Blutsbande Buch 3 & 4

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ASCHE ZU ASCHE

Die Vampire sind alarmiert: Das Orakel hat sich befreit und will gemeinsam mit dem Souleater die Welt ins Chaos stürzen. Können Carrie und Nathan den wahnsinnigen Plan stoppen und so den Untergang der Menschheit verhindern? Ein dramatischer Kampf gegen das Böse beginnt, bei dem Carrie auch ihrem ehemaligen Schöpfer Cyrus wiederbegegnet. Erneut gerät ihr Herz in seinen dunklen Bann, stärker als je zuvor. Und hat Carrie eben noch der Unsterblichkeit ihrer Liebe zu Nathan vertraut, ist sie nun verzweifelt hin- und hergerissen zwischen ihm und Cyrus.

NACHT DER SEELEN

4. und letzter Band von Jennifer Armintrouts erfolgreicher Blutsbande-Serie: Gelingt es der Vampirin Carrie, die Welt vor dem Bösen zu retten und den Soul Eater zu vernichten?

Kaum ist die Liebe zwischen der Vampirin Carrie und Nathan neu entflammt, schlägt das Böse wieder zu: Nathan wird von den Gefolgsleuten des Soul Eaters entführt und grausam gefoltert. Voller Verzweiflung schwört Carrie Rache. Und diesmal ist sie bereit, alles zu geben, um ihren Erzfeind zu vernichten - sogar ihr Leben. Nichts kann sie mehr stoppen, als es in einer dramatischen Nacht zu einem letzten Kampf mit dem Herrscher der Finsternis kommt …


  • Erscheinungstag 17.12.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783955765255
  • Seitenanzahl 832
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Jennifer Armintrout

Blutsbande Buch 3 & 4

1. KAPITEL

Unausweichlichkeit

„Carrie, ich glaube, es ist Zeit, Nathan anzurufen.“

Ich wusste, dass dieser Satz früher oder später kommen musste. Ich hatte nur gehofft, dass es viel, viel später so weit sein würde.

Wir hatten es uns in Max’ Schlafzimmer gemütlich gemacht. Es war der einzige Raum in seiner großzügigen und luxuriös eingerichteten Eigentumswohnung, in dem ein Fernseher stand. In den vergangenen drei Wochen hatten wir nichts anderes gemacht, als tagsüber herumzulümmeln und nachts durch verschiedene Jazzklubs zu ziehen. Es war nicht so gewesen, dass ich keine Zeit gehabt hätte, Nathan anzurufen. Ich hatte es einfach vermieden.

Als ich ihm nicht antwortete, seufzte Max schwer. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich gegen das geschnitzte Kopfteil seines antiken Bettes. Es war das einzige Möbelstück in diesem Zimmer, das nicht modern war. So, wie er dasaß, wirkte er seltsam anachronistisch. Da er seine Verwandlung erst in den späten Siebzigerjahren durchgemacht hatte, war Max der jüngste Vampir, den ich kannte. Natürlich außer mir. Er hatte sich der Zeit viel schneller angepasst als einige andere Vampire. Er trug seine weizenblonden Haare kurz geschnitten und hatte sie mit Gel modisch nach oben gezwirbelt. Und in seiner Uniform, bestehend aus T-Shirt und Jeans, fiel er in der Menge der Twenty-Somethings in Chicago überhaupt nicht auf. Manchmal vergaß ich sogar, dass er vom Alter her mein Vater sein könnte.

Offensichtlich wollte er genau darauf hinaus. „Es ist schon fast einen Monat her. Es macht mir ja nichts aus, dass du bei mir übernachtest. Verdammt, die meisten Abende warst du nur einen Mojito davon entfernt, wieder Dummheiten zu machen. Und da ich hier der einzige Mann bin, checke ich das voll. Aber Nathan ist mein Freund. Wenn du ständig kurz davor bist, dich von ihm zu trennen, sollte er das erfahren.“

Ich lehnte es ab, daran festzuhalten, dass das Einzige, was mich mit meinem Schöpfer verband, die Blutsbande waren – diese eigenartige psychologische Verbindung, die uns die Gedanken und Gefühle des anderen spüren ließen. Aber auch die hatten uns in der letzten Zeit nicht sonderlich verbunden. Nathan schien mich aus seinen Gedanken zu verbannen. Die wenigen Male, die ich versucht hatte, mit ihm zu kommunizieren, hatte ich nur knappe und vage Antworten bekommen. Ich nehme an, dass das besser war, als mich zu bitten, zu ihm zurückzukommen, aber es tat dennoch weh.

Trotzdem wollte Max diese einfache Logik nicht nachvollziehen. Die zahllosen Male, die ich versucht hatte, ihm zu erklären, dass Nathan und ich keine Beziehung führten, hatte Max es abgelehnt, vernünftige Argumente zu akzeptieren. „Er hätte dich nicht gefragt, ob du bei ihm bleiben willst, wenn er dich nicht liebte“, darauf bestand Max. „Nur weil er es nicht zugibt, heißt es ja nicht, dass es nicht stimmt.“

„Ach, genauso wie bei dir und Bella?“, gab ich schnippisch zurück und beendete damit zügig die Unterhaltung. Ich hätte Max mit dieser Sache in Ruhe lassen sollen, denn er hatte selbst gerade eine unschöne Trennung hinter sich, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Offensichtlich hatte er seine Situation mit Bella auf mich und Nathan projiziert, um zu vermeiden, dass er sich mit seinen eigenen Gefühlen auseinandersetzen musste.

„Ich glaube, ich schaffe es nicht, jetzt mit ihm zu reden“, antwortete ich, obwohl ich sehr gut wusste, was für eine lahme Ausrede das war.

„Je länger du wartest, desto schlimmer wird es.“ Max wusste, wie recht er hatte. Ich konnte es ihm ansehen, dass er den Triumph spürte. „Und wenn es ein schlimmes Gespräch wird – na und? Wir gehen heute Abend runter an den Navy Pier. Dort kannst du deine Sorgen mit Zuckerwatte betäuben. Zuckerwatte lindert einfach jeden Kummer.“

Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. „Sogar den Kummer eines Vampirs, dessen Liebesleben aus den Fugen geraten ist?“

„Zuckerwatte ist für den liebeskranken Vampir, was Kryptonite für Superman ist.“

Er griff nach dem schnurlosen Telefon, das auf dem Nachtschrank lag, und gab es mir. „Ruf ihn an.“

Hilflos sah ich vom Wecker zum Telefon. Die Tage waren länger geworden. Obwohl die Sonne in Chicago noch nicht untergegangen war, würde es in Michigan schon neun Uhr abends sein. Nathan machte sich jetzt daran, den Laden aufzumachen. Wenn ich ihn nun anrief, würden wir nicht viel Zeit zum Reden haben. Das war gut, denn ich hatte keine Ahnung, was ich ihm sagen sollte.

Ich nahm das Telefon und wählte die Nummer. Während ich mir vorstellte, wie Nathan durch das vollgestellte Wohnzimmer lief, um an das Telefon in der Küche zu gehen, bekam ich einen Anfall von Heimweh und fühlte den überwältigenden Wunsch, wieder zu Hause zu sein. In meiner Brust schlug mein Herz schneller, so sehr freute ich mich, mit ihm zu reden. Es klickte in der Leitung, und ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen, um im nächsten Moment seinem „Hallo?“ zu antworten.

„Bei Nathan Grant“, meldete sich eine verschlafene weibliche Stimme.

So schnell sich mein Herz in Anbetracht des Gespräches mit Nathan erwärmt hatte, so schnell kühlte es wieder ab, als ich begriff, wer am anderen Ende dran war.

„Hallo?“, fragte sie mit einem deutlichen italienischen Akzent. „Ist da jemand?“

Bella.

Mit zitternden Händen legte ich auf. Ich konnte Max nicht ansehen. Wie sollte ich ihm sagen, dass Bella, die einzige Frau, für die er jemals Gefühle gehegt hatte, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte, offensichtlich ihren Besuch bei Nathan um ganze drei Wochen verlängert hatte?

Es fiel schon schwer genug, mir diesen sonderbaren Umstand selbst zu erklären. Meine Gedanken sprangen von der einen Möglichkeit – Bellas Arbeitgeber, das Voluntary Vampire Extinction Movement, die Bewegung zur freiwilligen Ausrottung der Vampire, hatte herausgefunden, dass sie uns geholfen hatte, eine Behandlungsmethode zu finden, die Nathan retten würde. Das würde bedeuten, sie wäre gefeuert und hätte weder einen Job noch eine Wohnung … Zur anderen Möglichkeit, dass sie ihren Flug verpasst und auf einen späteren gewartet hatte. Auf einen viel späteren. Aber beide Versionen schafften es nicht, die Übelkeit, die sich in meinem Magen breit machte, zu lindern.

„Carrie, ist was?“ Max runzelte die Stirn, als könne er meine Gedanken lesen, wenn er mich nur lange genug anstarrte.

Vorsichtig öffnete ich den Mund. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich nicht doch gleich übergeben musste. „Er war nicht zu Hause. Ich glaube, diese Munition habe ich verschossen.“

„Hm, nun … du kannst ihn ja immer noch anrufen, wenn wir wieder hier sind.“ Er sah zum Fenster, an dem durch einen Spalt zwischen den Vorhängen rosafarbenes Sonnenlicht kroch. „Ich gehe unter die Dusche. Bis wir fertig sind, wird die Sonne untergegangen sein, und dann können wir raus.“

Ich nickte und sah ihn ins Badezimmer marschieren, bevor ich in mein Zimmer ging.

Max’ Eigentumswohnung befand sich in den oberen drei Stockwerken in der Nähe des Museums Campus. Es war ein altes Gebäude, aber das Penthouse war sehr modern. In dieser Gegend lagen die ganzen Sehenswürdigkeiten der Stadt auf einem Haufen. Es war nicht die tolle, aufregende Gegend von Chicago, die ich mir vorgestellt hatte. Aber Max hatte keine große Wahl gehabt, denn er hatte die Wohnung geerbt.

Marcus, der ehemalige Besitzer der Wohnung, starrte einen vorwurfsvoll aus einem Ölgemälde an, das im Treppenhaus hing. Er war der Vampir gewesen, der Max gebissen hatte und somit für seine Verwandlung verantwortlich war.

Max hatte seinen Schöpfer immer mit glühenden Worten beschrieben, aber es war schwer, sich vorzustellen, dass dieser grimmig dreinblickende Mann mit der gepuderten Perücke „liebevoll“ und „väterlich“ gewesen sein sollte.

Obwohl der Tod seines Erschaffers bereits zwanzig Jahre zurücklag, war Max immer noch traurig. Ich sah nicht ein, warum ich ihm auch noch ein gebrochenes Herz bescheren sollte, indem ich ihn wissen ließ, dass es seine Beinahe-Werwolffreundin mit Nathan trieb, mit dem Mann, den er als engen, loyalen Freund ansah.

Wie konnte er nur? Still kochte ich vor Wut, während ich die Treppe zu den Gästezimmern im unteren Stockwerk hinunterging. Ich ließ mich auf das kunstvoll geschnitzte Bett in meinem neoklassizistischen Zimmer fallen und zog mir die Daunendecke über den Kopf.

Kalte Tränen rannen mir über die Wangen. Nathan hatte mir von Anfang an klargemacht, dass es zwischen uns nichts anderes geben würde als die Verbindung durch die Blutsbande. Aber je häufiger er mir das sagte, desto mehr tat es jedes Mal weh, weil ich ihm eigentlich nicht glaubte.

Ich dachte, das wäre in der Nacht geklärt worden, als Bella durch ihren Bannspruch Nathan dazu verholfen hatte, den Tod seiner Frau endlich zu überwinden. Er hatte in etwa gesagt, dass es zwischen uns niemals etwas geben würde. Ich dachte, es hätte daran gelegen, dass er niemals darüber hinwegkam, dass er für den Tod seiner Frau verantwortlich gewesen war. Nun, knapp einen Monat später schien er sehr wohl einen Fortschritt in dieser Sache gemacht zu haben. Also, entweder hatte er gar nicht siebzig Jahre und einen Monat dazu gebraucht, um seine Schuldgefühle zu überwinden, oder es ging gar nicht darum, dass er Marianne nicht hintergehen wollte. Er hatte einfach an mir kein Interesse.

Meine Eltern haben mich zu einem logisch denkenden Menschen erzogen. Logik besagte, dass die plausibelste Annahme die richtige war. Nathan war wohl immer noch durcheinander, aber das hieß nicht, dass er sich von mir durcheinanderbringen ließ. Geschweige denn, dass er mit mir ins Bett gehen würde.

Da ich Max diese neuen Erkenntnisse noch nicht mitteilen wollte – er verleugnete noch alles, was mit Bella zu tun hatte –, tat ich so, als sei gar nichts geschehen, während wir unsere Zähne in die Zuckerwatte und Schweineohren schlugen.

Aber leider bemerkte Max meine miserable Stimmung. „Carrie, was ist los? Da ist doch etwas?“

„Mir geht es gut“, gab ich kurz zurück, um es sofort zu bereuen. Er konnte nichts dafür, dass ich vor meinem inneren Auge ständig sah, wie Bella und Nathan damit beschäftigt waren, zahlreiche gewagte Stellungen auszuprobieren. „Es tut mir leid, ich …“

„Ist es Heimweh?“

… mache mir Sorgen darüber, dass der Mann, den ich liebe, gerade in diesem Moment mit der Frau vögelt, die du vorgibst, nicht zu lieben.

„Ja, so ungefähr.“ Ich versuchte, fröhlicher zu klingen, als ich hinzufügte: „Weißt du, was gut gegen Heimweh hilft? Alkohol.“

Max grinste. „Jetzt verstehe ich, was du meinst. Lass uns eine Runde im Riesenrad fahren, und dann schauen wir mal, wo es etwas zu trinken gibt.“

Noch nie mochte ich schwindelerregende Aussichtspunkte, deshalb hätte ich dankbar sein müssen, dass ich gerade mit etwas anderem beschäftigt war, während das Riesenrad anhielt und wir auf der höchsten Stelle pendelten. Aber irgendwie fühlte ich mich nicht zu Dank verpflichtet, dass ich schreckliche Bilder von Nathan und Bella im Kopf hatte.

Es fiel mir ein, dass er nie und nimmer Bella würde halten können, denn sie strotzte vor Energie. Der Gedanke, dass ihr Verhältnis wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt war, hellte meine Stimmung etwas auf.

Dennoch konnte ich weder die Folterszenen noch die selbsterniedrigenden Kommentare abschütteln. Natürlich fühlt er sich zu ihr hingezogen. Wahrscheinlich trägt sie keine Schlafanzughosen in der Öffentlichkeit und wäscht sich jeden Tag die Haare. Außerdem hat sie Kleidergröße sechsunddreißig und einen Busen, der so groß ist wie ein kleines Sonnensystem.

Ich fühlte mich hässlich und fett und hatte furchtbare Angst, ich könnte hier und jetzt in meinen Untergang stürzen, deshalb schloss ich die Augen und seufzte.

Max schien es offensichtlich für ein Zeichen der Zufriedenheit zu halten, denn er legte freundschaftlich einen Arm um meine Schultern und seufzte ebenfalls. „Ja, ich weiß, es ist toll, nicht wahr?“

„Ich mag es eigentlich nicht, keinen Boden unter den Füßen zu haben. Aber die Aussicht ist schön.“

„Die Aussicht ist wunderbar.“ Er sah mich an, als sei ich nicht ganz bei Trost, diese Erfahrung nicht auch großartig zu finden. „Aber darüber rede ich gerade nicht.“

Jetzt war ich an der Reihe, ihn anzusehen, als sei er verrückt.

„Da.“ Er machte eine unbestimmte Geste mit dem anderen Arm, als könne er so die ganze Stadt umarmen. „Herumhängen, Quatsch machen, einfach wie normale Leute sein.“

„So normal, wie Leute, die Blut trinken und in Flammen aufgehen, wenn Sonnenlicht auf sie trifft?“, gab ich schnippisch zurück. „Aber ich will deine kleine Fantasie keineswegs unterbrechen.“

Er lehnte sich in den Sitz zurück und drückte seinen Arm wieder fester an meine Schulter. „Du weißt schon, wie ich das meine. In den letzten drei Wochen ist kein Okkult-Scheiß passiert. Es gab keinen Pieps vom Souleater. Keine Faxe von der Bewegung. Keine Dramen.“

Bis auf die in unseren Liebesgeschichten. Aber davon weißt du ja noch nichts.

„Na, es gab da diese Sache, dass ich mich von meinem Erschaffer getrennt habe und Bella dich verlassen hat.“ Ich hatte mir zwar geschworen, Bella nie wieder zu erwähnen, aber ich wollte ihn unbedingt aus seinem Das-Lebenist-schön-Film holen. So, wie er nämlich gestikulierte, weil er so fröhlich war, brachte er unsere kleine Gondel unangenehm ins Schwanken.

Nicht, dass ich es ihm übel nahm, dass er sich ich-bin-ganz-weit-oben fühlte – na ja, vielleicht doch ein wenig –, aber wenn er erfahren würde, was mit Bella und Nathan los war, dann würde er so schnell aus seiner Höchststimmung purzeln wie wir aus der Gondel des Riesenrads.

Anstatt auf meine Provokation zu reagieren, lachte er in sich hinein. „Du suchst Streit.“

„Der Anklage nach schuldig.“

Er holte tief Luft. Man roch die Stadt hier oben – heißer Zement und Abgase – und die Jahrmarkt-Leckereien mit Süßem und Würstchen, die Düfte der Menschen, die nur ein Vampir wirklich zu schätzen weiß. „Das kannst du so lange versuchen, wie du willst, heute beiße ich bei dir nicht an. Nichts kann mir diese Nacht versauen. Gar nichts.“

Während ich seinen zufriedenen Seufzer nachahmte, lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter. „Wenn ich nicht bald etwas zu trinken bekomme, dann pfähle ich dich.“

Nachdem wir dem Riesenrad des Grauens entkommen waren, machten wir uns wie versprochen auf unseren Weg durch die nächtlichen Bars und Bluesklubs. In einigen Bars waren wir beide schon Stammgäste. In anderen kannte man nur Max als immer wiederkehrenden Besucher.

Als im letzten Klub unserer Sauftour die letzte Runde ausgerufen wurde, hatten wir schon so viele Promille intus, dass es ausgereicht hätte, ein kleines Flusspferd umzubringen.

Mit seinen halb geöffneten rot geränderten Augen blinzelte Max auf seine Armbanduhr und runzelte versoffen und irritiert die Stirn. „Was? Das kann doch nicht die letzte Runde gewesen sein?“

„Ist aber so“, beharrte ich im besserwisserischen Ton von total Besoffenen. „Und das ist Scheiße.“

„Ja.“ Er sah sich mit zusammengekniffenen Lippen in der Bar um. „Die Band packt zusammen.“

„Jep.“ Ich legte meine Arme auf den Tisch und ließ meinen Kopf darauf fallen. Ich hörte, wie sein Stuhl beiseitegeschoben wurde, und als ich wieder aufsah, schwankte er über die leere Tanzfläche zu der winzigen Bühne, auf der sich die Musiker befanden. Er sprach mit ihnen eine Minute lang, dann zeigte er auf mich und stolzierte betrunken in meine Richtung. Die Band fing an, einen langsamen Blues zu spielen, und er bedeutete mir, zu ihm zu kommen.

Wenn ich eines gelernt hatte, seitdem ich mit Max nach Chicago gekommen war, war es das, dass ihm alle Aktivitäten Spaß machten, bei denen er eine Frau anfassen konnte. Ich stolperte ihm entgegen. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass wir beschwipst in einer Bar tanzten, kurz bevor sie dicht machte. Und das schien mir doch ein wenig zu pathetisch.

Aber nicht in dem Maße, dass ich es nicht wieder tun würde. Ich mochte es, in Max’ Nähe zu sein … rein platonisch. Er war der Freund, den ich nie hatte. Eigentlich hatte ich nie Freunde gehabt, bevor ich ein Vampir geworden war. Es war schön, mit jemandem zusammen zu sein, der nichts von mir erwartete, als einfach nur miteinander Zeit zu verbringen.

