Botschaft des Herzens

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In ihrem Dorf nahe London glaubt Miss Grace Dovercourt sich weit fort von der Revolution im benachbarten Frankreich. Bis sie im August 1794 einen verletzten Mann in ihrem Gartenhaus findet: einen Franzosen, auf der Flucht vor den Häschern Robespierres! Grace weiß, wie gefährlich es ist, zu helfen. Doch zwischen ihr und dem schönen Franzosen Henri Rousselle entbrennt eine stürmische Leidenschaft! Mutig tritt sie seinen Verfolgern in den Weg. Gewinnt mit List und Geschick die Zeit, die Henri zur Genesung braucht. Aber das Netz um den Geliebten wird immer enger. Und nach jeder Liebesnacht fürchtet Grace den Morgen ein bisschen mehr, fürchtet den Tag, an dem man ihr den Geliebten entreißt...


  • Erscheinungstag 06.07.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733763244
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

HISTORICAL erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

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© 2003 by Elizabeth Bailey
Originaltitel: „The Count’s Charade“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL
Band 193 - 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG Hamburg
Übersetzung: Dr. Holger Hanowell

Abbildungen: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 07/2015 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733763244

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. Kapitel

 

Der Knall schien von weit her zu kommen, doch er war laut genug, um Grace Dovercourts Aufmerksamkeit zu erregen. Sie hielt im Schreiben inne, hob den Kopf und lauschte. Jetzt war nichts mehr zu hören, aber sie wollte in Erfahrung bringen, woher das Geräusch gekommen war. War in der Marsch etwas vorgefallen? In dieser einsamen Gegend trug der Wind manch einen Laut auch aus weiter Ferne übers Land, und in der Abgeschiedenheit ihres Hauses kam es nicht selten vor, dass Grace unweigerlich auf den leisesten Ton achtete. Doch dieser hier war auffällig gewesen.

Grace schob den Stuhl zurück, stützte sich auf den Armlehnen ab und erhob sich. Dann nahm sie den Kerzenleuchter vom Sekretär, bei dessen Schein sie geschrieben hatte. Ein von Geburt an zu kurzes Bein machte ihr zu schaffen, so dass sie ganz leicht humpelte. Sie lief zur Tür des Salons. Als Grace den Flur betrat, eilte ihr Dienstmädchen mit einer Kerze in der Hand die Stufen hinunter. Jemima trug ihren Morgenmantel und hatte eine mit Rüschen besetzte Schlafhaube auf dem Kopf, die ihre kurzen dunklen Locken notdürftig bedeckte. Als sie ihre Herrin erblickte, blieb sie stehen.

"Haben Sie das eben auch gehört, Miss Grace? Ich bin vor Schreck aufgewacht!"

Grace schaute auf. "War es in deinem Raum so laut? Ich habe bloß einen schwachen Widerhall vernommen."

Jemima runzelte die Stirn. "Haben Sie immer noch gearbeitet? Sie verderben sich irgendwann Ihre Augen!"

"Mach dir darum keine Sorgen", erwiderte Grace, während sie zur Haustür schritt. Sie war verriegelt, denn das Dienstmädchen hatte sich bereits vor einigen Stunden zum Schlafen gelegt. Jemima achtete stets peinlich genau darauf, dass die Tür nach Einbruch der Dunkelheit fest verschlossen war, obwohl in der Nacht höchst selten jemand am Haus vorbeikam. Grace steckte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Flügeltür und trat auf die kleine Veranda. Eine kühle Abendbrise umspielte ihre Wangen, aber Grace war nicht kalt. Hinter ihr blieb Jemima ängstlich im Eingang stehen.

"Seien Sie vorsichtig! Wer weiß, was für ein Gesindel sich draußen mit Pistolen herumtreibt."

Grace horchte auf und drehte sich zu ihrem Dienstmädchen um. "Pistolen?"

"Ja, ich dachte, ich hätte einen Schuss gehört. Das Herz schlug mir bis zum Halse!"

Grace rief sich augenblicklich den Knall in Erinnerung. Hatte es sich wirklich um einen Pistolenschuss gehandelt? Vorsichtig nahm sie die beiden Stufen und humpelte in Richtung der Straße. Sie hielt den Kerzenleuchter hoch und spähte in die mondlose Dunkelheit. Nichts war zu sehen. In der Ferne glaubte Grace die schemenhaften Ausläufer der Marschgebiete von Rainham zu sehen.

In der ruhigen Sommernacht herrschte wieder vollkommene Stille. Kein weiteres Geräusch war dem sonderbaren Knall gefolgt. Grace hielt es für unwahrscheinlich, dass es sich bei der nächtlichen Ruhestörung um einen Schuss gehandelt hatte. In der Dunkelheit wagten sich keine Wilderer in die gefahrvollen Marschgefilde, denn sie fürchteten die verborgenen morastigen Stellen, in denen ein Mensch binnen kürzester Zeit versinken konnte. Die Ortskundigen blieben stets auf den Pfaden und gingen nur bei Tage in diese Gegend.

