, kommandierte Fuller, während er sich aus seinem blutverschmierten Kittel schälte.

Ich wusste, dass ich etwas tun musste, um ihn zu unterstützen, aber ich konnte mir nicht helfen, immerzu musste ich auf die Schweinerei vor mir auf der Trage schauen. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich mit medizinischer Hilfe hätte anfangen sollen.

Blut ist zum Beispiel etwas, vor dem ich keine Angst habe. Im Fall von John Doe war es nicht die Menge an Blut, die es unmöglich machte, ihn zu berühren, geschweige denn sich ihm zu nähern. Sondern die Tatsache, dass er aussah wie der Leichnam, den ich am letzten Tag meines Anatomiekurses an der Uni seziert hatte.

Seine Brust war mit Wunden durchlöchert. Einige waren klein, andere so groß, dass zwei Tennisbälle hineingepasst hätten.

„Schusswunden? Womit wurde auf ihn geschossen, mit einer verdammten Kanone aus dem Museum?“, murmelte Dr. Fuller, als er vorsichtig eine Wunde mit seinem behandschuhten Finger betastete.

Man brauchte keinen Doktortitel in forensischer Medizin, um sagen zu können, was die Wunden am Körper unseres John Doe verursacht hatte. Und dass es etwas anderes war als das, was für die Verletzungen in seinem Gesicht verantwortlich war. Sein Kiefer beziehungsweise das, was davon noch übrig war, war von den oberen Schneidezähnen abgetrennt und die Haut hing schlaff herunter. Sein Kinn war aus dem Gelenk gerissen und klebte an der anderen Seite seines Kopfes. Über dem klaffenden Loch in seiner Wange war eine Augenhöhle eingequetscht und leer, das Auge sowie der Sehnerv fehlten vollständig.

„Ich würde sagen, dass ihm jemand eine Axt über den Schädel gezogen hat, wenn ich glauben könnte, dass ein Mensch genug Kraft dazu hätte“, sagte Dr. Fuller. „So können wir ihn nicht intubieren, seine Trachea ist völlig zerstört.“

Ich bekam keine Luft. John Does verbleibendes Auge, klar und hellblau, sah mich an, als sei er bei vollem Bewusstsein.

Es musste sich um eine optische Täuschung handeln. Niemand konnte diese Art von Verletzung erleiden und dabei bei Bewusstsein bleiben. Diese unglaublichen Verletzungen würde kein Mensch überleben. Er schrie nicht und wand sich nicht in Schmerzen. Sein Körper war schlaff und zeigte keinerlei Reaktion, als die Ärzte einen Luftröhrenschnitt vornahmen, um ihn zu intubieren.

Er sah mich immer noch an.

Wie kann er noch leben?, fragte ich mich. Das Konzept, das ich mir mit großer Mühe über die drei Jahre meiner Ausbildungszeit ausgedacht hatte, wurde von einem auf den anderen Moment zerstört. Menschen können so etwas einfach nicht überleben. So ein Fall stand in keinem meiner Bücher. Aber dennoch lag dieser Mann hier und sah mich ruhig an, während um uns herum alle hektisch an ihm herumhantierten.

Für einen Moment, während dem sich fast mein Magen umdrehte, dachte ich, ich hätte gehört, wie er meinen Namen sagte. Dann wurde mir klar, dass Dr. Fullers schrille Stimme zu mir hindurchdrang.

„Carrie, ich brauche dich hier drüben. Wach auf und hilf uns! Los jetzt, sonst verlieren wir ihn!“

Ich hätte weiter John Doe anstarren oder mich zu Dr. Fuller umdrehen können, um zu sehen, dass er allmählich begann, an mir zu zweifeln. Ich weiß nicht, was schlimmer gewesen wäre, aber ich kam nicht dazu, mich für das eine oder andere zu entscheiden.

Schwach murmelte ich eine Entschuldigung, drehte mich schnell um und fing an zu rennen. Kaum war ich dieser grauenvollen Szene entkommen, bemerkte ich die klebrigen Flecken auf dem Boden, die die hübschen Fliesen mit einem tiefen Rot überzogen. Mir wurde schlecht. Ich fiel auf die Knie in eine Pfütze von gerinnendem Blut und schloss die Augen, während die Säure meinen Hals hinaufstieg. Ich beugte mich vornüber, als sich mein Erbrochenes mit dem Blut auf dem Boden vermischte.

Plötzlich wurde es in dem Raum hinter mir still, dann machte der Herzmonitor ein anhaltendes quäkendes Geräusch, um das Fehlen eines Pulses anzuzeigen.

„In Ordnung, er ist tot. Packt ihn ein und schafft ihn in den Leichenkeller“, hörte ich Dr. Fuller sagen. Seine Stimme hatte wieder ihren selbstbewussten Ton und den texanischen Dialekt angenommen, obwohl man ihr Müdigkeit und Resignation anhörte.

Ich raffte mich auf und rannte in die Umkleideräume. Ich konnte nicht begreifen, wie ich so hatte versagen können.

Eine Stunde später stand ich immer noch im Umkleideraum. Ich kam gerade aus der Dusche, hatte einen frischen, aus der Reinigung gekommenen Kittel an und versuchte, vor dem Spiegel mein nasses blondes Haar in so etwas wie einem Pferdeschwanz zu bändigen. Unter der Dusche war mein Mascara verlaufen, und ich wischte ihn mit meinem Ärmel fort. Das trug nur dazu bei, dass die schwarzen Ringe unter meinen Augen noch größer wurden. Meine fahle Haut spannte über meinen Wangenknochen, meine blauen Augen waren kalt und glanzlos. Noch nie hatte ich so fertig ausgesehen.

Wann bin ich eigentlich so weinerlich geworden? So ein Angsthase? In mir stiegen Erinnerungen auf, die ich nicht beiseitedrängen konnte. Wie ich mich zusammen mit den anderen Medizinstudenten über den Austauschstudenten lustig gemacht hatte, der sich am ersten Tag im Anatomiekurs übergeben hatte. Oder damals, als ich in der achten Klasse Amy Anderson, die sich immer für etwas Besseres hielt, von der Bushaltestelle aus nachgelaufen war, um ihr Regenwürmer ins Haar zu stecken.

Wie sich herausstellte, war ich einer der Menschen geworden, die ich verachtete. Für alle Kollegen der Notaufnahme des St. Mary’s Hospital war ich nun ein zimperlicher Fachidiot, ein quietschendes Mädchen. Die Vorstellung schnitt mir so sehr ins Herz, dass es eines chirurgischen Eingriffes bedurft hätte, um mich zu kurieren.

Ein Klopfen unterbrach mich in meinem Selbstmitleid. „Ames, sind Sie noch da drin?“

Die Tür ging auf, Dr. Fuller kam herein und ging zu einer schmalen Bank hinüber.

Einen Augenblick lang sagte er gar nichts. Aber ohne hinzusehen wusste ich, dass er den Kopf hängen ließ. Seine Hände steckten in den Taschen seines frischen weißen Kittels, die Ellenbogen hielt er dicht an die Seite gepresst. So sah er aus wie ein großer grauer Storch.

„Also, bleiben Sie noch?“, fragte er plötzlich.

Ich zuckte mit den Schultern. Gleichgültig, was ich zu sagen hätte, um meine Vorstellung von vorhin zu rechtfertigen, es wäre nur eine lahme Entschuldigung. Wie die, die von zahllosen Medizinstudenten hervorgebracht werden, die bald darauf nicht mehr zu den Vorlesungen kommen.

„Wissen Sie“, fing er an, „ich habe schon viele Ärzte gesehen, gute Allgemeinmediziner, die unter großem Druck einknicken. Sie werden müde. Sie haben Stress, vielleicht haben sie auch persönliche Probleme. Das passiert uns allen einmal. Aber einige von uns lassen es hier drinnen“, er deutete auf die Schränke hinter mir, „anstatt es da draußen kundzutun. Das ist es, was uns zu Ärzten macht, die leistungsfähig sind.“

Er wartete darauf, dass ich antwortete. Ich nickte nur.

„Ich weiß, dass Sie dieses Jahr viel durchgemacht haben, dass Sie Ihre Eltern verloren haben …“

„Aber hier geht es nicht um meine Eltern.“ Ich wollte ihn nicht unterbrechen, aber ich hatte es schon gesagt, bevor ich darüber nachdenken konnte. „Es tut mir leid. Aber ich bin wirklich darüber hinweg.“

Er seufzte tief und setzte sich auf die Bank. „Warum wollen Sie als Ärztin arbeiten?“

Ich setzte mich auch. Bevor ich antwortete, saßen wir dort eine Zeit lang wie ein Trainer mit seinem Starspieler, der ein wichtiges Spiel vergeigt hatte.

„Weil ich Menschen helfen möchte.“ Ich log. Sehr sogar. Aber ich kannte den eigentlichen Grund nicht, und ich wollte die Antwort auch nicht wissen. Echte Ärzte verlieren ihre Fähigkeit, menschlich und verständnisvoll zu sein, bevor sie ihr Abschlusszeugnis in den Händen halten. „Und weil ich meinen Beruf liebe.“

„Nun, ich liebe Golfspielen, aber das macht mich nicht zu Tiger Woods, oder?“ Er lachte über seinen eigenen Witz, bevor er wieder ernst wurde. „Wissen Sie, jeder Mensch erlebt einmal in seinem Leben eine Phase, in der er sich über die Ziele, die er sich gesteckt hat, klar werden muss. Er muss lernen, seine Grenzen zu erkennen und seine Fähigkeiten realistisch einzuschätzen.“

„Versuchen Sie mir gerade zu sagen, dass ich keine Zahnärztin werden soll?“, fragte ich und zwang mich zu lachen.

„Ich sage, dass Sie keine Ärztin werden sollten.“ Fuller klopfte mir tatsächlich auf den Rücken, als würde er damit seinen Worten die Schärfe nehmen wollen. Er stand auf und ging zur Tür, doch dann hielt er plötzlich inne, als habe er etwas vergessen.

„Wissen Sie …“, fing er an, doch dann sprach er seinen Satz nicht zu Ende. Stattdessen schüttelte er den Kopf und ging hinaus.

Ich war so wütend, dass ich die Fäuste ballte und durch die Nase schnaufte. Aber ich versuchte mich zusammenzureißen. Ich hatte bei dem Test, den alle großen Menschen bestehen müssen, versagt. Ich hätte ihm erzählen sollen, dass ich scharf auf das Geld war. Das wäre wirklich nicht schlecht gewesen. Obwohl es diese zwei Gründe gab, warum Menschen Medizin studierten, bestand meine wahre Motivation nicht in der finanziellen Sicherheit oder dem Wunsch, anderen zu helfen.

Was mich am Arztberuf interessierte, war die Macht, die damit verbunden war. Die Macht, Menschenleben in meinen Händen zu halten. Die Macht, dem Tod ins Auge zu blicken und zu wissen, dass ich ihn besiegen könnte. Diese Macht war nur Ärzten und Gott vorbehalten.

Ich sah mich selbst als eine Art moderne Zauberin, das Skalpell anstelle des Zauberstabes, mein Klemmbrett statt eines Buches voller Zaubersprüche und Rezepte. Es schüttelte mich bei diesem lächerlichen Gedanken.

Ich hätte meine normalen Sachen anziehen, mich aus dem Krankenhaus schleichen und nie zurückkehren können. Aber dann dachte ich an meinen toten Vater und erinnerte mich an einen seiner seltenen väterlichen Ratschläge, den er mir einmal gab: „Wenn du Angst vor etwas hast, stelle dich ihr. Angst ist irrational. Der einzige Weg, deine Angst zu überwinden, ist, dich ihr auszusetzen.“

So schnell, wie meine Selbstzweifel gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. Diese Situation stellte nur meinen Glauben an meine Fähigkeiten auf die Probe. Und das wollte ich nicht zulassen.

Ich stand auf und machte mich auf den Weg durch die Notaufnahme, die mit Patienten und Krankenschwestern überfüllt war. Meine Kollegen an den verschiedenen Krankenbetten nahm ich gar nicht wahr. Ich verließ die Notaufnahme und die Intensivstation und ging durch die großen Schwingtüren weiter in Richtung Hauptteil des Gebäudes.

Die Türen der Büros, an denen ich vorbeikam, waren schon verschlossen. Kein Licht schien durch die Glastüren. Die Haupteingangshalle war bis auf einen Mann vom Reinigungsteam leer, er lehnte an dem verlassenen Informationsschalter und las gelangweilt in einer alten Zeitung, während sein Reinigungswagen allein in der Mitte des Raumes stand. Er sah noch nicht einmal auf, als ich in meiner Hektik fast sein Wägelchen umwarf und dabei ein Stapel Papierhandtücher von der oberen Ablage zu Boden flatterte.

Ich ging weiter zu den Aufzügen, drückte auf einen Knopf und klopfte ungeduldig mit meinem Schuh auf den Boden. Nach einer Weile, die mir unendlich lang erschien, öffneten sich die matten Metalltüren und ich ging hinein. Ich drückte die Taste für den Keller.

Ein irrationaler Zwang führte mich die langen Gänge zur Leichenhalle entlang. Ich war bisher erst einmal dort gewesen, als ich mir bei der Einstellung das ganze Krankenhaus angeschaut hatte. Der Weg dorthin war einfach, und ich fand die Tür, die keine Beschriftung trug, problemlos. Ich zog meine Identifikationskarte durch das Lesegerät neben der Tür, bis ich das metallene Klicken hören konnte, mit dem sich das Schloss öffnete.

Ich umklammerte die breite Klinke und hielt inne. Zum ersten Mal überlegte ich, was ich mir eigentlich beweisen wollte. Ich hatte Angst davor, eine schlechte Ärztin zu sein, und der Grund, warum ich mir noch einmal John Doe vor Augen führen wollte, war, mich meinen Ängsten zu stellen. Was, wenn ich es nicht aushielte?

Ich erschrak, als ich daran dachte, dass sein Körper vielleicht gar nicht so verwundet war, wie ich es in Erinnerung hatte. Ich dachte an das erstaunte Gesicht von Amy Anderson, als sie den sich krümmenden Regenwurm aus den Haaren nahm. Ihre Angst hatte aus einem harmlosen Tier ein Monster gemacht. Vielleicht hatte die Panik in meinen Gedanken die Verletzungen von John Doe ins Unwahrscheinliche übertrieben?

Nein, du bist nicht hysterisch gewesen. Du weißt, was du gesehen hast. Ich stand in dem kühlen desinfizierten Raum, bevor ich es mir anders überlegen konnte.

Echte Leichenhallen sind ganz anders als die, die man immer in Filmen sieht. Sie sind nicht riesig groß und werden nicht von unerträglich hellen Lampen erleuchtet. Ganz im Gegenteil, der Leichenkeller von St. Mary’s war klein und vollgestellt. Die Nachtwache hatte eine zerknüllte Papiertüte vom Imbiss auf dem Tisch liegen lassen. Es war ein ermutigendes Zeichen inmitten dieses Raumes, der dem Tod und der damit einhergehenden Demütigung gewidmet war.

Bevor ich mich an meine Aufgabe machte, ging ich einmal an den Wänden des Raumes entlang. Ich sah mir die Schränke an, die Plastikbehälter in allen Größen, die die formlosen Reste von Organen für spätere Untersuchungszwecke aufbewahrten, und die Autopsietische. Ich vermied es, auf den Tisch zu sehen, der belegt zu sein schien.

„Hallo?“, rief ich. Durch den lauten Klang meiner Stimme zuckte ich zusammen. Der Raum war so still, dass man das Surren der Leuchtstoffröhren hören konnte. Der Spruch „Tote aufwecken“ fiel mir plötzlich ein. Ich hatte erwartet, eine Nachtschwester aus einem der hinteren Räume kommen zu sehen, aber es war niemand da. Die Glückliche war wahrscheinlich gerade eine rauchen. Ich musste selbst herausfinden, wo John Doe abgeblieben war.

Der Kühlraum fasste sechs Bahren. Mit der großen Anzahl an Patienten, die wir heute hatten, war er sicherlich voll. Vielleicht war er sogar überbelegt, das heißt zwei Leute auf einer Bahre. Keine schöne Vorstellung.

Ich betrat den Kühlraum und wünschte mir sofort, ich hätte mir eine Jacke mitgenommen. Draußen zeigte der Thermostat 1° C an, und das war wirklich kalt. Zitternd schaute ich mir die sechs verhüllten Bahren an, die vor mir standen. Sie waren alle in dieselbe Richtung ausgerichtet; die Füße der Leichen zeigten zu der hinteren Wand. Ich sah auf meine Schuhe und bemerkte einen dunklen klebrigen Fleck auf dem ungeputzten Boden. Ich bekam eine Gänsehaut, als ich mir überlegte, wie lange es her sein musste, dass jemand diesen Raum desinfiziert hatte. Nicht, dass diese speziellen Patienten anfällig für irgendwelche Krankheiten oder Infektionen gewesen wären.

Ich ging zu der Bahre ganz rechts. Ich ersparte es mir, die Laken aufzudecken, um nach den Namensschildern an ihren Zehen zu suchen. Ich entschied mich dafür, die detaillierteren Blätter auf den Abdecklaken zu lesen.

Die erste Leiche war weiblich, 68 Jahre alt. Die zweite männlich, 23. So ging es weiter, alle Blätter enthielten die eine Information, nach deren Fehlen ich suchte: Namen. Ich sah kein Blatt, das den dicken roten Stempel „nicht identifiziert“ trug, und es schien, als sollte sich mein kleiner Ausflug nicht gelohnt haben.

Ich rieb mir mit den Händen das Gesicht, strich mir über meine müden Augen und überlegte, was ich als Nächstes tun sollte. Wo war der Leichnam hingekommen? Es war unwahrscheinlich, dass der Gerichtsmediziner nachts ins Krankenhaus kommen würde, um die Autopsie vorzunehmen. Das hatte Zeit bis morgen. Auch wenn man ihn identifiziert hätte, hätten sie die Leiche nicht den Familienangehörigen freigegeben, bevor die Polizei sie untersucht hatte.

Er muss doch hier irgendwo sein. Aber als ich mich noch einmal umsah, war klar, dass der Leichnam verschwunden war.

Ich würde wieder hinaufgehen und in die hämischen Gesichter meiner Kollegen blicken müssen. Ich hatte es versäumt, meinem Dämon ins Auge zu sehen, aber das Leben würde auch so weitergehen wie immer. Mit derselben Bestimmtheit, die mich hergebracht hatte, drehte ich mich um und verließ den Kühlraum, ohne mich noch einmal umzudrehen. Gleichgültig, was ich auch täte, irgendjemand würde immer einen schnippischen Kommentar anbringen oder Mitleid mit mir haben.

Ich hatte schon genug negative Kritik einstecken müssen, um den Lästermäulern etwas entgegenzusetzen, auch ohne dass ich mir noch einmal das anschauen musste, was von John Doe übrig geblieben war.

Ich drückte schon die Klinke hinunter, als ich noch einmal innehielt. Aus dem Augenwinkel sah ich kurz auf den Leichnam, der auf dem Autopsietisch lag.

Trotz all meiner gespielten Tapferkeit war ich ziemlich erleichtert, dass ich den Körper des Unbekannten hier nicht mehr gefunden hatte. Hinsehen oder nicht. Das war ein einfaches Spiel, wenn mich sonst niemand dabei beobachten konnte. Aber meine Erleichterung ebbte ab, da mich ein ungutes Gefühl beschlich. Ich war mir sicher, dass John Doe dort auf dem Autopsietisch lag.

„Wenn du jetzt wegläufst, dann wird dich diese Frage immer beschäftigen“, beschwor mich eine innere Stimme. Für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als würde meine Angst die Oberhand gewinnen. Ich würde einfach die Leichenhalle verlassen und die ganze Angelegenheit vergessen.

Aber die Worte meines Vaters und die Tatsache, dass Dr. Fuller meine Fähigkeiten als nicht besonders gut einschätzte, fielen mir wieder ein. Ich wollte keine Versagerin sein, wie ich es in den Augen meines Vaters gewesen wäre. Ich wollte Dr. Fuller beweisen, dass ich für meinen Beruf geeignet war. Ich ging zu dem Tisch.

Ich war kein Feigling.

Bevor ich es mir noch einmal anders überlegen konnte, zog ich mit einem Ruck das Laken von dem Körper.

Jede weitere Sekunde spielte sich vor meinen Augen in Zeitlupe ab. Millisekunde für Millisekunde. In genau dem Moment, in dem ich das Laken von dem Leichnam zog, sah ich die grellbunte Sohle eines Sportschuhs darunter hervorschauen. Ich hatte keine Chance, mir darüber Gedanken zu machen: Was darunter lag, trug Krankenhauskleidung. Es war die Nachtwache. Ihr Gesicht war schreckverzerrt.