Mit Nathan war das anders. Ich sollte immer in seiner Nähe bleiben und wie ein treuer Hund auf ihn warten, falls er mich einmal brauchen würde. Dieser unglückliche Vergleich ließ mich an Werwölfe denken, und schon musste ich erneut meine kalten Tränen zurückhalten.

Max drückte mich fester an sich und lehnte sein Kinn an meinen Kopf, während wir unbeholfen zur Musik tanzten. „Können wir nicht ewig so weitermachen?“

„Tanzen?“, murmelte ich und spielte mit einer Locke an seinem Nacken.

Ich spürte, wie er in sich hineinlachte. „Nein, Dummerchen. Nur einfach das zu machen, was wir gerade tun. Ausgehen und Spaß haben und uns keine Gedanken darüber machen, uns zu verlieben oder allein zu sein. Nichts sollte sich daran ändern, und wir müssen nie Angst haben, dass wir verletzt werden. Wäre das nicht toll?“

Wenn ich nicht so betrunken gewesen wäre, hätte es sich nur halb so absurd angehört. Stattdessen sah ich Max an, als hätte er zugleich eine Methode zur Heilung von Krebs und zur Bekämpfung des Welthungers erfunden. „Das ist so klug.“

„Ich weiß.“ Er runzelte die Stirn. „Ich habe immer die besten Einfälle, wenn ich betrunken bin.“

Der Barmann rief uns ein Taxi – das war der letzte Wink mit dem Zaunpfahl –, und ich bin sicher, dass Max dem Fahrer ein viel zu hohes Trinkgeld gegeben hatte, bevor wir vor seinem Haus ausstiegen.

„Dieses Gebäude …“ Ein herzhafter Rülpser unterbrach meine Ansprache. „Dieses Gebäude sieht aus wie das Schloss von Graf Dracula.“

„Ich weiß. Es ist furchtbar.“ Max verzog deprimiert das Gesicht. „Und du hättest auch Marcus furchtbar gefunden.“

Als wir in den Aufzug stiegen, rückte Max ein wenig näher, und während wir ausstiegen, nahm er auf dem Weg zur Tür meine Hand. Anstatt aufzuschließen, zog er mich an sich heran und küsste mich. Seine Lippen schmeckten noch nach Bell’s Two-Hearted Starkbier.

Ich selbst hatte einiges getrunken, aber das reichte nicht, um die Alarmglocken in meinem Kopf zu überhören, die gerade meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ich bewegte meinen Kopf so schnell zurück, dass unsere Zähne aufeinanderschlugen.

„Max, was zum Teufel machst du da?“

Verdutzt blinzelte er mich einige Sekunden an, bevor er mich klar sehen konnte, dann grinste er. „Komm schon, Carrie. Du bist doch auch neugierig.“

Das stimmte. Max sah aus wie der Verteidiger einer Football-Mannschaft, den alle Mädchen haben wollen. Aber er war ein emotionales Häufchen Elend und nicht in der Lage, klar zu denken. „Ich weiß, dass du dich sehr über Bella aufregst …“

„Hier geht es nicht um Bella“, unterbrach er mich und lachte ein wenig zu laut. „Herrgott, du denkst immer an sie. Bist du sicher, dass du nicht mit ihr ins Bett willst?“

„Nein, aber wenn wir beide jetzt miteinander ins Bett gehen, dann würdest du nicht mit mir schlafen!“ Ich tippte ihm mit meinem Zeigerfinger auf die Brust, nicht um mein Argument zu bestärken, sondern eher, weil es sich gut anfühlte.

Wieder grinste Max. „Glaube mir einfach, hier geht es nicht um Bella.“

„Doch.“ Ich ließ meine Hände über sein T-Shirt bis zum Bauch gleiten – er hatte tolle Bauchmuskeln – und gab ihm einen Schubs.

Er verdrehte die Augen und hob die Hände. „Okay. Ja, es geht um Bella. Peri… peri… na, du weißt schon. Wenn man etwas aus dem Augenwinkel sehen kann.“

„Peripher“, antwortete ich. Ich nickte. „Wie kommt das?“

Max verschränkte seine Arme über meiner Taille und zog mich zu sich heran, sodass ich ihm auf die Füße trat und sich unsere Schuhe gefährlich miteinander verhakten. „Ich mag Frauen. Das weiß jeder. Aber ich verliebe mich nicht in Frauen. Also, wie kann es sein, dass ich seit Bella keinen unverbindlichen Sex mit Frauen hatte?“

„Weil es kein unverbindlicher Sex war. Du hast sie wirklich gern gehabt.“ Ich lehnte mich an ihn, nur um mein Gleichgewicht halten zu können … ganz bestimmt.

„Du bist verrückt. Ihr Frauen seid doch alle verrückt. Ihr denkt, dass ein Mann verliebt sein muss, um einer Frau seinen Schwanz hineinzustecken.“ Er neigte den Kopf, um mich zu küssen, hielt dann aber inne. „Du weißt, dass das nicht stimmt, nicht wahr?“

Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. „Mann, sind wir besoffen. Nur weil wir gerade beide verlassen worden sind …“

„Du bist verlassen worden.“

„Auch egal.“ Ich verdrehte die Augen. „Glaube ich, dass du mich liebst? Nein. Ich glaube, du willst mit mir ins Bett, um dir selbst zu beweisen, dass du nicht mehr an Bella denkst.“

„Und? Ist das so schlimm?“ Seine Lippen waren nur noch einen Millimeter von meinen entfernt.

Ich zuckte mit den Schultern. „Nein, wahrscheinlich nicht.“

Er küsste mich noch einmal. Max konnte unglaublich gut küssen. Aber in seinem Kuss lagen auch Verzweiflung und Traurigkeit. Das spürte ich auch ohne Blutsbande.

„Lass es uns machen, Carrie“, flüsterte er, während er mit seinen Fingern durch meine Haare strich. „Lass uns einfach Spaß haben.“

Auf eine irre Art ergab das Sinn. Als wir durch die Tür und auf den persischen Teppich in der Einganghalle fielen, überzeugte ich mich selbst davon, dass es so schlimm ja nicht sei. Die Menschen taten so etwas jeden Tag.

Max’ Lippen klebten an meinen, auch noch als wir uns herumwälzten, bis ich rittlings auf ihm saß. Wir waren beide noch angezogen. Lachend setzte sich Max auf. Ich spürte ihn hart und pochend durch seine Jeans, aber Max schien es nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil: Er schien jetzt in dieser intimen Situation entspannter zu sein, als wenn wir draußen zusammen etwas unternahmen. Ich fragte mich, ob das hier der Max war, den ich kannte, oder ob es ein anderer war. Vielleicht war das ein Teil der Faszination, die er auf andere Menschen ausübte. Mir taten die ganzen Frauen leid, die nicht begriffen, dass sie auf ihn hereinfielen. Sie verliebten sich in einen Mann wie Max, nur weil er das Talent hatte, ihnen vorzuspielen, dass sie die wichtigste Frau in seinem Leben waren.

Glücklicherweise konnte ich mich nicht in ihn verlieben. Ich war ja schon in einen Mann verliebt, allerdings in einen, der mich nicht im Geringsten beachtete.

Auf dieses Stichwort klingelte das Telefon.

Max schaute mich kurz neugierig an. Dann sah ich ihm seine Schuldgefühle an, und ich musste woandershin sehen.

Ich stöhnte und stand auf, auch wenn mir die Knie noch weicher wurden als zuvor. Als ich mir klarmachte, dass ich kurz davor gewesen war, mit Max Sex zu haben, verschwand der Restalkohol aus meinem Körper … was blieb, war ein Gefühl der Befangenheit.

„He, wenn du schon aufstehst, kannst du dann auch rangehen?“, fragte mich Max verlegen.

„Gut. Aber wenn das eine von deinen Freundinnen ist, dann bin ich keine sehr gute Ausrede.“

Ich war überrascht, dass noch nicht aufgelegt worden war, weil ich so lange gebraucht hatte, um in der Küche ans Telefon zu gehen und abzunehmen. Jedes Mal, wenn das Telefon klingelte, dachte ich, es sei das letzte Mal, aber schließlich hob ich ab und sagte müde: „Hallo?“

„Carrie?“

Nathan.

2. KAPITEL

Richtig verbunden

„Carrie?“, wiederholte Nathan, während die Verbindung durch Geräusche im Hintergrund gestört wurde. Sein weicher schottischer Akzent schloss sich um mein Herz wie eine gierige Hand.

Ich schluckte den Kloß in meiner Kehle hinunter und versuchte, mich nicht darauf zu konzentrieren, dass ich gerade in Max’ Küche stand und dabei war, mir seine Küsse vom Hals zu wischen. „Ja, ich bin’s.“

Es gab eine lange Pause. „Es ist schön, deine Stimme zu hören.“

Meine Kehle wurde trocken. Ich werde nicht anfangen zu weinen. Ich werde nicht anfangen zu weinen.

Aber meine Nerven lagen blank. Die Wirkung des Alkohols ließ nach, und ich fühlte mich schrecklich ungeschützt. Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und hoffte inständig, dass meine Stimme nicht kippen würde, sobald ich zu sprechen anfing. „Ich finde es auch schön, dich zu hören.“

„Ich habe vorhin schon versucht, dich zu erreichen. Aber du warst wohl aus.“ Vorsichtig zog er an den Blutsbanden, ich spürte es in meinem Herzen, aber ließ ihm keinen Einblick. Er lachte leise auf. „Gibt es etwas, das ich nicht wissen darf?“

„Ich bin nur ein bisschen beschwipst, das ist alles. Wir sind gerade erst zurückgekommen.“

„Aha.“ Nathan hörte sich nicht so an, als würde er mir glauben.

Bisher hatte er Bella noch nicht erwähnt. Vor Anspannung wickelte ich die Schnur des Telefons um meinen Arm. Ich sollte es lieber so machen, wie man ein Pflaster abreißt: kurz und schmerzlos. „Ich habe früh am Abend versucht, dich anzurufen.“

Er räusperte sich. „Ja, das hat mir Bella schon gesagt.“

Ich kniff meine Lippen zwischen meinen Zähnen zusammen, bis es wehtat.

„Sie hat mir erzählt, dass du aufgelegt hast.“

Es gelang mir, kurz aufzulachen. „Ja, ich dachte, ich hätte mich verwählt. Ich wusste nicht, dass sie noch bei dir ist. Habe ich überhaupt noch mein Zimmer bei dir?“

Mein Lachen war so gekünstelt, dass es eher nach dem Husten eines kranken Pferdes klang – der Bauer hätte es erschossen.

„Natürlich“, sagte Nathan mit so leiser Stimme, dass es schwer war, ihn durch das Knistern der Leitung hindurch zu verstehen. „Sag mal, hat Max irgendetwas von der Bewegung gehört?“

So gut es ging versuchte ich, mich aus Max’ privaten Angelegenheiten herauszuhalten, aber ich erinnerte mich an seine Bemerkung auf dem Riesenrad. „Nein, er sagte mir, er habe in der letzten Zeit nichts von ihnen gehört.“

„Aber bei Bella haben sie sich gemeldet.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der er ihren Namen nannte, durchbohrte mein Herz wie ein Speer. „Aber das zu erklären würde am Telefon zu lange dauern. Wir sind auf dem Weg zu euch.“

„Ich werde es Max ausrichten. Aber ich glaube nicht, dass er begeistert sein wird, dass ihr hier aufkreuzt.“

„Warum nicht?“ Offensichtlich hatte Nathan in der Zwischenzeit sein Hirn ausgeschaltet. Aber dann erinnerte ich mich daran, dass er ja die ganze Zeit über unter dem Fluch des Souleaters stand und dass er wahrscheinlich die seltsamen Vorfälle zwischen Bella und Max gar nicht mitbekommen hatte. Aber trotzdem wäre es nett von ihr gewesen, wenn sie Nathan zumindest einen Hinweis gegeben hätte.

„Ach egal, vergiss, was ich gesagt habe.“

„Okay …“ Er räusperte sich noch einmal. „Hör mal, wir brauchen noch etwa eine Stunde. Wir hoffen, es zu Max vor Sonnenaufgang zu schaffen, aber wenn es zeitlich nicht mehr reicht, gibt es bei euch eine Garage, in der wir Unterschlupf finden können?“

„Ja, es gibt eine Tiefgarage. Wir können euch von hier oben aus hereinlassen, und ihr könnt direkt hineinfahren.“ Ich blinzelte, als ich die Worte ausgesprochen hatte. Ich hätte ihm lieber sagen sollen, dass sie in Gary, Indiana, für den Tag anhalten sollten. Oder noch besser, dass sie sofort umdrehen und zurück nach Grand Rapids fahren sollten.

Hinter mir ging die Küchentür auf, sodass ich fast platt an der Wand stand. Max trödelte herein und streckte die Arme über den Kopf. Seine Schultern knackten, und er stöhnte laut auf. „Weißt du, was fast genauso gut wie Sex ist? Eiscreme. Nein, das stimmt nicht. Ich finde Sex doch besser.“

Ich legte meine Hand über die Muschel, aber es war schon zu spät.

„Hat Max etwa Schwierigkeiten, sich wieder in der Stadt einzugewöhnen?“, fragte Nathan amüsiert.

„Ich glaube, ich versaue ihm seinen Auftritt hier.“

Am anderen Ende hörte ich leises Murmeln. Du telefonierst gerade mit mir, deinem Zögling, und du kannst noch nicht mal ein paar Sekunden warten, um mit ihr zu sprechen?“

Ohne dass ich es verhindern konnte, übertrug sich meine Ungeduld über die Blutsbande. Nathan spürte es, und ich wiederum spürte, dass er sehr erleichtert war, dass die Bande noch zwischen uns bestanden, dass wir noch immer eng miteinander verknüpft waren. „Du hast recht, das war unhöflich von mir. Hör mal, ich lege jetzt auf. Alles andere können wir ja besprechen, wenn wir da sind.“

Wir. Es kam mir vor, als benutze er das Wort wie eine Waffe gegen mich. „Gut. Wir sind dann hier.“

Er hielt inne. „Okay … na, dann bis gleich … Süße.“

Süße. Das war zu viel für mich. Ich legte den Telefonhörer auf und sank auf den Boden.

Max kniete neben mir, bevor ich unter Schluchzen Luft holen konnte. „Carrie? Was ist los mit dir?“

Ich konnte nicht sprechen. Ich konnte mich nur an seine Schulter lehnen und weinen.

„Aber was ist denn los? Ist etwas passiert?“ Er hörte sich wie ein typischer Mann an, der bei einer weinenden Frau in Panik ausbricht. Für ihn musste meine Reaktion doppelt irritierend gewesen sein, angesichts der Dinge, die wir noch kurz zuvor in seinem Flur getrieben hatten. „Liegt es an mir? Habe ich etwas falsch gemacht?“

Während ich den Kopf schüttelte, wischte ich mir die Nase mit dem Handrücken ab. Aber ich konnte einfach nicht mit dem Schluchzen aufhören, um etwas zu sagen.

Max zog mich fester zu sich heran, als könne er mit seiner Haut meine Traurigkeit aufsaugen. „Du machst mir echt Angst. Was ist denn los? Hat es was mit Nathan zu tun?“

Mit Sicherheit hatte es etwas mit Nathan zu tun. Wieder stieg in mir die Wut hoch, und ich trocknete mir die Tränen ab. Nathan und Bella waren auf dem Weg nach Chicago. Ich war hierher gereist, um von Nathan wegzukommen und um wieder klar denken zu können. Und nun kam er und machte mir noch mehr Ärger und Kummer? Er war wie das Gegenteil eines Rettungswagens: Er transportierte das Unglück bis vor die Wohnungstür.

„Er war es“, murmelte ich. „Und er ist auf dem Weg hierher und bringt Bella mit.“

„Bella?“ Max runzelte die Stirn. „Ich dachte, sie wäre schon vor einem Monat zurück nach Spanien gegangen?“

Ich schwieg. Max war ein kluger Kopf. Ich verließ mich darauf, dass er selbst darauf kommen würde.

Er war zwar nicht so schnell, wie ich gedacht hatte, aber mit der Zeit schien er es zu begreifen. „Nein! Auf gar keinen Fall.“

Ich nickte vehement. „Als ich ihn heute Abend anrief, ist sie ans Telefon gegangen.“

„Na, das heißt gar nichts.“ Das galt wohl eher ihm als mir. „Vielleicht ist ihr etwas dazwischengekommen, und sie hat einen neuen Auftrag bekommen. Das passiert ständig.“

„Sie hat nicht in meinem Zimmer geschlafen.“ Ich war halbwegs beruhigt. Ich konnte mir nicht vorstellen, dorthin zurückzugehen, wenn sie nicht nur meinen Freund – nicht meinen Freund, meinen Schöpfer, ich sollte mich endlich an diesen Unterschied gewöhnen –, sondern auch noch mein altes Bett in Beschlag genommen hätte.

Max nickte. „Oh, es tut mir leid, dass er dich verletzt hat.“

Als ich den Unterton in seiner Stimme hörte, kamen mir wieder die Tränen. „Es tut mir leid, dass sie dich verletzt hat.“

„Zum letzten Mal, sie hat mir nichts getan! Sie ist mir vollkommen gleichgültig!“ Er stand auf und lief ärgerlich aus der Küche.

Wie betäubt und frierend hockte ich auf dem Fußboden und starrte auf die Packung Eiscreme, die Max auf dem Küchentresen stehen gelassen hatte.

Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort saß, jedenfalls befand sich schon bald Kondenswasser auf der Pappschachtel. Als ich endlich aufstand, war es an der Packung hinabgelaufen und hatte sich um den aufgeweichten Boden gesammelt.

Ich musste mich zusammenreißen. Es war schlimm genug, dass ich Nathan begegnen musste, obwohl ich wusste, dass er Bella mir vorgezogen hatte. Aber ich durfte ihm gegenüber nicht zugeben, wie unglücklich ich war.

Ich ging hinunter in mein Zimmer. Im Badezimmer machte ich die Dusche an, bis das Wasser kochend heiß war, und stellte mich unter den Strahl. Ich wartete, bis es kein heißes Wasser mehr gab und das eiskalte die Dampfschwaden vertrieben hatte. Draußen würde bestimmt bald die Sonne aufgehen. Gleich würden sie hier sein.

Kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, klopfte es leise an der Tür. „Carrie?“

Max öffnete die Tür einen Spalt und lugte herein, die Augen schamvoll gesenkt, und warf mir ein Handtuch zu. „Sie sind hier.“

„Danke. Ich bin gleich oben.“

„Okay.“ Er wollte die Tür schließen, kehrte aber doch wieder zurück. „Er sieht fürchterlich aus, Carrie.“

„Gut.“

Ich meinte es genau so. Die ganze Zeit über, seit ich Nathan kannte, hatte er mit mir gespielt. Zwar wollte er keine feste Beziehung führen, aber Sex konnte er mit mir haben. Das war für ihn in Ordnung. Ich durfte auch mit ihm zusammenwohnen. Er konnte mir auch die ganze Zeit erzählen, dass es ihn zerreißen würde, wenn ich ihn verließe. Immer wieder bat er mich inständig, bei ihm zu bleiben. Aber die Erinnerung an seine verstorbene Frau wollte er meinetwegen nicht aufgeben.

Aber für Bella konnte er das. Sie besaß irgendeinen magischen Schlüssel, irgendetwas, das ich nicht hatte. Und so hatte er seine Meinung geändert und wollte plötzlich eine Beziehung führen.

Mit ihr.

Ich zog mich an, und es war mir egal, wie und ob ich gut aussah. Wenn ich jetzt noch eine halbe Stunde damit zubrachte, mir die Haare zu föhnen und mich zu schminken, wäre das sowieso zu offensichtlich.