"Kommen Sie wieder ins Haus, Miss Grace", flehte Jemima.

Grace schaute inzwischen in die entgegengesetzte Richtung, denn es war immerhin denkbar, dass ein Wilddieb einen Schuss abgefeuert hatte, um ein Kaninchen auf den Feldern zu erlegen. Ihr untrügliches Gespür verriet Grace indes, dass der Laut nicht von Norden her gekommen war. Vielleicht sind jenseits der Marschgebiete zwei Schiffe auf der Themse zusammengestoßen, überlegte sie. In so einem Fall hätte sie eigentlich einen dumpfen, dröhnenden Knall erwartet, aber als sie sich jetzt erneut zu erinnern versuchte, vermochte sie nicht mehr genau zu sagen, wie das rätselhafte Geräusch geklungen hatte.

Inzwischen drang die frische Nachtluft durch den dünnen Baumwollflanellstoff ihres Kleides, so dass sie der Bitte ihres Dienstmädchens nachkam und ins Haus zurückkehrte. Eilig verschloss Jemima wieder die Tür.

"Haben Sie jetzt vor, nach oben zu kommen? Oder soll ich Ihnen noch rasch eine heiße Milch machen? Sie brauchen etwas Warmes, falls Sie noch die halbe Nacht an ihrem Schreibtisch verbringen wollen."

Doch Grace wusste, dass sie sich nach diesem Zwischenfall nicht mehr konzentrieren konnte. Sie hätte das Dokument erneut von Anfang an lesen müssen, um die Bedeutung zu erfassen und die Fachbegriffe zu verstehen. Die Arbeit, die sie für den Schulleiter verrichtete, war stets anspruchsvoll und strengte sie mehr an als die gewöhnlichen Briefe, die sie für die Leute in der Gegend verfasste, die des Lesens und Schreibens nicht mächtig waren. Außerdem war morgen erst Donnerstag, und sie hatte noch Zeit bis Samstag, um die Arbeit zu erledigen.

Grace schlug Jemimas Angebot aus und schickte das Mädchen ins Bett. Doch sie selbst wollte nicht schlafen gehen, bevor sie nicht ihren Sekretär aufgeräumt hatte. Behutsam legte sie das zur Hälfte beschriebene Blatt Papier auf den Stapel in einer der Schubladen und die Schreibfeder neben das Tintenfässchen, bevor sie den Sekretär verschloss. Dann zündete sie sich eine Kerze an, löschte die Lichter des Leuchters und ging die Stufen hinauf, die in das obere Stockwerk führten.

Ihre Hüfte schmerzte. Da ihr rechtes Bein ein wenig kürzer als das linke war, neigte ihr Körper sich stets ein wenig nach rechts, wenn sie zu lange in einer Stellung am Tisch gesessen hatte. Sie war dankbar für den speziellen Stiefel, den Billy Oaken für sie angefertigt hatte. Sie hielt den Mann für den besten Schuster in ganz Barking. Mit diesem Schuh, der ihre Hüfte entlastete, war sie die letzten Jahre viel müheloser gelaufen. Daher wunderte sie sich, erneut diesen Schmerz zu spüren.

Nachdem sie ihr Schlafzimmer betreten hatte, das genau über dem Salon lag, stellte Grace die Kerze auf das Nachttischchen und begann sich zu entkleiden. Das dunkelblaue Kleid legte sie für den nächsten Morgen sorgfältig über eine Stuhllehne. Dann streifte sie sich ihr Nachthemd über und setzte sich auf die Bettkante, um den schweren Stiefel auszuziehen. Wie immer atmete sie erleichtert aus. Sie war zwar glücklich über diesen Schuh, jetzt aber freute sie sich wie jeden Abend, von der Last an ihrem Fuß befreit zu sein.

Augenblicklich fühlte sie sich viel leichter, und als sie ins Bett stieg, war ihre Behinderung für einen Moment vergessen. Grace löschte die Kerze, lag eine Weile zufrieden in der Dunkelheit und genoss den Luxus ihres weichen Federbetts. Mochte es auch eine ausgefallene Anschaffung gewesen sein – Grace schlief so wunderbar darin, dass sie sich wegen des hohen Preises kein schlechtes Gewissen machte. Lieber verzichtete sie auf ein neues Kleid für ihre ohnehin spärliche Garderobe als auf das himmlische Vergnügen, nachts weich zugedeckt zu liegen.