Ich habe nicht gleich angefangen zu schreien. Entweder war ich zu geschockt oder ich hatte nicht begriffen, was hier los war. John Doe hätte anstelle des jungen Mannes auf der Bahre liegen sollen! Der Anblick ließ mich erstarren.

Offensichtlich war sein Genick gebrochen. Sein Hals war aufgerissen, als hätte ihn ein Hund angegriffen. Durch den extremen Blutverlust war seine dunkle Haut aschfahl, dennoch waren weder auf seiner Kleidung noch auf dem Tisch Blutspuren zu sehen. Seine Augen waren offen. Das heißt, das eine, das er noch hatte, war offen. Das andere fehlte.

Auf dem blank geputzten Stahltresen sah ich das Telefon stehen, aber der kurze Weg dorthin kam mir wie ein Kilometer vor. Meine Hände zitterten so schlimm, dass ich kaum in der Lage war, die Nummer für den Notfall einzutippen. Aber nachdem ich aufgelegt hatte, wurde ich nicht ruhiger. Ich war immer noch in dieser seltsamen Situation, allein in diesem furchtbaren Albtraum. Ich nahm noch einmal den Hörer ab.

Ich wählte die Nummer für das Büro des Sicherheitsdienstes, als mich etwas kurz an der Schulter berührte. Es war kaum mehr als ein Hauch, und obwohl ich es fast nicht bemerkte, fiel ich aus irgendwelchen Gründen um.

Der Sturz auf den Boden raubte mir die letzte Energie. Verwirrt und panisch versuchte ich, auf die Knie zu kommen, aber weiter kam ich auch nicht.

Im nächsten Augenblick stand ich kurz wieder aufrecht, bevor hinter mir Glasscheiben zerbrachen. Ich wurde mit solch einer Wucht an die Türen geschleudert, dass die Scheiben splitterten und das Holz zerbarst. Mein Rücken schmerzte fürchterlich. In den Schränken fielen die Regale aus ihren Halterungen, die Plastikbehälter purzelten heraus und ihr Inhalt verteilte sich über den Boden. Ich selbst fiel wieder auf die Knie und spürte unter meinen Händen ein Gemisch aus Formaldehyd und Menschenlebern. Ich war nicht in der Lage, mich irgendwie zu bewegen, weil der Boden zu glitschig war.

Jemand zog mich an den Haaren wieder nach oben. Als ich versuchte, auf die Füße zu kommen, rutschte ich aus. Der Schmerz war unerträglich. Mein Angreifer ließ nicht locker. Ich sah auf.

John Doe schaute mich an.

Sein Gesicht, das zuvor noch so entstellt war, zeigte bis auf leichte rosafarbene Narben kaum Spuren seiner Verletzungen. Seine Brust war makellos bis auf eine lange gerade Narbe, die in der Mitte verlief und offensichtlich schon älter war. Sein Kinn war nicht mehr aus den Gelenken gehoben, sondern hatte sich wie der Rest des Gesichtes in eine dämonische Visage mit einer verkrumpelten Schnauze und seltsam langem Kiefer verwandelt. An seinen langen blonden Haaren klebte Blut, aber sein Schädel war wieder intakt. Das leuchtend blaue Auge, mit dem er mich so angestarrt hatte, als er hilflos auf der Liege lag, sah mich mit einem stechenden und unbarmherzigen Blick an. In der anderen Augenhöhle, die zuvor leer gewesen war, steckte ein braunes Auge, dessen Weiß blutunterlaufen war.

Das Auge, das der Nachtwache fehlte.

John Doe bleckte die Zähne, nadelspitze Reißzähne.

„Fangzähne“, flüsterte ich geschockt. Ein Vampir.

Er lachte. Seine Gesichtsverformung ließ sein Lachen klingen, als würde es auf einem Kassettenrekorder zu langsam abgespielt.

Alles an diesem Wesen deutete darauf hin, dass es nicht tötete, um zu überleben, sondern dass es Spaß daran hatte, mit Berechnung und Wut ein Blutbad anzurichten. Es streichelte meine Wange mit einem krallenförmigen Fingernagel. Er war wie eine Katze, die mit einer Maus spielt, ein Dieb, der das gestohlene Gut bewundert.

Aber ich wollte nicht seine Trophäe sein. Mit den Händen tastete ich auf dem Boden nach einem Stück zerbrochenem Glas und stieß die Scherbe in seinen Oberschenkel. Sein Blut spritzte mir ins Gesicht. Ich spürte das Feuchte, hatte den metallenen Geschmack auf den Lippen und fing an zu würgen.

Wütend heulte er auf und zog mir seine freie Hand, die er wie eine Klaue gewölbt hatte, über den Nacken. Erst Sekunden später spürte ich einen brennenden Schmerz, aber das war mir egal. Ich konnte mich frei machen. Mit einer Hand versuchte ich die Blutung an meinem Hals zu stoppen, aber das warme Blut rann mir durch die Finger. Es war hoffnungslos, und das wusste ich. Bevor mich jemand finden konnte, würde ich am Boden der Leichenhalle verbluten.

Dann sah ich die weißen Schuhe der Leute vom Notfallteam, die in den Raum stürmten. Ich hob die freie Hand, um ihnen zu winken. Nur einer kam auf mich zu, die anderen blieben wie versteinert stehen.

„Es ist nicht schlimm, das kriegen wir schon wieder hin“, sagte der junge Krankenpfleger, als er meine Finger von der Wunde im Nacken löste.

Das war das Letzte, woran ich mich erinnern konnte.

WEITERE UNSCHÖNE ÜBERRASCHUNGEN

Ich lag fast einen Monat lang im Krankenhaus. Die Polizei stattete mir mehrere Besuche ab. Sie notierten sich meine Beschreibung von John Doe – die Reißzähne und so weiter –, aber sie fragten sich unter Garantie, unter welchen Schmerzmitteln ich wohl gestanden haben mochte. Der erste Kommissar, der mir Fragen stellte, war zwar schnell zum Tatort gekommen, aber da war John Doe schon verschwunden. Die letzte Zeugenbefragung ging schnell, und obwohl die Polizei mir versicherte, dass sie weiter am Fall arbeitete, hatte ich keine große Hoffnung, dass sie etwas herausfinden würde. Wer oder was John Doe auch war, sicherlich war er klug genug, um entkommen zu können.

Einige Kolleginnen aus der Notaufnahme kamen mich besuchen. Sie wirkten nervös und blieben nicht lange. Wir machten Witze über den Schlussverkauf nach Thanksgiving, den ich verpasst hatte. Sie scherzten, ich würde mich mit den Weihnachtseinkäufen beeilen müssen, wenn ich überhaupt rechtzeitig entlassen würde. Ich hielt es für nötig, ihnen zu sagen, dass ich niemanden hatte, für den ich Geschenke kaufen musste.

Die nicht enden wollenden Besuche hatten ein Gutes: Man brachte mir die Zeitungsausschnitte mit, in denen über den Vorfall berichtet wurde. Zwar wollte ich sie nicht sammeln und in ein Album einkleben, aber immerhin erfuhr ich aus den Artikeln mehr, als mir die Polizisten sagen konnten.

Den Zeitungen zufolge war der Wächter des Leichenkellers, Cedric Kebbler, von einem Unbekannten angegriffen und getötet worden. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem Verdächtigen um einen Patienten, der aus der Psychiatrie ausgebrochen war. Ich hatte ihn dabei überrascht, wie er gerade sein Opfer tötete, und wurde deshalb selbst zum Opfer. Ich stürzte und der Täter entkam durch das einzige Fenster des Leichenkellers. Ich wurde nicht interviewt, weil mein „Gesundheitszustand“ und meine „Angstattacken und mein posttraumatisches Syndrom“ es nicht zuließen. Letzteres wurde von einem Psychiater der Klinik in einem kurzen Gespräch diagnostiziert. Währenddessen befand ich mich in einem Nebel, der von den morphinhaltigen Beruhigungsmitteln hervorgerufen wurde, die ich bekam.

In keinem der Artikel war die Rede davon, dass John Does Körper verschwunden sei und in welchem seltsamen Zustand die Leiche von dem Wächter war. Entweder hatte die Polizei diese Einzelheiten verschwiegen oder die Pressesprecherin der Klinik war wirklich eine tolle Kraft.

Als mich Dr. Fuller besuchte, fühlte ich mich in meiner Haut sehr unwohl. Offensichtlich reichte es ihm nicht, mich als Ärztin abgeschrieben zu haben. Er musste mich auch als Mensch völlig fertigmachen. Er stellte sich an das Fußende meines Bettes, hatte meine Krankenakte in der Hand und las sie, fast ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen. Dann klappte er mit einem tiefen Seufzer die Mappe zu und sagte: „Nun, das sieht nicht gut aus, nicht wahr?“

Er hatte recht. In der Woche nach meiner Begegnung mit John Doe war ich zweimal operiert worden. Erst einmal musste die Wunde an meiner Halsschlagader versorgt werden, und danach wurden die Glassplitter aus meiner Schädeldecke entfernt. Nach der ersten Operation setzte im Aufwachzimmer mein Herz aus, was der behandelnde Arzt mit einer flotten Handbewegung beiseitewischte, als würde mich seine Unbekümmertheit in irgendeiner Weise beruhigen.

Außerdem durfte ich eine Reihe spaßiger Impfungen genießen, wie zum Beispiel Tetanus und Röteln – nur als Vorsichtsmaßnahmen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass John Doe mich in einem Anfall von Tollwut attackiert hatte, aber mich fragte ja niemand nach meiner Meinung, und außerdem war ich nicht in der Position, mich darüber aufzuregen.

Während meines langen Krankenhausaufenthaltes fing ich an, seltsame Symptome zu entwickeln. Die meisten ließen sich als Nachwirkungen eines Stresstraumas erklären oder als die Nebenwirkungen eines größeren Eingriffes.

Das erste Gebrechen, das mich ereilte, war eine erhöhte Temperatur von 40° C. Das Fieber trat auf, als ich mein Herzversagen hatte. Aber die nachfolgenden Wiederbelebungsversuche waren schließlich erfolgreich. Ich stand immer noch unter starken Beruhigungsmitteln, und ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtut, dass ich das alles nicht mitbekommen habe. Nach 40 langen Stunden fiel das Fieber und sank so stark, dass meine Körpertemperatur nur noch 34° C betrug. Das war nicht normal.

Erst als ich mir meine eigene Krankenakte ansah, begriff ich, dass zu diesem Zeitpunkt meine Verwandlung begann. Die Ärzte waren ratlos. Ein Arzt berichtete, dass solche Dinge durchaus vorkommen könnten, und zitierte Fälle, bei denen Komapatienten für längere Zeit abnorm geringen Körpertemperaturen standhielten. Er hätte auch gleich die Schultern hilflos zucken können. Und was die übrigen Ärzte anging, hatten auch sie nichts anderes zu meinem Fall zu sagen.

Das zweite Symptom war mein unglaublicher Appetit. Ich wurde durch eine Magensonde, die über die Nase lief, ernährt, um den Heilungsprozess an meiner Kehle nicht zu stören. Dennoch wollte ich immer etwas zu essen haben, sobald die Wirkung der Betäubungsmittel nachließ und sich mein geistiger Nebel etwas lichtete.

Die Krankenschwestern runzelten dann die Stirn, kontrollierten meine Akte und erklärten mir dann, dass ich durch die Sonde ausreichend Nährstoffe zugeführt bekäme. Ich vermisste aber, zu kauen und zu schlucken, wie man es beim Essen tut.

Und als die Sonde entfernt wurde, schien sich mein unersättlicher Appetit nicht zu verringern. Ich aß unglaubliche Mengen, und als ich endlich nach Hause entlassen wurde, rauchte ich fast eine ganze Schachtel Zigaretten am Tag, als wäre ich von einem nikotinsüchtigen Dämon besessen. Es heißt im Allgemeinen, dass starkes Rauchen nach einem schweren Engriff in das Gewebe keine gute Idee sei. Aber das Allgemeinwissen hatte keine Erklärung für meinen Hunger, der mich fast verrückt machte. Die Leere, die mich zur Fressmaschine werden ließ, konnte durch Essen nicht gefüllt werden. Und je mehr ich zu mir nahm, desto größer wurde diese Leere.

Das dritte Anzeichen trat so lange nicht in Erscheinung, bis ich entlassen worden war. Nachdem ich wochenlang in einer Krankenstation wie in einem U-Boot gelebt hatte, erwartete ich, dass mir natürliches Licht erst einmal fremd vorkommen würde. Aber nie hätte ich gedacht, dass ich das Gefühl haben würde, meine Haut würde unter größten Schmerzen verbrennen, sobald ich ins Sonnenlicht hinaustrat. Draußen zwinkerte ich desorientiert, um mich in dem gleißenden weißen Licht zurechtzufinden.

Obwohl es Mitte Dezember war, hatte ich das Gefühl, ich würde einen Hochofen betreten. Vielleicht war das Fieber zurückgekehrt, aber ich hatte nicht die geringste Lust, noch eine Nacht in einem Krankenhausbett zu verbringen. Ich nahm ein Taxi nach Hause, zog die Rollläden herunter und kontrollierte wie besessen alle fünfzehn Minuten meine Temperatur. Erst 34° C, dann 33° C, und sie fiel weiter. Als ich gewahr wurde, dass meine Körpertemperatur der des Thermostates im Wohnzimmer entsprach, war mir klar, dass ich wohl den Verstand verloren hatte.

Vielleicht war es ein unterbewusstes Bedürfnis, mich vor einem weiteren Schock zu schützen, oder eine bewusste Entscheidung, die Realität beziehungsweise meine Situation zu ignorieren, jedenfalls weigerte ich mich, anzuerkennen, wie merkwürdig all dies war. Ich musste eine Sonnenbrille tragen, sobald die Sonne schien, gleichgültig, ob ich mich drinnen oder draußen aufhielt. Meine Wohnung verwandelte sich in eine Höhle. Die Rollläden waren immer geschlossen. Zuerst stolperte ich häufig in dem Zwielicht, doch dann gewöhnte ich mich schnell daran. Nach einigen Tagen fiel es mir leicht, im flackernden blauen Licht des Fernsehbildschirmes zu lesen.

Als ich wieder zu meinem Dienst im Krankenhaus zurückkehrte, blieben die Veränderungen, die ich durchgemacht hatte, nicht unbemerkt. Aufgrund meiner plötzlichen Sensibilität Sonnenlicht gegenüber bat ich darum, nur Nachtschichten übernehmen zu dürfen. Aber es war unmöglich, mich zwischen all den piepsenden Monitoren und den endlosen Mails auf irgendetwas zu konzentrieren.

So viele Dinge konnten nicht erklärt werden. Es gab sehr viele Fragen, die auch die Wissenschaft nicht beantworten konnte. Außerdem war ich mir auch nicht sicher, ob ich die offensichtliche Lösung der Probleme überhaupt sehen wollte.

Doch ich konnte es nicht länger hinauszögern. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ich alle möglichen Quellen, medizinischen Fachzeitschriften und Bücher studiert hatte. Schließlich musste ich die Antwort auf meine Frage, die ich so gefürchtet hatte, akzeptieren.

Eine geschlagene Stunde lief ich vor meinem Schreibtisch, auf dem mein Computer stand, auf und ab. Was wollte ich eigentlich? Erwachsene glauben nicht an Dinge, die plötzlich in der Nacht mit einem Knall auftauchen. Vielleicht sollte ich wirklich einmal zu der Psychotherapeutin gehen, die mir mein Arzt empfohlen hatte.

Als Kind durfte ich nie den Luxus genießen, die Wiederholungen von Dunkle Schatten zu schauen. Alles, was ich las, musste ich für die Schule lesen. In unserem Hause wurde alles, was mit Lust und Laune zu tun hatte, kritisch beäugt. Mein Vater, ein Anhänger der Lehren C. G. Jungs, schätzte solche Dinge mit dem Blick des Psychoanalytikers als ein Warnzeichen für einen unterentwickelten Animus ein. Für meine feministische, karriereorientierte Mutter galten sie als rotes Tuch, weil sie fürchtete, ich würde durchs Vergnügen zu einem Fußsoldaten einer Armee von Einhorn-Gläubigern.

Ich setzte mich wieder hin und wählte mich ins Internet ein. Falls meine Eltern oben im Himmel, dessen Existenz sie verneinten, weil er sich nicht logisch erklären ließ, sitzen und auf mich hinabschauen sollten, würden sie jetzt sicherlich von mir enttäuscht sein, da war ich mir sicher.

Auf komische Weise war es ihre Schuld, dass ich den Mut besaß, die Möglichkeit zu erkunden, ob ich ein Vampir war. Ockhams Rasiermesser war eine Theorie, die mein Vater ständig zitierte. Alles musste möglichst einfach und praktisch sein. Der Himmel verbiete, dass jemals ein Objekt in unserem Haus – oder eher in unserem Museum – kaputtging oder nicht an seinem festen Platz war. Ich log immer und behauptete, ich sei gar nicht da, ich sei eine statistische Anormalität. Wenn ich das sagte, starrte mein Vater mich mit seinem schönsten missbilligenden Blick an und sagte: „Man sollte nicht über das nötige Maß hinaus die Anzahl der Dinge vergrößern, die nötig sind, um alles zu erklären.“

Mit anderen Worten: Wenn etwas wie eine Ente aussah, musste es auch eine Ente sein. Oder, wie in diesem Fall, wenn es so aussah, als würde ich zu einem Vampir mutieren …

„Danke, Dad“, murmelte ich, als ich mir eine weitere Zigarette anzündete. Ich hatte längst akzeptiert, dass diese Dinger mir physisch nicht guttaten, aber das Ritual half, meine zerrütteten Nerven zu beruhigen. Ich gab Vampir in die Suchmaschine ein und hielt den Atem an.

Kaum glaubwürdiger, als im Kaffeesatz zu lesen oder sich auf sein Glück beim Billard zu verlassen, bot das Internet Anonymität und die Chance, etwas herauszufinden. Beides waren entscheidende Aspekte bei meiner Suche nach Wissen. Aber dennoch kam ich mir ein wenig albern vor, als ich den ersten Link anklickte.

Die Anzahl der Leute, die sich für Vampire interessierten – oder sogar behaupteten, selbst einer zu sein – fand ich erstaunlich, aber die Informationen, die ihre Webseiten boten, konnte man vernachlässigen. Ich fand eine vielversprechende Spur, eine professionell wirkende Homepage, auf der man die Möglichkeit hatte, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich entschied mich an dieser Stelle anzufangen, und so begann ich, meine Situation zu schildern.

Es fiel mir noch nie leicht, etwas zu schreiben, aber mit jedem Wort, das ich in das kleine weiße Textfeld schrieb, kam ich mir noch blöder vor. Nach verschiedenen frustrierenden Entwürfen gab ich auf und kürzte den ausführlichen Text auf zwei abgebrochene Sätze: „Von Vampir angefallen. Bitte um Rat.“

Ich musste nicht lange auf eine Antwort warten. Noch bevor ich aufstehen konnte, um auf die Toilette zu gehen, kam das Signal, dass ich eine E-Mail erhalten hatte.

Die erste Antwort informierte mich darüber, dass ich ein Fall für die Psychiatrie sei. Der zweite Schreiber mutmaßte, ich würde zu viele Spätfilme schauen. Eine weitere Person versuchte mich in verständnisvollem Ton davon zu überzeugen, dass ich mich aus meiner offensichtlich ungesunden Beziehung lösen sollte. Dafür, dass es sich um eine Seite für Menschen handelte, die an Vampire glauben sollten, zeigten sie nicht viel Verständnis für die Möglichkeit, dass Vampire tatsächlich existieren könnten.

Ich begann die Antworten zu löschen, ohne sie gelesen zu haben, bis eine Betreffzeile meine Aufmerksamkeit erregte.

1320 Wealthy Ave.

Ich kannte die Adresse. Die Straße war nicht weit von meiner Wohnung entfernt. Die Gegend lag direkt neben der Innenstadt. In dieser Straße gaben College-Studenten, die zum ersten Mal von zu Hause fort waren, ihr Taschengeld für Drucke von der Künstlerin Georgia O’Keeffe in Posterläden aus, während nebenan Migrantenfamilien ihre Einkäufe in mickrigen Eckläden erledigten. Ich war schon häufiger durch dieses Viertel gefahren, aber ich hatte nie angehalten.

In der E-Mail stand Folgendes: Nach Sonnenuntergang, jederzeit diese Woche.

Die kleine Uhrenanzeige in der Ecke des Computerbildschirmes zeigte 17.00 Uhr an. Nach Sonnenuntergang.

Ich musste erst in sechs Stunden zum Dienst.

Ich brauchte mich nur in meinen Wagen zu setzen und hinzufahren.

Aber es hörte sich nach einer kniffligen Sache an. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, das hatte ich ja nun gerade hinter mir. Der Absender konnte entweder ein verwirrter Teenie-Fan sein oder ein Vampir-Fanatiker. Sicher, er oder sie war vielleicht völlig harmlos und machte sich nur einen Spaß, aber ich war nicht wirklich daran interessiert, noch einen weiteren Monat im Krankenhaus zu verbringen.