Im oberen Stockwerk saßen Nathan und Bella jeweils am anderen Ende der Couch. Obwohl ich die Distanz, die sie zueinander wahrten, bemerkte, wurden meine Knie weich.

Sobald wir verwandelt worden sind, werden wir Vampire nicht älter. Nathan war die ganze Zeit über zweiunddreißig geblieben. Ein ziemlich schlanker und attraktiver Zweiunddreißigjähriger. Einmal hatte ich den Scherz gemacht, dass er sein Leben lang ziemlich hart trainiert haben musste, um solche guten Oberarme zu bekommen. Er hatte leise in sich hineingelacht und erwidert: „Nein, dass liegt daran, dass ich Marianne immer getragen habe. Als es zu Ende ging, konnte sie nicht mehr gehen.“ In seinen grauen Augen konnte ich seine Traurigkeit erkennen, als er das sagte. Aber danach war er wieder wie immer.

Jetzt wandte er sich mir zu und hob seinen Kopf mit den dunklen Haaren, während ich die letzten Stufen heraufkam.

Auch Max drehte sich nach mir um und zwinkerte mir aufmunternd zu, als ich endlich im Zimmer stand.

Nathan stand auf, als erwarte er … keine Ahnung … dass ich ihn umarmte? Oder sollte ich mich ihm an den Hals werfen?

Was er auch immer erwartete, ich wollte es ihm nicht geben. Ich winkte ihm desinteressiert zu und ließ mich auf einen Lehnsessel neben der Küchentür fallen. „Du brauchst meinetwegen nicht aufzustehen.“

Bevor er sich wieder hinsetzte, verschränkte er die Hände ineinander.

Bella sah mit zusammengekniffenen Augen zwischen ihm und mir hin und her und verzog den Mund zu einem amüsierten Lächeln, aber sie sagte nichts.

„Da ihr ja jetzt beide hier seid, kann ich euch wohl die schlechte Nachricht überbringen.“ Nathan lehnte sich vor und rieb seine Knie. Er hatte diesen nervösen Tick, sodass der Stoff seiner Jeans am Oberschenkel schon fast weiß war. „Ich sage es einfach.“

„Nun mach schon!“, giftete ihn Bella an.

Ärger im Paradies? Ich sah kurz zu Max hinüber, aber sein Blick war stur auf Bella gerichtet.

„Das wollte ich gerade.“ Nathan warf ihr einen Seitenblick zu. „In der Zentrale der Bewegung ist etwas passiert. Daher habt ihr noch nichts von ihnen gehört. Das Orakel hat sich befreit.“

„Nein“, flüsterte Max.

Ich wusste, dass Max vor kaum etwas Angst hatte, aber vor dem Orakel fürchtete er sich. Es war ein uralter Vampir in weiblicher Gestalt mit unvorstellbaren telepathischen Kräften. Die Bewegung hielt es unter strikter Bewachung. Max hatte früher dem Team angehört, von dem es in das neue Labor überführt worden war, in dem man es seit einiger Zeit untergebracht hatte. Nicht alle Mitglieder des Teams hatten den Umzug lebend überstanden.

Nathan antwortete nicht, aber ich kannte diesen Gesichtsausdruck an ihm. Er hatte genauso große Angst wie Max. „Sie hat ihre Pfleger getötet, genauso wie die meisten anderen. Miguel ist tot. Breton ebenfalls. Sie befand sich in dem Krankenhausflügel, also hat sie dort auch die größten Schäden angerichtet.“

„Anne ist tot“, bemerkte Bella sachlich, ohne auch nur einmal Max anzusehen. „Das Orakel hat alle Vampire im Krankenhausbereich angezündet.“

„Wie, mit seinen telepathischen Kräften?“, fragte ich leise.

Bella sah mich mit einem Stirnrunzeln an, als versuche sie, meine Begriffsstutzigkeit zu verstehen. „Nein. Mit Reinigungsalkohol aus der Abstellkammer und mit einem Feuerzeug.“

Max ging hinüber zum Fenster. Man sah, dass seine Kiefermuskeln arbeiteten, während Nathan unentwegt von Maßnahmen während des Kommunikationsstillstandes laberte und ob es für ihn oder mich gefährlich sei, sich zu beteiligen.

Ich ging zu Max hinüber und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Bist du okay?“

Er nickte. „Ja. Mir ist nur … weißt du, ich wusste es. Die ganze Zeit, als wir das Orakel vor vielen Jahren auf die neue Station gebracht haben, da war es so, als hätte ich geahnt, dass es etwas plant.“

Bella schnaufte. „Wie konntest du wissen, was das Orakel denkt?“

„Ich glaube nicht, dass die Gedanken des Orakels dich etwas angehen“, fuhr Max sie an. „Wie viele Werwölfe sind denn von ihm getötet worden?“

Ihr Gesicht wurde bleich. Bellas Augen mit der ungewöhnlichen goldenen Iris verengten sich. „Es tut mir wirklich leid, dass es euch nicht besser bei eurer Hetzkampagne gegen meine Leute zur Seite gestanden hat.“

„Nun regt euch mal wieder ab.“ Nathan stand auf, als Einziger ganz klar viel zu rational für die Stimmung, die unter uns herrschte.

Im ersten Moment, als ich ihn gesehen hatte, war ich nur beruhigt gewesen, mit meinem Schöpfer im selben Zimmer zu sein. Es war mir gar nicht aufgefallen, wie müde er aussah: Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und kniff die Lippen zusammen.

Sein Blick verweilte kurz auf mir, und seine Erschöpfung schien sich zu verstärken. „Das Orakel ist nicht einfach nur ausgebrochen. Wie Max schon gesagt hat, es muss alles geplant haben. Lasst es uns für heute genug sein und darüber wie erwachsene Menschen reden, wenn die Sonne untergegangen ist.“

„Gut. Ich zeige euch eure Zimmer.“ Max betonte den Plural. Es tröstete mich, dass Max deutlich machte, dass er nicht wollte, dass die beiden gemeinsam in einem Zimmer schliefen, auch wenn es wahrscheinlich darauf hinauslaufen würde.

Nathan schien überrascht. Er sah mich an, dann schaute er achselzuckend zu Max. „Hört sich gut an.“

„Okay, gute Nacht dann.“ Ich winkte in irgendeine Richtung und drehte mich zur Treppe um.

Dreh dich um.

Die Aufforderung durch die Blutsbande war so eindringlich, ich musste einfach nachgeben. Als ich über die Schulter zurückschaute, hielt mich Nathan mit seinem Blick fest. Ich konnte nicht erkennen, was dahintersteckte, ob es ein schlechtes Gewissen war oder eine Entschuldigung oder eine stille Bitte, dass ich mit ihm gehen sollte.

Ich schüttelte den Kopf, um abzulehnen.

Obwohl ich sehr müde war, konnte ich nicht gleich einschlafen. In meinem Kopf schwirrten grauenvolle Bilder herum. Ich bekam eine direkte Kostprobe, wozu das Orakel in der Lage war. Ich sah, was es Anne, der fröhlichen ewig jungen Empfangsdame der Bewegung, angetan hatte. Das Orakel hatte sie jahrelang mit der Vorstellung gefoltert, ihr Rückgrat zu brechen, um es dann wahr zu machen. Was hatte es diese armen Vampire im Krankenhaus sehen lassen? Es musste die Hölle für sie gewesen sein.

Auch wenn ihr Tages- oder vielleicht besser Nachtrhythmus und meiner sich geradezu ausschlossen, waren die Leute, die ich im Hauptquartier der Bewegung kennengelernt hatte, sehr nett zu mir gewesen. Besonders herzlich war Anne, sie hatte mich mitgenommen, um mir, obwohl es strikt verboten war, das Orakel zu zeigen. Der Besuch endete damit, dass das Orakel Anne herumschleuderte wie eine Puppe und versucht hatte, mir den Kopf abzureißen. Als wir anschließend mitgeteilt bekamen, dass Anne den Überfall überlebt hatte, waren wir mehr als erleichtert. Aber wenn ich zurückblicke, dann scheint es so, als sei Anne von Beginn an dazu verdammt gewesen zu sterben. Die Bewegung hatte nämlich eine ziemlich rigorose Einstellung, was die medizinische Behandlung von verletzten Vampiren betraf, selbst wenn es lebensbedrohlich aussah. Es hatte ewig gebraucht, bis sich Anne von der Attacke erholte, da ihr Körper nur auf seine eigenen Heilungskräfte angewiesen war. Als das Orakel die ganze Station in Brand gesetzt hatte, war sie wahrscheinlich völlig hilflos gewesen. Ich glaube, dass Nathan recht hatte. Das Orakel tat Dinge nicht einfach mal so.

Ich drehte mich auf die Seite. Das Bett schien größer und seltsam leer zu sein, seitdem mein Schöpfer angekommen war. Ich sehnte mich danach, neben ihm zu liegen, sein leises Schnarchen zu hören und zu lauschen, wenn er gelegentlich im Schlaf Unsinn murmelte. Das bekam jetzt jemand anderes zu hören.

Jedenfalls fühlte ich mich ein wenig besser, nachdem ich gesehen hatte, wie kühl die beiden miteinander umgegangen waren. Vielleicht war Max’ Idee, die beiden vorsätzlich in zwei getrennten Zimmern unterzubringen, doch gar nicht so verrückt, denn keiner von ihnen wirkte so, als wollte er mit dem anderen zusammen in einem Bett schlafen.

Wie konnte Nathan dieses Verhältnis nur vor mir verbergen? Auch wenn wir räumlich getrennt waren, war ich doch immer ehrlich zu ihm gewesen, oder? Und ich hatte meine Seele riskiert, um ihn vor dem grauenhaften Zauberspruch des Souleaters zu schützen. Aus meiner Sicht schuldete er mir zumindest Aufrichtigkeit, auch wenn es für ihn ein wenig unbequem war.

Ich wünschte mir, er hätte dieselbe Einstellung zu diesen Dingen wie ich.

Aber nun hatte er Bella. Sie war exotisch, leidenschaftlich und gefährlich. Und sie war so ganz anders als ich, der langweilige hellhäutige Typ Frau. Durch den vielen Sex und die Flamme des Verliebtseins hatte Nathan wahrscheinlich keine Zeit, darüber nachzudenken, was das alles für mich bedeutete und wie sehr ich verletzt sein könnte.

Und nicht zum ersten Mal rannen mir kalte Tränen aus Gram über meinen Schöpfer über die Wangen.

Beinah wäre es mir gelungen, mich in den Schlaf zu weinen, als ich ein leises Klopfen an der Tür vernahm. Wahrscheinlich war es Max, um mit mir die Lage zu beraten. Schnell wischte ich mir die Tränen ab. Wenn Nathan so tun konnte, als ginge ihn das alles nichts an, dann konnte ich das schon lange! Vielleicht würde ich es sogar irgendwann selbst glauben.

„Herein“, sagte ich und hoffte, dass meine Stimme verschlafen und nicht verheult klang.

Die Tür ging auf, und nicht Max, sondern Nathan schlich herein.

Ich setzte mich auf und zog mir die Decke erschrocken bis zum Hals, als könne er durch mein T-Shirt hindurch mein gebrochenes Herz sehen – wenn es da gewesen wäre. Mein richtiges Herz war ja in meinem Koffer. Cyrus, mein erster Schöpfer, hatte es mir aus dem Körper gerissen.

„Was machst du hier?“

Er hob die Hände, als erwarte er einen Angriff. „Bitte, hör mir einfach zu.“

„Glaubst du wirklich, wir hätten einander noch etwas zu sagen? Nachdem alles so gelaufen ist?“, fuhr ich ihn an. „Und gerade jetzt in dieser Situation?“

„Ich weiß. Und es tut mir leid. Ich hätte ehrlich zu dir sein sollen.“ Seine Worte bestätigten, was ich befürchtet hatte.

Zitternd holte ich Luft, um zu vermeiden, dass ich sofort wieder in Schluchzen ausbrach. „Ja, das wäre nett gewesen.“

„Ich kann mich dafür gar nicht genug entschuldigen. Das weiß ich. Und ich weiß, dass du meinetwegen durch die Hölle gegangen bist.“ Er sah auf seine Hände hinab. „Aber ich habe dich so vermisst.“

„Das sah aber anders aus.“ Ich wollte nicht zulassen, dass seine Verletzter-kleiner-Junge-Masche bei mir funktionierte. Ich war immer noch wütend, zu Recht.

Einen Moment lang schien er brüskiert. „Ich will nicht noch einmal so lange von dir getrennt sein. Du gehörst zu mir.“

Mir wurde schlecht, und eine Mischung aus Hoffnung und Unglauben stieg in mir auf.

Obwohl ich nichts gesagt hatte, trat er an mein Bett und setzte sich. „Ich bin egoistisch gewesen. Ich wollte die Vergangenheit nicht loslassen. Aber ich hatte kein Recht dazu, dich da mit hineinzuziehen. Ich schwöre dir, Carrie. Wenn du nach Hause kommst, dann wird alles anders.“

Ich verkniff mir die Tränen. Jetzt sagte er das, was ich hören wollte, aber dennoch …

„Was ist mit Bella?“

Nathan runzelte die Stirn. „Was soll mit ihr sein?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob sie es so toll findet, wenn ich wiederkomme. Vielleicht würde sie es verstehen, wenn sie ein Vampir wäre, aber sie ist ein Werwolf. Werwölfe haben keine Ahnung von der Beziehung, die zwischen einem Schöpfer und seinem Zögling besteht.“ Oder auch wie frustrierend diese Beziehungen sein können.

In meinem Kopf spielte sich eine grauenvolle Szene ab, in der Nathan antwortete: „Stimmt, du hast recht. Gute Nacht“, und wieder zu ihr zurückging.

Stattdessen starrte er mich an, als sei ich nicht ganz bei Trost. „Carrie … Bella und ich … Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Wir haben nichts miteinander.“

„Aber sie hat bei dir gewohnt“, beharrte ich starrköpfig. „Warum ist sie einen Monat lang geblieben und nicht zurück nach Spanien gegangen?“

„Ist sie ja“, sagte Nathan. „Doch zunächst ist sie dem Souleater bis nach San Francisco gefolgt, hat mit ihm abgerechnet und ist dann nach Europa geflogen. Sie musste mit einer normalen Linie fliegen, da sie niemanden von der Bewegung erreichen konnte. Als sie wieder in Madrid ankam, hat sie gesehen, dass die Zentrale in Schutt und Asche lag, und ist dann zurück nach Grand Rapids geflogen, weil sie wusste, dass sie nur so Kontakt zu Max aufnehmen konnte.“

„Aber du hast gesagt, dass sie nicht in meinem Zimmer schläft … und du hast die ganze Zeit deine Gedanken vor mir verborgen.“ Ich fing an, mich wie der letzte Idiot zu fühlen, und das war ziemlich unangenehm. Fast hoffte ich, zu hören, dass er mit Bella geschlafen hatte, nur um davon abzulenken, dass ich mich wie ein Trottel verhielt.

Nathans wunderschöne Lippen formten sich zu einem Grinsen. „Du hast wirklich geglaubt, dass ich dich mit Bella betrüge?“

„Du hättest mich nicht betrogen, denn wir führen ja keine Beziehung.“ Ich sah auf meine Hände hinab und beobachtete sie dabei, wie sie die Bettdecke wütend zerkneteten. „Nathan, ich will nicht dein Zögling sein. Ich will die Frau sein, die du liebst. Und solange du dich nicht von Marianne oder besser von der Erinnerung an sie verabschiedest, wird das nicht gehen.“

Ich hatte erwartet, dass er den Kopf abwenden würde, wenn ich ihren Namen nenne, aber er fixierte mich mit seinem Blick. Seine stahlgrauen Augen zogen mich magisch an. „Marianne ist tot. Es macht mich krank, das so zu sagen, aber es war für uns beide das Beste so. Sie war nicht mehr die Frau, die ich geheiratet hatte. Sie hatte sich aufgegeben. Ich weiß, dass ich sie zu einer Heiligen gemacht habe, und eigentlich wollte ich das gar nicht. Aber ihre Krankheit hat sie verändert. Marianne wurde immer häufiger depressiv, manchmal sogar offen feindselig. Und irgendwann machte sie mich sogar für alles verantwortlich, das war kurz vor ihrem Tod.“

„Oh Nathan.“ Ich wollte ihn gar nicht unterbrechen.

Er sprach weiter, als hätte er mich nicht gehört. „Auch wenn sie überlebt hätte – das heißt, wenn ich nicht das getan hätte, was ich getan habe –, wäre sie zu einem späteren Zeitpunkt gestorben. Wenn ich sie zu einem Vampir gemacht hätte … Nun, sie war einfach zu krank. Auch dann hätte sie nicht weiterleben wollen.

Ich hätte Marianne zwar ein neues Leben schenken können, hätte sie beschützen und ehren können, bis ans Ende unserer Tage auf Erden, aber ich hätte ihr nicht ihre Seele zurückgeben können. Die hatte sie schon lange verloren, bevor ich sie tötete. Der Zauber, den Bella ausgesprochen hat … den du ausgesprochen hast … hat mich davon überzeugt. Es hört sich so melodramatisch an, aber wirklich, du hast mich gerettet.“

Vorsichtig griff ich nach seiner Hand. Ich glaubte wirklich, ich würde aufwachen, wenn ich ihn berührte, aber seine Finger schlossen sich um meine. Beinah zerdrückte er sie, bis er bemerkte, wie kräftig sein Griff war.

„Du bist mein Zögling. Egal, was auch immer zwischen uns geschieht, es ist mein Blut, das in deinen Adern fließt. Du bist die einzige Familie, die ich habe. Ich will mit dir zusammen sein.“ Er hob meine Hand an seine Lippen und küsste sie.

Mein Puls beschleunigte sich. „Aber nicht so, wie ich es mir wünsche. Das beschönigst du immer.“

Er sah mich traurig an, dann fiel sein Blick auf unsere Hände. „Wenn ich dir jetzt sagen würde, dass ich jetzt dazu bereit wäre, dich … dich zu lieben, dann würde ich nur dafür sorgen, dass früher oder später ein Desaster geschieht. Der Bannspruch hat mir die Wahrheit gezeigt, aber es gibt immer noch Aspekte, die ich nicht akzeptieren kann, auch wenn ich weiß, dass sie wahr sind. Wenn die Zeit reif ist und ich ganz und gar loslassen kann – und sie wird kommen –, dann suche ich mir bestimmt keinen Werwolf aus, mit dem ich zusammen sein will. Dann bist du es.“

Sofort spürte ich, wie eine riesige Welle von Schuldgefühlen über mir hereinbrach. Nathan war in sich gegangen, während ich fast … zügellosen Sex gehabt hätte. „Ich muss dir etwas sagen.“

Traurig sah er mich an und zwang sich dann zu einem Lächeln. Durch die Blutsbande spürte ich seine Ängstlichkeit. Er dachte, ich würde ihn zurückweisen, und ließ meine Hand los. „Okay.“

„Ich dachte, da läuft etwas … zwischen dir … und Bella.“ Ich schloss die Augen und widerstand dem Bedürfnis, mir mit der flachen Hand vor die Stirn zu schlagen. „Offensichtlich war das eine Fehleinschätzung. Es war eine dumme, dumme voreilige Annahme.“

Er nickte, seine Angst, zurückgewiesen zu werden, ließ ein wenig nach. „Und?“

„Und?“ Ich biss mir auf die Lippe und beschloss, dass es am besten sei, es so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. „Ich hätte beinah mit Max geschlafen.“

Ich zählte im Kopf bis drei und wartete darauf, dass Nathan explodierte. Das tat er auch, aber auf andere Weise als erwartet. Mit einem hysterischen Lachen kippte er seitlich vom Bett.