Die ganze Zeit über hatte Grace nicht mehr an das merkwürdige Geräusch gedacht, aber als sie sich allmählich entspannte, fragte sie sich erneut, woher es gekommen sein mochte und ob Jemima Recht hatte, dass es sich um einen Schuss gehandelt haben könnte. In ihrer Fantasie sah sie Männer, die in den Marschgebieten jagten. Tollkühn, aber vermutlich ohne Erfolg. Die wenigen Tiere dort waren es wohl kaum wert, unter Gefahren erlegt zu werden. Und wie sollte eine Kugel in der Nacht ihr Ziel treffen? Es musste einen anderen Grund für das sonderbare Geräusch geben.

Eine ganze Weile beschäftigte Grace sich noch mit diesem Rätsel, bis ihre Gedanken immer weiter abschweiften und sie allmählich einschlummerte.

Beinahe wäre sie fest eingeschlafen, als sie plötzlich glaubte, erneut etwas gehört zu haben. Erschrocken richtete sie sich im Bett auf. Sie vernahm ein kratzendes Geräusch, gefolgt von einem dumpfen Schlag. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Grace in die Dunkelheit und lauschte gespannt auf jeden noch so kleinen Laut. Ihr Herz pochte so laut in ihrer Brust, dass sie seinen Schlag zu hören glaubte. Irgendjemand befand sich draußen vor ihrem Haus!

Eigentlich hätte sie aufstehen und nachsehen müssen. Aber bei dem Gedanken, sich wieder mühsam den schweren Stiefel anzuziehen, zögerte sie. Außerdem war sie keineswegs darauf erpicht, nachts einem Fremden vor ihrer Haustür zu begegnen. Wahrscheinlich handelte es sich nicht um einen Einbrecher, sondern um einen Landarbeiter, der betrunken nach Hause torkelte. Vielleicht war der Bursche vom Weg abgekommen und in den Hinterhof gestolpert.

Abermals vernahm sie ein gedämpftes Geräusch von unten. Es war eine Katze, die miaute! Eindeutig! Erleichtert atmete Grace auf und sank zurück in ihre Kissen. Das streunende Tier war vermutlich von den benachbarten Cottages gekommen, in denen die Landarbeiter von Mr. Mayberry untergebracht waren. Im Stillen verfluchte Grace die Kreatur. Sie hatte ihr mehr Angst eingejagt als das erste knallende Geräusch. Vermutlich hatte die Katze etwas umgestoßen, nachdem sie in den Schuppen hinter dem Haus eingedrungen war, in dem Jemima die Wäsche wusch.

Glücklicherweise war das Dienstmädchen diesmal nicht aufgewacht. Die Arme musste immer in aller Herrgottsfrühe aufstehen und hatte deshalb ihren Schlaf bitter nötig. Sie war eine gute Arbeiterin und viel zugänglicher als Mab, die dazu neigte, Grace zu schelten oder zu verhätscheln. Ihre alte Kinderfrau, die sich von klein auf um sie gekümmert hatte, war allzu fürsorglich. Erst nach Mabs später Heirat war Grace unabhängig gewesen – wie sehr hatte sie sich danach gesehnt! Bevor sie einschlief, kam sie zu dem Schluss, dass sie mit Jemima besser dran war.

 

Als Grace in der Frühe erwachte, erinnerte sie sich zunächst nicht an die nächtlichen Ruhestörungen. Während sie sich an der Frisierkommode zurechtmachte, fiel ihr ein, dass Mr. Mayberry an diesem Tag kommen würde, um die Gemeinderechnungen des Vormonats abzuholen. Die Arbeit, die Grace für Joe Piper, den Gemeindediener, erledigte, war mühselig, denn jedes Schriftstück musste dreifach abgeschrieben werden. Obwohl Mr. Piper in der Gegend auch noch die Post austrug, glaubte Grace nicht, dass er ihr die Arbeit aus Zeitmangel überlassen hatte. Viel wahrscheinlicher war es, dass Jemima Piper ihren Vater gedrängt hatte, ihrer Herrin eine sinnvolle Arbeit zu besorgen. Niemand wusste besser als ihr Dienstmädchen, wie schwer Grace es hatte, allein zurechtkommen zu müssen. Unter anderen Voraussetzungen hätte sie die Schreibarbeit vermutlich abgelehnt, aber die Lebensumstände ließen ihr keine Wahl.

Gerade hatte sie ihr seidiges braunes Haar mit einer Schleife hochgebunden, als ein ungewöhnlicher Lärm im Hinterhof zu hören war.

Was, um alles in der Welt, ist passiert? dachte sie entsetzt, als sie Jemimas unterdrückten Schrei und ein Klappern vernahm, als sei etwas zu Boden gefallen.