Warum sollte ich zu einer unbekannten Adresse fahren, weil sie mir von einem anonymen E-Mail-Verfasser genannt worden war? Nun, so anonym war der Absender gar nicht: Zigmeister69@usmail.com war gar keine so ungewöhnliche E-Mail-Adresse. Ich loggte mich bei usmail.com ein, um zu schauen, ob ich ein User-Profil finden würde, eine Homepage, etwas, das einen Hinweis darauf gab, wer mir diese Mail geschrieben hatte. Aber ich fand nichts.

Meine vergebliche Suche löste eine andere, noch erschreckendere Idee aus. Was, wenn der Absender John Doe wäre? Was, wenn er in aller Stille jeden meiner Schritte verfolgte? Auch wenn es absurd erschien, dass das Monster aus meinen Albträumen sich abends an den Computer setzen würde, um mich zu erschrecken – ich wusste ja nicht, wer mir da schrieb. Vielleicht hatte er die ganze Zeit über sorgfältig diese Falle für mich geplant, hatte herausgefunden, wo ich wohnte, wie er mich erreichen konnte, und sorgte dafür, dass ich mich vermeintlich in Sicherheit wähnte.

„Scheiß drauf.“ Energisch drückte ich meine Zigarette im Aschenbecher neben der Tastatur aus, bevor ich die Adresse in die Maske der Suchmaschine eingab.

Die Gruft: Okkulte Bücher und Zubehör.

Darunter stand die Telefonnummer und die Angabe, wie man dorthin gelangte.

In einem öffentlichen Raum, in einem quirligen Stadtviertel konnte mir nichts geschehen. Dieses Argument redete ich mir leise immer wieder ein, als ich zu meinen Schlüsseln griff und die Wohnung verließ.

Obwohl die Sonne schon vor einer Stunde untergegangen war, war der Himmel immer noch hell genug, sodass meine Haut spannte und juckte. Ich trug zur Tarnung eine Baseballkappe. Falls mir John Doe auflauerte, wollte ich ihn zuerst sehen, bevor er mich entdeckte. Ich warf eine Schmerztablette ein, die mir gegen meine Lichtempfindlichkeit verschrieben worden war, und knöpfte meinen Woll-Trenchcoat zu, um mich vor der Dezemberkälte zu schützen.

Der Häuserblock mit den Nummern 1300 war nur fünf Meilen von meiner Wohnung entfernt. Er lag an einer Kreuzung von drei Straßen, deren Häuser aus verschiedenen Epochen stammten und die zum Teil trendige Restaurants beherbergten. Frauen in weiten langen Röcken und bestickten Mänteln gingen auf den schneebedeckten Fußwegen neben Männern mit Rastazöpfen und Cordhosen. Die meisten Fußstapfen im Schnee stammten von Doc-Martens-Schuhen – also dem klassische Schuhwerk alternativer Studenten.

Vor einem gut besuchten Café fand ich einen Parkplatz. Mit meinen Jeans, Baseballmütze und Pferdeschwanz hatte ich das Gefühl, aufzufallen. Ich trat auf den Bürgersteig hinaus und versuchte die Tatsache, dass mich ultrahippe Absolventen der Kunsthochschule durch die Scheibe des Cafés anstarrten, zu ignorieren. Wahrscheinlich sah ich wie ein Maskottchen für das kapitalistische System aus, über das sie sich beim Milchkaffeetrinken beschwerten.

Wie sich herausstellte, war es nicht einfach, 1320 Wealthy zu finden. Ich war schon einige Male daran vorbeigelaufen, bis ich das Haus endlich fand. Der Eingang befand sich zwischen einem Secondhand-Modegeschäft und einem Gemüseladen an der Ecke, also zwischen 1318 und 1322, die direkt nebeneinander lagen. Nichts deutete auf 1320 hin, bis auf ein Klappschild auf dem Bürgersteig. Wäre ich geduldig genug gewesen, dem Aufsteller mehr Aufmerksamkeit zu schenken, hätte ich mir die frustrierende Suche ersparen können. „Die Gruft: Okkulte Bücher und Zubehör, 1320 Wealthy“ stand mit silbernen Buchstaben auf schwarzem Hintergrund. Ein großer roter Pfeil wies auf die winzige Treppe, die von dem Bürgersteig in die Räume unter das Kleidungsgeschäft führte.

Ich blinzelte in ein schwarzes Loch. Die Stufen waren feucht, aber nicht mit Eis bedeckt. Ich holte tief Luft und ging hinunter.

Am Ende der Treppe befand sich eine alte hölzerne Tür. Auf der Glasscheibe in der oberen Hälfte war mit goldenen Lettern der Name des Geschäftes geschrieben. Als ich die Tür öffnete, erklangen Glocken.

Das, was ich drinnen sah und roch, überwältigte mich sofort. Räucherstäbchen brannten und füllten den Raum mit dicken Rauchschwaden und einem unerträglichen Geruch. Es lief leise New-Age-Musik, irgendeine friedliche keltische Harfe, mit Vogelgezwitscher unterlegt. Ich weiß nicht, ob es der Geruch oder die nervige Musik war, jedenfalls musste ich würgen.

In dem Laden war es nicht sehr hell, doch es brannten jede Menge Kerzen auf den Bücherregalen und warfen von dort aus zitternde Schatten in den Raum.

Um den schweren Duft der Räucherstäbchen nicht mehr einatmen zu müssen, hielt ich mir den Ärmel vor mein Gesicht. Ich hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Schließlich blickte ich zum Kassentresen.

Es schien niemand da zu sein. „Hallo?“

Eine Tür fiel mit einem schweren Knarzen ins Schloss. Als ich mich zu dem Geräusch umdrehen wollte, spürte ich einen Schlag auf die Brust. Ich verlor den Boden unter meinen Füßen, dann fiel ich mit dem Rücken auf den Dielenfußboden.

Die Muskeln in meinem Körper schmerzten sehr, denn seitdem ich im Krankenhaus gewesen war, hatte ich mich noch nicht sehr viel bewegt. Aber mein bis dato unbekannter Instinkt sagte mir, dass ich mich bewegen musste. Schnell rollte ich mich zur Seite, als die Klinge einer Axt dorthin auf den Boden niedersank und das Holz zersplitterte, wo gerade noch mein Kopf gewesen war.

Mit einer Kraft, die mir bisher unbekannt war, krümmte ich meinen Rücken und stieß mich mit meinen Handflächen vom Boden ab. Ich landete auf meinen Füßen mit einer Bewegung, die ich nur aus Action-Filmen kannte. Erst dann sah ich meinen Kontrahenten.

Wenn man mich gefragt hätte, ich hätte ihn auf etwa 15 Jahre geschätzt. Aber aufgrund des Tattoos auf seinem Handrücken, der Piercings in seinen Ohren und in der Augenbraue musste er mindestens achtzehn sein. Sein langes fettiges Haar war bis auf einen schmalen Streifen in der Mitte des Kopfes abrasiert. Ungeachtet der Temperatur, die in dem Laden herrschte, trug er einen dicken Wintermantel.

Ich hob meine Hände, um ihm zu signalisieren, dass er vor mir keine Angst zu haben brauchte, aber er hob die Axt noch einmal, um zuzuschlagen. Dieses Mal traf er die Vitrine des Verkaufstresens, die mit einem Knall zersprang. „Stirb, du dreckiger Vampir!“

Wie es jeder vernünftige Mensch getan hätte, rannte ich weg. Und obwohl der kleine Psychopath mit dem Kindergesicht recht flott zu Fuß war, schaffte ich es, an ihm vorbei zur Tür zu kommen, die gerade in diesem Moment aufging. Ich hatte keine Zeit, um mich mit meinen Armen vor dem Kommenden zu schützen. Die schwere Holztür knallte mir gegen den Schädel und warf mich aus dem Gleichgewicht. Wieder stürzte ich auf den Boden und bekam gerade noch mit, wie sich wieder die Axt dort befand, wo ich gerade gestanden hatte.

„Nate, Vorsicht …“

Mir kamen zwei Gedanken, als ich den Mann sah, der gerade in den Laden gekommen war. Der erste war verdammte Scheiße. Der Mann hielt die Axt, die auf ihn zukam, einige Zentimeter vor seinem breiten Oberkörper auf, indem er die Klinge zwischen seinen Handflächen fing wie eine Fliege. Er hatte die Waffe abgewehrt, noch bevor der gewalttätige Junge ihn warnen konnte. Verdammte Scheiße war auch mein zweiter Gedanke.

Der Typ war purer Sex. Breite Schultern, ein flacher Bauch, dunkle, wellige Haare. Plötzlich wurde mir bei seinem Anblick klar, warum die Krankenschwestern so auf die Kalender mit halb nackten Feuerwehrmännern standen, die im Aufenthaltsraum hingen.

„Es tut mir schrecklich leid“, wandte er sich zu mir um.

Ich nahm die Hand, die er mir anbot. Mich durchzuckte es wie ein elektrischer Schlag, als er mich berührte. Ich stand auf. Fast hätte ich gesagt: „Schon okay“, bevor mir klar wurde, dass absolut nichts okay war. Ich zitterte, als ich zur Türklinke griff.

„Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, Ziggy?“, fuhr er den jungen Mann an, bevor er sich wieder zu mir umdrehte. „Sind Sie verletzt? Brauchen Sie etwas? Einen Krankenwagen?“

Er legte seine Hand auf meine Schulter, aber ich schüttelte sie ärgerlich ab. „Verlassen alle Kunden Ihr Geschäft in einem Krankenwagen?“

Ziggy zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich: „Sie ist ein verdammter Vampir, Mann! Lass sie nicht weg!“

Mit einer Aggressivität, die mich erschreckte, schrie der Mann den Jungen an. „Hol ihr ein nasses Tuch für ihren Kopf!“

Ziggy grummelte irgendetwas, um sein Missfallen auszudrücken. „Soll ich ihr vielleicht auch eine Tasse von meinem schönen warmen Blut besorgen? Mit ein paar Marshmallows zum Umrühren?“

„Geh schon hoch, los!“

Der Bursche ging Flüche murmelnd an uns vorbei und verließ den Laden, indem er die Tür laut zuknallte, sodass das Glas in der Tür zitterte.

„Ich glaube nicht, dass er mit einer Kompresse zurückkommt“, stellte ich trocken fest.

„Nein, das glaube ich auch nicht.“ Der Mann lachte leise und hielt mir die Hand hin. „Ich bin Nathan Grant.“

„Carrie Ames.“

Verschwinde schon, du blödes Stück, sagte mir eine innere Stimme. Er hat noch die verdammte Axt in der Hand! Aber meine Füße rührten sich nicht von der Stelle. Die morbide Neugierde, die mich auch hierher geführt hatte, hatte mich völlig unter Kontrolle. Außerdem zwang mich eine skrupellose Anziehungskraft, wie ich sie bislang nicht kannte, so nah wie nur möglich bei diesem Mann zu bleiben.

Nathan neigte seinen Kopf und sah mich neugierig aus grauen Augen an. Er räusperte sich und stellte die Axt am Türrahmen ab, bevor er die Arme über der Brust verschränkte. „Ames. Sind Sie die Ärztin aus den Nachrichten?“

Seine Stimme war verführerisch männlich, er sprach mit einem vernehmbaren schottischen Akzent. Es fiel mir schwer, mich auf seine Frage zu konzentrieren, weil ich seine perfekt geschwungenen Lippen anstarrte. „Oh … ja. Genau die bin ich.“

Er lächelte, aber es war nicht das netteste Lächeln, das ich jemals gesehen hatte. Es erinnerte mich an den Gesichtsausdruck, den ein Zahnarzt hat, bevor er einem sagt, dass man sich einen Termin für eine Wurzelbehandlung geben lassen soll.

„Dann gibt es eine Menge, über das wir reden müssen, Doktor. Ich muss mich für Ziggy entschuldigen. Er ist von der Idee besessen, er sei ein Vampir-Jäger. Wie hat er Sie eigentlich gefunden?“

„Mich gefunden?“ Zigmeister69. Ich war in eine Falle getappt. „E-Mail.“

Nathan grinste. „Verstehe. Nightblood.com?“

Ich tat so, als müsste ich husten, um mir eine Antwort zu überlegen. „Genau.“

Er schüttelte den Kopf. „Regel Nummer eins: Gehe nie an die Öffentlichkeit.“

„Regel Nummer eins? Worüber reden Sie eigentlich?“

Als hätte er alle Zeit der Welt, zu erklären, worum es ging, drehte er sich um. Er ging hinter den Tresen zur Stereoanlage, stellte den CD-Spieler ab und beendete damit das nervig beruhigende New-Age-Gedröhne.

„Worüber reden Sie?“, hakte ich nach und ging hinter ihm her, als er durch den Laden schritt und an den Kerzen roch. „Wären Sie so nett, mal stehen zu bleiben und mit mir zu reden?“

Er seufzte und ließ seinen Kopf hängen, während er sich mit den Armen auf dem Tresen abstützte. Es sah nicht so aus, als könne der zierliche Holzbau sein Gewicht halten.

„Es gibt Regeln, die du befolgen musst. Regeln, die jeder Vampir befolgen muss.“

Ich stellte fest, dass meine Hand schon auf der Türklinke lag, bevor ich mich entschlossen hatte, fortzurennen.

„Warte!“, rief er mir nach. Er ging um den Tresen herum und hielt mich am Ärmel fest, bevor ich hinauslaufen konnte. „Wenn du jetzt fortläufst, dann wird es kein gutes Ende nehmen.“

Sein Griff an meinem Arm machte mich nervös, ebenso wie die Spannung, die ich in seiner Stimme hören konnte. Als ich sprach, hörte ich mich heiser und seltsam an. „Ist das eine Drohung?“

„Hör zu“, fing er an, aber die Bedrohlichkeit war aus seiner Stimme gewichen. „Ich weiß, dass du dir ein paar Fragen stellst. Sonst wärest du nicht an Ziggy geraten.“

„Ja, ich habe einige Fragen.“ In meiner Wut spuckte ich die Worte fast aus. „Wer zum Teufel sind Sie? Warum wurde ich angegriffen, als ich hier zur Tür hereinkam? Und wieso zur Hölle glauben Sie, ich sei ein Vampir?“

Ich riss die Tür auf und trat in die Eiseskälte hinaus. In meiner Manteltasche suchte ich nach einer angebrochenen Packung Zigaretten.

Er folgte mir bis zu der Treppe und sprach erst wieder, als ich schon die Hälfte der Stufen hinter mir gelassen hatte. Gerade als ich versuchte, mein Feuerzeug in Gang zu bekommen, rief er mir nach.

„Weshalb glaubst du, du seist ein Vampir? Deshalb hast du die Foren im Internet nach Vampiren durchsucht, richtig? Deswegen hat dich Ziggy auch gefunden. Es ist seine Hauptbeschäftigung.“ Mit einer Eleganz, von der ich glaubte, sie sei nur Tieren vorbehalten, ging er die Stufen hinauf und nahm meine Hand. Seine Haut war eiskalt. „Egal, wie viel du rauchst, du wirst immer mehr rauchen wollen. Du wirst nie genug bekommen. Das Essen, das du isst, macht dich nicht satt, und du hast keine Ahnung, woran das liegen könnte.“

Plötzlich wirkte die Zigarette zwischen meinen Fingerspitzen albern. Ich zitterte, was nicht nur an der Kälte lag.

Nathan sprach weiter, aber er hörte sich weit weg an.

„Komm mit hoch“, fuhr er fort, „ich werde versuchen, es dir zu erklären.“

Ich ging ein paar Schritte die Treppe hoch und dachte darüber nach, dass ich weitergehen, mich in mein Auto setzen und nie mehr zurückkommen sollte, ja einen großen Bogen um diesen Stadtteil machen. Sollte ich jemals an diesen Ort zurückkehren, könnte ich so tun, als ob dies alles nie geschehen sei. Es gab ja immer noch die Chance, dass ich eigentlich noch gar nicht aus der Narkose aufgewacht war und dass ich immer noch auf der Intensivstation im Koma lag. So sehr ich auch versuchte, mir das einzureden, wusste ich doch, dass es nicht stimmte. Ich warf die Zigarette weg und sah ihr dabei zu, wie sie auf die nächste Stufe rollte. „Es ist nicht zufällig möglich, dass ich das hier gerade zusammenträume, oder?“

„Nein“, antwortete er ruhig. „Wir erkennen uns, ähem, gegenseitig.“

Ich sah ihn scharf an. Ich wurde blass, und an der Art und Weise, wie er mich ansah, wusste ich, dass er mir meine Angst ansah. „Sie sind ein …“

„Vampir, ja“, beendete er meinen Satz, als mir die Stimme versagte.

„Na, dann wäre das ja wohl geklärt“, stellte ich fest. Seltsamerweise fühlte ich mich ein wenig erleichtert, obwohl ich in einem düsteren Hauseingang mit einem Typen stand, der behauptete, ein Vampir zu sein. „Ich bin verrückt.“

„Du bist nicht verrückt. Das machen wir alle durch, wenn wir uns verwandeln.“ Er sah nervös auf, als jemand über unseren Köpfen an dem Eingang vorbeiging. „Aber das hier ist nicht der richtige Ort, um so etwas zu besprechen. Warum kommst du nicht mit hoch, dann können wir uns in meiner Wohnung weiterunterhalten.“

„Nein, aber trotzdem danke“, sagte ich und konnte mir das Lachen nicht verkneifen. „Es war sehr nett, Sie kennenzulernen, Mr. Vampir, aber ich muss los. Ich muss heute Abend arbeiten. Und vielleicht erreiche ich vorher noch meinen Psychotherapeuten. Wenn ich Glück habe, verschreibt er mir ein Rezept für ein schönes riesiges Paket mit Psychopharmaka, damit ich mein normales Leben weiterführen kann.“

Ich drehte mich um, aber Nathan hielt mich am Arm fest. Schneller, als ich reagieren konnte, hatte er mich zwischen seinen muskulösen Körper und die harte Mauer gepresst. Mit der Hand hielt er mir meinen Mund zu, als ich gerade losschreien wollte.

„Das genau wollte ich vermeiden“, zischte er zwischen seinen zusammengepressten Zähnen hervor. Dann neigte er den Kopf, und sein Körper lehnte sich gegen meinen.

Als er sich wieder zurückbewegte und den Kopf hob, setzte mein Herzschlag aus. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge waren verzerrt, seine Haut spannte sich über eine spitze knochige Schnauze. Lange Reißzähne reflektierten das Licht. Er sah aus wie John Doe, bevor er meine Kehle wie ein Geburtstagsgeschenk aufgerissen hatte.

Nur verrieten seine Augen, dass er sich unter Kontrolle hatte. Bis zu dem Tag, an dem ich sterbe, werde ich mich an seinen Blick erinnern: Nathans graue Augen schauten mich so klar und so ehrlich an, dass es mir das Herz zerriss, obwohl sein Gesicht einer furchtbaren Maske glich.

„Verstehst du jetzt?“, frage er.

Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, ich nickte. Er ging einen Schritt zurück und verbarg sein Gesicht in den Händen. Als er mich anschaute, sah sein Gesicht wieder normal aus. Er betrachtete mich liebevoll und mitleidig. Das verwirrte mich mehr als seine monsterähnliche Erscheinung.

„Nun komm schon. Lass uns reingehen, dann erzähle ich dir alles, was du wissen willst.“

Mir war kalt, und vor lauter Verzweiflung fühlte ich mich fast taub. Ich ließ mich von ihm die Stufen hinauf auf den Bürgersteig führen. „Alles?“

„Sicher“, versprach er, während er aus seiner Tasche einen Schlüsselbund hervorholte.

„Okay“, ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. „Aber warum ich?“

DIE BEWEGUNG

Nathans Wohnung war klein, und überall standen Möbel herum. An den Wänden befanden sich grobe Regale auf schlichten Winkeln, wie man sie zum Zusammenbauen im Baumarkt kauft. Auf einigen standen so viele Bücher, dass sich die Regalböden unter ihrem Gewicht bogen. Auf dem Couchtisch lagen Notizbücher und Schreibblöcke, die mit einer fast unleserlichen Handschrift beschrieben waren. Die Zimmer waren vollgestellt, aber nicht schmutzig.

„Entschuldige bitte diese Unordnung“, sagte er und lächelte entschuldigend. Er sah kurz zur Treppe hinüber. Ein Song von Marilyn Manson dröhnte in voller Lautstärke aus einem der anderen Zimmer, dessen Tür geschlossen war. „Dreh das leiser, Ziggy!“

Die Lautstärke wurde einige Dezibel heruntergedreht. Nathan und ich standen einige Augenblicke lang etwas unbeholfen an der Tür. Ich nehme an, er war genauso unsicher wie ich.

„Kinder“, sagte ich, zuckte mit den Schultern und sah mich nach dem Zimmer um, von dem ich annahm, dass es Ziggy gehörte.