„Nathan! Das ist nicht witzig!“ Ich schlug auf die Matratze. „Ich hätte beinah mit Max geschlafen.“

Als ich über die Bettkante schaute, sah ich, dass sich Nathan die Tränen aus den Augenwinkeln wischte. „Ich hab’s gehört. Ich wette, dass es außerdem auch noch todromantisch war.“

„Ach, halt den Mund“, schalt ich ihn, musste aber unfreiwillig lachen. „Ich kann nicht glauben, dass ich wirklich dachte, du würdest mit Bella schlafen.“

„Das kann ich allerdings auch nicht. Ich mag sie noch nicht einmal sonderlich gut leiden. Weißt du, dass sie an ihren Zehennägeln kaut? Ich meine, sie schneidet sie nicht wie normale Menschen, sondern sie nimmt den Fuß in den Mund und kaut sie ab!“ Er schüttelte sich vor Ekel. „Ich dachte, du würdest mir ein wenig mehr zutrauen.“

Unser Gelächter ebbte ab, und es machte sich eine befangene Stille breit. Nathan setzte sich auf und stützte seinen Unterarm auf das Bett, um mich anzusehen. „Carrie, ich will nicht, dass du etwas tust, das du nicht tun willst. Wenn du nicht nach Hause kommen willst, sag es mir bitte.“

Nach Hause. Unser Zuhause. Ich hatte das Gefühl, dass sich mein Brustkorb zusammenzog und ich kurz davor war, zu kollabieren. Mein Kopf suchte hektisch nach Hinweisen dafür, ob das ein besonders perfider Trick war, mir noch einmal das Herz zu brechen. „Ich möchte sehr gern nach Hause zurückkommen. Aber ich kann dir nicht versprechen, dass ich auf dich warten werde. Es ist einfach unfair, das von mir zu erwarten. Also …“

„Also?“, fragte er, während sein Mundwinkel zuckte, als unterdrücke er ein Lächeln.

Ich wollte nicht, dass dieses Lächeln erstarb. „Also, ich werde darüber nachdenken.“

Er lächelte weiter, es war wie ein Glücksversprechen. Es war kein realistisches Glück, aber immerhin mehr, als wir jetzt hatten. „Carrie?“

So, wie er meinen Namen aussprach, schwang etwas Schweres und Bedeutungsvolles mit, sodass es mir kalt den Rücken hinunterrann. „Was?“

„Ich wollte dich schon die ganze Zeit küssen.“

Als er das sagte, floss die Kälte von meinem Rücken in den Magen, dann meine Arme hinunter, bis mir ein leises „Oh“ entfuhr. Ich schluckte und nickte, fuhr mir über die Lippen, die plötzlich vor Vorfreude ausgedorrt waren.

Ohne etwas zu sagen, legte er sich zu mir aufs Bett, und wir küssten uns, wie wir es noch nie zuvor getan hatten. Nicht, weil es unbeholfen und sperrig war, sondern weil für uns beide mehr dahinter stand als jemals zuvor. Nathan war so leidenschaftlich, wie ich es nicht von ihm kannte. Es lag weder an seiner Verzweiflung noch an der Angst, mich zu verlieren. Es war auch anders als damals, kurz nachdem er mir durch einen Biss mein Vampirleben gerettet hatte. Es war etwas zwischen Entschlossenheit – Entschlossenheit, alte Dinge loszulassen und das Richtige zu tun – und dem Vertrauen darauf, dass ich da sein würde, wenn alles gesagt und getan wäre.

Ich wünschte mir, ich hätte dasselbe Zutrauen wie er.

Aber mein Körper wusste ganz genau, was er wollte. Gleichgültig, was zwischen Nathan und mir vorgefallen war, ich brauchte ihn auf einer Ebene, die mit Urtrieben und bedingungsloser Lust zu tun hatte. Sein Blut floss in meinem Körper und machte mich zu einem Teil von ihm. Ich konnte nicht genug von ihm bekommen, während sein Mund meinen immer wieder berührte und seine Hände sich zu meinem Rücken vorgetastet hatten, um mich näher an ihn heranzuziehen.

Ich kniete mich vor ihm hin, und er tat dasselbe, während er sich das Hemd auszog. Tatsächlich stöhnte ich auf, allein als ich sah, wie sich seine helle Haut über seine kräftigen Muskeln spannte. Die Narben von dem Bannspruch des Souleaters waren noch auf seiner Brust und seinen Oberarmen zu erkennen. Ich wunderte mich kurz über die Macht, die es vermochte, bleibende Wunden auf dem Körper eines Vampirs zu hinterlassen. Aber rationale Überlegungen wurden nebensächlich, als Nathan seine Arme nach mir ausstreckte. Wie immer gelang es ihm, mich die Komplikationen des Lebens vergessen zu lassen, wenn ich in seinen Armen lag. Nicht, dass ich eine affektierte Mimose mit Hang zur Ohnmacht war, aber alles an ihm – sein Körper, sein Geist, sein Geruch, seine Berührung und seine Probleme – waren größer als die Realität.

Und immer wieder fällst du darauf herein, und immer fällst du auf die Nase, und nie ist er da, um dich aufzufangen.

Ich ignorierte diese warnende Stimme, ich ignorierte jeden Gedanken in meinem selbstgerechten Hirn, denn Nathan berührte mich, also war alles in Ordnung.

Er zog mir das T-Shirt über den Kopf und senkte sein Gesicht auf meinen Hals. Es war fast unmöglich, aufrecht sitzen zu bleiben, während er seine Haut an meiner rieb und sein Mund eine brennende Spur über mein Schlüsselbein zog. Es waren zu viele Eindrücke, nachdem wir zu lange voneinander getrennt gewesen waren. Und wenn ich aufstöhnte, dann spürte ich das Echo in seinem Körper.

„Das habe ich vermisst“, sagte er mit rauer Stimme, während er meine Brüste in seine Hände nahm und sie küsste. „Gott, habe ich das vermisst. Ich habe dich so vermisst.“

Ich griff nach seinen Haaren und zog sein Gesicht an meines heran. Er roch wunderbar, nach Sandelholz-Seife und nach dem schweren Opiumduft der Räucherstäbchen, die er im Laden brennen ließ. Ich hätte fast vor Gier geschrien, als er seine Hände meinen Rücken entlang bis zu meinen Pobacken wandern ließ und mein empfindliches nacktes Fleisch zu sich nach vorne zog, näher an den rauen Stoff seiner Jeans.

Ich schob meine Hände zwischen uns und versuchte, den Knopf seiner Hose zu öffnen, bis er sie wegschob.

„Warte, warte. Langsam. Wir haben doch noch den ganzen Tag.“

„Ich will aber nicht den ganzen Tag warten“, keuchte ich und betonte meinen Satz mit einem kräftigen Zug an seinem Bund.

Seine Augen wurden dunkler, und einen ewigen Moment lang starrte er mich an. „Ich bin so froh, dass du das sagst.“

Innerhalb weniger Sekunden schmiss er hektisch seine Jeans auf den Boden und legte sich auf den Rücken, damit ich mich rittlings auf ihn setzen konnte. Ich nahm seinen Schaft in die Hand und drückte ihn, ließ meine Finger über die glatte lange Oberfläche gleiten. Er fauchte und griff nach meinen Oberschenkeln, und sein Verlangen, das ich durch die Blutsbande spürte, vergrößerte mein eigenes. Ich erhob mich und schob ihn zwischen meine Beine. Bei der ersten Berührung erzitterte ich. Mein Körper pochte, als er sein Becken bewegte und in mich hineinglitt.

„Gott, Carrie“, murmelte er durch die Zähne, „du fühlst dich so gut an.“

Ich wollte ihm antworten, etwas Cleveres und Selbstsicheres entgegnen, aber er presste seinen Daumen auf die heiße vibrierende Stelle in der Mitte meines Körpers, sodass ich nur einen heiseren Schrei herausbrachte.

Es war viel zu lange her, dass ich mit ihm so zusammen gewesen war. Es war mehr als eine körperliche Vereinigung. Mit den Blutsbanden, die zwischen uns bestanden, konnte ich seine Gedanken lesen, sein Verlangen spüren und die Lust erfahren, die er erlebte, als sei sie meine eigene. Meine Haut brannte an den Stellen, wo er mich berührte, mein Körper spannte sich um ihn, als ich ihn ritt. Ich verlor das Gefühl für die Zeit, und ich schrie vor Erleichterung auf, ganz verloren in dem Gefühl, wie er hart und stark in mir pulsierte. Als er nach meinen Hüften griff und sie abrupt nach unten zog, so heftig, dass es fast wehtat, spürte ich, wie er in mir pochte, und ich fiel auf seine Brust, weil mir die Arme versagten.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass mir Tränen kommen würden. Ich wischte sie fort und bewegte mich vorsichtig von ihm herunter, während ich versuchte, mit der wenigen mentalen Energie, die ich noch hatte, ihn von den Blutsbanden auszuschließen. Dennoch hatte er mitbekommen, dass ich ganz plötzlich emotional überwältigt war. Die Erleichterung, wieder mit ihm zusammen zu sein. Die Unsicherheit, ob ich ihm vertrauen konnte, die Wunden zu heilen, die ihm sein Erschaffer zugefügt hatte. Aber am stärksten herrschte die Angst vor, dass ich wieder verletzt werden würde.

Seine Hände zitterten, als er mir meine zerzausten Haare aus dem Gesicht strich. „Du kannst mir jetzt vertrauen, Carrie. Du kannst mir vertrauen, weil ich mir selbst vertraue, dass ich dich nicht mehr verletzen werde.“

Ich lehnte mich gegen seine kalte Haut und schmiegte mein Gesicht gegen seinen Hals. Der Duft des Blutes meines Schöpfers drang in meine Nase und erfüllte alle meine Sinne – er war ursprünglich und vertraut.

Ich hatte ihn so vermisst – das Gefühl seiner Haut unter meinen Händen, sein Gewicht auf mir, er, fest und solide an meiner Seite. So sehr ich es auch hasste, von einem Menschen abhängig zu sein, um sich „ganz“ zu fühlen, so sehr machten die Blutsbande aus uns zwei Hälften, die zusammengehörten, um ein Ganzes zu ergeben.

Es wäre so viel einfacher, wenn ich ihn nicht lieben würde.

3. KAPITEL

Besessen

Max begriff einfach nicht, wie sie dazu in der Lage sein konnte.

Da saß Bella am Küchentresen, tief gebeugt über einem Buch, und biss hin und wieder in ein Sandwich, das sie in der linken Hand hielt. Sie hockte auf einem Barhocker, ihr rechter Fuß stand auf einer höheren Strebe als ihr linker, damit sie ihren Ellenbogen auf ihrem Knie abstützen konnte, um umzublättern.

Wie konnte sie so entspannt dasitzen nach alldem, was passiert war? Wenn die Leute, die er schon seit Jahren kannte, und er nahm an, dass auch sie sie kannte, tot waren, vom Orakel zu Tode gefoltert, das wiederum unkontrolliert herumwütete. Oh ja. Genau die richtige Zeit, sich ein Sandwich zu machen.

Wenn ich jetzt den Hocker umstoßen würde, hätte sie keine Zeit, sich aufzurichten, bevor sie mit dem Arsch auf dem Boden landet. Als er das dachte, lächelte er bitter.

„Du fühlst dich schon wie zu Hause, was?“ Er schlenderte hinüber zum Kühlschrank und öffnete ihn. Genervt stellte er fest, dass sie fast alles aufgebraucht hatte bis auf einen winzigen Klecks Mayonnaise. Aber sie hatte das Glas dennoch zugeschraubt und wieder zurück in das Regal gestellt.

Max holte einen Beutel Blut aus dem Gefrierfach und legte ihn in die Mikrowelle. „Und, hast du gut geschlafen?“

Sie sah nicht auf und antwortete: „Du weißt, dass ich nicht mehr als ein paar Stunden auf einmal schlafe.“

„Ach ja.“ Er schnippte mit den Fingern. „So ist das ja mit Hunden. Musst du dich auch dreimal im Kreis drehen, bevor du dich hinlegst?“

Dieses Mal warf sie ihm einen warnenden Blick zu, bevor sie schweigend in ihrem Buch weiterlas.

„Oh, entschuldige bitte, ich wollte deine Lektüre nicht unterbrechen.“ Er stellte die Minuten am Regler der Mikrowelle ein und drehte sich dann wieder zu ihr um. An den Tresen gelehnt fuhr er fort: „Ich kenne eine ziemlich lustige Geschichte. Du musst sagen, wenn du sie schon mal gehört hast. Ein Gebäude, in dem sich viele Vampire befinden, wird durch ein Feuer vernichtet, und alle sterben.“

Sie sah nicht auf. „Du glaubst also, es würde mir nichts ausmachen, was mit der Bewegung geschieht?“

„Genau. Genau das denke ich. Schau mal, du hast bisher nie viel Sympathie für Vampire gezeigt. Genauso wenig wie dein ganzes Volk. Und vielleicht war das, was ich bei dir für Tapferkeit und stoische Ruhe hielt, nur Ignoranz … beziehungsweise es war dir alles einfach nur scheißegal.“

Die Mikrowelle klingelte, und er holte eine angenehm warme Blutkonserve heraus. Um einen Becher einzusparen, biss er in das Plastik und ließ absichtlich ein paar Tropfen Blut sein Kinn herunterrinnen.

Ihre Nasenspitze zuckte aufgrund des kupferartigen Geruchs. Mit einem angeekelten Schnaufen donnerte sie das Sandwich auf den Tisch und schlug ihr Buch zu. „Du bist ein solches Schwein.“

„Und du bist eine Schlampe. Und dennoch sind wir beide hier.“ Er stürzte den Rest aus dem Beutel hinunter, obwohl er eigentlich von vornherein keinen Hunger gehabt hatte, und schmiss ihn auf den Boden. Mit einem lauten Klatsch landete er neben dem Mülleimer.

Bella sah so aus, als müsse sie sich gleich übergeben. Über nichts hätte sich Max mehr gefreut.

Aber es sollte nicht sein. Stattdessen stand sie auf, klemmte sich das Buch unter den Arm und ging zur Tür. Ihre Hand lag schon auf der glatten gedrechselten Holzklinke, als sie sich mit einem Schwung zu ihm umdrehte. Ihre kühle abweisende Fassade hatte einen Riss bekommen, die Haut über ihren hohen Wangenknochen war deutlich errötet.

„Es tut mir leid, dass du nicht akzeptieren kannst, dass ich dich nicht will. Dein Stolz scheint es nicht zuzulassen. Aber schlimmer ist noch, dass du einfach nicht erkennen willst, warum wir nicht zusammen sein konnten.“ Ihre Stimme kippte fast bei dem letzten Wort. „Und es tut mir auch leid, dass du dadurch nicht siehst, in was für einer Situation wir uns eigentlich befinden.“

Max überhörte den letzten Teil geflissentlich. „Ach, bitte. Wenn du glaubst, ich würde mein gebrochenes Herz beweinen, dann brauchst du deine Zeit nicht damit zu verschwenden, mich zu bemitleiden. Es geht um Carrie.“

Bella schnaufte verächtlich, dann wurde sie ruhiger. „Worüber redest du eigentlich?“

„Ich denke, das weißt du sehr gut.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe immer gewusst, dass du dich an ihn heranmachen würdest. Ich hatte schon so ein komisches Gefühl, als ich dich bei ihm gelassen habe. Wie konntest du das tun? Als du gesehen hast, wie schlecht es Carrie ging, wie konntest du nur?“

„Wie konnte ich was tun?“ Bella hob die Hände in der klassischen Unschuldspose. „Ich glaube, du hast jetzt endgültig den Verstand verloren, Vampir.“

„Du kannst aufhören, die Dumme zu spielen! Du weißt genau, was du getan hast. Du warst mit Nathan im Bett!“ Max ging um den Küchentresen herum und stand so dicht vor ihr, dass er seine Hände zu Fäusten ballen musste, um sie nicht anzurühren. Diese Art Nähe war gefährlich. Er könnte seine Beherrschung verlieren und sie schütteln, oder er könnte seinen Kopf verlieren und …

Nein. Du hast das alles schon einmal durchgemacht, und es war schlimm.

„Du glaubst also, ich schlafe mit deinem Vampir-Freund?“

Sie lachte ihn tatsächlich aus, als sei die Vorstellung vollkommen absurd. Bella legte ihre Hände flach auf Max’ Brust und gab ihm einen Schubs. „Du wagst es, mir diesen Vorwurf zu machen, obwohl ich sie gestern Abend überall an dir gerochen habe?“

Autsch. Aber was ich getan habe, spielt hier keine Rolle, ermahnte sich Max. Schließlich redeten sie hier über Bellas Fehlverhalten. „Hör mal zu, was Carrie und ich machen, ist unsere Sache. Aber du wusstest, wie durcheinander sie war, als sie Nathan verließ, und dennoch bist du bei ihm eingezogen, um ihn dir zu angeln. Zu deiner Information: Carrie war wirklich sehr verletzt, als sie das mit euch herausgefunden hat. Sie hätte mit mir schlafen können, um sich abzulenken, aber sie hat es nicht getan!“

„Als sie das mit uns herausgefunden hat?“ Bella schnaufte noch einmal. Max hätte sie schlagen wollen. „Wie hat sie es denn genau herausgefunden?“

Max beschlich das ungute Gefühl, dass hier vielleicht etwas nicht stimmte, dass er und Carrie vielleicht ein wesentliches Indiz für diesen Betrug nicht beachtet hatten. „Keine Ahnung. Als sie ihn anrief, nehme ich an.“

Bella nickte nur.

In der Küche war es so bedrückend still, dass man sogar das Surren der Neonröhren hören konnte. Im Hintergrund tropfte Wasser aus dem Hahn in die Spüle, und die schlichte Stahluhr an der Wand tickte. Sonst hörte man im ganzen Haus keinen Laut.

Also, wo sind Nathan und Carrie jetzt, Superhirn?

In genau diesem Moment begann Bella, selbstgerecht zu grinsen. „Mir tut es leid, dass es für Carrie nur diesen einen Weg gab, sich von ihren Sorgen abzulenken, indem sie unbeholfen mit einem unpassenden Partner herumfummelt.“

Den Rest von ihrem Sandwich warf er nach ihr, als sie aus der Küche ging. Er prallte an der Tür ab.

Als ich die Augen öffnete und sah, dass ich allein im Bett war, schaltete mein Gehirn auf Alarmbereitschaft. Okay, ich wurde panisch.

Du hast dir das alles nur ausgedacht. Es war nur ein Traum.

Es konnte gar nicht sein, dass der Tag zuvor Wirklichkeit gewesen war. Ich konnte die letzten Stunden nicht bequem in Nathans Armen geschlafen haben.

Hektisch schob ich die Decke von mir und war gerade dabei, aufzustehen, um nach ihm auf die Suche zu gehen, als er aus dem Bad kam. Um die Hüften trug er ein Handtuch und in der Hand eine Zahnbürste. Er sah mich an, putzte sich die Zähne, hielt inne, um mir zu bedeuten, ich hätte sie ja nicht alle, und ging dann ins Badezimmer zurück.

Ich ließ mich wieder in die Kissen fallen und lächelte. Die Gardinen waren offen, die Sonne war schon untergegangen, und die Dämmerung brach herein, Nathan hatte die Lampe auf dem Nachttisch eingeschaltet. Als ich meine Augen wieder schloss, schien das sanfte goldene Licht durch meine Lider, und es fühlte sich fast so an, als würde ich mich der Sonne entgegendrehen. Ich fragte mich, ob ich beim Aufwachen jemals so glücklich gewesen war.

Der Wasserhahn wurde angedreht, aber nur sehr kurz, denn wie ich hörte, sollte wirklich jeder sich bemühen, mit den Wasservorräten sorgsam umzugehen. Ich stand auf und ging barfuß über den dicken Teppich hinüber zum Bad. Nathan lehnte über dem Waschbecken und spuckte Zahnpastaschaum aus.

Das ist doch krank, dass du das jetzt gerade sexy findest, sagte ich zu mir selbst.

Ich gähnte und lehnte mich gegen den Türrahmen. „Weißt du eigentlich, warum Vampire ihre Zähne putzen müssen?“

Fragend hob er eine Augenbraue und wischte sich den Mund mit einem kleinen Handtuch ab.