So schnell sie konnte eilte Grace auf den Flur, öffnete ein Schiebefenster am oberen Treppenabsatz und schaute in den Hinterhof hinab. Zunächst fiel ihr Blick auf einen umgefallenen Eimer, dessen Inhalt sich über die Pflastersteine ergoss. Dann sah sie das Dienstmädchen, das vor dem Anbau stand, der als Schuppen benutzt wurde, und sich erschrocken beide Hände vor den Mund hielt.

"Was ist geschehen, Jemima?" rief Grace voller Unruhe. "Was hat dich erschreckt?"

Als das Mädchen zum Fenster hinaufsah und ihre Herrin entdeckte, begann sie Grace mit ungestümen Handbewegungen zu sich zu winken. Dann legte sie den Zeigefinger an den Mund, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie leise sein musste. Aufgeregt deutete sie auf den Anbau, aber von ihrem Posten konnte Grace nichts erkennen. Dennoch lehnte sie sich aus dem Fenster und reckte den Hals.

"Kommen Sie rasch, Miss!" zischte Jemima und winkte sie erneut zu sich.

Als sie den Kopf zurückzog und das Fenster schloss, erinnerte Grace sich mit einem Mal an die Geräusche in der Nacht. Irgendein Tier musste in den Anbau eingedrungen sein; vermutlich ein Fuchs. Vielleicht war es in der Marsch angeschossen worden und hatte sich bis zu ihrem Haus geschleppt, um Schutz zu suchen. Es konnte sich nur um ein Tier handeln. Sonst wäre Jemima nicht so eifrig darauf bedacht gewesen, leise zu sein.

Atemlos eilte Grace die Stufen hinunter und lief den Gang hinter dem Treppenaufgang entlang, bis sie die Tür erreichte, die in den Anbau führte. Vor Aufregung hatte sie einen ganz trockenen Hals bekommen, und ihr Herz schlug wie wild in ihrer Brust. Vorsichtig öffnete sie die Tür und spähte in den Raum. Zunächst bot sich ihren Augen der gewohnte Anblick. In der einen Ecke befand sich hinter einer Tür das Klosett, den Rest des Raumes nahmen ein Waschzuber, große Zinnkrüge und zahllose andere Gegenstände ein, für die im Haus kein Platz war. Milchkannen standen wahllos neben Besen und einem Rechen, ein achtlos aufgerolltes Seil bedeckte ein Paar Holzschuhe.

Nachdem Grace den Anbau betreten hatte, begriff sie augenblicklich, warum Jemima so aufgeregt war. In der Tat – sie hatten es mit einem Eindringling zu tun, doch es war kein Tier. An einer Wand des Anbaus befand sich ein aus rohen Steinen gebauter Ofen, in dem tagsüber ein Feuer brannte, damit immer genügend heißes Wasser vorhanden war. Der Rauch wurde durch einen einfachen Abzug nach draußen geleitet. Vor dem Ofen lag der ausgestreckte Körper eines Mannes.

Erschrocken starrte Grace auf die reglose Gestalt. Inzwischen hatte Jemima sich wieder durch die Außentür in den Anbau gewagt und sah ihre Herrin mit weit aufgerissenen Augen an.

"Vielleicht ist er betrunken, Miss. Oder tot!" flüsterte sie ängstlich.

"Mach die Tür ganz auf, damit wir genug Licht haben", befahl Grace.

Grace bekämpfte ihren Widerwillen, zwängte sich an dem Waschzuber vorbei und trat auf den Eindringling zu, der am Boden lag. Sie hockte sich neben den leblosen Körper, während sie sich mit einer Hand an der Wand abstützte.

"Ist er tot?" fragte das Dienstmädchen ängstlich.

"Das weiß ich noch nicht", erwiderte Grace atemlos.

Es war schwer, irgendetwas festzustellen, denn das Gesicht des Fremden war von seiner Hand verdeckt, während der Arm seltsam verdreht unter der Brust ruhte. Der Mann war in einen langen Mantel gehüllt, der ganz durchnässt war. Seine Stiefel starrten vor Dreck. Er trug keine Kopfbedeckung, und das dunkle Haar hing ihm in wirren Strähnen über die Wange.

Grace schluckte und schob behutsam eine Hand unter seinen Arm, um den Herzschlag zu ertasten. Doch der Mantel war zu dick, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Hand weiter vorwärts zu schieben. Sie konnte immer noch kein Lebenszeichen entdecken, aber stattdessen spürte sie etwas Feuchtes an ihren Fingern. Grace erschrak, denn plötzlich erinnerte sie sich wieder an das knallende Geräusch von gestern Nacht. Als sie die Hand zurückzog, stieß Jemima einen Schrei aus. An Grace' Fingern klebte Blut.