„Gib mir deinen Mantel.“

Ich beobachtete Nathans Gesichtsausdruck, als er mir aus der Jacke half. Er sah meiner Meinung nach sehr jung aus, dafür, dass er einen Sohn in Ziggys Alter hatte. Aber dann fiel mir ein, dass Nathan ja ein paar Jahrhunderte alt sein konnte.

Nachdem er meinen Mantel an einem Haken neben der Tür aufgehängt hatte, schien er plötzlich energischer. „Hast du etwas zu dir genommen?“ Er ging in Richtung Küche und bedeutete mir, ich solle folgen. „Ich habe noch ein paar A positiv.“

Ich wartete im Türrahmen und sah ihm dabei zu, wie er einige Beutel Blutkonserven aus dem Kühlschrank nahm. Dann griff er zum Teekessel, der auf der Trockenablage stand, öffnete den Deckel, riss mit den Zähnen eine Konserve auf und füllte den Inhalt hinein. Er machte das mit einer Routine, als würde er eine Tüte Chips öffnen. Danach zündete er die Flamme des Gasherdes an und stellte den Kessel darauf. Wiederum wirkte dies so natürlich, dass ich mich erst daran erinnern musste, dass normale Männer kein Blut in ihren Kühlschränken aufbewahren. Auf der anderen Seite besaßen normale Männer auch keine Teekessel.

„Sie wollen das doch nicht etwa trinken, oder?“ Ich spulte in meinem Kopf ab, was wir in der Ausbildung über Krankheiten, die durch Blut übertragen werden, gelernt hatten.

Obwohl er mich nicht ansah, ahnte ich, dass er grinste. „Doch. Möchtest du auch etwas?“

„Nein!“ Mir zog sich der Magen zusammen. „Wissen Sie, wie gefährlich das sein kann, Blut zu trinken?“

„Weißt du, wie gefährlich ich bin, wenn ich es nicht trinke?“ Er lehnte sich gegen die Arbeitsfläche und wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab. So sah ich zum ersten Mal, wie groß er wirklich war.

In meinem Personalausweis ist meine Körpergröße mit 1,77 Meter angegeben, und auch wenn mich der Aufenthalt im Krankenhaus einige Kilos gekostet hatte, war ich immer noch kein kümmerliches Pflänzchen. Dennoch wirkte Nathan, als könne er mich mühelos mit bloßen Händen in Stücke reißen, wenn ihm danach wäre.

Irgendwie klang seine Stimme ein wenig traurig. Kurz sah er mir in die Augen, aber bevor ich dahinterkommen konnte, was los war, drehte er sich wieder weg.

„Oh, tut mir leid. Dir hat noch niemand erklärt, wie das alles geht. Blut zu trinken gehört zu den Voraussetzungen, ein Vampir zu sein. Irgendwann wirst du es tun müssen, also lieber jetzt als später.“ Seine Stimme wurde rau. „Und außerdem, wenn du es zu lange hinauszögerst, rastest du aus und tust etwas … was du später bereuen wirst.“

„Dann versuche ich es eben.“ Aus dem Kessel strömte ein warmer, metallischer Duft. Zu meinem Entsetzen knurrte mein Magen. „Also, werde ich unsterblich sein?“

„Warum ist das immer das, was alle zuerst wissen wollen?“, fragte er. „Nein, du wirst wahrscheinlich nicht ewig leben.“

Wahrscheinlich? Das hört sich aber nicht gerade ermutigend an.“

„So sollte es auch nicht klingen.“ Er warf das Handtuch über seine Schulter. „Wir sind nicht dem üblichen Unbill wie Zeit oder Krankheit unterworfen und wir haben die Fähigkeit, uns selbst zu heilen, diese Gabe nimmt mit dem Alter zu. Aber die Liste der Dinge, die uns töten können, ist ellenlang: Sonnenlicht, Weihwasser, die Hölle, ja sogar ein schwerer Verkehrsunfall können uns vernichten.“

Er goss ein wenig Blut in einen Keramikbecher, dessen Rand schon etwas angesprungen war, und deutete auf den kleinen Esstisch. „Wenn du das nicht willst, kann ich dir sonst etwas anderes anbieten?“

„Nein, danke.“ Ich setzte mich auf den Stuhl, den er für mich unter dem Tisch hervorzog. „Haben Sie auch Nahrungsmittel für Menschen hier?“

„Ja“, beantwortete er meine Frage. „Ab und zu mag ich das auch ganz gern, aber ich kann nicht davon leben. Und Ziggy muss etwas essen.“

Ich runzelte die Stirn. Ziggy hatte mich eindeutig in den Laden gelockt, um mich umzubringen. Dann ergab es keinen Sinn, dass er selbst mit einem Vampir zusammenwohnte.

„Hm … weiß Ihr Sohn davon, dass Sie ein Vampir sind?“

„Mein Sohn?“ Nathan sah mich einen Moment lang irritiert an, dann fing er an zu lachen. Ich mochte sein herzliches Lachen, den tiefen, wohlmeinenden Klang seiner Stimme. „Ziggy ist nicht mein Sohn. Aber ich verstehe, wie du auf den Gedanken gekommen bist. Er ist … er ist ein Freund von mir. Außerdem finde ich, dass du mich ruhig duzen kannst.“ Er sah mich an.

„Okay, ich bin Carrie.“ Ich war verwirrt. Ziggy war ein Freund? Ich meine, ich war nicht verschlafen, ich konnte zwischen den Zeilen lesen. Wie es aussah, war der erste vernünftige Typ, den ich in dieser Stadt kennenlernte, schwul. „Aber ist er nicht ein bisschen zu jung für dich?“

Nathan lächelte, als sei es ihm etwas peinlich. „Ich bin nicht homosexuell, Carrie. Ziggy ist mein Blutspender. Ich passe nur auf ihn auf, das ist alles.“

Das war das erste Mal, dass er mich mit meinem Vornamen ansprach und nicht mit Doktor oder Miss Ames. Mit seinem deutlichen Akzent – und ich war mir ziemlich sicher, dass er Schotte war – hörte sich mein langweiliger Allerweltsname exotisch und fast sinnlich an. Ich fragte mich, ob sich Nathan darüber bewusst war, dass ich mich von ihm angezogen fühlte und mein Blut schneller durch meine Adern rauschte.

Falls er das tat, war er so höflich, es nicht zu erwähnen. Dafür war ich dankbar. „Also, warum hat er versucht, mich umzubringen? Ich meine, du bist ein Vampir, und das weiß er, und er spendet Blut für dich und so weiter. Was hat er mit mir zu schaffen?“

Nathan nippte an seinem Becher. „Das ist kompliziert.“

Ich schaute kurz an die Uhr an der Wand. „Ich habe noch ein paar Stunden Zeit.“

Er schien sich seine Antwort einen Moment lang zu überlegen. Dann setzte er sich zu mir an den Tisch, stellte seinen Becher beiseite und verbarg sein Gesicht in den Händen. „Hör zu, du scheinst ein recht nettes Mädchen zu sein, aber ich muss dich etwas fragen, und diese Frage ist ein wenig heikel.“

Trotz des drohenden Tones nickte ich. Alles, was ich zu diesem Zeitpunkt wollte, waren Antworten auf meine Fragen. Wenn er mich darum gebeten hätte, ich hätte ihm einen ganzen medizinischen Fragebogen ausgefüllt. „Schieß los!“

„Ich habe deine Geschichte in den Zeitungen sorgfältig verfolgt, und ich habe da einige Fragen. Nämlich warum du an diesem Abend im Leichenkeller warst.“ Als er mir in die Augen sah, wusste ich, dass ihn diese Frage wirklich beschäftigte.

„Glaubst du etwa, ich habe das mit Absicht getan?“

Er zuckte mit den Schultern. Sein Gesicht zeigte weder Mitleid noch Freundlichkeit. „Erzähl’s mir.“

Im letzten Monat hatte ich viel mit Depressionen zu kämpfen gehabt. Mein altes normales Leben zu führen, konnte ich aufgrund einer geheimnisvollen Krankheit, die ich nicht loswurde, vergessen. Meine Knochen hatten mir vierundzwanzig Stunden am Tag wehgetan. Bei dem geringsten Lichteinfall bekam ich schreckliche Kopfschmerzen. Wenn ich tatsächlich ein Vampir war, dann hatte diese Existenz nichts mit dem luxuriösen Leben eines Grafen Dracula oder eines Lestat de Lioncourt zu tun. Ich lebte in einer wahren Hölle, und das hatte wenig mit freiem Willen zu tun.

„Bitte“, sagte er leise, „ich muss das wissen.“

Ich hätte ihm eine knallen können. „Nein! Was glaubst du, dass ich total ausgeflippt bin?“

Er hob wieder die Schultern. „Da draußen gibt es einige Menschen, die krank genug sind, um ihrem Leben entkommen zu wollen. Manchmal leiden sie unter einer Art Trauma, einer Krankheit, unter dem Verlust eines geliebten Menschen.“ Er sah mir geradewegs in die Augen. „Der Verlust deiner Eltern.“

„Woher weißt du das mit meinen Eltern?“, presste ich die Frage zwischen den Zähnen hervor. Seit dem Autounfall, bei dem sie ums Leben gekommen waren, hatte ich nicht mehr von ihnen gesprochen. Meine Eltern waren auf dem Weg zu mir gewesen, sie wollten mich im College besuchen. Aus Schuldgefühlen hatte ich mit keinem Menschen darüber geredet. Niemand wusste von den Umständen, unter denen meine Eltern umgekommen waren. Bis vielleicht auf die entfernten Verwandten, die ich noch in Oregon hatte und von denen ich die meisten erst auf der Beerdigung kennengelernt hatte.

„Ich habe meine Verbindungen“, antwortete er, als würden wir darüber sprechen, wie er an Tickets für ein Basketballspiel der Lakers gekommen war, nicht darüber, dass er in meinem Privatleben herumspionierte. Er besaß sogar die Frechheit, über den Tisch nach meiner Hand zu greifen. „Ich weiß, was es heißt, wenn man jemanden verliert. Glaub mir. Ich kann verstehen, warum du nicht …“

„Ich wollte das nicht!“

Ich hatte nicht vorgehabt zu schreien, aber es fühlte sich gut an. Ich wollte noch einmal schreien. Die ganzen schrecklichen Geschehnisse des letzten Monats schienen wieder in mir hochzukommen und ich konnte mich einfach nicht länger beherrschen.

„Carrie, bitte …“, redete er auf mich ein, aber ich ignorierte ihn.

Als ich aufstand, stieß ich an den Tisch, sodass sein Becher umfiel und warmes Blut über die Tischplatte spritzte. Als ich das sah, war ich seltsamerweise davon fasziniert, und plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge, wie ich mich über die Oberfläche beugte und das Blut aufleckte. Ich wandte mich ab, um das Bild abzuschütteln. „Ich habe das alles nicht gewollt!“

Indem ich den Ausschnitt von meinem Sweatshirt zur Seite schob, deutete ich auf die Narbe an meinem Hals, die noch nicht völlig verheilt war. „Glaubst du, jemand setzt sich freiwillig so einer Tat aus? Glaubst du etwa, dass ich in diese Leichenhalle hineinmarschiert bin und gesagt habe: ‚Hey, John Doe, hast du nicht Lust, mir meinen verdammten Hals aufzureißen? Mach mir das Leben zur Hölle, wie wär’s?‘“

Auf einmal war die Musik aus Ziggys Zimmer deutlich leiser. Gut, sollte er doch zuhören.

„Denkst du, es macht mir Spaß, hier zu sitzen und einem Typen, den ich verdammt noch mal gar nicht kenne, dabei zuzusehen, wie er Blut trinkt? Ich will nur mein altes Leben zurückhaben!“

Und dann hätte ich am liebsten so lange geschrien, bis ich heiser geworden wäre, wollte mit den Füßen aufstampfen und mit Dingen um mich werfen. Ich wollte all diese Gefühle wie Verzweiflung und Frustration endlich loswerden.

Aber anstatt das zu tun, fing ich an zu weinen. Meine Beine gaben nach und ich fiel auf den Boden. Als Nathan sich neben mich kniete und den Arm um mich legte, um mich zu trösten, stieß ich ihn weg. Aber als er es noch einmal versuchte, gab ich nach.

Ich konnte mein Schluchzen nicht unterdrücken, als er mich an seinen muskulösen Oberkörper presste. Sein Wollpullover kratzte an meiner Wange. Er roch gut – männlich und ein wenig nach Seife, als käme er gerade aus der Dusche. Na und, auch wenn ich ihn gar nicht kannte, war es doch egal? Nie zuvor hatte ich so weinen können und mich von jemandem trösten lassen.

„Ich weiß, dass du das nicht gewollt hast“, sagte er leise.

„Ja?“, fragte ich und sah ihn an. „Bisher hast du dich eher wie ein Vampir-Polizist verhalten.“

Sanft nahm er mein Gesicht in seine Hände und zwang mich, ihn anzusehen. „Ich weiß, dass du es nicht wolltest, denn mir ist dasselbe passiert. Auch mit deinem John Doe.“

Als er das sagte, musste ich auf einmal nicht mehr weinen. Die Schluchzer ebbten ab und auf wundersame Weise trockneten meine Tränen.

Nathan half mir auf. Ich nutzte das aus und lehnte mich, so lange es ging, an ihn, ohne dass es auffallen würde. Ich stützte mich mit der Hand auf seinen Bauch, direkt unter dem Rippenbogen, als wäre ich aus der Balance gekommen, und spürte unter der Wolle seines Pullovers, dass sich dort eine perfekte Bauchmuskulatur abzeichnete.

Er stellte den Stuhl auf, der umgekippt war, und half mir, mich hinzusetzen. Dann gab er mir ein Glas Wasser und fing an, das verschüttete Blut aufzuwischen.

Zwischen uns herrschte eisiges Schweigen, aber es gab einige Dinge, die ich wissen musste. Ich fing mit den offensichtlichen Fragen an: „Wie konnte das passieren?“

Nathan stand an der Spüle und wusch das blutige Geschirrhandtuch mit Wasser aus. „Er hat von deinem Blut getrunken, du hast etwas von seinem Blut zu dir genommen. Dann bist du gestorben. So läuft das.“

„Nein“, begann ich. Ich wollte wissen, wie er zum Vampir geworden war, ob John Doe ihn auch einfach so angegriffen hatte, wie er es bei mir getan hatte. Aber ich konzentrierte mich auf Nathans letzte Aussage. „Ich habe sein Blut nicht getrunken. Ich glaube nicht, dass er meines trank.“

„Ist sein Blut in deinen Mund gelangt? Oder in eine deiner Wunden?“ Er lehnte sich gegen die Spüle. „Ein Tropfen reicht völlig aus. Es ist wie ein Virus oder Krebs. Es kann sich jahrzehntelang im Körper befinden, ohne dass es ausbricht. Es wartet, bis das Herz aufgehört hat zu schlagen. Dann zerstört es deine Zellen.“

„Ja, aber ich bin nicht gestorben. Sie riefen mich in den OP, um die Blutung zu stillen …“ Aber das traf nicht so ganz zu. „Oh, Gott. Ich bin in die Schleuse gegangen, in der Notaufnahme. Da bin ich ohnmächtig geworden.“

„Dann ist es dort passiert.“ Er zeigte auf das Wohnzimmer. „Lass uns reingehen. Da ist es netter.“

Ich setzte mich auf die Couch, während Nathan zu den Bücherregalen hinüberging. Er nahm ein Buch heraus und gab es mir. „Das hier wird einige Fragen beantworten.“

Das Buch mit Goldschnitt war in bordeauxrotem Leder gebunden und sah sehr alt aus. Bis auf eine kleine goldene Inschrift in der rechten unteren Ecke war die Titelseite leer. „Das Sanguinarius“, murmelte ich und ließ meine Fingerspitzen über die geprägten Lettern gleiten. Ich erkannte die Herkunft des Begriffes, das lateinische Wort für Blut. Ich schlug es auf, aber statt eines Impressums stand dort nur ein Hinweis auf das Alter des Buches.

Das Sanguinarius stand dort in großen Buchstaben. Darunter stand in kleinerer Type Ein praktischer Leitfaden über die Gepflogenheiten von Vampiren. Die einzelnen Buchstaben waren ungleichmäßig gedruckt, als sei das Buch auf einer alten Presse hergestellt worden. Es musste mindestens zweihundert Jahre alt sein.

Ich blätterte ein paar Seiten um. „Ein Vampir-Handuch?“

„Nicht ganz. Es ist eine Anleitung für Vampir-Jäger.“

Noch bevor er den Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte ich eine Seite aufgeschlagen, auf der sich ein Holzdruck befand, auf dem ein Mann abgebildet war. Er stieß gerade eine Mistforke einem wütenden weiblichen Dämon in den runden Bauch.

„Oh.“ Ich klappte den Buchdeckel wieder zu.

„Grob übersetzt lautet der Titel ‚Diejenigen, die nach Blut dürsten‘“, er lächelte. „Es ist kompliziert. Ich fange lieber von vorne an.“

Ich nickte zustimmend, aber ich hatte eigentlich auch keine andere Wahl. Er setzte sich zu mir auf die Couch, ein wenig näher, als ich erwartet hatte. Aber ich wollte mich nicht beschweren.

„Seit mehr als zweihundert Jahren gibt es eine Gruppe von Vampiren, die sich der Ausrottung ihrer eigenen Spezies widmet, um die Menschen zu schützen. In der Vergangenheit kannte man sie unter dem Namen „Orden der Blutsbrüder“. Heute nennen sie sich „Voluntary Vampire Extinction Movement“ – die Bewegung zur freiwilligen Ausrottung von Vampiren. Für den Orden existierten vierzehn Gesetze, aber die Bewegung verfolgt davon nur drei: Kein Vampir darf einen Menschen ohne dessen Einwilligung beißen. Kein Vampir soll einen weiteren Vampir kreieren. Und kein Vampir darf einen Menschen verletzen oder töten.“

„Die Regeln hören sich gar nicht so schlecht an“, stellte ich trocken fest.

„Heutzutage haben es Vampire viel leichter als früher.“ Er hörte sich melancholisch an. „Der Hauptsitz der Bewegung befindet sich in Spanien, in einer restaurierten Burg, die früher einmal den Inquisitoren gehört hat, aber die Mitglieder der Bewegung sind auf der ganzen Welt verstreut. In diesem Teil des Staates bin ich das einzige Mitglied, aber es gibt in Chicago und in Detroit auch einige Mitglieder, die hauptsächlich dafür sorgen, dass die bösen Vampire umgebracht werden. Die Bewegung verfügt über eine Flotte privater Jets, falls ein Mitglied ins Ausland reisen muss. Sonst wäre es ziemlich schwierig, herumzukommen.“

„Also, wenn ich dich jetzt recht verstehe, seid ihr keine Non-Profit-Organisation, wenn ihr Jets besitzt?“

Auf Nathans Gesicht zeigte sich ein Lächeln. „Das meiste Geld der Bewegung stammt von alten und großzügigen Mäzenen, sehr alten Vampiren, die in den letzten Jahrhunderten ihr Vermögen vergrößert haben. Die Bewegung gibt es schon sehr lange, und die Spenden häufen sich an. Außerdem, vermute ich, stümpern sie nebenher noch ein wenig auf dem Immobilienmarkt herum.“

„Ich habe schon immer vermutet, dass mein Vermieter ein Monster ist, aber ich hätte nie gedacht, dass es wahr sein könnte.“ Ich reichte ihm das Buch zurück. „Okay, keine Menschen essen, keine anderen Vampire schaffen oder Morde begehen. Bisher ist es mir ganz gut gelungen, diese Regeln zu befolgen, und ich gehe auch nicht davon aus, dass mir das in naher Zukunft schwerfallen sollte.“

„Gut, das ist auch besser so“, antwortete er und schob mir Das Sanguinarius wieder hin, „denn wenn du die Regeln brichst, ist die Strafe beträchtlich.“

„In welcher Form?“ Ich bemühte mich, unbekümmert zu klingen.