„Damit sie kein Zahnfleischbluten bekommen.“

Während er sich die Hände abtrocknete, sah er mich eine Weile stumm an. „Ich ziehe mein Angebot, dass du zurück nach Hause kommen kannst, zurück.“

Ich schlug ihm leicht auf die Schulter. „Hör mal, geh mit Max heute sanft um, okay?“

Nathan sah mich so enttäuscht an wie ein Kind, dem sein liebstes Spielzeug vom Vater weggenommen wurde. „Warum denn?“

„Weil ich das Gefühl habe, dass er sich wahrscheinlich ziemlich dumm vorkommt. Ich meine, wenn er es herausfindet.“ Ich fuhr mit der Fußsohle über den Teppich.

„Warum? Weil du dir dumm vorkommst?“ Er schüttelte den Kopf. „Traust du mir so wenig zu? Hast du gar kein Vertrauen?“

Statt zu antworten, zog ich eine Augenbraue in die Höhe.

Er verdrehte die Augen. „In Ordnung. Ich werde es ihm nicht allzu schwer machen. Ihr Frauen seid immer so pingelig in solchen Sachen. Und mit Frauen meine ich sowohl dich als auch Max.“

„Raus mit dir“, befahl ich. „Ich werde mir jetzt ein langes schönes Duschbad gönnen und ordentlich Wasser verschwenden.“

Grinsend fragte mich Nathan: „Brauchst du dabei vielleicht Unterstützung?“

„Aber du hast doch schon geduscht“, sagte ich und deutete auf sein Handtuch.

„Ich bin schmutzig genug, um eine zweite Dusche vertragen zu können“, antwortete er und zwinkerte.

Wir hatten bereits herausgefunden, dass die Blutsbande nicht notwendigerweise eine sexuelle Anziehung mit sich brachten. Wo sie aber schon existierte, wurde sie durch die Blutsbande verstärkt. Nun waren wir also wieder auf vertrautem Terrain, daher wunderte es mich nicht, dass Nathan schon wieder in Stimmung war.

„Das bezweifle ich nicht. Aber es gibt wichtigere Dinge, über die wir uns Gedanken machen sollten, als deine Libido.“ Ich schob ihn zur Tür.

Schmollend ging er hinaus. „Toll. Aber warte ab bis morgen früh, dann gibt es Ärger!“

Daran habe ich keinen Zweifel, dachte ich, während sich die grausame Realität wieder in meine Gedanken schlich. Ich bin mir sicher, dass wir bis morgen früh knietief im Ärger stehen werden.

Bella fanden wir im Stockwerk über uns. Ausgestreckt lag sie auf einem Ledersofa in der Diele und las. Obwohl ich jetzt wusste, was wirklich zwischen ihr und Nathan geschehen war, diente ihr Verhalten Max gegenüber nicht dazu, dass ich sie sympathischer fand.

Sie setzte sich auf, schaute von mir zu Nathan und wieder zurück. „Max ist in der Küche.“

Nathan schien den Grund für ihre Zurückhaltung zu spüren. Und weil er so ist, wie er ist, raunte er: „Ich werde ihn töten“, bevor er sich auf den Weg in die Küche machte.

Bella schien nicht im Geringsten so erschrocken, wie Nathan es wahrscheinlich erwartet hatte. Sie hob eine ihrer sorgfältig gezupften Augenbrauen und schaute wieder in ihr Buch. „Bringt er ihn wirklich um?“

„Nein. Ich habe ihm verboten, Max zu ärgern. Allerdings habe ich nie daran gedacht, ihm zu verbieten, dich zu ärgern.“ Ich schob meine Hände in die Taschen meiner Jeans. „Hör mal, es tut mir leid.“

Sie sah auf, offensichtlich war sie ein wenig überrascht. „Was tut dir leid?“

Ich war mir sicher, sie wüsste, worum es ging. Ich deutete mit dem Kopf in Richtung Küche. „Weil … weil ich fast mit Max geschlafen hätte.“

„Ah, verstehe. Dir würde es noch mehr leid tun, wenn du es getan hättest.“ Sie widmete sich wieder ihrer Lektüre.

„Das meine ich gar nicht. Er gehört doch eher … in dein Revier.“ Ich zuckte zusammen, weil ich so ein Hundezüchtervokabular benutzt hatte. „Äh, das hört sich komisch an, also …“

„Max gehört mir nicht, und das will ich auch gar nicht.“ Bella klappte ihr Buch zu und seufzte genervt. „Außerdem möchte ich diese Unterhaltung nicht weiter fortsetzen. Wir haben noch viel vor. Sag den Männern, dass wir uns in fünfzehn Minuten im Esszimmer treffen.“

Ohne ein weiteres Wort ging sie hinaus.

Ich wusste, dass Max sich absolut nicht eingestehen konnte, was er für Bella empfand, aber mir war vorher nicht bewusst gewesen, dass dasselbe auch für sie zutraf. Wenn es nach Max ging, war ihre Affäre zu Ende, aber typisch Max: Er glaubte fest daran, dass sie noch immer mit ihm zusammen sein wollte, auch wenn er so tat, als sei sie ihm gleichgültig.

Vielleicht hatte er recht. Bella wirkte tatsächlich so, als sei sie böse auf ihn. Dasselbe dachte ich, als ich noch glaubte, sie hätte etwas mit Nathan.

In der Küche lehnte Nathan gegen den Tresen und trank einen Becher Blut, während Max wütend die Sauerei neben dem Mülleimer mit einem Wischmopp beseitigte.

„Haben wir denn heute Morgen schon jemanden umgebracht?“ Ich verschränkte die Arme und betrachtete den rosa eingefärbten Putzlappen, mit dem Max jetzt wässrig verdünntes Blut über die glänzenden weißen Kacheln zu verteilen schien.

Nathan schnaubte in seinen Becher hinein. Beim Schlucken verzog er das Gesicht und leckte sich einen Tropfen Blut von der Oberlippe. „Max hat einen Wutanfall gehabt.“

„Du bist in diesem Hause nur zu Gast“, gab Max kurz zurück und wischte hektisch um Nathans Füße herum. „Vergiss das nicht.“

„Und ich bin dir sehr dankbar für deine Gastfreundschaft. Da wir gerade darüber sprechen: Wann darf ich mal fast Sex mit dir haben?“ Nathan nahm noch einen Schluck aus seinem Becher, während Max in sich hineingrummelte.

Ich lächelte, schlug mir jedoch schnell die Hand vor den Mund, als mich Max böse ansah. „Also, Bella möchte mit uns im Esszimmer sprechen.“

„Ich nehme an, sie ist zu beschäftigt, um herzukommen und uns das selbst zu sagen?“ Max warf den Mopp angewidert in eine Ecke. „Vielleicht hat sie ja einen Plan oder eine Idee, aber sie kann nicht so einfach hier einziehen und uns dann herumkommandieren!“

„Ich dachte, es würde dir gar nicht so viel ausmachen, wenn sie hier einzieht!“ Nathan zog den Kopf ein, um nicht von dem Salzstreuer getroffen zu werden, den Max nach ihm warf.

„Mir scheint, damit hat Nathan einen wunden Punkt getroffen.“ Ich ging zum Kühlschrank hinüber und nahm eine Blutkonserve heraus.

Nathan nahm mir den Beutel aus der Hand und gab mir stattdessen seinen Becher, der noch fast voll war. „Ich hatte schon zwei. Nimm meinen.“

Ich stand da und nippte an meinem Becher, während mich Nathan heimlich betrachtete und dazwischen so tat, als würde er seine nackten Füße, die Bodenfliesen, die Töpfe und Pfannen, die in der Küche herumstanden, aufmerksam betrachten. Er wusste, dass ich es nicht leiden konnte, wenn ich bei der Nahrungsaufnahme beobachtet wurde, aber seine gelegentlichen Blicke sorgten dafür, dass ich Schmetterlinge im Bauch bekam.

Max fluchte ununterbrochen, während er die schmutzigen Fliesen mit einer Rolle Küchenpapier und einer absurden Menge Glasreiniger saubermachte. Während die Minuten verstrichen, wurde mir klar, dass niemand von uns scharf darauf war, zu Bellas anberaumtem Treffen zu gehen.

„Was meinst du, worüber werden wir reden?“, fragte ich schließlich.

Meine Stimme hatte die Stille so plötzlich unterbrochen, dass sich Max abrupt aufrichtete und sich dabei den Kopf am Küchentresen stieß.

Trotz seiner Anspannung zuckte Nathan ruhig mit den Schultern. „Sie hat einen Kriegsplan, nehme ich an. Da es die Bewegung so nicht mehr gibt, können wir nicht über die üblichen Wege miteinander kommunizieren und sind nicht mehr in der Lage, von anderen Mitgliedern Informationen zu erhalten. Und ohne die Verbindung zur Bewegung haben wir keine Mittel und Wege, herauszufinden, wo sich das Orakel befindet.“

„Vom Souleater ganz zu schweigen“, fügte ich leise hinzu. Nathan zuckte zusammen, als er den Namen seines Schöpfers hörte. „Er ist immer noch da draußen.“

„Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber ich glaube, es hängt damit zusammen, dass das Orakel verschwunden ist“, fügte Max hinzu, während er sich immer noch den Kopf mit einer Hand hielt.

Als sei der Sauerstoff aus dem Zimmer gewichen, musste ich ebenso tief und geräuschvoll Luft holen wie Nathan, während uns beiden klar wurde, dass die beiden Vampire sehr wahrscheinlich etwas miteinander zu tun hatten.

„Was würde das Orakel vom Souleater wollen?“, antwortete Nathan ernst. „Sie hat Macht, aber sie ist seit Jahrhunderten isoliert gewesen. Stellt euch mal vor, was das für euch bedeuten würde.“

Max nickte zustimmend. „Man verliert hundertprozentig den Kontakt zu all seinen Beziehungen.“

„Und es ist viel einfacher, einen bösen Plan, der bereits besteht, zu vollenden, als einen eigenen aus dem Boden zu stampfen.“ Ich hatte einen Kloß im Hals. „Meine Güte … glaubt ihr, dass …“

Mit zusammengepressten Lippen sah Max erst mich und dann Nathan an, dann landete sein Blick wieder auf mir. „Es wäre praktisch, einen guten Geist in der Tasche zu haben, und noch viel besser, wenn er hier bei uns wäre.“

Die Küchentür flog auf, und Bella schaute mit einem angewiderten Gesichtsausdruck herein. „Ich hatte doch gesagt, in einer Viertelstunde, oder nicht?“

Max warf uns einen genervten Blick zu und machte eine Handbewegung, als wolle er den letzten Funken Leben aus der Werwölfin herauspressen. Jedenfalls sah es für mich so aus.

Wie die anderen Räume in der Wohnung war das Esszimmer riesig und protzig eingerichtet. Ich hatte es nur wenige Male betreten, einmal, als Max mir die Wohnung zeigte, und dann wieder, als ich mich verlaufen und die falsche Tür vom Foyer geöffnet hatte. Max hielt sich kaum in diesem Raum auf. Lieber nahm er die Nahrung in der hellen, aseptischen Küche zu sich, die sich deutlich von diesem mahagonigetäfelten fensterlosen Saal unterschied.

Bella hatte sich an den Kopf der großen Tafel gesetzt. Sie wurde von dem sauberen goldenen Licht eines der beiden Kronleuchter beschienen. Vor sich hatte sie eine Reihe von seltsam aussehenden Objekten aufgebaut. Einige davon kannte ich aus Nathans Buchladen, weil er sie dort verkaufte. Die anderen Sachen, ein Stück dunkles konkaves Glas, das auf einem Ständer aus Eisen ruhte, einige Dinge, die aussahen wie Reste von getrockneten Hühnerknochen, kamen mir völlig unbekannt vor.

Max setzte sich auf den Stuhl links von ihr und deutete auf den Haufen Knochen. „Abendessen?“

Nathan zog rechts von Bella einen Stuhl für mich heran und setzte sich zwischen uns.

Obwohl sie seinen Kommentar gehört haben musste, tat Bella Max nicht den Gefallen, ihm zu antworten. „Ich habe den ganzen Tag mühsam daran gearbeitet, irgendwie Kontakt zu meinen Kollegen, den Vampirjägern, herzustellen. Leider ist das ganze Kontingent an Werwölfen aus Spanien geflohen, um in die Wälder unserer Vorfahren zurückzukehren. Und ich kenne nur sehr wenige Vampire.“

„Na, das überrascht mich jetzt aber“, sagte Max leise zu sich.

„Ich möchte euch nicht verunsichern“, Bella drehte sich in ihrem Stuhl zu Nathan und mir um. „… aber ich habe das Gefühl, dass wir dem Orakel gegenüber in vielerlei Hinsicht im Nachteil sind. Und ich fürchte, dass …“

„Dass es den Souleater sucht?“ Ich stellte die Frage, ohne nachzudenken.

Sie nickte mit ernstem Gesicht und fuhr fort: „Ich habe mich in der mickrigen Bibliothek umgesehen, die Max hier hat …“

Ich schaute ihn kurz an, weil ich mir sicher war, dass er wegen dieser Bemerkung sofort explodieren würde. Die „mickrige“ Bibliothek hatte Marcus gehört, und Max nahm jeden Angriff gegen ihn, ob er nun absichtlich oder aus Versehen geäußert wurde, extrem ernst. Aber er zeigte keine Regung und lehnte mit verschränkten Armen in seinem Stuhl.

Ohne zu bemerken, dass sie Max beleidigt hatte, fuhr Bella fort: „Wie es scheint, ist die Kommunikation der Bewegung schon einmal zusammengebrochen, und zwar in Frankreich während der Besetzung durch die Nazis. Eine Handvoll Vampirjäger sah sich nicht in der Lage, die Zentrale zu erreichen oder den Spuren der Jäger zu folgen. Sie wandten sich an die Weissagung, um die Kommunikation wiederherzustellen und die Aufenthaltsorte ihrer Kollegen herauszufinden.

Obwohl es in unserem Fall unrealistisch ist, zu versuchen, mit der Bewegung in Kontakt zu treten, könnten wir sicherlich diese Wege nutzen, um ausfindig zu machen, wo sich das Orakel befindet und was es nun vorhat, da es in Freiheit ist.“

„Oder Nathan könnte uns dabei helfen.“ Max’ Stimme klang sehr laut, und wir drehten uns alle erschrocken zu ihm um, als er fortfuhr: „Zwischen ihm und dem Souleater bestehen Blutsbande. Falls der Souleater wirklich mit dem Orakel zusammenarbeitet, dann könnte Nathan es herausbekommen.“

Allein die Vorstellung, dass Nathan wieder Kontakt zu seinem Schöpfer aufnehmen sollte, der ihn gequält und misshandelt hatte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. „Nein!“

Meine Ablehnung fand bei Bella Zustimmung. „Nathan war schon einmal von seinem Erschaffer besessen, und ich musste ihn von seinem Fluch befreien. Aber ich kann nicht dafür garantieren, dass ich das ein zweites Mal schaffen würde.“

„Sie hat recht“, stimmte ich ihr vehement zu. „Nathan, du darfst noch nicht einmal darüber nachdenken, so etwas zu tun! Er würde dich innerhalb einer Sekunde aufspüren.“

Neben mir trommelte Nathan mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. „Ich glaube, du hast recht. Wir versuchen es erst einmal so, wie Bella es vorgeschlagen hat.“

Max schnaubte. „Hört mal zu. Ich will jetzt die einzelnen Lösungen, über die ihr gesprochen habt, nicht kleinreden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich der optimale Weg ist, das Orakel zu finden und herauszubekommen, was es vorhat.“

„Was wäre denn für dich der effizienteste Weg?“, fragte Bella. „Durch die Welt ziehen und an jede Tür klopfen, um zu fragen, ob sich das Orakel zufällig im Haus befindet?“

Max wandte sich an Nathan und mich und verdrehte die Augen. „Hört mal zu. Glaubt ihr denn wirklich, dass das die beste Lösung ist, auf die wir kommen können? Kartenlegen und eine Kristallkugel befragen?“

Auch wenn mich das Gefühl überkam, ich würde ihn hintergehen, wusste ich, dass wir nicht viele Möglichkeiten hatten. Hilflos hob ich die Hände. „Na, es kann ja nicht schaden, es auszuprobieren. Wenn die Bewegung nicht mehr existiert, dann dauert es nicht mehr lange, bis jeder Vampir, der nicht in der Bewegung war oder ist, das herausgefunden hat, und dann haben wir richtigen Stress.“

„Und das verhindern wir also mit unseren super esoterischen New-Age-Methoden?“ Er schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, ich glaube einfach, da sind wir auf dem falschen Weg.“

Nathan verzog das Gesicht, als passte ihm die Rolle nicht, hier den Schlichter zu spielen. „Hört mal, Bella ist es nicht gelungen, irgendjemanden zu erreichen. Ich bin aus der Bewegung seit zwei Jahren draußen, ich weiß also nicht mehr, wo die einzelnen Mitglieder geblieben sind. Ich habe weder Adressen noch Telefonnummern. Vielleicht schafft man es, noch jemanden aufzuspüren, aber wie sollen wir das Orakel finden? Wir haben gute Beweise, dass dieser Ansatz schon einmal funktioniert hat. Warum probieren wir es nicht erst einmal aus, bevor wir alle wirklich am Arsch sind?“

„Max, du bist doch immer noch ein Mitglied der Bewegung. Du müsstest doch so etwas wie ein Verzeichnis der Firmennummern haben, oder?“ Ich hoffte, dass ich recht hatte, denn den Anblick dieser Hühnerknochen mochte ich ebenso wenig leiden wie er.

Max schüttelte den Kopf. „Die Bewegung hat es sich zur Regel gemacht, niemals die Identität seiner Mitglieder zu enthüllen, noch nicht einmal anderen Vampirjägern gegenüber.“

„Alle Vampirmörder, die einander kannten, so wie Max und ich, haben immer außerhalb der Bewegung Kontakt zueinander gesucht.“ Nathan schaute Max kurz an. „Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich ihn jemals angesprochen habe.“

„Diese Regelung galt aber nur für Vampire“, warf Bella ein. „Die Werwölfe, die für die Bewegung gearbeitet haben, stammen alle aus demselben Rudel. Bei euch würde man das Verwandtschaft nennen, na, vielleicht eher entfernte Verwandtschaft. Wir haben einen Ehrenkodex und bestimmte Maßnahmen, die ergriffen werden, wenn jemand ihn bricht. Aber Vampire … stellt euch mal vor, ein Vampir findet heraus, wie er an alle Vampirjäger kommt? Und dann stellen diese Vampire fest, dass sich eine Kreatur wie der Souleater direkt in ihrer Mitte befindet?“

„Also haben sie euch die Orte und zum Teil auch ihre eigene Identität verschwiegen, damit niemand diese Informationen aus euch durch Folter herausholen kann?“ Ich sah Nathan an, ob ich mit der Vermutung richtig lag.

„Oder sie wurde an denjenigen, der am meisten bot, verkauft.“ Er deutete auf Max. „Max und ich haben uns kennengelernt, als wir einen gemeinsamen Auftrag erhielten. Aber wenn wir uns nicht einig gewesen wären, dass es praktisch ist, einen Vampirjäger zu kennen, der in der Nähe lebt – jedenfalls relativ in der Nähe –, dann hätten wir nicht unsere Eckdaten ausgetauscht und den Kontakt zueinander abgebrochen.“

„Aber was war denn mit euren Treffen? Du hattest doch Dutzende von Auftragsmördern der Bewegung in deinem Buchladen?“ Mich schüttelte es bei dem Gedanken, dass uns jemand nach so einem Treffen nachstellte, während wir oben friedlich in der Wohnung lebten.

„Das war ein Sondereinsatzkommando, das Rachel selbst zusammengestellt hatte. Sie kannten mich schon und wussten, wo sie mich finden konnten. Und ich vertraute ihnen allen aus einem bestimmten Grund.“ Nathan legte eine Hand auf mein Knie, um seinen letzten Satz zu unterstreichen.