Einen Augenblick lang starrte sie verständnislos auf ihre rot besudelte Hand. Ihr Pulsschlag dröhnte in ihren Ohren. Dann richtete sie die Aufmerksamkeit wieder auf das verborgene Gesicht des Fremden. Vorsichtig bewegte sie seinen Arm und strich dem Mann das Haar aus seinem bleichen Gesicht. Zitternd beugte Grace sich hinab und horchte.

Sie vernahm ganz schwache Atemzüge, und als sie ihre Finger vor den offenen Mund des Fremden hielt, hatte sie die Gewissheit, dass er noch am Leben war. Grace erhob sich wieder und sah ihr Dienstmädchen voller Unruhe an.

"Er atmet noch!"

"Bei allen Heiligen! Wer hätte das gedacht?" rief Jemima aufgeregt.

Grace wusste, dass nun jede Minute kostbar war. "Jemima, lauf sofort zu den Cottages und hole Clem und Samuel! Wir müssen den Mann unverzüglich in ein Bett tragen und einen Arzt rufen."

Jemima schien nicht recht begreifen zu wollen, was ihre Herrin soeben gesagt hatte. "In ein Bett, Miss? Bei uns?"

"Starr hier keine Löcher in die Luft!" schalt Grace ihr Dienstmädchen. "Lauf und hol Clem und Samuel! Sie müssten noch zu Hause sein. Wenn du sie aber nicht antriffst, geh auf die Felder und such sie dort, hast du mich verstanden?"

Als sie diese eindringlichen Worte hörte, schien Jemima wie aus einem Traum zu erwachen und machte sich rasch auf den Weg. Grace hörte ihre eiligen Schritte auf dem Kopfsteinpflaster. Die Cottages lagen nicht weit entfernt, und Grace hoffte, dass die Männer nach der Frühschicht auf dem Hof gerade beim Frühstück saßen. Sie brauchte die Hilfe ihrer Nachbarn jetzt dringend. Sie und Jemima wären wohl kaum in der Lage, den Verwundeten in das obere Stockwerk zu tragen.

Da sie vorerst nichts weiter tun konnte, begann Grace, den Mann so gut es ging warm zu reiben. Dabei gab sie Acht, nicht gegen seinen Arm oder seine Schulter zu stoßen, denn sie befürchtete, dass seine Wunde stärker bluten könnte. Es grenzte an ein Wunder, dass der Fremde noch lebte! Ohne Zweifel hatte er den Lärm verursacht, nachdem er in den Anbau eingedrungen war, um Schutz zu suchen. Dabei hatte er vermutlich die Nachbarkatze aufgeschreckt, die gewiss in der Nähe des warmen Ofens eingeschlummert war.

Plötzlich stöhnte der Mann leise auf, und Grace hielt inne. Er schien seinen Kopf zu bewegen, so dass sie sich näher über ihn beugte.

"Bleiben Sie liegen", redete sie beruhigend auf ihn ein. "Gleich werden Sie es bequemer haben."

Bei diesen Worten wandte er ihr den Kopf zu, während er keuchend atmete. Grace verstummte, als sie zum ersten Mal in sein Gesicht schaute. Obwohl er sehr bleich aussah, waren seine Gesichtszüge äußerst anziehend. Er hatte ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und wohlgeformten Lippen. Seine Lider flatterten auf, und im gedämpften Licht, das durch die Tür in den Schuppen fiel, schimmerten seine Augen grün. Angestrengt murmelte er etwas vor sich hin.

"De l'anglais! Où suis-je?"

"Sie sind Franzose!" rief Grace erstaunt aus.

Der Mann reagierte darauf nicht, sondern versuchte sich erneut zu bewegen. Als er seinen Arm zurückzog, verzerrte sich sein Gesicht vor Schmerz, was Grace besorgt registrierte.

"Bitte bleiben Sie liegen! Ihre Wunde wird wieder bluten." Sie sah, wie der Mann sie mit seinen matten Blicken suchte. "Hoffentlich versteht er mich überhaupt", murmelte sie aufgeregt vor sich hin.

Sein Atem wurde unregelmäßig, und sie konnte seinem edel geschnittenen Gesicht ansehen, dass er große Qualen litt. Die Augen fielen ihm wieder zu, aber seine Finger vergruben sich in den Falten seines Mantels, als würde er etwas suchen.

"Papiere", murmelte er mit einem starken französischen Akzent. "Verstecken …" Abermals flatterten seine grünen Augen auf, die Grace flehentlich anschauten. "Ich bitte Sie … ces papiers … sind in Gefahr."

Grace umschloss seine zitternden Finger mit ihrer Hand. "Wo sind diese Papiere? In Ihrer Manteltasche? Bleiben Sie liegen. Ich werde sie finden."