„Tod. Cyrus, der Vampir, von dem du abstammst …“

Ich schnaufte verächtlich. „Cyrus, ist das sein richtiger Name? Der von John Does?“

Auf meine Unterbrechung reagierte Nathan mit einem verächtlichen Blick. „Cyrus flieht vor der Bewegung hier in den USA seit mehr als 30 Jahren. In anderen Teilen der Welt ist er noch länger auf der Flucht. Die Wunden, mit denen er bei euch ins Krankenhaus eingeliefert worden war, stammten von einer versuchten Hinrichtung.“

Mir wurde anders, als ich an die schrecklichen Verletzungen dachte, mit denen John Doe eingeliefert worden war. Mein Mund war trocken. „Welche der Regeln hat er missachtet?“

„Alle. Schon lange, bevor er dich attackierte. Wir haben es nur leider nicht geschafft, ihn zu töten.“

„Niemand verdient so eine Tortur.“ Mir fiel es sehr schwer, die üblen Bilder von John Does verstümmeltem Körper aus meinen Gedanken zu vertreiben. „Wenn du gesehen hättest, was ihm angetan wurde …“

„Ich habe ihn gesehen“, stellte Nathan sachlich fest. „Ich war derjenige, der den Auftrag erhielt, ihn zu richten.“

Du?“ Die Wunden in John Does Brustkorb. Das fehlende Auge. Die zersplitterten Knochen in seinem Gesicht. Der Mann, der gerade neben mir saß, hatte all das angerichtet. „Wie?“

„Ich hatte damit angefangen, ihn ins Herz zu stechen, und als das nicht funktionierte, dachte ich, ich könnte ihn in kleine Stücke zerhacken und ihn in geweihter Erde begraben, aber er hat sich gewehrt. Ich habe Glück, dass ich überhaupt noch hier sitze. Jemand muss uns gesehen haben, als wir kämpften, und hat die Polizei gerufen. Den Rest …“

„Kenne ich“, flüsterte ich.

Nathan rutschte nervös neben mir hin und her. „Nein, du kennst ihn nicht ganz. Er läuft immer noch da draußen herum. Darum ist Ziggy jetzt auf der Pirsch nach Vampiren. Wir wissen, dass Cyrus in der Stadt ist, und er ist der einzige Outlaw-Vampir in der Gegend. Ich habe ein Auge auf alle Neulinge, die auftauchen. Ich spüre sie auf, töte sie und liefere meinen Bericht dann an die Bewegung.“ Er streckte die Beine aus, um es sich bequemer zu machen. „Pro Kopf bekomme ich sechshundert Dollar. Natürlich nur im übertragenen Sinne. Ich brauche ihnen keine abgetrennten Köpfe zu bringen.“

Er sagte das alles so selbstverständlich, dass ich fast vergaß, dass er darüber sprach, Menschen zu töten. „Du tötest sie? Aber warum?“

Er sah mich an, als wäre ich nicht bei Verstand. „Weil es Vampire sind.“

„Aber du bist doch auch einer!“

„Schon, aber ich bin ein guter Vampir“, erklärte er mir geduldig. „Gute Vampire dürfen leben, böse Vampire bekommen eine Fahrkarte in die Hölle oder wo wir auch immer hingehen, wenn wir sterben. Das ist doch ganz einfach.“

Ich stand sofort auf. „Hast du dir schon mal überlegt, dass es möglich wäre, dass einige von ihnen gute Vampire sein könnten? Ich meine, guckst du sie dir erst einmal an oder tötest du einfach wild drauflos?“

„Ich gebe ihnen eine Chance, mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber schließlich sind sie alle gleich. Sie können einfach keine guten Vampire werden“, stellte er fest.

„Und warum nicht?“

„Weil sie nicht von einem guten Vampir abstammen.“ Während er einen tiefen Seufzer ausstieß, nahm er Das Sanguinarius wieder zur Hand. „Jeder Neuling, den ich bisher getroffen habe, trat in die Fußstapfen seines Schöpfers. Die Blutsverbindung ist unglaublich stark, daher ist es für einen neuen Vampir so gut wie unmöglich, sich gegen den Willen des Blutes in seinen Adern zu wehren. Mit ihm fließt der Wille seines Schöpfers durch seinen Körper. Aber dieses Phänomen beschreibt dieses Buch viel besser, als ich es erklären kann.“

„Nun, da ich ja nun mal hier bin, warum versuchst du es nicht?“ Ich stemmte meine Hände auf die Hüften und zog eine Augenbraue drohend in die Höhe, um ihm zu signalisieren, dass ich nicht daran dachte, zu gehen, bevor er mir nicht meine Frage beantwortet hatte.

„Du bist schon eine sehr anstrengende Person, weißt du das?“ Er legte das Buch zurück auf den Tisch. „Die Bewegung möchte nicht, dass es neue Vampire gibt. Wir versuchen, die Anzahl unserer Spezies so gering wie möglich zu halten. Daher der Teil über Ausrottung in unserem Titel. Aber einigen Vampiren gefällt diese Idee natürlich nicht. Also erschaffen sie neue Vampire.

Wenn ein Vampir mit einem menschlichen Wesen Blut austauscht, um einen neuen Vampir zu erschaffen, dann bleibt ihr Blut in den Adern des neuen Vampirs bestehen. Für immer. Es entsteht etwas, was wir Blutsverbindung nennen. Für den Sir, den Schöpfer, ist es ein Mittel, seinen Neuling zu kontrollieren, es funktioniert wie eine unsichtbare Hundeleine. Mit der Zeit wird die Verbindung schwächer, aber der Neuling und sein Schöpfer erfahren die Gefühle des anderen in ihrem eigenen Körper: Gefühle, physischen Schmerz und Hunger. Der Neuling wird immer unter dem Diktat des Blutes seines Schöpfers stehen, und die meisten von ihnen wollen das auch gar nicht ändern. Diese Blutsverbindung geht über den Tod hinaus. Auch wenn der Sir gestorben ist, vermag er es dennoch, durch seine Zöglinge in der Welt Verwüstungen anzurichten. Der Zögling, der für immer unter dem Einfluss seines Meisters steht und vielleicht die schlimmsten Ideen von ihm geerbt hat, kann nun hinausgehen und weitere Vampire erschaffen. Und bald kann man sich dann von der menschlichen Rasse verabschieden. So, wie es die Bewegung einschätzt, gibt es nur einen Weg, jemanden wie Cyrus zu stoppen, bevor seine Vampir-Armee die Weltherrschaft übernimmt: indem man seine Nachkommen tötet. Es ist nicht gerecht, aber so ist es nun einmal.“

Ich schluckte. „Du hörst dich an, als würdest du den Ideen der Bewegung recht gradlinig folgen.“

„Das muss ich auch. Als ich bekehrt wurde, habe ich geschworen, ihr treu zu dienen, um am Leben zu bleiben.“ Er stand auf und kam mir näher, ohne dass ich hätte sagen können, was er vorhatte.

„Es scheint, als hätten diese Jungs von der Bewegung ziemlichen Einfluss. Woher willst du wissen, dass sie wirklich nur dein Bestes für dich wollen?“ Ich war versucht, einen Schritt zurückzuweichen, aber ich blieb stehen. Ich ließ nicht zu, dass er mich heruntermachte. Nicht nach alldem, was ich durchgemacht hatte. Wenn er mich töten wollte, dann müsste er erst einmal … nun, dann musste er erst einmal meine neuen Kräfte auf die Probe stellen.

Zwar beantwortete er meine Frage nicht, aber er versuchte mich auch nicht anzufassen oder mir einen Pflock durch das Herz zu jagen. Er strich meine Haare am Nacken beiseite und berührte sanft die Narbe, die Cyrus mir zugefügt hatte. „Er hat dich wirklich erwischt.“

Als er mich anfasste, lief es mir kalt den Rücken herunter. Ich schmiegte mich an seine Hand, ich konnte nicht anders.

Sein Blick veränderte sich ein wenig, als sei bei ihm innerlich ein Eisentor zugefallen. Er nahm seine Hand fort und drehte sich um. „Du musst dich entscheiden, ob du dein Leben der Bewegung widmen oder sterben willst.“

Ich schnaufte verächtlich. „Wo kann ich mit meinem Blut unterzeichnen?“

„Ich mache keine Scherze.“ Er drehte sich wieder zu mir um und sah mich an. An seinem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass er tatsächlich keinen Witz machte. „Ich kann dir noch nicht einmal garantieren, dass dich die Bewegung aufnehmen wird, aber es ist deine einzige Chance zu überleben. Das Todesurteil, das deinem Schöpfer gegenüber ausgesprochen ist, bezieht sich auch auf dich.“

Mein Herz schlug schneller und ich spürte, wie ich die Muskeln in meinen Beinen anspannte, um loszurennen. Ich ging einen Schritt zurück. „Du würdest mich tatsächlich töten, nicht wahr?“

„Ja.“ Er sah weg und ließ sich dann auf die Couch fallen. „Es hat nichts mit dir persönlich zu tun. Aber ich kenne dich nicht gut genug, um zu wissen, ob du dich Cyrus gegenüber loyal verhältst oder nicht. Du wirkst wie ein netter Mensch, aber ich habe nicht vor, ein Risiko einzugehen.“

„Es hat nichts mit mir zu tun“, ich lachte ungläubig. „Aber weißt du was? Es ist eine persönliche Sache. Wenn ich in eine Falle gelockt und fast enthauptet werde, dann ist es meine Sache, weil es um mein Leben geht. Du bist verrückt, wenn du glaubst, ich würde ohne zu kämpfen aufgeben.“

Sein Mundwinkel zuckte, und ich dachte, er würde anfangen zu lachen. Falls er das getan hätte, hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen.

Aber Gott sei dank tat er das nicht. „Das respektiere ich. Aber das ändert meine Haltung nicht. Du musst eine Entscheidung treffen. Bitte die Bewegung um Gnade und hoffe, dass sie sie dir gewährt. Von mir wirst du sie nicht bekommen.“

„Warum tötest du mich dann nicht gleich?“, fragte ich ihn und hoffte, er würde das nicht als Einladung missverstehen.

Er hob die Schultern ein wenig und antwortete: „Weil ich ohne einen Auftrag kein Honorar bekomme.“

„Einen Auftrag, jemanden zu töten?“ Wie viel schlimmer als in einem Horrorfilm würde es jetzt noch kommen?

„Falls du dich dazu entschließen solltest, die Bewegung nicht um Aufnahme zu bitten, melde ich dich. Dann nehmen sie dich in ihrem System auf und ein paar Tage später wird der Tötungsauftrag ausgestellt.“ Er zuckte wieder mit den Schultern, als ging ihn unsere Unterhaltung gar nichts an. „Ich schätze, du könntest mich provozieren, aber solange ich den Auftrag nicht schriftlich habe, werde ich dir nichts antun. Ich arbeite nicht umsonst.“

Ich wollte ihm gerade sagen, dass er mich ja erst töten und dann melden könne. Glücklicherweise kam aber mein gesunder Menschenverstand dazwischen, den ich in den letzten Wochen sehr vermisst hatte. Also hielt ich den Mund. „Sehr großzügig von dir – ganz der Gentleman.“

Weder lächelte noch lachte er. Im Gegenteil, danach sah er mich noch ernster an als zuvor. „Es hängt von dir ab. Bitte um eine Mitgliedschaft oder stirb. Ich kann sie gleich anrufen.“

„Gut.“ Ich presste die Lippen aufeinander. „Kann ich mich wenigstens vorher informieren, bevor ich eine Entscheidung treffe?“

Er runzelte die Stirn, neigte den Kopf zur Seite und sah mich aus den Augenwinkeln an, als fürchte er, ich wolle ihn reinlegen. „Was schlägst du vor?“

Ich überlegte mir genau, was ich sagte. „Gib mir die Chance, Das Sanguinarius zu lesen und es mir in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Vor heute Abend habe ich weder an Vampire noch an Monster geglaubt und ich befinde mich in einem, wie wir Mediziner sagen, ‚Schockzustand‘. Es ist nur fair, wenn ich weiß, worauf ich mich einlasse. Außerdem bin ich ein kluges Mädchen. Ich trete keiner Organisation bei, nur weil du behauptest, ihr wäret die Guten.“

„Die Leute von der Bewegung sind die Guten.“ Er klang überhaupt nicht humorvoll, sondern nur absolut davon überzeugt, dass er recht hatte.

Ich verdrehte die Augen. „Ja, das haben die Nazis auch von sich behauptet.“

Langsam stand er auf. Es ging eine dunkle und gefährliche Kraft von ihm aus. Und das, im Zusammenspiel mit seiner körperlichen Präsenz, machte ihn noch furchteinflößender als John Doe, als er seine Klauen in meinem Hals versenkte.

Natürlich sah John Doe nicht so verdammt gut aus. Irgendwie wirkte meine körperliche Zuneigung zu Nathan wie ein Verstärker auf die Gefahr, die von ihm ausging.

Aber er griff mich nicht an. Er kam mir nur so nahe, dass ich mich unwohl fühlte. Er beugte sich zu mir herunter, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. „Woher weiß ich, dass du nicht nur Theater spielst, um dann zu Cyrus zurückzukehren und ihn um Hilfe zu bitten?“

„Weil ich, bis du sie gerade erwähnt hast, noch gar nicht auf diese Idee gekommen war.“ Ich weiß nicht, ob er erwartete, dass ich mich duckte oder alternativ in seine Arme sank, aber als ich sah, wie er mit den Augen zwinkerte, wusste ich, dass er damit nicht gerechnet hatte. „Gib mir ein paar Wochen Zeit. Du kannst mich ja kontrollieren. Danach gebe ich dir eine Antwort.“

„Oder du rennst schreiend davon.“ Er versuchte noch einmal mich einzuschüchtern, aber ich war mir sicher, dass er mich in dieser Nacht nicht töten würde. Irgendetwas in der Art und Weise, wie sein Blick über meinen Körper glitt, schnell und hungrig, sagte mir, dass er eine Schwäche für Frauen hatte. Das war sein schwacher Punkt oder sein harter Punkt, je nachdem, wie man es betrachtete.

Ganz bewusst lächelte ich ihn an. „Sehe ich aus wie ein Mädchen, das wegläuft, wenn es Ärger gibt?“

Er richtete sich auf und verschränkte die Arme über der Brust. „Du bist vor Ziggy davongelaufen.“

Touché. „Ja, aber Ziggy hatte eine Axt. Wirst du mich mit deinen bloßen Händen töten?“

Er lächelte. „Ich bin ziemlich geschickt.“

Heilige Hormone. Ein Supermann.

Wir hörten, wie Ziggys Tür aufsprang, und Nathan wich sofort einige Schritte zurück. Der Teenager stapfte ärgerlich in die Küche. Als er an der Wohnzimmertür vorbeikam, streckte er Nathan den Mittelfinger entgegen.

„Ich weiß, ich weiß, ich muss morgen früh in die Schule. Ich sollte früh schlafen gehen“, rief ihm der Junge zu. „Psychologie Einführungskurs. Dafür muss man ja so ausgeschlafen sein. Ich mache mir nur ein Sandwich, bevor ich schlafen gehe.“

„Schlafen?“, fragte ich stumpf, dann sah ich auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach zehn. „Ich muss los.“

Nathan folgte mir zur Tür. „Hast du dir schon überlegt, was du machst, wenn Cyrus nach dir sieht?“

Das hatte ich nicht. „Ich sage ihm, er soll abhauen“, sagte ich. Ich lachte, obwohl mir allein bei der Aussicht, ihn wiederzusehen, schlecht wurde.

Ich ertrug den Gedanken nicht, dass ich mit dem Monster, das mich angegriffen hatte, durch Plasma verbunden war. Es war schon schlimm genug, dass er in meinen Albträumen auftauchte. Aber dass sein Blut in meinen Adern floss …

Nathan sah mir einen Moment lang aufmerksam ins Gesicht, und ich starrte zurück, konnte aber bei ihm keinen besonderen Gefühlsausdruck erkennen. Wahrscheinlich hatte er so lange seine Gefühle verborgen, dass er sie nicht einmal finden würde, wenn er es gewollte hätte. Er sah weg und gab mir meinen Mantel. „Falls du etwas brauchst, hast du meine Nummer. Und das hier“, sagte er. Er streckte mir Das Sanguinarius entgegen.

Ich nahm es und versuchte unbeholfen, mit nur einer Hand meinen Mantel anzuziehen. Er trat hinter meinen Rücken, um mir zu helfen, und ich musste mich zusammenreißen, um mich nicht gegen ihn zu lehnen. Was soll ich sagen? Es war schon lange her, dass ich gefährliche, pseudosexuelle Spielchen gespielt hatte.

„Danke“, sagte ich leise, als ich zur Türklinke griff.

„Noch etwas“, sagte Nathan. „Falls du Blut brauchst, bitte komm zu mir. Ich habe immer genug im Haus. Aber geh danach nicht nach draußen, jedenfalls nicht tagsüber, meine ich. Im Prinzip solltest du Tageslicht ganz und gar meiden. Ich bin sicher, dass sich der Wandel bis zum Schluss ganz von allein vollzieht, auch wenn du nichts zu dir nimmst. Ich bin immer hier, falls du … Hilfe brauchst.“

„Danke, aber ich habe kein Bedürfnis, Blut zu trinken.“

„Das kommt noch, du wirst es noch merken“, warnte mich Nathan, als ich die Treppe hinunterging.

„Was werde ich spüren?“ Ich achtete mehr darauf, nicht im Schnee auf dem Bürgersteig auszurutschen, als auf seinen geheimnisvollen Ton.

„Den Hunger. Du wirst den Hunger spüren.“

CARRIE TRIFFT DAHLIA

Ich scherte mich nicht sonderlich um Nathans Warnung, bis mich eines Nachts dieser unglaubliche Hunger überbekam.

In der Woche versuchte ich, mein Leben so zu leben, als sei nichts geschehen. In Anbetracht der Tatsache, dass ich wahrscheinlich nur noch vierzehn Tage Zeit hatte, bis ich mich dem Urteil der Bewegung stellen musste, wollte ich die Zeit in vollen Zügen genießen.

Natürlich hatte ich Das Sanguinarius gelesen. Es war so trocken und altertümlich geschrieben wie Der Herr der Ringe. Doch ich erinnerte mich daran, dass der weitere Verlauf meines Lebens von eben diesem Buch abhängen würde.

Nathan rief mich jede Nacht an, um zu fragen, wie es mir gehe. Ich verfluchte mich dafür, dass mein Name im Telefonbuch stand. Manchmal rief er an, wenn ich schon zur Arbeit war, und schon bald ertappte ich mich dabei, wie ich mich während der Schicht darauf freute, nach Hause zu kommen und seine Stimme auf dem Anrufbeantworter zu hören. Gegen Ende der Woche dachte ich viel an Blut – nein, ich dachte ausschließlich an Blut.

Um meine Schichten im Krankenhaus zu überstehen, naschte ich ständig. Kaffee, Pizza, Popcorn, alles, was ein starkes Aroma hatte und den Geruch von Blut überdeckte. Einige Krankenschwestern bemerkten neidisch, dass ich wohl alles essen könne, ohne zuzunehmen. Ich hörte kaum zu. Alles, was ich wahrnahm, war das unüberhörbare Geräusch ihrer Pulsschläge.

Mein Verlangen wurde immer stärker, ich konnte nur noch an Blut denken, und ich unternahm alles Mögliche, um die Sicherheit der Menschen um mich herum nicht zu gefährden. Während meiner zahlreichen Arbeitspausen schloss ich mich in den Toiletten ein und benutzte eine Rasierklinge, um mir damit kleine flache Schnitte in den Unterarm zu ritzen. Dann leckte ich das Blut ab. Das stillte meinen Durst nur wenig, dafür interessierten die verbleibenden kleinen Narben aber den diensthabenden Psychiater. Ich ging ihm aus dem Weg, so gut es ging, und ignorierte seine sanft ausgesprochenen Einladungen, mit mir über meinen „Heilungsprozess“ zu sprechen.

Obwohl mein Hunger so groß war, drehte sich mir bei dem Gedanken, menschliches Blut trinken zu müssen, der Magen um. Ein- oder zweimal stibitzte ich eine Blutprobe von einem Patienten und nahm sie mit nach Hause. Aber die Möglichkeit, dass sie winzige Viren enthalten könnte, die sich dann in meinem Körper ausbreiten würden, machte mir eine Gänsehaut. Also leerte ich die Reagenzgläser in der Küchenspüle aus und warf sie danach in den Müll.

Ich nahm rapide ab. In der einen Woche verlor ich fünf Kilo. Ich war müde und krank. Überall, wo ich hinging, hörte ich die Herzen der Menschen das Blut durch fette blaue Venen pumpen. Es machte mich absolut verrückt.

Das Sanguinarius empfahl, Vampiren auf der Flucht rohe Steaks zu geben. Wer immer das geschrieben haben mag, hatte nie im Fernsehen eine Reportage über die Verseuchung in Schlachthäusern durch Kolibakterien gesehen.

Die Nächte, in denen ich nicht arbeiten musste, waren fast schlimmer als die, in denen ich im Krankenhaus war. Wenigstens musste ich mich dort zwingen, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf das Essen. Eines Abends war es besonders schlimm, ich hielt es zu Hause nicht mehr aus und fuhr noch einmal in die Wealthy Avenue. Während der Autofahrt rollten mir Tränen über die Wangen und ich zitterte so stark wie ein Junkie, der dringend einen Schuss braucht. An diesem Abend hatte mich Nathan nicht angerufen, und mir kam es auch nicht in den Sinn, mich bei ihm zu melden, bevor ich vor seiner Tür stand. Ich brauchte das Blut, und ich brauchte es dringend. Meine Hände zitterten, als ich auf den Klingelknopf drückte.