„Nathan war nie so geheimniskrämerisch wie die meisten von uns.“ Die Art und Weise, wie Max das sagte, legte nahe, dass er Nathan für einen Idioten hielt, der nicht vorsichtig genug war und jedem vorschnell über den Weg traute. „Aber ich habe tatsächlich einen Blutspender in der Stadt, der ziemlich aktiv ist. Vielleicht kann er mir mit einigen Kontakten weiterhelfen.“

„Aber trotzdem wären wir immer noch, um Nathan zu zitieren, ganz schön ‚am Arsch‘“, stellte Bella trocken fest. „Von uns Vieren bin ich diejenige, die sich am besten mit dem Okkultismus auskennt. Aber eine echte Prophezeiung ist mir immer versagt geblieben. Ich kann mir vielleicht einige Hinweise zusammenreimen, aber ich werde nicht sagen können, ob sie auf unsere Situation zutreffen oder nicht. Hat jemand von euch schon mal so etwas gemacht?“

„Ich besitze einen Buchladen für Okkultismus und Zubehör“, erinnerte Nathan sie mit einer herzlich deutlichen Ironie. „Tarotkarten habe ich schon mal in der Hand gehabt.“

„Ah, das ist gut.“ Bellas Gesichtsausdruck hellte sich auf. Sie griff nach einer Schachtel Karten und breitete sie auf dem Tisch vor ihm aus. „Das kannst du übernehmen. Und weil er gesagt hat, dass er uns nicht helfen will, kann Max versuchen, über seinen Blutspender noch andere Vampirjäger zu erreichen.“

„Und was mache ich?“ Ich betrachtete den Haufen Hühnerknochen auf dem Tisch. Ich wollte auch etwas übernehmen, aber vielleicht nicht so etwas. „Ich lerne schnell. Was kann ich tun?“

Bella betrachtete die verschiedenen Objekte vor sich auf dem Tisch und schob mir ein Schmuckkästchen herüber.

Als ich es öffnete, sah ich einen schmalen Kristall, der an einem dünnen Kettchen hing.

„Ein Pendel“, erklärte Bella mir. „Nathan, kannst du ihr zeigen, wie es geht? Ich dachte, vielleicht können wir mit dem Pendel den Ort herausfinden, an dem sich das Orakel aufhält. Versucht es doch mit einem Atlas.“

„Ich bin sicher, sie findet es schnell heraus.“ Er zwinkerte mir zu.

„Gut, wir sollten darauf achten, dass wir die Ergebnisse festhalten.“ Sie hörte sich an wie einer meiner Professoren, die einem erklären, wie man sich richtig bei Laborversuchen verhält. „Solange wir nichts Genaues wissen, müssen wir jede Kleinigkeit im Auge behalten.“

Bella griff nach einem Fläschchen, das, so sah es jedenfalls aus, mit Tinte gefüllt war. Vorsichtig schraubte sie es auf und goss die Flüssigkeit in die Kugelvase aus Glas, nachdem sie sie aus ihrer Eisenhalterung genommen hatte. Ein paarmal schwenkte sie das Glas hin und her. Dann nahm sie ein Feuerzeug und zündete das Kohlestückchen an, das zu ihrer linken auf einem kleinen Kessel lag.

„Und, können wir jetzt gehen?“, fragte Max. Sein sarkastischer Unterton war nicht zu überhören.

Da Bella darin vertieft war, ein übel riechendes Pulver auf die Kohle zu streuen, sah sie nicht auf. „Ja, natürlich. Wir müssen uns sofort an die Arbeit machen.“

Max wartete zumindest, bis wir im Foyer waren, dann explodierte er. „Das ist ja wohl nicht wahr! Erst kommt sie in mein Haus, dann verteilt sie an uns Aufträge, erklärt sich selbst zum Albert Einstein des Okkultismus, verdammt noch mal, und dann verpestet sie mein Esszimmer mit … was war das denn eigentlich?“

„Gartengeißblatt und Kampfer“, antwortete Nathan. „Das sind Ingredienzen, die bei einer Weissagung helfen. Aber sie riechen besser, wenn sie frisch sind, als wenn sie verbrannt werden.“

„Du machst Witze!“ Max war knallrot angelaufen. Ein ziemlich interessanter Farbton, fand ich. „Hört mal zu. Sie muss hier weg. Es ist mir komplett gleichgültig, wohin sie verschwindet, aber sie muss dieses Haus verlassen.“

Auch ein wirklich beschränkter Mensch konnte erkennen, dass Max’ Problem weder Tarotkarten noch Weihrauch waren. Dennoch musste ich vorsichtig mit ihm umgehen. Wann immer ich ihn auf seine Gefühle zu Bella ansprach, hatte das zur Folge, dass Max das Gespräch abbrach, davonrannte und nichts geklärt war. „Ich weiß, dass es dir schwerfällt, sie hier zu haben, aber was ist mit uns? Wir wären drei gegen das Orakel. Und vielleicht haben wir auch noch den Souleater gegen uns!“

Er antwortete nicht, aber ich konnte sehen, dass der Muskel an seinem Mundwinkel zuckte. Ihm gefiel nicht, was ich gerade gesagt hatte, aber genauso gut wusste er, dass er mir recht geben musste.

„Bella hat uns gegenüber einen großen Vorteil“, fügte Nathan hinzu. „Sie kann auch bei Tageslicht hinausgehen. Dafür brauchen wir sie, mindestens.“

So, wie Max zwischen Nathan und mir hin- und hersah, war klar, dass er verstanden hatte, worauf wir hinauswollten. Nur wollte er nicht zugeben, dass wir recht hatten. Er stöhnte und hob die Hände. „Okay. Aber ihr zwei zahlt für das Raumspray, wenn sie da drinnen mit ihrem Zeug fertig ist.“

Nathan lachte auf. „Einverstanden. Und? Wo können wir jetzt arbeiten?“

„In der Bibliothek. Oder im Salon. Oder in einem meiner tollen Gästezimmer. Oben oder hier unten.“ Max zuckte mit den Schultern. „Geht in den Whirlpool, ist mir alles gleich.“

Ich spürte, wie mir eine heiße Welle den Nacken hinablief, als ich Nathans anzügliches Grinsen sah. „Das ist vielleicht keine so gute Idee, aber danke. Ich denke, wir gehen in die Bibliothek“, antwortete ich Max.

„Tu mir einen Gefallen, und sorg dafür, dass sie da nicht hineingeht. Da die Bibliothek ja so ‚mickrig‘ ist, wird sie sowieso schon alle Bücher gelesen haben“, sagte Max gereizt. „Ich bin oben und versuche, etwas aus Bill herauszubekommen.“

„Wir hätten es im Whirlpool machen können“, nörgelte Nathan, während ich in Richtung Bibliothek vorausging. „Das wäre bestimmt lustiger gewesen, als sich hier mit diesem Prophezeiungskram zu beschäftigen.“

Mit einem Blick machte ich Nathan klar, dass „dieser Prophezeiungskram“ alles sein würde, mit dem wir uns beschäftigten.

Die Bibliothek, die bei Weitem der größte und beeindruckendste Raum in dieser Eigentumswohnung war, lag nach vorne zur Straße hinaus. Sie ging über zwei Stockwerke, und die Decke war auf identischer Höhe mit der zweiten Etage. Bücher befanden sich vom Boden bis zur Decke, und gusseiserne Wendeltreppen führten zur Galerie hinauf, die drei der vier Wände säumte, wo sich eine zweite Ebene für die Bücher befand. Ich fragte mich, wie viele private Bibliotheken Bella schon gesehen hatte und wie sie ausgesehen haben mussten, um diese hier als mickrig bezeichnen zu können.

Nathan pfiff anerkennend und legte die Karten auf einen der Lederstühle, die sich neben dem imposanten Kamin befanden. Beeindruckt strich er durch seine Haare, während er sich um die eigene Achse drehte. „Gar nicht mal so übel.“

„Ich hätte ja angeboten, dich mit Max eine Weile allein zu lassen, aber ich wollte lieber nicht wissen, worauf das hinausgelaufen wäre.“ Ich schob ihn zu der gegenüberliegenden Wand. Die riesigen Fenster gingen hinaus auf den Grant Park, und dahinter ahnte man das Ufer des Lake Michigan. Ich zeigte auf das Aquarium, das man am Rand des Parks erkennen konnte. „Max hat seine Beziehungen, und wir durften einmal nach Kassenschluss hineingehen.“

„Haben da nicht schon alle Fische geschlafen?“, neckte mich Nathan. Er stand ruhig neben mir und ließ die Lichter der Stadt auf sich wirken. Dann drehte er sich zu mir um. „Du … du magst ihn doch nicht etwa, oder?“

„Nein, natürlich nicht.“ Ich unterdrückte den Wunsch, ein du Idiot hinterherzuschicken. „Jedenfalls nicht so, wie du denkst.“

Er lächelte. Wahrscheinlich hatte er für sich selbst das du Idiot hinzugefügt. „Tut mir leid. Ich weiß, dass es dumm von mir ist, so etwas zu denken. Aber weißt du … er kommt daher, hat ein riesiges Haus in einer Metropole, er ist jung …“

„Du bist jung“, erinnerte ich ihn. „Jedenfalls siehst du jung aus.“

Obwohl er normalerweise sehr blass war, wurde er ein wenig rot. „Das weiß ich. Aber mittlerweile lebe ich schon seit hundert Jahren, und allmählich fange ich an, mich auch meinem Alter gemäß zu verhalten.“

Fange an, mich meinem Alter gemäß zu verhalten? „Bei allem, was recht ist, Max ist um die Fünfzig.“

„Max ist ein Teenager, egal, wie alt er ist.“ Nathan betrachtete die Straße unter uns. Seine Augen waren grau, irgendwie kühl. „Ich kann verstehen, warum du hergekommen bist. Du wolltest mit jemandem zusammen sein, mit dem du dich identifizieren kannst.“

„Was ich will, ist jemand, der mich liebt.“ Ich betrachtete ihn aufmerksam, um mir keine seiner Reaktionen entgehen zu lassen. „Jemanden, der mich so lieben kann wie ich ihn. Aber danach habe ich nicht gesucht, als ich nach Chicago fuhr.“

Nathan hob eine Hand, als wollte er mich berühren. Ich wehrte sie ab und deutete auf den Kamin. „Wir müssen noch was erledigen.“

Nathan brachte mir bei, wie man mit einem Pendel umgeht. Zuerst zeigte er mir, wie man die Kette absolut still über einem Buch hielt, damit der Kristall ruhig hing. Ich stellte zwei Fragen. Die erste lautete: „Ist dies ein Buch?“ Das Pendel kreiste eng im Uhrzeigersinn. Die zweite Frage lautete: „Ist dies ein toter Fisch?“ und brachte weite Kreise in der Gegenrichtung hervor.

„Mehr ist da eigentlich nicht dran“, erklärte mir Nathan. „Im Uhrzeigersinn bedeutet ja, in die andere Richtung bedeutet nein. Jedenfalls für dich. Es ist bei jeder Person verschieden.“

Es war viel leichter, als Bella es hatte klingen lassen. Entweder hatte sie ein Talent dafür, die Dinge komplizierter zu machen, als sie waren, oder sie hatte meine Intelligenz unterschätzt. Wahrscheinlich Letzteres, da Werwölfe die Intelligenz anderer Lebewesen meistens geringer als ihre eigene einschätzten.

Ich suchte mir einen Atlas und ließ das Pendel über die verschiedenen Kontinente kreisen, indem ich wieder und wieder fragte: „Ist das Orakel hier?“ Derweil legte Nathan die Karten ständig von Neuem in komplizierte Folgen. Sobald ich herausgefunden hatte, dass das Orakel in Nordamerika zu finden sei, suchte ich mir andere Landkarten und ging systematisch Bundesstaat für Bundesstaat oder Provinz für Provinz durch. Manchmal schwang das Pendel stark aus, dann musste ich es wieder ausrichten und mit dem betreffenden Staat von vorn beginnen. Manchmal bekam ich dann eine anders lautende Antwort. Jedes Mal, wenn das Pendel mir mit einem „Ja“ antwortete, schrieb ich den Staat auf. Obwohl das Orakel nicht in all diesen Staaten gleichzeitig sein konnte, hatte Bella uns ja aufgetragen, jedes Ergebnis zu notieren. Schließlich sollte sie sich dann um die letzten Details kümmern.

Wir hatten ungefähr eine Stunde lang still vor uns hingearbeitet, als Nathan aufsah und mich mit gerunzelter Stirn ansprach: „Hast du das auch gehört?“

Jetzt, wo er es erwähnte, hörte ich auch etwas. Alle paar Minuten hörten wir ein Geräusch, das aus der Bibliothek über uns kam.

Langsam erhob ich mich und betrachtete die Wände. Das Geräusch wurde lauter und heftiger, bis irgendwann der Kristalllüster, der über uns hing, anfing zu schwanken und zu klirren. „Das hört sich an, als käme das aus …“

„Aus dem Esszimmer“, sagte Nathan, sprang auf und rannte zur Tür. Wir liefen gerade die Treppen in die obere Eingangshalle hinauf, als Max uns aus der dritten Etage entgegenkam. „Was zur Hölle ist das?“

Nathan antwortete nicht, sondern lief zu den Türen, die ins Esszimmer führten.

Bevor er sie öffnen konnte, flogen sie nach außen auf, als hätte eine kräftige Windböe sie aufgestoßen. Aber im Esszimmer gab es noch nicht einmal Fenster, also musste die Kraft aus einer übernatürlichen Quelle stammen. Nathan fiel hinten über, und ich musste ihm helfen, wieder aufzustehen.

„Verdammte Scheiße!“, flüsterte Max mit weit aufgerissenen Augen.

Ich folgte seinem Blick durch die geöffneten Türen. Bella hing leblos in der Luft, als wäre sie an einem unsichtbaren Kruzifix befestigt. Ein gespenstischer Wind wirbelte um ihren Körper herum, und die verschiedenen Dinge, die sie zuvor auf dem Tisch ausgebreitet hatte, flogen in dem Wirbel umher wie in einem Wasserstrudel. Es wirkte so, als drehten sie sich um Bella wie in einem Mobile. Beinah sah alles aus wie ein fröhliches Spielchen: Alles wogte und bebte, nur gelegentlich wurde ein Hühnerknochen aus seiner Bahn geworfen und zerschellte an einer der Zimmerwände.

Bellas Kopf, der zunächst wie tot und schwer auf ihrer Brust gelegen hatte, schnellte hoch. Ihre Augen, die normalerweise außerordentlich goldfarben schienen, waren blutunterlaufen, ihre olivfarbene Haut war blass und die Lippen blau wie bei einer Leiche. Während wir drei sie anstarrten, entweder zu Tode erschrocken oder ungläubig oder gar beides, begannen Bellas Lippen sich zu bewegen.

Aber die Stimme, die aus ihrem Mund kam, war nicht Bellas.

Es war die des Orakels.

4. KAPITEL

Das Orakel

„Ihr habt nach mir gesucht, und nun habt ihr mich gefunden, Kinder.“

Die Stimme, die ich außerhalb meines Kopfes erst ein einziges Mal gehört hatte, sorgte dafür, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Sogar als das Orakel unter der Kontrolle der Bewegung gewesen war und unter starken Beruhigungsmitteln gestanden hatte, war es dazu in der Lage gewesen, Anne umzubringen, eine von Max’ wenigen Freunden in der Zentrale. Und mir hatte es fast das Genick gebrochen. Wenn es von dem Ort aus, an dem es sich befand, Bella etwas antun konnte, dann waren auch wir in Gefahr.

Nathan griff nach mir und schob mich hinter seinen Rücken, als könne er mich vor ihrer Wut beschützen.

Bellas Kopf drehte sich zu uns, und ihre blutunterlaufenen Augen fixierten Nathan: „Beweg dich nicht noch einmal.“

„Tu, was sie sagt, Nathan“, riet Max, „sie bringt dich sonst um.“

Bellas Augen blickten Max an. „Ich kenne dich.“

„Ja, du kennst mich. Und du befindest dich gerade in dem Körper einer Freundin von mir.“ Max machte einen Schritt auf sie zu. „Und du wirst diesen Körper verlassen müssen.“

„Du hast Angst vor mir, Vampir?“ Bellas Kopf sank auf ihre Brust zurück, schnellte aber einen Augenblick später wieder hoch. „Über dich habe ich im Moment keine Macht. Jeder Schaden, den du mir in dieser Form antun willst, wird nur sie treffen.“

„Wenn du keine Macht hast, wieso bist du dann hier?“, fragte ich und bemühte mich, vernünftig zu klingen. Sie hatte zwar schon einmal versucht, mich umzubringen, mir damals aber auch wichtige Informationen gegeben, wie ich Cyrus finden konnte. Es war also unwahrscheinlich, dass sie auf diese dramatische Weise Kontakt mit uns aufnahm, nur um uns anschließend umzubringen.

„Hört mir gut zu, Vampire. Die Zeit eurer Herrschaft geht nun zu Ende. Diejenigen, die sich dem widersetzen, werden getötet. Diejenigen, die gehorchen, werden verschont bleiben. Das Chaos wird regieren, die Ordnung wird vernichtet werden. Stellt euch mir nicht in den Weg, dann werdet ihr am Leben bleiben.“ Bellas Arm bewegte sich. Es schien, als verliere das Orakel die Macht über ihren Körper.

„Was ist, wenn wir dir helfen?“ Nathan ging einen Schritt vorwärts. „Wenn wir dich nicht aufhalten, werden wir überleben. Aber wenn wir dir helfen, was ist dann? Wirst du uns aufnehmen?“

Wir hörten ein lautes Lachen, aber es stammte nicht von Bella. Ihr Kopf fiel wieder nach vorn, ihr Körper sank in sich zusammen. „Ihr wollt mir helfen?“

„Das ist besser, als zu sterben.“ Nathan zuckte mit den Schultern, als sei ihm beides gleichgültig. „Jedenfalls ist es besser, als zu versuchen, gegen dich zu kämpfen.“

„Dieser Pfad wird in den Tod führen“, warnte uns das Orakel. Seine Stimme, die nun keinen Körper mehr hatte, durch den sie erklang, erschütterte die Wände des Esszimmers. „Wenn ihr mein Wohlwollen wünscht, dann gebt es auf, das Pfand erlangen zu wollen, das ich brauche, um meine Ordnung herzustellen.“

„Den Souleater?“, flüsterte Max, als könnte sie uns nicht hören.

„Er trägt viele Namen. Gebt auf, ihn zu verfolgen, dann werdet ihr meiner Gnade sicher sein.“ Ein schrecklicher Krach ließ die Wände noch einmal erzittern. „Stellt euch meinen Plänen in den Weg, und ihr werdet meinen Zorn spüren!“

Wieder wehte ein heftiger Wind, dieses Mal schien er aus allen Richtungen zu kommen und in das Esszimmer hineinzuwehen, während uns die Präsenz des Orakels verließ. Die Türen knallten zu und schlossen uns aus, gerade in dem Moment, als Bellas Körper zu Boden fiel. Wir hörten ihn auf dem Teppich aufschlagen, und Max rannte zur Tür.

Als er die Klinke hinunterdrückte, fluchte er. „Sie geht nicht auf!“

„Sie muss den Souleater gemeint haben.“ Nathan beeilte sich, Max zu helfen, aber typisch Nathan, er war schon wieder woanders mit seinen Gedanken. „Als du seinen Namen sagtest, hat sie ihn nicht verleugnet.“

Max antwortete nicht, sondern zerrte weiter an der Türklinke, bis das Holz darum herum anfing zu splittern. „Nun komm schon!“

„Lasst es uns durch die Küche versuchen“, drängte ich, aber sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, ließen sich die Türen leicht öffnen. Nathan stolperte rückwärts und landete fluchend auf dem Marmorboden. Max, der offensichtlich darauf vorbereitet war, dass sie aufgingen, schaffte es, sich auf den Füßen zu halten. Er rannte ins Esszimmer und rief Bellas Namen.