Während sie behutsam seine Taschen absuchte, verhielt der Fremde sich ruhig. Mit einer undeutlichen Geste zeigte er auf seine unverletzte Seite, und Grace griff in die innere Manteltasche. Ein raschelndes Geräusch ließ sie erleichtert aufatmen. Es war nicht ganz einfach, das kleines Bündel zusammengefaltete Papiere aus der Innentasche zu ziehen. Die Schriftstücke waren obendrein feucht geworden.

"Ich habe sie gefunden. Sie müssen jetzt ruhig liegen bleiben."

Der Verletzte machte eine Geste mit seiner Hand, als wollte er danken, doch dann verlor er wieder das Bewusstsein. Grace starrte auf das bleiche Gesicht. Wer war dieser Mann? War er edler Herkunft? Seine Kleidung und sein Tonfall ließen darauf schließen. Ein Franzose, der in der Nacht angeschossen worden war – dann hatte Jemima also Recht gehabt? – und um die Sicherheit einiger Schriftstücke fürchtete. Plötzlich hatte sie einen Verdacht. War er womöglich ein Spion? Immerhin befand England sich mit Frankreich im Krieg. Doch warum hatte der Mann dann ihr, einer Engländerin, erlaubt, wichtige Dokumente an sich zu nehmen?

Grace begann die Papiere mit größter Behutsamkeit zu sichten, denn sie hatte Angst, sie mit dem Blut an ihren Händen zu verschmieren. Sie ging das kleine Bündel durch, faltete ein Schreiben vorsichtig auseinander und versuchte es zu lesen. Sie sah ein Siegel, und soweit sie es erkennen konnte, war es in französischer Sprache abgefasst. In einem geeigneten Moment wollte sie sich sämtliche Papiere vornehmen, um den Inhalt zu entziffern.

Als sie plötzlich eilige Schritte hörte, faltete Grace sie rasch wieder zusammen und versteckte sie in der Tasche ihres Unterrocks. Kaum war sie damit fertig, liefen Clem und Samuel bereits über den Hinterhof, dicht gefolgt von dem atemlos keuchenden Dienstmädchen.

 

Als Grace sich später im Gästezimmer neben das Bett des Fremden setzte, betrachtete sie ihren ungebetenen Gast mit großer Sorge. Den verletzten Mann aus dem Schuppen herauszuholen war schwieriger als erwartet gewesen. Zunächst hatten Clem und Samuel vorgehabt, ihn über den Hinterhof ins Haus zu bringen, aber da der Anbau so klein war, dass zwei große kräftige Männer sich kaum drehen und wenden konnten, war es ihnen nicht möglich gewesen, den Verletzten an all den Gerätschaften vorbeizutragen. Als die beiden Männer dann auch noch diskutiert hatten, wie sie den Verwundeten nun am besten aus dem Schuppen herausbekämen, und schon im Begriff gewesen waren, ihn über den Boden zu schleifen, hatte Grace die Geduld verloren. Rasch hatte sie sich eingemischt und klare Anweisungen gegeben, damit der bedauernswerte Franzose nicht an den Folgen einer wohlgemeinten, aber verhängnisvollen Hilfeleistung starb.

Schließlich war es den Landarbeitern gelungen, den Mann durch die Tür zum Hausflur aus dem Anbau zu schaffen und auf das Bett zu legen, das Jemima in der Zwischenzeit im oberen Stockwerk vorbereitet hatte. Während Clem und Samuel den Oberkörper des Mannes entblößt hatten, war dem Dienstmädchen aufgetragen worden, eine Schüssel mit warmem Wasser zu holen. Grace hatte indessen eine Schere und ein altes Stück Leinen aus ihrem Schlafzimmer geholt.

Beklommen musterte sie die klaffende Wunde unterhalb der linken Schulter des Franzosen. Durch den Transport hatte die Wunde wieder angefangen zu bluten. Grace hatte ein Stück von dem Leinentuch abgetrennt, es in das heiße Wasser getaucht und damit die Schulter so gut sie konnte gesäubert. Während Jemima damit beschäftigt gewesen war, das Leinentuch in lange Streifen zu schneiden, hatte Grace ein weiteres sauberes Stück Stoff gefaltet und auf die Wunde gelegt. Mit Hilfe von Clem und Samuel hatten die beiden Frauen rasch die Streifen um Oberkörper und Schulter gewickelt, um den notdürftigen Verband zu befestigen.

Jemima hatte einen Krug mit kaltem Wasser und ein Glas mitgebracht. "Er wird Durst haben, wenn er aufwacht – falls er überhaupt wieder zu sich kommt", fügte sie unheilvoll hinzu.

Aber Grace ließ solche düsteren Vermutungen nicht gelten. "Er hat viel Blut verloren, aber seine Konstitution scheint kräftig zu sein, denn er hat die letzte Nacht überlebt. Seine Wunde muss aber behandelt werden, denn ich befürchte, es steckt noch eine Kugel unterhalb der Schulter."