Niemand antwortete. Das Fenster des Geschäftes war dunkel, und niemand reagierte auf mein ungeduldiges Klopfen.

Auf dem Bürgersteig gingen junge Männer und Frauen entlang. Das Geräusch ihres pulsierenden Blutes übertönte ihre Gespräche. Die meisten von ihnen sahen jung aus, als müssten sie schon bald wieder nach Hause zurück. Andere wirkten wie College-Studenten. College-Studenten aus anderen Städten … vielleicht kannten sie noch nicht so viele Leute hier, dann würde es nicht auffallen, wenn sie verschwinden würden. Wochen-, vielleicht sogar monatelang würde sie niemand vermissen.

Bei dem Gedanken erschrak ich, aber ich brauchte Blut. Da ich keinen Bluttransport entführen konnte, musste ich einen Spender finden.

Ich ging nicht zu meinem Wagen zurück, sondern blieb draußen und ging ein wenig spazieren. Ich brauchte frische Luft.

Wie lange ich suchte, weiß ich nicht. Ich war wählerisch. Die erste Bar wirkte ziemlich finster und die Leute sahen mir zu sehr nach Arbeitern aus. Wahrscheinlich trugen sie alle karierte Flanellhemden und sahen Sportsendungen im Fernsehen. Ich wollte jemand Junges. Jemand Hübsches.

Ich sah sie auf der Straße.

Sie ging bei Rot über die Ampel. Ihr blondes Haar flog um ihren Kopf wie ein Banner im Wind. Die Art und Weise, wie sie ihren Mantel vor der Brust festhielt, betonte ihre schlanke Figur.

Diese Art von Anziehung hatte ich bisher noch niemals verspürt, ganz zu schweigen bei einer Frau. Es war keine Anziehung im sexuellen Sinne. Es war ein Instinkt wie bei einem Tier, so rein und natürlich wie Atmen. Ich wollte ihr Blut.

Das Mädchen in dem schwarzen Mantel kämpfte sich durch eine kleine Gruppe von Männern und Frauen, die auf dem Bürgersteig herumstanden. Als ich näher kam, las ich das Schild an dem Haus, in dem sie verschwunden war.

Die vernagelten Fenster vom Club Cite waren von Neonröhren eingerahmt. Das Backsteingebäude war schwarz gestrichen. Aber die Farbe war nicht überall gleichmäßig verteilt, sodass hier und da noch rote Backsteine zu sehen waren. Das ganze Gebäude war schmutzig und heruntergekommen.

Nachdem ich das Haus betreten hatte, folge ich ihr die Treppe hinunter. Die Wände wurden von einer dumpfen Bassmelodie erschüttert. Als sie am Ende des Flures die Tür aufzog, kam uns die laute Musik wie eine Kaskade entgegen. Der Club war voller junger Leute, sie trugen alle Schwarz. Einige von ihnen waren wie aus einem Roman von Charles Dickens gekleidet, mit Zylinderhüten und Spazierstöcken. Die meisten anderen trugen Kleidung, die aus zerrissenen Netzstrümpfen und Isolierband zusammengeschustert war. Ich konnte mir vorstellen, dass meine blauen Jeans und meine Sommersprossen die Leute hier anwiderten.

Aber das war mir völlig gleichgültig. Ich hatte meine Beute aus den Augen verloren. Es würde schwierig werden, ihre tragische Erscheinung in diesem Heer von Selbstmitleid zu finden.

„Sie ist auf die Toilette gegangen“, sagte eine Stimme direkt hinter mir. „Aber an deiner Stelle würde ich ihr nicht nachgehen, denn sie weiß nicht, was du bist.“

Mein Herz war kurz davor, stillzustehen. Meine Kehle war wie zugeschnürt und die Aufregung, jemandem nachzustellen, war verflogen. Ich war ertappt worden.

Langsam drehte ich mich um und erwartete, einen Beamten in Uniform zu sehen. Stattdessen schaute ich in das grinsende Gesicht einer sehr selbstbewussten jungen Frau. Sie war keineswegs schlank, und sie bewegte sich zu der Musik mit einer natürlichen Grazie, die vergessen ließ, dass sie eigentlich dick und schwerfällig war. Sie trug das Standard-Make-up des Sängers Robert Smith: viel Kajal und dunkelroten Lippenstift in einem bleichen Gesicht. Ihre dicken roten Locken fielen ihr bis auf die Schultern.

„Du bist überrascht?“, fragte sie und legte die Hände auf ihre stämmigen Hüften. „Dein Verhalten war so offensichtlich.“

„Offensichtlich?“ Mein Mund war trocken.

Sie neigte den Kopf zur Seite und sah mich von oben bis unten an. Als sie lachte, wippten ihre Locken auf und ab. „Ja, offensichtlich. Aber mach dir keine Sorgen, die meisten Kids hier würden einen echten Vampir noch nicht mal erkennen, wenn er sie in den Arsch beißt. Sie sind hier, weil sie sich von ihren Eltern unverstanden fühlen.“

Der Rhythmus der Musik und das Donnern der Herzschläge um mich herum gaben mir das Gefühl, ich sei zu Gast auf einem Kongress von Speed-Metal-Schlagzeugern. Und jetzt gerade waren sie dabei, sich richtig warmzumachen. Mein Schädel dröhnte. Ich blinzelte, um mich in dem Diskolicht und unter den bewegenden Menschen zu orientieren. „Woher wusstest du, was ich bin?“

„Diese Vampir-Geschichte ist neu für dich, oder?“, fragte sie. Sie lächelte mich absolut bösartig an, als habe sie diese Mimik schon seit Jahren vor dem Spiegel geübt. „Das Mädchen von vorhin … bevor du nur zwei Tropfen aus ihr herausholst, wird sie wie eine Todesfee schreien, und dann, was machst du dann? Du hättest eine Menge Ärger.“

Bevor ich protestieren konnte, nahm sie mich am Arm. Unter ihrer Hand fühlte sich meine Haut warm und lebendig an, als würde ich ihre Energie absorbieren. Durch das Geräusch von Hunderten menschlicher Pulsschläge hörte ich ihren am deutlichsten, aber ich hatte keine Lust, von ihrem Blut zu trinken. Sie war warm und lebendig, aber sie schien nicht wirklich ein Mensch zu sein.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es Ärger geben würde. Obwohl sie so nett tat, vermittelte ihr Verhalten eine gewisse Spannung. Trotz ihrer runden Figur bewegte sie sich wie eine Tänzerin. Jede einzelne Bewegung machte deutlich, dass es um etwas Wichtiges ging.

Der Hunger machte mir zu schaffen, also folgte ich ihr.

Auf dem Weg erzählte sie mir, sie heiße Dahlia. Sie führte mich aus dem Club und einige kleine Straßen entlang. Wir überquerten ein verlassenes Bahngelände, auf dem sich der Schnee türmte.

„Da.“ Sie zeigte auf ein niedriges Steingebäude, das offensichtlich vor einiger Zeit ausgebrannt war. Eine Zementmauer schirmte das Haus von der Durchgangsstraße ab. Ich hörte die Autos vorbeirasen.

„Hierher kommen die Bullen nie. Und wenn sie es täten“, erklärte sie, „würden sie niemals wiederkommen.“

Der Innenraum war riesig und hatte keine Wände, vielleicht war es früher ein Lagerhaus oder eine Fabrik gewesen. In der Mitte wölbte sich die Decke nach unten. Jemand hatte sich die Mühe gemacht, das Loch mit einer Plastikplane abzudecken. Es war dunkel und kalt. In jeder Ecke verbargen sich ominöse Figuren.

Ich hörte Herzschläge, jemanden husten und leises Stöhnen. Der Geruch von Angst und Hoffnungslosigkeit lag in der Luft.

„Was ist das hier?“, flüsterte ich.

Dahlia zog ihren Mantel aus und legte ihn auf den Boden.

„Ein Spenderhaus.“

Ich muss so ausgesehen haben, als verstehe ich sie nicht, denn sie verdrehte die Augen und seufzte, als sei ich einfach zu blöd.

„Es ist ein Ort, in dem Vampire schnell etwas zu kauen bekommen“, klärte sie mich auf, „etwas zu essen, kapierst du?“

Ich nickte stumm. „Ich verstehe … aber wer sind diese Leute?“

„Die Blutspender?“ Sie setzte sich im Schneidersitz auf den Boden. „Wer weiß? Vielleicht sind sie obdachlos und brauchen nur einen Ort zum Schlafen. Vielleicht sind es auch Bekloppte, die darauf abfahren. Oder sie sind so wie ich.“

„Wie du?“, frage ich.

Ein dürres Mädchen mit einem schmutzigen Gesicht und fettigen braunen Haaren drängelte sich an mir vorbei. Als sie mich beiseiteschob, rutschte ihre abgenutzte Jacke von ihrer knochigen Schulter.

„Ich brauche das Geld“, erklärte Dahlia und bedeutete mir, mich hinzusetzen. „Der Punkt ist, dass diese Leute verzweifelt genug sind, dir alles zu geben, was du willst. Diese Grufties im Club vorhin haben ja keine Ahnung. Du solltest lieber nach Obdachlosen unter Brücken suchen, als noch mal in diesen Schuppen zu gehen.“

Ich wollte weg. Hier stank es nach Schweiß und Rauch und Verzweiflung. Aber ich brauchte Blut, also kniete ich mich neben sie auf den verwitterten Zement. Mein Herz schlug schneller, wenn ich daran dachte, dass ich gleich meine Zähne in ihr weiches fahles Fleisch graben würde.

„Fünfzig Dollar cash.“ Sie holte aus ihrem Mantel einen kleinen hölzernen Pflock hervor. „Und du hörst sofort auf, wenn ich es sage, verstanden?“

Als ich den Pflock sah, regte sich etwas in mir wie ein Tier. Ich wusste nicht genau, was geschehen würde, wenn mich das Holz berührte, aber in meiner Fantasie sah ich die Wunden in Cyrus’ Brust vor mir.

Mit tauben Fingern tastete ich nach meiner Handtasche, und als ich endlich den Reißverschluss aufgezogen hatte, kippte der ganze Inhalt mit einem Scheppern auf den Boden. Die Dose mit meinem Kompaktpuder klappte dabei auf, und in dem winzigen Spiegel sah ich meine Augen, deren Pupillen vor Aufregung und Angst groß waren. Ich dachte, Vampire haben kein Spiegelbild. Ich fand es lustig, dass ich daran noch nie zuvor gedacht hatte. Ich gab Dahlia mit zitternden Fingern die Scheine.

Sie zählte sie, grinste zufrieden und steckte das Bündel dann in ihren BH. „Okay.“ Sie platzierte den Pflock in meiner Herzgegend, strich ihr Haar zur Seite und bot mir ihren Hals.

Mit der Fingerspitze verfolgte ich ihre blaue Arterie von der Kehle bis zum Schlüsselbein. Ich atmete hektisch. Ich dachte, mein Herz würde gleich explodieren, so wild schlug es.

Ich spürte die Spitze des Pflockes gegen meinen Körper, als ich mich vorlehnte und meinen Mund an ihren Hals legte. Er war warm und weich. Ich biss zu. Die Haut wich sofort, als würde ich in einen reifen Pfirsich beißen. Ihr Blut schoss mir so schnell in den Mund, dass ich mich fast daran verschluckte.

Plötzlich wurde mir meine Situation bewusst. Eine Minute zuvor war ich noch kein Vampir gewesen. Jedenfalls nicht, wenn man mich danach gefragt hätte. Jetzt, als ich gierig das Blut dieses fremden Mädchens einsog, gehörte ich wirklich zu ihnen. Sie seufzte und das Geräusch durchlief meinen Körper wie ein elektrischer Schlag. Die Konsequenzen, die meine Tat mit sich zog, wirbelten mir im Kopf herum. Mir wurde schwindelig davon. Mir fiel ein, dass ich vielleicht ja gar kein richtiger Vampir war. Vielleicht hatte ich mir das alles nur ausgedacht. Ich wich von ihrem Hals zurück und übergab mich fast.

„Hey, was ist los?“, rief Dahlia.

Ich antwortete ihr nicht. Aus einer dunklen Ecke befahl uns jemand, den Mund zu halten. Ich konnte nicht anders und weinte. Panisch raffte ich den Inhalt meiner Handtasche zusammen und versuchte ihn hineinzustopfen. Meine Hände zitterten.

„Wo willst du hin?“, fragte sie. Mit einer Hand hielt sie sich den Hals. Ich erwartete, eine blutende Wunde zu sehen, als sie die Hand wieder wegnahm, aber man sah nichts als einen kleinen Kratzer.

Ich wischte mir die Nase mit meinem Handrücken ab und blinzelte vor Schmerz. Mein ganzes Gesicht tat weh.

Das Kompaktpuder lag immer noch unschuldig am Boden. Ich hob die Dose auf und sah in den Spiegel.

Mein Gesicht, das die meisten Menschen als hübsch bezeichnen, war zu einer Horrormaske verzerrt. Unter einer flachen Stirn starrten mich zwei grausige Augen an. Meine Wangenknochen waren zusammengerutscht und bildeten eine Schnauze mit einem seltsam hervorstehenden Oberkiefer. Ich bleckte die Lippen. Meine Zähne standen in unregelmäßigen Abständen im Kiefer, meine Eckzähne hatten lange scharfe Spitzen.

Ich hatte mitangesehen, wie sich Nathan auf diese Weise verwandelt hatte, und erinnerte mich an John Does schreckliches Gesicht, aber ich hätte nie geglaubt, dass mir selbst auch so etwas passieren könnte. Ich schrie kurz und rappelte mich vom Boden auf.

So schnell ich konnte, rannte ich aus dem Spenderhaus heraus. Die frische Luft sog ich auf, als sei sie Wasser und ich ein Wanderer in der Wüste. Dahlia kam mir nach. Sie lehnte sich gegen einen angekokelten Holzstapel und beobachtete mich dabei, wie ich wieder und wieder mein Spiegelbild ansah. Der Dämon war verschwunden. Mich starrte eine ängstliche Frau an. In der Luft sah mein Atem wie heißer Dampf aus.

„Armes Hascherl.“ Sie zog ihren langen schwarzen Mantel wieder an und hielt ihn fest um ihre Taille geschlungen. Ich bemerkte, dass sie denselben schwarzen Mantel trug wie das Mädchen aus dem Club, und auch die Geste war ähnlich. Aber es war doch ein anderes Mädchen gewesen …

Sie lachte und schüttelte den Kopf. „Ihr werdet es einfach nie lernen. Ihr denkt, ihr seid so schlau. ‚Oh, wir stehen ganz oben auf der Nahrungskette.‘“

Sie zog ein Taschenmesser hervor und spielte mit der Klinge an ihrem Hals. „Aber es ist einfach so, dass es da draußen eine Macht gibt, die noch nicht einmal eure Spezies ermessen kann.“

Fasziniert starrte ich sie an. „Was meinst du?“

Sie lächelte. „Armer Hase. Daddy hat sich nicht die Mühe gemacht, dir irgendetwas beizubringen, oder? Nachdem er das bekommen hatte, was er brauchte, hat er dich einfach im Stich gelassen.“ Für einen kurzen Augenblick verzog sie den Mund vor Ekel. „Das ist so typisch.“

Mit einer kurzen Handbewegung stach sie sich mit dem Messer in die weiße Haut. Ein Tropfen Blut erschien und rollte dann ihren Hals hinunter.

Mein Mund war trocken. Mein Körper wollte mehr Blut, aber zugleich stieß mich allein der Gedanke ab. Ich zwang mich, meinen Blick von ihrem Hals abzuwenden. „Von wem sprichst du?“

Ich wollte ihr ins Gesicht sehen, als sie antwortete, aber der Geruch ihres Blutes war zu verführerisch. Ich fürchtete mich vor dem, was passieren würde, wenn ich sie wieder ansah, deshalb konzentrierte ich mich auf die Straßenlaternen an der Schnellstraße.

„Cyrus, du dumme Gans. Kennst du deinen eigenen Schöpfer nicht?“

Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, schon als wir aus dem Club hinausgegangen waren. Vielleicht hatte ich es schon geahnt, als ich das Phantommädchen auf der Straße zum ersten Mal sah. Aber anstatt meiner Intuition zu gehorchen, folgte ich Dahlia. Und lief direkt in die Falle.

„Ich fasse es einfach nicht, wie blöd einige von euch sein können“, rief sie plötzlich aufgeregt. „Eure Geschichten stehen überall in der Zeitung, und trotzdem glaubt ihr, dass niemand euch erkennen kann. Ich kann noch nicht mal verstehen, warum er dir sein Blut gegeben hat.“ Sie seufzte laut und schien sich dann selbst zur Ruhe zu ermahnen. „Jetzt hast du es geschafft, dass ich mich aufrege, und das kotzt mich wirklich an.“

Sie schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und lief auf und ab, während sie dabei leise fluchte. Dann hielt sie inne und schaute mich an. Ihr Gesicht war ausdruckslos.

„Dein kleiner Freund aus dem Buchladen hat mir letztens geholfen. Aber manchmal, wenn man etwas wirklich richtig machen will, muss man es einfach selbst tun.“ Sie zeigte mit dem Messer auf mich.

Plötzlich fühlte ich mich so schwach, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Sie knickten weg und ich musste blinzeln, als meine Knie auf den Boden schlugen.

„Braves Mädchen.“ Sie warf das Messer nach mir. Es landete in dem gefrorenen Boden nur wenige Zentimeter von meinem Knie entfernt. Sie holte tief Luft und fing an zu lachen. „Ich weiß gar nicht, was heute Abend mit mir los ist. Kennst du das, wenn du Tage hast, da fühlst du dich einfach …“

„Verrückt?“ Ich schaute die Klinge an. Das Messer war so nah. Ich hätte ganz einfach danach greifen und aufstehen sollen, bevor Dahlia wieder bei mir stand, aber mein Körper war schwer und unbeweglich. „Was willst du?“

„Was ich will, was ich will?“, sang sie und holte sich das Messer zurück, bevor ich es mir sichern konnte. „Du hörst dich exakt so an wie die Letzte, um die ich mich gekümmert habe. Ihr wollt immer verhandeln.“

Sie hielt mir die Klinge an die Kehle. „Ich will dich töten.“

„Warum?“, flüsterte ich. Ich stellte mir vor, wie die Klinge in meine Haut eindrang, so, wie zuvor meine Reißzähne ihre Haut verletzt hatten.

Sie schob sich näher an mich heran und rieb die Klinge an meinem Hals, ohne die Haut zu ritzen. „Weil du mir geklaut hast, was mir gehört.“

„Was? Was habe ich dir geklaut?“ Ich musste schlucken, aber ich hatte Angst, dass diese Bewegung mich töten würde. „Ich kenne dich noch nicht einmal.“

„Richtig. Du kennst mich nicht, Schlampe.“ Sie holte mit dem Messer aus und rammte es mir ohne zu zögern in den Bauch.

Ich rang nach Luft. In der Notaufnahme hatte ich jede Menge Stichwunden gesehen, aber ich hätte nie gedacht, dass sie sich so anfühlten – dieses Brennen und Ziehen, und dann diesen Gegenstand zu spüren, den alle meine Muskeln abzuwehren versuchten. Ich konnte nicht denken. Ich konnte nicht atmen.

Dahlia zog die Klinge aus meinem Körper und wischte sie an meinem Hemd ab. „Ich weiß auch nicht, warum er sich noch solche Mühe gibt. Er weiß doch, dass ihr alle sterben werdet.“

„Du redest wirres Zeug“, presste ich hervor, während ich mir den Bauch hielt.

Das hätte ich lieber nicht sagen sollen.

„Ich rede wirres Zeug?“ Sie holte noch einmal aus und stach mir in die Seite. „Nein! Er redet Unsinn! Er behauptet, er liebt mich. Er hat mir versprochen, Macht zu geben. Aber es heißt immer: Es ist noch nicht so weit, Dahlia. Es ist noch nicht an der Zeit! Und dann verschwendet er sein Blut an ein Stück Dreck wie dich! Sieh dich doch an! Du kannst noch nicht einmal aufstehen!“

Sie trat mich. Das sollte man nicht mit einem verwundeten Vampir machen. Diese Erkenntnis kam für sie offensichtlich so überraschend wie für mich.

Sofort war ich auf den Beinen und griff nach ihr, angetrieben durch pure Wut und Instinkt. Ich riss ihr das Messer aus der Hand und setzte es ihr an die Kehle.

„Ich habe dir gar nichts weggenommen“, flüsterte ich ihr ins Ohr. „Er wollte mich nicht kreieren. Es war ein Unfall. Du interessierst mich nicht, weder du noch dein Vampir-Freund noch diese ganze verdammte Vampir-Scheiße.“

Ich warf sie zu Boden. Durch den Vorhang ihrer Haare sah sie mich an. Ihr Blick war hart und außer sich.