Ich half Nathan aufzustehen und lief dann Max hinterher. „Beweg sie nicht! Vielleicht hat sie sich beim Fallen das Genick gebrochen.“

Aber es war zu spät. Max hatte Bella schon angehoben und auf seinen Schoß gezogen. Er schlug ihr leicht auf die Wangen. „Bella, komm schon! Wach auf!“ Er sah mich an. „Carrie, sie atmet nicht mehr!“

„Leg sie wieder hin!“ Ich griff nach ihrem Handgelenk, während Max sie vorsichtig zurück auf den Boden gleiten ließ. „Kein Puls!“

„Nun tu doch etwas!“ Er schlug sich mit den Fäusten auf die Oberschenkel. „Du musst ihr doch irgendwie helfen können!“

„Kannst du wiederbeleben?“, fragte ich ihn und überdehnte Bellas Nacken.

Max schüttelte den Kopf. „Ich kenne es nur aus Filmen. Sag mir, was ich machen soll.“

„Kneif ihr die Nase zu und atme ihr in den Mund, wenn ich es dir sage. Ich mache die Herzmassage.“ Ich drehte mich zu Nathan um. „Ruf den Krankenwagen.“

„Nein!“ Max schüttelte den Kopf. „Morgen ist Vollmond. Sie wird sich verwandeln, während sie vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln im Krankenhaus liegt.“

„Nathan, hol das Telefon.“ Ich sah Max an, der mich ängstlich anstarrte. „Wenn wir sie beim zweiten Versuch nicht zurückgeholt haben, dann rufen wir einen Krankenwagen.“

Max nickte grimmig.

Ich habe es immer gehasst, eine Herz-Lungen-Massage vorzunehmen. Meistens musste ich sie in der Notaufnahme bei Patienten anwenden, die über siebzig waren und einen Herzstillstand erlitten hatten. Und oft waren ihre Rippen durch das Alter so brüchig, dass sie unter meinen Händen knackten wie Hähnchenknochen.

Aber Bella war recht kräftig. Vielleicht lag es daran, dass sie jünger oder eine Werwölfin war – ich wusste es nicht. Jedenfalls führte ich die ersten Bewegungen der Herzmassage aus, ohne ihr die Knochen zu brechen. „Jetzt atmen!“

Max zögerte keine Sekunde. Bellas Brustkorb hob sich durch den eintretenden Sauerstoff, aber als Max sich aufrichtete, fiel ihr Oberkörper wieder zusammen.

Noch einmal fühlte ich ihren Puls – immer noch nichts – und fing noch einmal an, ihren Brustkorb zu bearbeiten.

Wenn die Herzmassage abebbt, verlangsamt sich die Blutzirkulation im Herzen. Auch wenn man den Vorgang wiederholt, beeinflusst das nicht die Geschwindigkeit der Zirkulation. Es ist so, als wenn man einen Wagen auf hundert beschleunigt, dann auf siebzig abbremst, dann wieder auf achtzig beschleunigt und schließlich auf fünfzig zurückfällt. Bellas Fingernägel zeigten die ersten Signale einer Zyanose. Blau war unter diesen Umständen noch nie eine vielversprechende Farbe gewesen.

Aber wir hatten Glück, wir mussten keinen Rettungsdienst rufen. Als Max dieses Mal in ihren Mund ausatmete, zuckte ihr Körper, und hustend erwachte sie wieder zum Leben, während sie keuchend und hechelnd nach Luft rang.

„Bella, alles ist in Ordnung, ganz ruhig“, versicherte ich ihr und fühlte noch einmal ihren Puls. Wenn auch sehr langsam, schlug ihr Herz gleichmäßig und kräftig. Vor Erleichterung hätte ich fast angefangen zu weinen.

„Ganz ruhig, Baby“, unterstützte mich Max und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. „Ganz ruhig. Alles ist okay. Dir ist nichts passiert.“

Sie öffnete und schloss den Mund, dann übergab sie sich in einem Schwall. Offensichtlich ging es ihr danach besser, dennoch machte sie erschöpft die Augen zu und ließ sich wieder auf den Boden fallen.

„Wir tragen sie ins Bett“, sagte Max und hob sie hoch.

Bella öffnete die Augen ein wenig und lachte leise. „Du versuchst es doch immer wieder, mich ins Bett zu kriegen, Vampir.“

„Genauso ist es.“ Wenn Bella nicht wieder die Augen geschlossen hätte, wäre ihr die Erleichterung, aber auch die Traurigkeit, die Max im Gesicht stand, nicht entgangen. Auch wenn er verzweifelt versuchte, seine Gefühle nicht zu zeigen, waren sie ihm deutlich anzusehen.

„Du passt auf sie auf. Ich sage Nathan Bescheid, dass er den Rettungswagen nicht zu rufen braucht“, bot ich an, während er mit ihr in die Eingangshalle ging. Sie mussten eine Weile allein sein. Wenn die beiden nach dieser Episode nicht in der Lage sein würden, vernünftig miteinander zu reden, ohne sich anzugiften, dann wusste ich auch nicht weiter.

Nathan war in der Küche. Über den Küchentresen gebeugt hielt er den Telefonhörer in der Hand. Als er aufsah, waren seine Augen rot. „Ist sie …“

„Ihr geht es gut.“ Ich zog einen Barhocker zu ihm heran und setzte mich. „Sie ist ziemlich erledigt, aber es geht ihr gut. Bei dir bin ich mir allerdings nicht so sicher …“

Nathan schniefte und versuchte, seine Stimmung mit einem Lachen zu überspielen. „Ach, mir geht es gut. Meine Nerven sind nur etwas mitgenommen, das ist alles.“

Weil sie besessen gewesen ist.

Da er sich den Ärmel seines Pullovers hochgeschoben hatte, fiel mein Blick auf seinen Arm. Auch wenn Vampire schnell genesen, waren die Wunden, die er sich unter dem Einfluss des Souleaters selbst zugefügt hatte, nicht richtig verheilt.

Ich rutschte vom Hocker, ging zu ihm und schlang meine Arme um ihn. „Es beunruhigt dich immer noch.“

„Verdammt richtig, es macht mich nervös!“, gab er kurz zurück, stieß sich vom Küchentresen ab und schritt aufgebracht ans andere Ende der Küche. „Verdammt, Carrie! Sie hat uns gefunden! Sie hätte Bella fast umgebracht!“ Sofort blickte er schuldbewusst zu Boden. „Sie hätte sich auch dich aussuchen können. Sie hätte das alles dir antun können.“

„Nathan“, flüsterte ich, während mir das Herz bis zum Hals schlug. „Sie hat mich aber nicht ausgewählt. Sie hat Bella angegriffen. Seitdem ich dich kenne, hat es nie einen Zeitpunkt gegeben, an dem wir nicht in Gefahr gewesen sind. Warum macht es dir jetzt so viel aus?“

„Weil jetzt …“ Er ballte seine Hände zu Fäusten und sah weg. „Es ist einfach etwas anderes.“

Weil du mich jetzt liebst, ergänzte ich durch die Blutsbande. Er schüttelte den Kopf. Dass er es verleugnete, erschütterte mich nicht so wie früher. „Du liebst mich und hast Angst, dass du mich verlieren könntest.“

Er wandte den Kopf und wechselte das Thema. „Wir müssen die Sache selbst in die Hand nehmen. Wir können nicht davon ausgehen, dass außer uns noch jemand mitbekommen hat, was geschehen ist. Falls wir die Einzigen sind und noch länger abwarten … Ich mag an die Konsequenzen gar nicht denken.“

Nathan hatte recht. Ich wollte es nicht zugeben, aber er hatte recht. „Was sollen wir tun?“

„Heute Nacht? Nichts mehr. Das bringt nichts. Aber morgen Abend treffen wir uns wieder und stellen einen Plan auf. Er muss konkret sein. Er muss …“

„Blutig und gewalttätig sein?“ Die Wut, die ich durch die Blutsbande spürte, war riesig. Fast bekam ich Angst. „Weißt du, wir haben bessere Chancen, wenn wir versuchen, unsere persönlichen Geschichten aus dieser Sache heraushalten.“

Nathan deutete mit dem Kopf zur Tür. „Das erzähl mal Max.“

„Auch wahr.“ Ich ging zu Nathan hinüber und lehnte den Kopf an seine Brust. Ich wartete darauf, dass er mich in den Arm nahm.

Er zögerte, bis ich sagte: „Wir haben schon Schlimmeres durchgemacht, oder?“

Ich spürte, wie ihm das Lachen im Hals stecken blieb. „Nein, aber einmal ist immer das erste Mal?“

Obwohl ich noch weiter gern mit ihm so gestanden hätte, wanderten meine Gedanken zu den beiden anderen im oberen Stockwerk. „Ich geh mal nach Bella schauen.“

An seiner Stimme hörte ich, dass Nathan lächelte, als er mich fragte: „Stets im Dienst, was?“

„Alte Gewohnheiten wird man nicht so schnell los.“ Ich hob den Kopf und erwartete einen flüchtigen Kuss, aber stattdessen küsste mich Nathan lange und leidenschaftlich, sodass mir die Knie anfingen zu zittern. „Was verschafft mir die Ehre?“, hätte ich am liebsten gefragt, als wir uns trennten.

„Wenn dir jemals so etwas zustoßen würde …“ Er sprach nicht zu Ende, und ich spürte, wie sich seine Finger durch mein T-Shirt hindurch in meinen Rücken gruben. „Ich schwöre dir, Carrie, ich mag zwar nicht, was ich bin, aber ich würde jeden umbringen, der dir etwas antut. Ich würde die Person umbringen, und es würde mir Spaß machen, es zu tun.“

Ich wusste nicht, was ich entgegnen sollte, und glaube, ich hatte Nathan noch nie so zornig erlebt. Jedenfalls nicht so wütend und so verletzlich. Ich ging einen Schritt zurück und versuchte zu lächeln. Aber er hatte mir auch ein wenig Angst gemacht. Mein Lächeln fühlte sich nicht echt an. „Ich weiß, Nathan, ich weiß.“

An dem, was er gesagt hatte, zweifelte ich keine Sekunde.

Ich wusste nicht, wohin Max Bella gebracht hatte, aber sie befand sich in keinem der Gästezimmer im dritten Stock. Auch in Max’ Schlafzimmer fand ich niemanden vor. Ich nahm an, dass der Haufen leerer Eiscremepackungen und Bierflaschen keine Umgebung war, die er einem Patienten zumuten wollte.

Gerade wollte ich in die anderen Räume hineinschauen, als ich sah, dass die Doppeltür zu Marcus’ Zimmer einen Spalt offen stand. Im Schlüsselloch steckte der Messingschlüssel mit der großen Quaste, der normalerweise an Max’ Bettpfosten hing.

„Hm, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass er von allein hierhergekommen ist?“, murmelte ich und stieß die Tür ein wenig weiter auf.

Zwar hatte ich nie zuvor das Zimmer von Marcus aufgesucht, aber man sah sofort, dass hier Max’ Schöpfer gelebt haben musste: schlichte dunkle Möbel, unschöne markante Farben, teure Stoffe, die aussahen, als würden sie kratzen. Kein Wunder, dass Max diesen Raum immer abschloss.

Es war dunkel. Eine Nachttischlampe mit einem goldfarbenen Schirm, der mit Troddeln besetzt war, verbreitete sanftes warmes Licht. Bella lag mitten auf dem Bett. In diesem antiken Monstermöbel sah sie aus wie ein Zwerg. Der riesige Betthimmel reichte fast bis zur Decke. Ich schätzte, dass links und rechts von ihr noch vier Leute Platz gehabt hätten. Max saß neben ihr und hielt ihre blasse Hand.

Einen Moment lang sah es so aus, als beugte er sich vor und wollte ihre Stirn küssen. Ich räusperte mich, damit er nicht wieder so tat, als würde ihn das Ganze nichts angehen, sobald er mich bemerkte. „Klopf, klopf.“

„Wer ist denn da?“, fragte er mit ironischem Unterton. „Herein, wenn es kein Schneider ist. Wenn du jetzt sagst, es ist der Schneider, dann haue ich dich.“

Vorsichtig betrat ich das Zimmer, irgendwie hatte ich das Gefühl, ich sollte diesen intimen Moment nicht stören. Auf dem Nachtschränkchen standen einige Kinderfotos von Max in dunklen Holzrahmen. Es war mir nicht recht, diese sehr privaten Fotos sehen zu müssen. „Sie ist wieder ohnmächtig?“

Er nickte. „Aber sie atmet noch, sie schnarcht ja ein wenig.“

Automatisch griff ich nach ihrem Handgelenk und fühlte ihren Puls nach dem Schlag der goldverzierten Standuhr in der Ecke. „Sie erholt sich wieder. Ich habe keine Ahnung, was das Orakel mit ihr gemacht hat …“

„Nicht. Nicht wenn sie dabei ist.“ Er legte Bellas Hand auf ihren Brustkorb, was mich gruseligerweise an einen Leichnam erinnerte.

„Wenn es sonst noch etwas gibt, was du brauchst …“

Max winkte ab. „Geh nur. Wenn sie das noch einmal mit uns vorhat, werden weder du noch ich sie daran hindern können. Und ich glaube, wenn sie noch einmal auftauchen sollte, dann braucht Bella mehr als Sofortmaßnahmen am Unfallort.“

„Rede doch nicht so“, bat ich ihn leise. „Hör mal, wir können darüber morgen Abend sprechen. Im Moment brauchen wir Zeit zum Nachdenken. Aber es ist noch nicht alles verloren.“

Max schüttelte den Kopf. „Ich sage es nur ungern, aber es ist nicht immer so gewesen. Als du zu uns in unsere Welt kamst, war das wirklich ein ungünstiger Zeitpunkt. Ich würde dir gern erzählen können, dass dieser ganze bescheuerte Kram, über den man ständig nachdenken muss, hier alle paar Monate passiert, aber das stimmt nicht. Also, tut mir leid, wenn mir bei dieser Geschichte das Herz nicht aufgeht.“

Unsere Welt? Er schloss mich aus, und das verletzte mich stärker als die abfälligen Bemerkungen, die meinen Optimismus auf eine harte Probe stellten. Zwar war ich nicht so alt wie er oder Nathan, und ich war auch nie in der Bewegung gewesen, aber trotzdem. Sicher, es gab viele Dinge, die ich nicht wusste, aber ich lernte schnell mit der Zeit. Ich hatte Cyrus getötet – auch wenn das nicht mehr groß erwähnt wurde – und hatte Nathan davor bewahrt, vom Souleater vernichtet zu werden. Ich ließ es zu, dass der Geist seiner verstorbenen Frau Besitz von mir ergreift, um den bösen Bann zu brechen. Vielleicht standen nicht so viele getötete Vampire auf meiner Liste wie bei den anderen, aber ich dachte, ich hätte schon eine recht imposante Anzahl guter Taten erreicht. Sie sollten mich also ernst nehmen.

Ich dachte, dass ich vielleicht unrecht hatte, aber der Gedanke daran, dass das alles erst der Anfang war, ließ mir das Mark in den Knochen gefrieren.

5. KAPITEL

Verteidigung

Max wachte davon auf, dass Bella schrie.

Er hatte sich am Fußende ihres Bettes hingelegt und dort zusammengerollt geschlafen wie ein Hund und hoffte, dass sie es in ihrer Panik, die der Verwandlung folgte, nicht bemerken würde. Während er sie bewachte, war er eingeschlafen.

Max hatte keine Zeit gehabt, sich dafür zu rechtfertigen, dass er eingeschlafen war, denn Bella zerrte vor lauter Schrecken an der Decke und an ihrer Kleidung. Sie quiekte vor Entsetzen.

Daraufhin stand er auf, nahm sie bei den Schultern und schüttelte sie leicht. „Alles in Ordnung, Baby. Ist ja gut. Ich bin doch hier.“

Ihre Pupillen wurden kleiner, als sie versuchte, zu fokussieren. Stirnrunzelnd schob sie sich die Haare aus dem Gesicht, die sich aus ihrem langen Zopf gelöst hatten. „Ich weiß, deswegen habe ich ja geschrien.“

Die Tatsache, dass sie schon wieder in der Lage war, ironische Bemerkungen zu machen, beruhigte ihn. Es ging ihr also schon wieder besser. Jedenfalls im Moment. „Du hast mich total erschreckt.“

„Genau das hatte ich nicht im Sinn.“ Ihre Stimme kippte ein wenig, als würde sie gleich losweinen. Aber natürlich tat sie es nicht. Max war sich sicher, dass Werwölfe ohne Tränendrüsen auf die Welt kamen. Und auch ohne Herzen.

„Kann ich ein Glas Wasser haben?“ Ihre Stimme krächzte, das lag wahrscheinlich am Schreien. Genauso hatte sie immer geklungen, nachdem sie miteinander …

Max verdrängte den Gedanken nicht nur. Er schlug ihn zusammen, bis er nur noch ein kleines Häufchen war, und mauerte ihn bei lebendigem Leibe ein.

Schließlich nahm er eine Flasche Wasser vom Nachtschränkchen – er war auf ihren Wunsch vorbereitet gewesen – und öffnete den Schraubverschluss, bevor er Bella die Flasche reichte.

Zum einen machte er es absichtlich, um in diesem einen Moment zu demonstrieren, dass er sie für zu schwach hielt, die Flasche selbst aufzumachen, und daraufhin ihren genervten Blick zu sehen. Zum anderen machte es ihm seltsamerweise Spaß, sich um sie zu kümmern. Er wartete, bis sie die halbe Flasche ausgetrunken hatte, bevor er fragte: „Geht es dir besser?“

Bella nickte. „Mir geht es gut. Aus irgendwelchen Gründen habe ich am ganzen Körper Muskelkater, aber sonst geht es mir gut.“

„Tja, nachdem du bewusstlos geworden bist, haben wir dich abwechselnd zusammengetreten.“ Max lächelte schwach. „Erinnerst du dich daran, was passiert ist?“

Sie schüttelte den Kopf, dann blinzelte sie und rieb sich den Nacken. „Das Letzte, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich in meine Kristallkugel geschaut habe und begann, etwas zu sehen. Dann bin ich hier aufgewacht. Ich habe wirklich schlimm geträumt.“

„Erinnerst du dich an deinen Traum?“ Max überlegte kurz, ob er sich Papier und einen Stift holen sollte, aber das erschien ihm doch zu unsensibel. Nicht, dass er normalerweise auf Bella übertrieben stark Rücksicht nahm, aber sie hatte doch einiges hinter sich. Zumindest für einen Tag sollte sie ihre Ruhe haben, bevor er mit dem Verhör begann.

Als er ihr in die Augen sah, bemerkte er ein wenig Hoffnungslosigkeit in ihrem Blick. „Ich habe einen Mann gesehen … er hatte weißes Haar. Und ich habe das Orakel gesehen. Es saugte sein Blut. Ich weiß nicht, warum es mich so durcheinandergebracht hat, aber so war es.“

„Das war der Souleater.“ Max schüttelte den Kopf. „Als du ohnmächtig geworden bist … hat sich das Orakel deines Körpers bemächtigt.“

„Was?“, schrie Bella und wurde blass.

Sanft legte er ihr eine Hand auf das Knie, um sie zu beruhigen. Auch wenn zwischen seiner Hand und ihrer Haut eine Hose und die Decke lagen, spürte er, wie sie seine Handflächen versengte. „Sei unbesorgt. Sie hat nicht dafür gesorgt, dass du verrückt wurdest und jemanden getötet hast, so wie es der Souleater bei Nathan gemacht hat. Sie hat durch dich zu uns gesprochen. Im Prinzip ist sie nur in dich gefahren, um uns zu sagen, dass sie hier ist.“

Bella runzelte die Stirn. „Das weiß ich. Ich erinnere mich.“

„Na, dann warst du ja gar nicht so weit weg, wie wir dachten“, stellte Max fest, weil ihm nichts Besseres einfiel. Genauso gut hätte er murmeln können: „Morgen ist ein neuer Tag“ oder „Jede Wolke verbirgt Sonnenschein“. Das wäre ebenso einfallsreich gewesen.