Sie konnten sich aber nicht darauf einigen, wen sie zu Hilfe holen sollten.

"Ich fürchte, selbst Dr. Ffrith kann hier nichts mehr tun", hatte Clem mit einem Kopfschütteln gesagt. "Er wird nicht durchkommen."

"Wir hätten gleich Mr. Holwell holen sollen, damit er die Maße für den Sarg nehmen kann", hatte Samuel gemeint.

Grace hatte für diese düsteren Ansichten nicht viel übrig gehabt und stattdessen beschlossen, Clem zum Arzt in das nahe gelegene Dorf Rainham und Jemima zum Apotheker Mr. Dunmow nach East Hall zu schicken.

"Mr. Dunmow kann zumindest die Kugel entfernen", hatte sie voller Überzeugung gesagt. "Außerdem ist er gewiss zu Hause, während Dr. Ffrith vielleicht zu einem Notfall gerufen wird."

"Clem sollte ihm klarmachen, dass es sich hier um einen Notfall handelt", hatte Jemima gemeint. "Falls der arme Bursche überhaupt noch so lange lebt, bis der Arzt eintrifft."

"Sprich nicht so!" hatte Grace ihr Dienstmädchen getadelt. "Mach dich endlich auf den Weg zu Mr. Dunmow, Jemima, und dass du mir ja nicht ohne ihn zurückkehrst! Clem, lauf sofort nach Rainham. Ich werde Mr. Mayberry erklären, warum du nicht bei der Arbeit bist."

Jemima war bereits losgelaufen, doch Clem hatte noch auf der Türschwelle gezögert. "Sam könnte unserem Herrn doch Bescheid sagen. Mr. Mayberry ist der Gemeindevorsteher, und er hat bei diesem Fall auch noch ein Wörtchen mitzureden."

"Du hast Recht, aber ich brauche Samuels Hilfe noch."

Samuel war entsetzt gewesen, als Grace darauf bestanden hatte, dem Verletzten die restliche Kleidung auszuziehen.

"Die Kleidung ist feucht, Samuel. Wir wollen doch nicht, dass der Mann sich noch eine Lungenentzündung holt, oder?"

"Aber das schickt sich nicht, Miss! Außerdem ist er so gut wie tot."

Für die letzte Bemerkung hatte er eine heftige Schelte bezogen, bevor er sich schließlich selbst dazu bereit erklärt hatte, Grace' Aufforderung nachzukommen. Um dem Landarbeiter die Peinlichkeit der Situation zu ersparen, hatte sie sich vom Bett abgewandt, während er dem Verwundeten die Unterhose auszog. Grace hatte sich erst wieder umdrehen dürfen, als Samuel die Bettdecke über den nackten Körper des Fremden gezogen hatte. Nachdem Sam sämtliche Kleidungsstücke in den Schuppen gebracht hatte, damit Jemima sie waschen konnte, hatte sie ihn entlassen und ihm noch eine Nachricht für Mr. Mayberry mit auf den Weg gegeben. Dann hatte sie sich neben das Bett gesetzt, um die Ankunft des Apothekers abzuwarten.

Obwohl Grace sehr genau wusste, dass sie diesen Zwischenfall nicht verheimlichen konnte, behagte ihr der Gedanke nicht, dass schon in Kürze die Abgesandten der Gemeinde vor ihrer Tür stehen würden. Sie rechnete damit, dass die örtlichen Beamten ihr die weitere Pflege des Franzosen verbieten würden. Grace war fest entschlossen, sich mit aller Macht den Behörden zu widersetzen, denn an dem kritischen Zustand des Fremden gab sie sich allein die Schuld.

Wäre sie in der letzten Nacht dem Geräusch nachgegangen, hätte sie den Mann gefunden. Doch so war kostbare Zeit verstrichen, in der er fast verblutet wäre. Beinahe kam sie sich wie eine Mörderin vor! Dass der Mann überhaupt noch lebte, war ein Wunder, er schien übermenschliche Kräfte zu besitzen. Gott sei Dank hatte die Glut im Ofen des Anbaus ihm noch etwas Wärme gespendet. Wäre er weiter durch die Marsch geirrt, hätte er die Nacht nicht überlebt.

Voller Sorge betrachtete Grace das schmale Gesicht des Verletzten, aus dem jegliche Farbe gewichen war. Sein Kopf ruhte vollkommen regungslos auf dem Kissen. Sie glaubte zu sehen, wie sich die Brust des Mannes leicht hob und senkte, und klammerte sich an die Hoffnung, dass er noch atmete. Ängstlich schob sie die Hand unter die Decke und tastete nach seinem Handgelenk, um den Puls zu fühlen. Er war sehr schwach, aber sie konnte ihn spüren, so dass vor Erleichterung Tränen in ihre Augen stiegen.