„Ja, natürlich warst du ein Unfall – sicherlich!“, schrie sie. „Aber das ist auch egal, denn morgen früh bist du tot!“

Meine Wut war plötzlich verschwunden und ich fühlte mich wieder schwächer werden. Dahlias Stimme war so laut, so schrill. Aus meinen Wunden trat Blut. Ich wusste, dass ich die Blutungen stoppen musste, aber ich konnte an nichts anderes denken als daran, vor Dahlia zu fliehen.

Ich stolperte über das Bahngelände und hatte den Eindruck, dass mich jeder Schritt, den ich machte, weiter in einen dunklen, warmen Graben führte. In meinen Ohren dröhnte mein Puls. Ich wurde langsamer.

Jedes Mal, wenn ich über den unebenen Boden stolperte, schmerzten meine Knöchel, mein ganzer Körper schwankte. Als ich endlich auf festen Boden trat, schien mein Körper von allein zu wissen, wohin er gehen sollte. Ich bewegte mich sehr langsam, so dachte ich, aber ich musste gerannt sein, denn innerhalb weniger Minuten befand ich mich vor Nathans Wohnung.

Dumpf stand ich auf dem Bürgersteig herum, weil ich mir nicht sicher war, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hielt meine Hand auf die riesige Wunde in meinem Bauch. Ich wusste, dass ich meinen Wagen nicht weit entfernt geparkt hatte, aber ich hatte meine Schlüssel nicht mehr. Zitternd sah ich die Straße hilflos auf und ab. Nichts wollte ich lieber als zu Hause in meinem Bett liegen. Ich setzte mich auf die Treppe vor Nathans Haus. Wenigstens war ich dort ein wenig vor dem schneidenden Wind geschützt. Vielleicht war Dahlia mir gefolgt, aber mein Wunsch nach Wärme und Schlaf war größer als meine Angst. Wenn sie wirklich käme, um mich umzubringen, war meine Überlegung, dann käme ich wenigstens hier zur Ruhe.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort zusammengekauert saß, bevor es anfing zu schneien. Vom Himmel fielen große flauschige Flocken wie in einem kitschigen Weihnachtsfilm. Sie landeten sanft auf dem Boden, ich streckte meine Hand aus und sah zu, wie sie sich dort sammelten, denn aufgrund meiner niedrigen Körpertemperatur schmolzen sie nicht. Ich fing an, sie zu zählen, aber dann kam ein Windstoß und blies sie fort. Ich gab mich damit zufrieden, die Schneewirbel und Verwehungen auf dem Bürgersteig zu betrachten. Meine Lider wurden schwer. Da ich mich nicht gegen den nahenden Schlaf wehren konnte und weil ich auch nicht wusste, warum ich das tun sollte, schloss ich meine Augen.

Eine bekannte Stimme weckte mich auf. Es war Nathan. Es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass er mich an den Schultern packte. Er schüttelte mich wie verrückt. Er schrie mich an und klatsche vor meinem Gesicht in die Hände, aber ich war zu erschöpft, um zu reagieren.

Mein Kopf kippte zur Seite. Auf dem Bürgersteig lag eine braune Einkaufstüte, als habe sie dort jemand vergessen. Ihr Inhalt kullerte in den Schnee.

„Dein Rasierschaum … fällt raus“, murmelte ich und versuchte, die Bahn der Dose auf dem verschneiten Pflaster zu verfolgen.

„Mach dir darüber keine Sorgen.“ Er drehte meinen Kopf, sodass ich ihn anschauen musste. „Was ist los?“

„Ich weiß es nicht“, antwortete ich, während ich versuchte, meine Augen offen zu halten. Ich wollte nichts anderes als schlafen.

Nathan schüttelte mich wieder, als mir die Augen zufielen.

„Was?“, jaulte ich auf. Dann versuchte ich seine Hände wegzustoßen.

Er fluchte und fasste mich fester an. „Wach auf!“, rief er. Als ich nicht reagierte, schlug er mich ins Gesicht.

Geschockt öffnete ich meine Augen und stotterte: „Was denn? Lass mich einfach schlafen!“

„Das geht nicht! Du hast viel Blut verloren. Wenn du jetzt einschläfst, dann wirst du sterben.“

Dann erst spürte ich den Schmerz, ein Ziehen in meinem Bauch. Es fühlte sich an, als hätte ich Glas gegessen. Ich griff nach seinem Arm und wand mich vor Schmerz. Schnell zog er seinen Mantel aus und wickelte mich darin ein. „Ich muss dich nach oben schaffen“, murmelte er. Er hob mich auf, trug mich durch die Tür und die Treppe hinauf in seine Wohnung.

ENTSCHEIDUNGEN, ENTSCHEIDUNGEN

Als ich aufwachte, summte jemand leise das Lied „Brain Damage“ von Pink Floyd. Ich riss die Augen auf.

Dem Durcheinander um mich herum zufolge befand ich mich in Nathans Wohnung, aber ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie ich dorthin gekommen war. Mein Magen knurrte, und langsam kehrte die Erinnerung zurück: Ich war hungrig gewesen. Dann hatte ich nach Blut gesucht. Danach war ich Dahlia begegnet.

Doch dass mich jemand mit einem Messer verletzt hatte, daran konnte ich mich noch sehr gut erinnern. Ich nahm die Decke hoch, unter der ich lag. Meine Wunden waren sorgfältig verbunden. Blutflecken zierten die Verbände, aber ich konnte mich zurückhalten und fummelte nicht daran herum. Es brauchte nicht viel, um eine frische Wunde wieder zu öffnen, und ich wollte nicht noch mehr Blut verlieren.

Ich hob die Hände und betastete vorsichtig mein Gesicht. Es fühlte sich nicht nach der Monster-Visage an. Alles tat mir weh, aber ich richtete mich auf. Auf der Sofalehne lag mein zerrissenes Sweatshirt, das ordentlich zusammengelegt war. Ich zog es mir schnell über den Kopf und versuchte nicht daran zu denken, dass mich Nathan in meinem ausgeleierten BH gesehen hatte, der eigentlich in die Wäsche musste.

„Geht es dir besser?“, fragte er mich, als er ins Wohnzimmer kam.

Ich roch das Blut in dem Becher, den er in der Hand hatte. Meine Kehle war trocken und mein Magen versuchte schon, sich vor Hunger selbst zu verdauen, aber ich musste mich abwenden.

„Trink“, forderte er mich auf und hielt mir den Becher hin. Er musste gespürt haben, warum ich zögerte. „Mach dir darüber keine Sorgen, ich habe schon einige Vampire in meinem Leben gesehen.“

„Aber nicht so einen wie mich.“

„Genauso wie dich.“ Er kniete vor mir, und ich verbarg mein Gesicht in den Händen. Meine Knochen taten unter meinen Fingern weh, als er mir den Becher gegen die Handrücken drückte. „Du musst das hier trinken.“

Ich hörte die Bestimmtheit in seiner Stimme, außerdem wusste ich, dass er sowieso nicht nachgeben würde.

„Schau mich nicht an“, flüsterte ich.

„Okay.“ Er ging in die hinterste Ecke des Raumes und drehte mir seinen Rücken zu.

Das Blut war warm, so wie Dahlias, aber es war dickflüssiger, als habe es schon zu gerinnen begonnen. Als meine Zunge es berührte, hinterließ es einen leichten Geschmack nach Münzen. Es war, als würde ich Götterspeise mit Kupfergeschmack trinken, die noch nicht ganz fest geworden war. Es widerte mich an, aber anstatt aufzugeben, würgte ich den ersten Schluck hinunter. Ich war gierig nach mehr. Wenn ich von dem Hals eines Menschen getrunken hätte, hätte ich wahrscheinlich meine gute Erziehung vergessen, aber hier war das etwas anderes. Ich saß in Nathans Wohnzimmer und nippte an einem Becher wie ein zivilisierter Vampir.

Ich trank das Blut sehr bewusst und beobachtete ihn dabei. Bisher hatte ich die Erfahrung gemacht, dass Menschen zu Fremden nicht nett waren. An der Uni hatte sich jeder nur um sich selbst gekümmert. Darüber hinaus hatten sich einige Studenten von uns besondere Mühe gegeben, die „Konkurrenz“ in den Schatten zu stellen. Ich hatte mich schon so sehr an die Fressen-oder-gefressen-werden-Haltung gewöhnt, dass ich dieses Verhalten von allen anderen auch erwartete. Aber Nathan hatte mir zu meiner Überraschung von Anfang an geholfen und tat es jetzt noch, obwohl ich nur noch eine Woche Zeit hatte, mir zu überlegen, ob ich wirklich seinem Vampir-Kult beitreten wollte. Wenn nicht, würde er mich töten müssen.

Es schien mir nicht rechtens, dass ein so attraktiver Mann sich so sklavisch an Regeln halten sollte. In den kurzen Telefonaten, die wir in den letzten Wochen geführt hatten, hatte er nur die nötigsten Dinge über sich selbst preisgegeben, ansonsten hatte er mir nicht viel Gelegenheit geboten, ihn nach seinem Leben zu fragen. Wenn ich dem Glauben schenkte, was er mir erzählt hatte, dann hatte ich noch ein paar wichtige Fragen.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

„Wie alt bist du?“, fragte ich.

„Zweiunddreißig.“

„Ich meine, mit …“ Ich wusste nicht, wie ich es ausdrücken sollte.

„Ach, das“, sagte er und es hörte sich so an, als habe er nicht die Absicht, mir diese Information mitzuteilen. „Ich bin seit 1931 ein Vampir.“

Ich bemühte mich, meine Enttäuschung zu verbergen. Ich hätte gedacht, dass er Hunderte von Jahren alt sei, dass er mit Napoleon auf dem Schlachtfeld gestanden und mit Nostradamus die Geheimnisse des Kosmos diskutiert hätte, so wie die Vampire in den Kinofilmen.

„Das war das Jahr, in dem „The Star-Spangled Banner“ zur Nationalhymne erklärt wurde, wusstest du das?“, erzählte ich ihm.

„Das habe ich nicht gewusst. Damals war ich kein Amerikaner.“ Er sah kurz über seine Schulter zu mir herüber. Sofort verbarg ich mein Gesicht.

„Es ist schon okay“, versicherte er mir. „Du siehst wieder normal aus.“

Ich lehnte mich über den Teil des Couchtischs, wo nichts herumlag, und prüfte mein Spiegelbild in der Glasplatte.

„Es ist der Hunger“, sagte er und räumte ein wenig auf. „Je schlimmer dein Hunger ist, desto schlimmer siehst du aus. Dasselbe gilt für Wut, Schmerz und Furcht. Es ist sehr animalisch.“

Wie jemand nur so unsagbar arrogant über die Tatsache sprechen konnte, dass sich der eigene Kopf innerhalb von Sekunden in ein Monster verwandeln konnte wie durch einen Special-Effekt in einem Hollywoodfilm, blieb mir schleierhaft.

„Das Beängstigende ist, dass es mit dem Alter schlimmer wird. Einige der richtig alten Vampire bekommen sogar Hörner oder einen Pferdefuß. Aber man kann es mit Übung unter Kontrolle halten. Du musst dich nur auf dich selbst besinnen, deine eigene Mitte finden, ein bisschen wie dieser Esoterik-Humbug. Es ist wie Zen.“ Er nahm mir den leeren Becher aus der Hand und ging in die Küche.

Esoterik-Humbug? Und das aus dem Mund eines Typen, der einen Esoterik-Tante-Emma-Laden betreibt?

„Wie wäre es, wenn du mir erzählst, was heute Nacht geschehen ist?“, rief er herüber, während er den Becher in der Spüle abwusch.

Ich schüttelte mich. „Können wir nicht erst einmal darüber reden, wie das Wetter gestern war?“

„Nein.“

„Ach, eigentlich war gar nichts los“, begann ich und bemühte mich dabei, so entspannt wie möglich zu klingen.

„‚Gar nichts los‘ fügt anderen Menschen Stichwunden zu.“ Er kam ins Wohnzimmer zurück und setzte sich neben mich auf das Sofa. Sein Duft stieg mir in die Nase, was dazu führte, dass ich überlegte, ob ich mich an ihn lehnen und tief inhalieren sollte.

Ich sollte wirklich häufiger ausgehen.

„Ich brauchte Blut.“

Nathan runzelte die Stirn. „Du hast niemandem wehgetan, oder?“

„Okay, und wenn ich jemanden verletzt hätte, sehe ich so aus, als hätte ich diesen Kampf gewonnen?“

Ich sah ihm die Erleichterung an, dass er meinen Kopf nicht würde abhacken müssen.

„Ich bin einem Mädchen in einen Club in der Stadt gefolgt. Einen dieser … Grufti-Clubs.“ Bei dem Begriff ‚Grufti‘ senkte ich die Stimme, als handele es sich um ein schmutziges Wort.

„Club Cite?“, fragt er und ich nickte.

„Das war sehr gefährlich. Clubs wie das Cite sind voll von allen möglichen unerwünschten Kreaturen. Leute, die von sich glauben, sie seien Vampire, Möchtegern-Vampire und Vampir-Jäger. Es sind Amateur-Jäger, sie verfügen aber über genügend Wissen, um dich umzubringen, auch wenn es nur ein glücklicher Zufall ist.“

„Das weiß ich jetzt auch“, antwortete ich sauer. Nur zu gut erinnerte ich mich an den Geschmack von Dahlias Blut auf meiner Zunge. Ich holte tief Luft. „In dem Club lernte ich ein Mädchen kennen. Sie sagte mir, sie würde …“, mir fiel es schwer, die Worte auszusprechen, „… mich ihr Blut trinken lassen. Gegen Geld.“

Nathan seufzte und schüttelte den Kopf. Er nahm einen der Notizblöcke vom Tisch. „Wie hieß sie?“

„Dahlia.“ Ich sah ihm dabei über die Schulter, während er die Seiten umblätterte. Grobe Skizzen waren mit zahlreichen Anmerkungen am Rand versehen. Auf einer Seite war ein Polaroid-Foto mit einer Briefklammer befestigt. Er gab mir das Foto.

„Ist sie das?“

Ich betrachtete das Bild. Diese Frau sah wie Dahlia aus, aber sie hatte ihre dicken roten Locken unter einer schwarzen Perücke mit Pony-Frisur verborgen. Ich erkannte ihre Augen, ihr Blick war stechend und verrückt. Ich fragte mich, warum mir das nicht schon vorher aufgefallen war. Ich antwortete ihm, dass sie es sei, und gab das Bild zurück.

Fluchend stand er auf und warf das Foto auf den Tisch. Ich erschrak, mit dieser Reaktion hatte ich nicht gerechnet.

„Ich habe dir doch gesagt, dass du herkommen sollst, wenn du Blut brauchst! Warum bist du nicht zu mir gekommen?“, schrie er mich an.

„Ich war hier! Du warst nicht zu Hause!“, brüllte ich zurück. Es tat gut, auch mal zu schreien.

„Du hättest warten müssen!“ Er starrte mich böse an und wartete auf meine nächste Reaktion.

Als ich ihm nicht antwortete, fluchte er noch einmal und drehte sich um. Er strich sich mit den Händen durch die Haare.

„Bist du jetzt fertig?“, fragte ich ihn.

Er seufzte ärgerlich. „Ja, verdammt, aber du hättest wirklich warten sollen.“

„Vielleicht hätte ich das tun sollen. Aber ich konnte gestern nicht klar denken.“ Ich nahm noch einmal das Bild zur Hand. „Kennst du sie?“

„Wen?“

Ich verdrehte meine Augen und hielt ihm das Foto hin. „Dahlia.“

Als er sich wieder neben mich setzte, schien er mehr Fläche als zuvor von dem Sofa zu beanspruchen. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, als würde ich bewusst darauf achten, nah bei ihm zu sitzen, deshalb setzte ich mich auf den Sessel.

„Ich kenne sie eher nur vom Hörensagen“, sagte er, während er auf den Block sah. „Sie ist eine sehr mächtige Hexe.“

„Eine Hexe?“ Ich lachte.

Nathan starrte mich genervt an, bevor er sich wieder seinen Notizen zuwandte. Er verschränkte seine Finger, legte die Hände an seine Lippen und kniff konzentriert die Augen zusammen. Als ich ihn so ansah, wurde mir klar, warum ich so enttäuscht gewesen war, zu hören, dass er nicht schon Jahrhunderte alt war. Alles an ihm war anachronistisch, als sei er direkt aus dem Mittelalter in die Gegenwart gekommen. Auf einem blutbesudelten Schlachtfeld würde er weniger deplatziert wirken als auf einem gebrauchten Sofa inmitten von staubigen alten Büchern wie in diesem Apartment. Ich stellte mir vor, wie er in einer Rüstung mit grimmiger Miene ein Schwert schwang, das er mit seinen muskulösen Armen führte, während seine ebenso muskulösen Oberschenkel …

„Hast du etwas entdeckt, das dir gefällt?“ Seine Stimme weckte mich aus meinem eindrucksvollen historischen Tagtraum. Er hatte mich erwischt.

Nathan lächelte arrogant, wie es alle Männer tun, wenn ihr Ego ordentlich gestreichelt worden ist.

„Tut mir leid, ich glaube, ich war nur etwas weggetreten.“ Diese faule Entschuldigung nahm ich mir noch nicht mal selber ab, daher wechselte ich schnell das Thema. „Was glaubst du, warum hat sie mich angegriffen?“

Er legte den Block beiseite. „Ich habe keine Ahnung. Seit Jahren versucht sie, mit verschiedenen Vampiren aus der Gegend Kontakt aufzunehmen, aber ohne Erfolg. Sie ist jemand, um den man einen Bogen macht. Sie hat ziemlich viel Einfluss.“

Sein ernster Gesichtsausdruck verstärkte mein ungutes Gefühl, in etwas Schlimmes hineingeraten zu sein. Ich wusste zwar nicht, wie mächtig Dahlia wirklich war, aber mein Eindruck reichte aus, um festzustellen, dass sie auch ohne Magie und dunkle Tricks gewalttätig und gefährlich war. „Sie war richtig sauer auf mich. Weil ich Cyrus’ Blut getrunken habe. Glaubst du, dass sie, na, mit ihm gemeinsame Sache macht? Oder ist sie schlicht und einfach total verrückt?“

„Ich kenne Cyrus schon sehr lange. Er mag Menschen, die er manipulieren kann, und sie verfügt über Kräfte, die er sehr gut für seine Zwecke ausnutzen kann.“ Nathan runzelte die Stirn, als würde er seinen letzten Satz noch einmal überdenken. „Aber ich glaube nicht, dass er sie verwandeln würde. So dumm ist er nun auch wieder nicht.“

„Sie sagte, es sei noch nicht an der Zeit. Oder dass er gesagt habe, es sei noch nicht die rechte Zeit.“ Frustriert hob ich die Hände. „Also, wie gehen wir jetzt weiter vor?“ Nervös sah ich zum Fenster. „Darfst du sie töten oder ist sie tabu, weil sie ein Mensch ist?“

„Sie ist tabu“, antwortete er automatisch. „Mal davon abgesehen habe ich keinen Grund, sie zu töten. Ich habe sie im Blick, sicher, aber das hat jeder Vampir-Jäger hier in der Gegend. Ich bin ihr häufiger begegnet, aber die Vampire, mit denen ich sie zusammen gesehen habe, verschwinden normalerweise nach einer Weile wieder. Solange sie sie nicht verwandeln, ist es mir egal, wohin sie gehen.“

„Sie tötet sie!“ Triumphierend stieß ich meinen Zeigefinger in die Luft. „Sie sagte, sie habe zuvor schon Cyrus’ andere Zöglinge getötet, deshalb musst du …“

„Nein, Carrie. Das Ziel der Bewegung ist es, die Welt von Vampiren zu befreien, so gesehen tut sie uns einen Gefallen.“ Er sah weg. „Aber was mich beunruhigt ist, dass er Neulinge erschafft, von denen ich bisher noch nichts gehört habe. Sollte sie ein Vampir sein … aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Cyrus so dumm war, sie verwandelt zu haben.“

„Er war dumm genug, mich zu verwandeln“, erinnerte ich ihn.