„Irgendwie habe ich das gespürt. Aber woher weiß ich das alles?“ Bella begann zu zittern, ihre Augen wurden groß.

„Wahrscheinlich ist es bis in dein Unterbewusstsein vorgedrungen. Ich meine, vielleicht ist es so etwas wie eine psychische Spätfolge …?“

Bella richtete sich abrupt auf. „Spätfolge?“ „Entschuldige bitte, ich wollte nicht die gesamte psychologische Fachwelt aufschrecken.“ Er hob mit einer entschuldigenden Geste die Hände in die Höhe.

„Du bist ein Vampir. Du kennst dich doch aus mit den Blutsbanden? Bestehen sie immer noch?“

Du hast ja keine Ahnung. Wohin Max auch immer sah – Marcus’ Bett, Marcus’ Stühle, Marcus’ unanständig teure Teppiche – jeder Gegenstand erzählte von Marcus und dass er hier sein sollte.

Natürlich konnte man von einer Werwölfin nicht erwarten, dass sie das verstand. „Ich versuche doch nur, dir zu helfen.“

„Ja, ich weiß.“ Ihre Stimme war ungewöhnlich sanft. „Sie ist auf dem Weg, den Souleater zu treffen.“

Max runzelte die Stirn. „Wir hatten angenommen, dass …“

„Sie ist auf einem Boot. Es ist so eine Art Frachter, auf dem Weg nach … Boston.“ Bella schüttelte den Kopf. „Warum sollte sie euch diese Informationen geben?“

Max entschied sich dafür, einen Moment lang die kalten Schauer zu ignorieren, die seinen Rücken hinunterliefen. „Das hat sie nicht wirklich getan.“

Einen Moment lang starrten sie einander an. Allmählich begann Max, das Ticken der Standuhr wahrzunehmen und das kaum hörbare Klicken, das immer vor dem Gong erklang. Als er erschall, schraken beide hoch.

„Wie habe ich dann …“

Er unterbrach sie. „Keine Ahnung. Weißt du sonst noch etwas?“

„Vieles.“ Bella zitterte jetzt am ganzen Körper, und eine Träne rann ihre Wange hinunter. „Sie hat einen Seemann getötet, den sie hinunter in den Laderaum geschickt hatte, um etwas nachzuschauen. Laderaum. Dieses Wort benutze ich normalerweise nicht.“

„Das benutzt man auch nicht in einer alltäglichen Konversation.“ Er faltete die Hände und legte sie an die Lippen. „Vielleicht ist es ein glücklicher Zufall.“

„Warum Zufall? Ich kenne ihre Erinnerungen. Sie sind alle in meinem Kopf. Du glaubst, das sei ein glücklicher Zufall?“ Bella rutschte vor, um aufzustehen, aber Max streckte seinen Arm aus, um sie aufzuhalten.

„Du hattest keine gute Nacht. Ruh dich noch ein bisschen aus.“ Er stopfte die Decke unter ihre Füße.

„Ich soll mich ausruhen?“, schrie sie und strampelte die Decke zur Seite. „Das meinst du nicht im Ernst! Ich bin als Marionette missbraucht worden!“

„Schau mal, es gibt keinen Grund, jetzt in Panik auszubrechen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Sie hatte nicht genügend Macht, um noch länger Besitz von dir zu ergreifen.“

Bella schlug sich die Hände vor das Gesicht. „Warum ich? Ich bin doch keine von euch. Warum hat sie sich nicht einen von euch ausgesucht? Sie ist doch ein Vampir?“

„Ich weiß es nicht.“ Max stellte sich dieselbe Frage und grübelte darüber nach, warum sich das Orakel Bella und nicht ihn ausgewählt hatte. Liebend gern hätte er mit ihr getauscht.

Noch einmal versuchte sie, aufzustehen, aber ihre Arme zitterten und konnten ihr Gewicht nicht halten. Sie fiel in die Kissen zurück und stöhnte überrascht auf, als hätte sie noch nie Schmerz oder Muskelkater erlebt.

Max half ihr, sich hinzulegen, und wiederholte: „Ganz langsam. Ruh dich aus. Du hast heute Nacht ganz schön etwas abbekommen.“

„Etwas abbekommen?“, raunzte sie. „Ich bin kräftig. Mir kann das Orakel nichts anhaben.“

„Es hat dich zwei Meter in die Luft gehoben und dich dann auf den Boden fallen lassen. Und ich bin mir sicher, dass deine Rippen aufgrund der Herz-Lungen-Reanimation wehtun.“

Elegant gelöst, Max.

„Herz-Lungen-Reanimation?“

Max verdrehte die Augen. „Herz-Lungen-Reanimation. Du wärest fast … gestorben.“

„Gestorben?“ Nun saß Bella aufrecht im Bett.

„Nur für eine Sekunde!“ Er hob seine Hände, um sie wieder zu bremsen, sollte sie noch einmal versuchen aufzustehen. „Es waren höchstens Minuten. Carrie ist es gelungen, dich wiederzubeleben.“

Bella hob eine Faust, als wollte sie ihn schlagen. Er wappnete sich, damit er nicht mit der Wimper zücken würde, für den Fall, dass sie ihn traf.

Aber sie versuchte es gar nicht erst, stattdessen brach sie in Tränen aus.

Max, der schon lange zuvor die Idee verworfen hatte, dass Werwölfe, insbesondere Bella, Gefühle hatten, war von dieser Situation vollkommen überfordert. Er wusste einfach nicht, was er tun sollte. Frauentränen erinnerten ihn an Säure, und er hätte sich niemals vorstellen können, mit ihnen jemals umgehen zu müssen.

Besonders, da Bella normalerweise immer so kontrolliert war. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen, sie war eiskalt … es erschütterte ihn, dass etwas sie so durcheinanderbringen konnte.

„He, nicht weinen.“ Er streckte die Arme aus, um sie an sich zu ziehen, aber es war ihm bewusst, wie unbeholfen er sich dabei anstellte. Als sie weder nach ihm schlug noch ihm einen Holzpflock ins Herz rammte, drückte er sie kurz und klopfte ihr brüderlich auf die Schulter.

Es überraschte ihn keineswegs, dass diese Geste nichts half.

„Es tut so weh“, schluchzte sie. Max konnte sie kaum verstehen, was zum Teil an ihrem Weinen, zum Teil aber an ihrem Akzent lag. „Es tut so weh, zu weinen, aber ich kann nicht aufhören.“

„Lass … ach, weißt du, lass es einfach raus.“ Vorsichtig strich er ihr über den Rücken. Wenn ihn jemand berührte, lenkte es ihn immer von seinen Sorgen ab. Vielleicht ging es ihr genauso.

„Das fühlt sich gut an.“ Bella schniefte. „Ich bin verspannt. Mein Rücken fühlt sich an wie ein Fischernetz, so viele Knoten sind drin.“

Die Gelegenheit, sich über ihre altertümliche Ausdrucksweise lustig zu machen, ließ er verstreichen und setzte sich hinter sie auf das Bett.

„Was hast du vor?“

„Nichts Anzügliches. Ich massiere dir den Rücken.“ Bevor sie sich darüber aufregen konnte, zog er sie zwischen seine Beine und fing an, ihre Schultern zu massieren.

Sie stöhnte, aber ihre Verspannungen schienen sich unter seinen Händen zu lösen. „Warte mal.“

Na also. Jetzt fängt sie doch wieder mit ihrer „Du verstehst alles falsch, ich habe diese Gefühle nicht für dich“-Nummer an.

Aber zu seiner Überraschung lehnte sie sich vor und zog ihr T-Shirt aus. „Der Stoff scheuert.“

Angesichts ihres glatten warmen Rückens traute sich Max nicht mehr selbst über den Weg. Er konzentrierte sich auf den Fluch, der auf ihren Arm tätowiert war, und schwor sich, die beiden schwarzen Träger ihres Spitzen-BHs und die beiden winzigen Leberflecken direkt über ihrem Kreuzbein einfach zu ignorieren. Zu diesen Muttermalen hatte er sich einmal hinabgebeugt, um sie zu küssen, während er sie von hinten nahm …

Aufhören! Es geht nur darum, einer verletzten Person eine kleine freundliche Rückenmassage zu geben. Behalt deinen Schwanz in der Hose!

Bella stöhnte ein wenig, während er ihr über den Nacken strich, und Max rutschte ein wenig zurück, um seine wachsende Erektion so weit wie möglich von ihrem Rücken fernzuhalten.

„Wie lange bin ich bewusstlos gewesen?“, fragte sie, während sie ihren Zopf über die Schulter nach vorn legte.

Dabei berührte die seidige Flechte seine Hand und sorgte dafür, dass sein Arm kribbelte. „Na, wir waren nicht dabei, als sie in dich hineinfuhr, und als wir endlich ins Zimmer kamen … warst du schon bewusstlos. Aber nachdem Carrie dich wiederbelebt hatte, habe ich dich hier heraufgebracht, und das ist vielleicht … vor sechs Stunden gewesen?“

Bella drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Sie konnte ihn nicht ansehen, aber er sah ihr Profil und beobachtete, wie sich ihr Mund zu einem Lächeln verzog.

„Du hast mich hier heraufgetragen?“

Max zuckte mit den Schultern. „Du konntest ja wohl schlecht gehen.“

„Und dann bist du bei mir geblieben?“

„Ja, die ganze Zeit.“ Er räusperte sich. „Außer natürlich, als ich dir das Wasser geholt habe und ein paar Handtücher und den Erste-Hilfe-Koffer besorgt habe. Ich dachte, es könnte nicht schaden, ihn für alle Fälle hier zu haben.“

„Aha.“ Sie drehte sich wieder nach vorne um und bewegte die Schultern, um ihm zu signalisieren, dass er mit der Massage weitermachen könnte, wobei ihm gar nicht aufgefallen war, dass er damit aufgehört hatte.

Max gab sich größte Mühe, jede Bewegung seiner Finger aus rein platonischer Nächstenliebe zu machen. Er knetete ihren Rücken, dann ihre Schultern und zum Schluss ihre Oberarme, während er sich anstrengte, ihre zufriedenen Seufzer zu überhören.

Als seine Handgelenke anfingen wehzutun, zog er die Hände weg und fragte: „Ist es jetzt besser?“

„Ja, danke schön.“ Sie bewegte sich nicht.

Ganz im Gegenteil, sie lehnte sich zu seiner großen Bestürzung zurück und schlang einen Arm um seinen Nacken. „Ich habe dich vermisst.“

„Wirklich?“ Er hatte sie auch vermisst. Jedenfalls zum Teil.

Sie seufzte leise. „Weißt du, dass du nach wie vor der einzige Mann bist, mit dem ich jemals geschlafen habe?“

„Herzlichen Glückwunsch. Du hast es geschafft, einen Monat durchzuhalten, ohne mit jemandem zu vögeln.“ Er spürte, dass sie lachte, und musste selbst lächeln, obwohl er es nicht als Witz gemeint hatte. Irgendwie fand er den Gedanken daran, dass sie einen neuen Freund haben könnte, schrecklicher als die Gefahren, die das Orakel und der Souleater zusammen darstellten. „Hör mal, ich sollte jetzt gehen.“

„Nein.“ Sie drückte ihren Arm fester um seinen Hals. „Bleib hier.“

Wem würde es schaden? Max wollte nicht unbedingt die Gedanken zu Ende verfolgen, die ihn schon seit geraumer Zeit beschäftigten, aber er konnte sich nicht dagegen wehren. Jeden Augenblick des Tages hatte er an sie gedacht. Nicht, weil er es sich so ausgesucht hatte, sondern weil es in seinem Gehirn eine kaputte Leitung gab, die ständig Gedanken wie giftige Tropfen absonderte, um sein gesamtes Gehirn zu beschädigen. Und jetzt war aus dem Rinnsal eine Sturmflut geworden, und er hatte Angst, – es war eine sehr reale, lähmende Angst – dass sein Hirn nie wieder so sein würde wie früher. Für den Rest seines Lebens würde er in ihr ertrinken.

Aber es machte ihn wütend, dass er es nicht einfach abschalten konnte, so wie normalerweise, wenn er mit Frauen zusammen gewesen war. Bella war kurz davor, eine Obsession zu werden, und das war gefährlich. Und wenn er sich jetzt nicht unter Kontrolle hatte, würde es ihm wahrscheinlich nie mehr gelingen, sich zurückzuhalten.

Er schob sie von sich fort, als bemühe er sich redlich, vorsichtig zu sein. Angestrengt versuchte er, die beiden dunklen Flecke zu übersehen, die durch die Spitze des BHs sichtbar waren. „Es war eine schlimme Nacht für dich. Ich habe auch wenig geschlafen. Und du bist nicht in der Lage, etwas … Körperliches zu tun.“

„Werwölfe erholen sich rasch.“ Sie neigte den Kopf zur Seite.

„Hm, ja.“ Max kratzte sich am Kopf. Das war ein nervöser Tick, den er scheinbar nur in ihrer Gegenwart hatte. „Ich fühle mich nicht danach.“

Bella runzelte die Stirn und kam auf ihren Knien auf ihn zu, um ihn abermals zu umarmen. „Bist du verletzt worden?“

Max hielt still. „Ja.“

Endlich begriff sie. Das hatte aber gedauert.

Er sah sie an, in ihrem Gesichtsausdruck war die Enttäuschung zu lesen. Sie machte sich von ihm los. „Du bist mir doch nicht mehr böse wegen dem, was zwischen uns geschehen ist, oder?“

„Natürlich bin ich sauer!“, rief Max aus. „Meine Güte, das ist erst einen Monat her! Was bist du bloß für eine unmenschliche Schlampe, dass du mich das fragst?“

Erschrocken riss sie die Augen auf, dann kniff sie sie zusammen. „Ich bin kein Mensch. Ich dachte, dass hättest du schon begriffen?“

„Versuch nicht, das Thema zu wechseln!“ Aufgebracht rutschte er vom Bett herunter und lief auf und ab. „Das kannst du nicht machen. Du kannst nicht einfach entscheiden, dass wir jetzt Freunde sind, bloß, weil es dir so passt! Weil du einsam oder geil bist oder …!“

„Ich habe Angst!“, rief sie mit rauer Stimme dazwischen. „Ich will gar keinen Sex, ich will nur, dass du hierbleibst. Du hast so eine komische Art zu kuscheln. Ich dachte, wenn wir miteinander schlafen, dann bleibst du hier und dann wäre ich hier nicht alleine. Es tut mir leid, wenn ich damit wieder die alten Wunden, die du wegen mir hast, aufgerissen habe, aber was soll ich denn machen?“

In diesem Moment war Bella menschlicher, als sie sich selbst eingestand. Max fühlte sich wie ein Arschloch und ärgerte sich darüber, dass sie dafür sorgte, dass er sich so fühlte. „Und außerdem habe ich deinetwegen keine Wunden.“

Böse starrte sie ihn an. In ihren Augen waren Wut und Verletzung zu sehen, auch wenn sie sich jetzt auf einen weiteren Streit vorbereitete.

Eine Weile ließ er sie schmoren, dann setzte er sich zu ihr auf das Bett. „Und außerdem hättest du nur zu fragen brauchen.“

Die Art und Weise, wie er sich mit seiner rauen Stimme bemühen musste, die Worte schnell auszusprechen, damit sie überhaupt herauskamen, machte ihn verrückt. Er war kurz davor, etwas Dummes zu sagen, und wusste, dass er es nicht verhindern konnte.

„Das Einzige, was du zu tun brauchst, ist, einfach danach zu fragen. Ich werde nicht in der Lage sein, dir eine Bitte abzuschlagen.“ Er schluckte. Raus damit. „Und das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich dich so sehr hasse.“

Sie lächelte, dann küsste sie ihn. Es war ein freundlicher kurzer Kuss auf die Wange, Gott sei Dank. Dann zog sie ihn aufs Bett zurück.

Als sie die Kissen für sie aufschüttelte, sah er kurz zur Uhr hinüber. „Du weißt, dass das nicht gerade die Zeit ist, zu der ich zu Bett gehe.“

„Bleib“, bettelte sie und nahm seine Hand, ihre Finger um seine gewunden.

Widerwillig musste er lächeln. „Und ich bin auch nicht fürs Zubettgehen angezogen.“

„Bleib“, wiederholte sie und gähnte.

Er blieb.

Tagsüber, während wir schliefen, schien sich die Atmosphäre im Haus verändert zu haben. Auch wenn das Orakel beabsichtigt hatte, uns einzuschüchtern, indem es Bella fast umbrachte, war sein Plan ins Gegenteil umgeschlagen. Als wir uns zu einem weiteren Kriegsrat – hoffentlich ohne Zwischenfälle – zusammensetzten, hatten wir irgendwie alle miteinander unseren Frieden gemacht.

Max wollte sich jedoch nicht mehr im Esszimmer aufhalten, deshalb trafen wir uns in der Bibliothek. Bella lag zusammengerollt in einer Art und Weise vor dem Kamin, die ihre Herkunft verhöhnte. Max saß neben ihr und tätschelte ihr gelegentlich den Kopf. Jedes Mal, wenn das geschah, verdrehte Nathan die Augen. Er saß neben mir im Ohrensessel.

Warnend sah ich ihn an und räusperte mich. „Also, Bella kann die Gedanken des Orakels lesen? Wie bei einem Blutsband?“

Bella schüttelte den Kopf. „Nein. Ich kenne mich zwar mit euren Vampirfamilienbanden nicht so genau aus, aber ich kann nicht beeinflussen, was ich sehe.“

„Also kontrolliert das Orakel deine Gedanken“, murmelte Nathan nachdenklich. Er starrte geradeaus, wie er es immer tat, wenn er versuchte, ein schwieriges Problem zu lösen.

„Nicht unbedingt.“ Max versuchte, Nathan in die Augen zu schauen, was ihm nicht gelang, und drehte sich deshalb zu mir um. „Es sieht eher so aus, als würde das Orakel Bella hin und wieder erlauben, seine Gedanken zu lesen. So in etwa, als würde Bella mentale Spätfolgen haben.“

„Es gibt immer noch Dinge, die mir verborgen bleiben. Ich weiß, wohin sie geht. Ich weiß, dass jemand mit ihr zusammen ist. Aber ich kann nicht erkennen, wer es ist.“ Bellas makellose Stirn lag in Falten, so sehr konzentrierte sie sich. „Es ist ein Vampir.“

„Das schränkt die Auswahl ein“, stellte Max sarkastisch fest. Als Bella ihn kurz beleidigt ansah, fügte er ein „Sorry“ hinzu.

Wir schwiegen. Nathan starrte immer noch in die Flammen im Kamin. Mit gespreizten Fingern, die er gegen seine Lippen presste, lehnte er sich vor und stützte die Ellenbogen auf seine Knie. Max sah nervös zwischen Nathan und mir hin und her.

Ich zuckte mit den Schultern. „Also, wohin will das Orakel? Ich meine, wenn wir sonst nichts wissen, dann ist das doch entscheidend.“

„Boston“, antwortete Bella unverzüglich. „Sie ist auf einem Schiff.“

„Weißt du, wann sie ankommen wird?“ Wenn sie schon an Land wäre, könnte sie wer weiß wo sein.

Bella nickte. „Bald. Sie sind noch auf See, aber sie wird unruhig. Sie werden in einigen Tagen in Boston ankommen.“

„Dann haben wir nicht mehr viel Zeit.“ Max schien kurz davor zu sein, in dasselbe Konzentrationskoma zu fallen, in dem sich Nathan bereits befand. Gott sei Dank wachte jener gerade auf. „Wir müssen uns auf den Weg machen.“

„Wir alle?“ Ich war gerade lange unterwegs gewesen und hatte keine Lust, schon wieder eine gefährliche Reise zu unternehmen. Am liebsten wollte ich wieder zurück in Grand Rapids sein und in Ruhe mit Nathan zusammenleben, obwohl die Sache mit ihm noch nicht ausgestanden war. „Ich meine, sollte nicht jemand lieber hierbleiben und versuchen, den Souleater aufzuspüren?“

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