„Ja, aber du bist keine Hexe.“ Seine Stimmlage kam einem wohlwollenden Tätscheln auf dem Kopf gleich. „Das Blut eines Vampirs ist sehr mächtig. In der Verbindung mit den Fähigkeiten einer Hexe könnte man damit Tote aufwecken und Armeen aus der Hölle hervorholen und Ähnliches. Aber so wie es aussieht, können wir meiner Meinung nach davon ausgehen, dass Dahlia ganz einfach nur deshalb ein Vampir werden will, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Hat sie sonst noch etwas gesagt, was einen Hinweis darauf geben könnte, warum sie gerade dich angegriffen hat?“

Ich dachte scharf nach, aber in meiner Erinnerung verschwand der ganze Abend in einem einzigen Nebel. „Nur meine Verbindung zu Cyrus.“

Hilflos sah sich Nathan im Wohnzimmer um, als verberge sich die Lösung für das Problem in den Bücherregalen. „Nun, wenn sie davon ausgeht, dass du tot bist, dann sucht sie jedenfalls nicht nach dir. Das ist immerhin etwas.“

Mir wurde kalt und mein Magen zog sich zusammen, als mir klar wurde, dass ich gestern Abend meine Handtasche umgekippt hatte. Überall auf dem schmutzigen Boden des Spendenhauses lag ihr Inhalt verstreut. „Sie hat alle Papiere von mir. Ich habe meine Handtasche in der alten Lagerhalle liegen gelassen.“

Nathan runzelte die Stirn. „Das war unvorsichtig von dir.“

„Ja, stimmt! Ich hätte wieder zurückgehen sollen, nachdem sie mich aufgespießt hatte!“, kläffte ich zurück. Aber ich war zu müde, um weiterhin sarkastisch zu sein. „Was soll ich jetzt tun?“

Er ging zum Fenster und zog die Rollläden herunter. „Die Sonne wird bald aufgehen. Ich glaube nicht, dass du es bis nach Hause schaffst, bevor es richtig hell geworden ist. Und ich habe dich lieber hier, wo ich dich beschützen kann. Warum bleibst du nicht bis heute Abend hier?“

Ich sah mich kritisch in der vollgerümpelten Wohnung um. Die Tür war durch ein einziges Schloss geschützt. Sie war weit von dem entfernt, was ein Haus an Sicherheit zu bieten hatte, das über einen Nachtwächter verfügte. Besonders, wenn eine verrückte Hexe da draußen nach mir suchte.

Nathan sah zur Tür, dann wieder zu mir. „Ich schwöre dir, solange du hier bist, wird dir nichts passieren.“

Als wolle er mich überzeugen, ging er zum Schrank im Flur und öffnete ihn. Zum Vorschein kam eine beeindruckende Reihe mittelalterlich aussehender Waffen.

„Das ist besser als ein Nachtwächter“, musste ich zugeben.

Nathan schlug vor, ich könne sein Bett benutzen. „Ich bleibe noch auf, bis Ziggy nach Hause kommt.“

Ich sah mir die Couch an und stellte fest, es sei das Beste, nicht über das Bett zu verhandeln. Das Sofa sah nicht sehr bequem aus, und da es in einem Männerhaushalt stand, wirkte es auch nicht sonderlich sauber. Aber ich sagte nichts. „Du kümmerst dich um Ziggy, nicht?“

„Ziggy?“ Er nannte den Namen mit aufrichtiger väterlicher Zuneigung. „Hm, nun ja, er hat sonst niemanden.“

„Du auch nicht.“

Ich hatte es gesagt, ohne nachzudenken. Aber mein Satz traf offensichtlich ins Schwarze. Der Ansatz eines Lächelns auf seinem Gesicht verschwand sofort. Ich konnte ein kleines Zucken seiner Augenlider bemerken, bis er sein neutrales Gesicht wieder aufgesetzt hatte und wie der höfliche Bekannte wirkte, der mich auf Armeslänge von sich weghielt.

Ich hatte keine Ahnung, warum ich mir überhaupt darüber Gedanken machte, aber so war es nun einmal.

„Hör zu. Du hast eine harte Nacht hinter dir, und diese Wunden werden nicht heilen, wenn du dich nicht genügend ausruhst.“ Er deutete auf den Flur. „Das Schlafzimmer ist ganz am Ende.“

Ich weiß, wann es Zeit ist zu gehen. Ich war schon den halben Flur entlanggegangen, als er mich noch einmal ansprach. „In der untersten Schublade der Kommode sind T-Shirts. Du kannst dir eines herausnehmen, wenn du willst.“

Ohne Nachzudenken ging ich zur Kommode. Ich hatte Nathan erst vor kurzer Zeit kennengelernt, und in seinem Bett zu schlafen war schon intim genug. Eigentlich brauchte ich nicht auch noch Kleidung von ihm zu tragen. Aber der Gedanke, nackt schlafen zu müssen, sprach mich auch nicht sonderlich an. Ich zog mich aus und verzog vor Schmerz das Gesicht, weil die Bewegung schrecklich wehtat. Als ich mich hinlegte, stöhnte ich auf.

Laute Schritte kamen den Flur hinab, und Nathan stürmte Sekunden später ins Zimmer. „Bist du okay? Brauchst du etwas gegen die Schmerzen?“

Seine unmittelbare Reaktion auf ein Geräusch, von dem ich glaubte, er habe es nicht hören können, zermürbte mich. Ebenso sein besorgtes Gesicht.

Er wartete meine Antwort gar nicht ab, sondern verschwand in Windeseile und kam mit einem großen Werkzeugkasten aus Metall wieder. Er setzte sich auf das Bett, stellte die Kiste auf den Schoß und öffnete sie. „Okay, was brauchst du? Es gibt Morphium, Meperidin, Vicodin, Valeron … ich habe örtliche Betäubungsmittel, aber die würde ich lieber für schlimmere Fälle aufbewahren.“

Während er mir weiter Medikamente aufzählte, schielte ich an seinem Arm vorbei in den Kasten. Seine Erste-Hilfe-Box war besser ausgestattet als der Giftschrank in der Notaufnahme im Krankenhaus. Jede Wette, an die Substanzen war er nicht auf legale Art und Weise herangekommen. „Woher hast du das alles?“

„Verbindungen von der Bewegung.“ Er hob eine Dose mit Tabletten hoch und kniff die Augen zusammen, um das Etikett entziffern zu können.

„Ich dachte, ihr Jungs seid so hinterher, eure Spezies aussterben zu lassen?“ Ich griff nach einer Spritze und einer Ampulle Meperidin. „Mit dem hier werde ich gleich schlafen können. Hast du eine Manschette?“

Er gab mir den gepolsterten Streifen Latex. „Die Regeln besagen, dass wir das Leben eines Vampirs, noch nicht einmal unser eigenes, nicht retten dürfen. Wenn unsere Fähigkeit, eigene Krankheiten und Wunden selbst zu heilen, nicht ausreicht, dann war’s das. Das alles hier nützt mir gar nichts, wenn es mich richtig böse trifft. Aber es gibt keine Regel, die besagt, dass man sich die letzten Lebensstunden nicht ein wenig nett machen dürfte. Brauchst du Hilfe?“

Ich hielt die Latexmanschette mit den Zähnen fest und wickelte das andere Ende um meinen Arm, so wie ich es in Trainspotting gesehen hatte. Im Krankenhaus hatte ich genug intravenöse Spritzen verabreicht, aber es bei sich selbst zu machen, war leichter gesagt als getan. Als ich meinen Kopf schüttelte, um Nathan ein Nein zu signalisieren, flutschte das Gummiding aus meinem Mund und knallte mir ins Gesicht.

„Lass mich mal.“ Er lachte leise in sich hinein, als er mir die Manschette um den Oberarm band und auf die Vene klopfte, bis sie gut sichtbar hervorstand. „Da ist eine gute Stelle.“ Er deutete auf meinen Unterarm.

Ich sah ihm dabei zu, wie er vorsichtig die Spritze aufzog. Offensichtlich war das nicht das erste Mal, dass er eine Spritze gab. „Hast du in der Bewegung gelernt, wie man das macht?“

Er klopfte auf die Spritze, um die Luftbläschen nach oben zu bringen. „Ich habe es irgendwo aufgeschnappt, jetzt halt mal still.“

Ich spürte, wie die Injektionsnadel in meinen nicht desinfizierten Arm eindrang. Ich erinnerte mich daran, was ich in Das Sanguinarius zum Thema Krankheiten gelesen hatte: Die Körpersäfte, die Krankheiten und Tod verursachen, rühren den Vampir nicht. Er ist nicht von den Plagen der Pandora betroffen.

Ich konnte nur davon ausgehen, dass dasselbe auch für moderne Bakterien und Keime zutraf.

Es brannte, als das Medikament in meine Adern gelangte, aber Nathans Berührung war sanft und beruhigte mich. Daher sah ich ihm auch ins Gesicht und konzentrierte mich lieber auf ihn, um nicht die Nadel in meiner Vene anschauen zu müssen … Patient zu sein war noch nie meine Stärke gewesen. „Also werden wir auch bei ernsten Verwundungen aus eigener Kraft wieder gesund?“

„Was eine ernste Verwundung ist, hängt vom Alter ab. Wenn jemand mir das angetan hätte, was ich Cyrus zugefügt habe, dann würde ich hier nicht mehr sitzen. Deine Stichwunde würde bei mir in einer Stunde verheilt sein, während du einfach Glück hattest, dass du nicht genäht werden musstest. Als ich dich fand, hatte die Wunde schon angefangen zu heilen. Es ist gut, dass du etwas zu dir genommen hast.“ Er legte seinen Daumen auf den Einstich und zog die Nadel heraus. Dann nahm er ein Pflaster. „Hier. Das lindert erst einmal die schlimmsten Schmerzen und du wirst schlafen können.“

„Was ist mit mir? Wie lange wird es dauern, bis die Wunde bei mir wieder vollkommen verheilt ist?“ Ich hoffte inständig, dass er nicht zwei Monate oder so antworten würde.

„Morgen geht es dir wieder gut“, antwortete er und legte die Nadel in die Kiste zurück.

Ich nahm sie ihm aus der Hand. „Lass das. Das ist gemeingefährlich!“

Er sah mich amüsiert an. „Was ist das?“

„Es ist gemeingefährlich. Die Nadel ist mit Körperflüssigkeiten in Berührung gekommen, die Krankheiten übertragen und den Tod verursachen können. Du könntest dich aus Versehen mit ihr stechen, und dann bist du tot. Eine benutzte Nadel stellt eine Gefährdung der Öffentlichkeit dar und sie wegzuwerfen ist eine allgemeingültige Vorsichtsmaßnahme.“

Schlagartig wurde mir klar, dass ich mich wie einer meiner alten Professoren anhörte. Ich zwickte mich in die Nasenwurzel, weil es mir so peinlich war. „Ich kann nicht glauben, dass ich das immer noch so herunterbeten kann.“

„Ich habe viel gelernt.“ Nathan lachte. Er hatte ein großartiges Lachen, herzlich und echt. Es war das Beste, was ich an diesem Tag gehört hatte.

Er zuckte mit den Schultern. „Aber ich mache mir keine Sorgen wegen dieser Krankheiten. Ich habe mehr Angst vor einem Pflock im Herzen oder einer Axt im Genick.“

„Ist das alles?“, neckte ich ihn. „Ich hätte gedacht, so ein strammer Kerl wie du würde sich auch Sorgen um seinen Cholesterinspiegel machen.“

Plötzlich wurde er ernst. Er nahm mein Kinn in die Hand und drehte mich zu ihm herum, sodass ich ihm in die Augen schauen musste. „Dein Herz und dein Kopf. Wenn du eines der beiden verlierst, bist du tot.“

Wie wirst du mich töten?, dachte ich. „Was ist mit verbrennen? Kann man sterben, wenn man verbrennt? Oder ertrinken?“

Als würden ihn unsere morbiden Themen anwidern, wobei er ja mit dem Gespräch angefangen hatte, ließ er mich los und sah mich entschuldigend an. „Die kurze Antwort lautet: ja. Du kannst durch alle Verletzungen sterben, von denen du dich nicht in einer angemessenen Zeit erholen kannst. Aber lass’ uns jetzt nicht davon reden. Du musst dich ausruhen.“

Ich hätte gern noch mehr von ihm gehört, aber ich bedankte mich nur bei ihm. „Danke. Du müsstest das nicht alles für mich tun.“

Ohne mich anzusehen, begann er die Verpackung von der Spritze vom Bett aufzusammeln. „Niemand ist jemals daran gestorben, dass er zu höflich war. Außerdem brauchst du Hilfe. Die nächsten Monate werden hart für dich werden.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch schlimmer werden kann, als es jetzt schon ist.“

„Du musst dich von deiner Familie und von deinen Freunden verabschieden. Von allen.“ Er stand auf. „Man ist einsam als Vampir.“

„Ich habe keine Verwandten mehr, von denen ich mich verabschieden müsste. Ich meine, meine Eltern sind tot und ich habe ihre Verwandten nicht mehr gesehen, seitdem ich klein war. Abgesehen von der Beerdigung. Ich bin erst vor acht Monaten hergezogen, also hatte ich noch keine großartige Gelegenheit, Freundschaften zu schließen.“ Ich unterbrach mich. „Vielleicht von dir abgesehen. Du bist derjenige, der bis jetzt einem Freund am nächsten kommen würde.“

Nathan sah nicht besonders glücklich darüber aus, dass er diese Rolle für mich erfüllte. „Du wirst deinen Job aufgeben müssen. Du kannst nicht länger im Krankenhaus arbeiten. Du stellst für die Menschen dort und deine Mitarbeiter eine Gefahr dar.“

Das konnte ich nicht abstreiten. Ich hatte ihr Blut gestohlen, was nicht wirklich im Sinne der Patienten sein konnte. Aber die Aussicht, meine Arbeit als Ärztin aufzugeben, war für mich, nun ja, unvorstellbar. Nach Jahren an der Uni und einer endlosen Ausbildung in der Praxis hatte ich endlich das Ziel erreicht, von dem ich immer geträumt hatte. Ich hatte mein Privatleben fast völlig aufgegeben, um an dieses Ziel zu kommen. Wenn ich das aufgeben müsste, bliebe mir nichts mehr. Ich hatte nicht vor, durch das Schicksal oder was auch immer mir das Einzige, was mir etwas bedeutete, wegnehmen zu lassen. „Darüber debattiere ich nicht. Das geht dich nichts an.“

Er seufzte. „Du hast recht, es geht mich nichts an. Aber wie willst du ihnen erklären, dass du keine Tagesdienste übernehmen kannst oder bei Sitzungen immer fehlen wirst? Wie willst du über die Tatsache hinwegtäuschen, dass du in zwanzig Jahren immer noch aussiehst wie … Wie alt bist du?“

„Achtundzwanzig.“

„In zwanzig Jahren wirst du immer noch so aussehen wie mit achtundzwanzig. Was willst du dann den Leuten erzählen?“

„Botox?“ Ich gähnte. Die Wirkung des Medikamentes setzte ein. „Kann ich nicht bis nächste Woche warten, um mir all das zu überlegen? Wenn ich in deinen Verein eintrete, dann sagen sie mir sowieso, dass ich kündigen muss. Wenn nicht, töten sie mich doch eh, oder?“

Er schien davon überrascht zu sein, was ich sagte, als habe er vergessen, dass ich noch nicht auf seiner Seite war. Er machte eine Bewegung, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich aber anders und knipste das Licht aus. „Schlaf jetzt. Wir können später darüber reden.“

Als ob ich die Wahl hätte. Nur wenige Minuten, nachdem mich Nathan verlassen hatte, schlief ich tief und fest.

Als ich wieder aufwachte, blinzelte ich verschlafen und versuchte mich zu erinnern, wann ich mir einen Goldfisch zugelegt hatte.

Das Ding starrte mich erwartungsvoll vom Nachttisch aus an. Es schwamm in einer Kugel, in der sich ein kleines Plastikschloss befand. Einsamkeit stieg in mir hoch. Auch wenn Nathans Wohnung klein und unordentlich war, barg sie doch mehr Kleinigkeiten, die sie gemütlich machten, als mein Zuhause. Ich stellte mir vor, zu mir nach Hause zurückzukehren, in meine kahlen Wände mit den hohen Decken. Aber der Gedanke war schlimm, ich verdrängte ihn sofort wieder. Ich vergrub mein Gesicht in den Kissen und zog mir die Decke über den Kopf. Es schien eine Weile her gewesen zu sein, dass Nathan die Bettwäsche gewaschen hatte. Sie roch nach ihm, und schamlos sog ich den Duft tief ein. Ich stellte mir vor, dass er nackt hier liegen würde, wo ich jetzt lag. Ob er Frauen mit hierher nahm?

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Nathan, so wie ich ihn kennengelernt hatte, eine Beziehung führte. Wohl kümmerte er sich um Ziggy, wie sich ein Vater um seinen Sohn sorgt, aber familiäre Fürsorge hatte von Natur aus ihre Grenzen. Ich hatte Nathan erst vor einer Woche getroffen, aber man brauchte kein Genie zu sein, um zu erkennen, dass Nathan und emotionale Nähe keine unzertrennlichen Begriffe waren. Es grenzte wahrscheinlich an ein Wunder, dass er sich überhaupt ein Haustier hielt.

Die Sonne war noch nicht untergegangen. Kein Geräusch kam aus dem Wohnzimmer. Während ich mein blutiges Sweatshirt ignorierte, zog ich kurz meine Jeans an und ging in Nathans T-Shirt hinaus in den Flur. Leise tappte ich in das Badezimmer. In Ermangelung einer Zahnbürste putzte ich mir mit dem Finger die Zähne, bevor ich losging, um den Rest des Apartments zu erkunden.

Nathan lag quer über einem Sessel. In der einen Hand hielt er ein Buch, in der anderen eine geladene Armbrust. Aus seinem Mundwinkel hing ein winziger Faden Speichel. Auf dem Boden neben ihm lagen zwei hölzerne Stiele und die Axt, mit der mich Ziggy angegriffen hatte.

„Erwartest du noch jemanden?“

Mit einem Ruck schreckte er auf. „Ich habe nicht geschlafen!“

Als der Bogen sich mit einem leisen Geräusch aus der Armbrust löste und in der Tür landete, machte ich vor Schreck einen Satz zur Seite.

„Um Himmels Willen, ich hätte dich umbringen können!“ Er sprang auf. „Schleichst du dich immer so an Leute heran, oder nur, wenn sie eine tödliche Waffe in den Händen halten?“

Ich ging einen Schritt zurück. „Mir ist noch nie jemand begegnet, der schläft und gleichzeitig eine Waffe in der Hand hat.“

Nathan streckte seine Arme aus und gähnte laut. Jedenfalls schien er prächtig zu schlafen, obwohl er mich eigentlich bewachen sollte. „Wie sehen die Stichwunden heute Morgen aus? Sind sie zugeheilt?“

Ich hob den Saum meines T-Shirts an. Nathan nahm das Klebeband vom Verband und enthüllte eine hellrosafarbene Narbe.

„Verdammte Scheiße“, rutschte es mir heraus. Ich berührte die Stelle mit meinem Finger. Das Gewebe zeigte noch nicht einmal einen Kratzer. Mein Körper hatte sich selbst geheilt, während ich geschlafen hatte. „Wie zur Hölle habe ich das denn geschafft?“

Das Sanguinarius sagt, dass die Körpersäfte, die wir mit dem Blut zu uns nehmen, unser Gewebe erhalten und uns mit einer starken Fähigkeit zur Selbstheilung ausstatten. Ich bin sicher, dass das nicht sehr wissenschaftlich ist, aber es ist die beste Antwort auf deine Frage, die ich dir im Moment bieten kann.“ Er hielt inne, als fiele ihm etwas ein. „Du bist doch Ärztin. Falls du der Bewegung beitrittst, kannst du vielleicht in ihrer Forschungsabteilung arbeiten.“

Falls. Die Entscheidung stand schon wieder zwischen uns und zerstörte die friedliche Morgenstimmung. Wir standen im Wohnzimmer und starrten uns wie potenzielle Feinde an, nicht wie Gastgeber und Gast.

Als es an der Tür klopfte, wurde unser eisiges Schweigen durchbrochen. Nathan nahm sich einen der Stöcke und bedeutete mir, ich solle zurücktreten. Gerade als er die Klinke herunterdrücken wollte, ging die Tür auf.

Nathan sprang vor, griff den Eindringling an und rang ihn zu Boden. Mit erhobenem Arm zielte er mit dem Stock auf das Herz des Mannes.

„Hey, hey!“, rief der Eindringling. Er rollte unter Nathans Körper heraus.

Ziggy stand auf und schüttelte sich den Staub von den Kleidern. Er strich sich seine langen fettigen Haare glatt und sah mich von oben bis unten an. „Sorry, Nate, ich wusste ja nicht, dass du Besuch hast.“

Nathan schnauzte seinen jungen Mitbewohner an, ohne aus seinem Ärger einen Hehl zu machen. „Wo zur Hölle bist du die ganze Zeit gewesen?“ Er sah irritiert zur Tür. „Außerdem hätte ich schwören können, dass ich die Tür abgeschlossen hatte.“

„So weit zum Thema Sicherheit“, grummelte ich. Nathans böser Blick hielt mich davon zurück, mir noch einen Kommentar zu erlauben.

Autor

Jennifer Armintrout
Die Bestsellerautorin Jennifer Armintrout, geboren 1980, lebt in Michigan. Schon früh begann sie sich für das Jenseitige zu interessieren. Ob es daran liegt, dass sie in einer katholischen Großfamilie aufwuchs und im prägenden Alter zu viele Beerdigungen besuchte? Während ihrer Arbeit in der Pathologie eines Krankenhauses fragte sie sich eines...
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