Sie ließ seine Hand los und strich die Bettdecke glatt. Sein blasses Antlitz zog sie so in seinen Bann, dass sie aufstand und sich über den bewusstlosen Mann beugte. Er kam ihr wie eine Marmorstatue vor! Und er sah so vollkommen aus wie eine antike Gottheit. Unwillkürlich erinnerte sich Grace an seine grünen Augen, und sie fragte sich, ob sie ihre Farbe je wiedersehen würde. Bei diesem Gedanken musste sie ein plötzliches Schluchzen unterdrücken.

"Bitte bleib am Leben!" bat sie flehentlich.

Doch nichts regte sich hinter den bleichen Lidern, um ihr Schuldgefühl zu lindern. Sie hatte zwar nicht auf ihn geschossen, doch wenn er starb, konnte sie sich nicht von einer Mitschuld freisprechen. Das war sicher richtig, aber es beantwortete eine Frage nicht: Wer hatte ihn töten wollen?

 

Quälende Erinnerungen überwältigten ihn, als wäre er in einen Albtraum geraten, aus dem er nie wieder erwachen würde. Er rannte so schnell, dass er kaum noch atmen konnte. Hinter ihm in der Dunkelheit hörte er die bedrohlichen Schritte seiner Verfolger. Als er sich im Laufen umdrehte, sah er den hellen Schein einer flackernden Laterne. Das unstete Licht erinnerte ihn an einen Glühwurm, einen Vorboten des Todes. Wenn er seinen Häschern in die Hände fiel, war sein Leben verwirkt.

Verzweifelt rang er nach Luft. Wie leicht wäre es, aufzugeben und sich von dem Morast des Marschlandes verschlucken zu lassen. Wie einfach wäre es, sich Robespierre auszuliefern …

Er lief durch eine Tür in einen großen Raum, durch dessen hohe Fenster ein schwaches Dämmerlicht fiel. Unter einem der Fenster stand ein Schreibpult, das von einem Kerzenleuchter erhellt wurde. Der Mann mit der Perücke, der sich darüber beugte und die Schreibfeder geschäftig über das Papier gleiten ließ, war ihm bestens vertraut. Jean-Marc stand schweigend vor dem Pult und ließ ihn warten. Der Direktor ließ einen immer warten. Es war ein Teil seiner Taktik.

Plötzlich aber blickte Jean-Marc auf und sah ihn an. Unverhohlener Hass flammte in seinen Augen auf. Da hob er eine Hand und ließ den Zeigefinger mit einer raschen Bewegung über seinen Hals huschen. Die Geste war eindeutig …

Er sah sich aus dem Raum taumeln und fand sich auf dem Boot wieder, das über das Wasser glitt. In geduckter Haltung drückte er sich gegen die Bordwand, während ihn jemand über die Seine ruderte. Dieser Mann schien ihm vertrauenswürdig, doch in diesen Zeiten wusste man nie, woran man war. Er könnte von anderen bestochen worden sein. Von Jean-Marc? Von Étienne oder Augustin? Einst waren sie seine Freunde gewesen. Aber in diesem gesetzlosen Land war für Freundschaften kein Platz mehr …

Der Schatten des großen Schiffs legte sich über ihn. Im nächsten Augenblick sah er sich an Bord steigen, während ihn unsichtbare Augen zu beobachten schienen. Schon zog er in Erwägung, sich über Bord fallen zu lassen, aber konnte er lange genug schwimmen? Oder würde er in dem dunklen Meer ertrinken, ehe er die Küste von England erreichte? Vielleicht wäre es besser so. Warum sollte er sich an sein erbärmliches Leben klammern, für das keine Hoffnung mehr bestand?

Verborgen hinter dichtem Schilfgras bewegte er sich im Wasser. Erst jetzt bemerkte er den stechenden Schmerz unterhalb der Schulter. Hatte er einen Schlag erhalten? Als er ihre Stimmen vernahm, wusste er, dass sie nach ihm suchten. Sie waren schon ganz nah. Aber warum sprachen sie Englisch?

"Mir scheint, Miss Grace, wir vergeuden bloß unsere Zeit. Soweit ich das beurteilen kann, ist er so gut wie tot."

Die Stimme einer Frau ließ sich vernehmen. Ihr Tonfall klang zornig.

"Aber Sie sehen doch, dass er noch nicht tot ist, Mr. Dunmow", widersprach sie heftig. "Dass er nach all den Strapazen noch lebt, beweist doch, dass er eine starke Konstitution hat. Daher muss ich Sie bitten, die Kugel auf der Stelle zu entfernen."

Ihre Stimme schien ihm irgendwie vertraut zu sein. Dass sie von ihm sprach, lag auf der Hand, auch wenn es ihm unwahrscheinlich vorkam. Dank seiner Erziehung, über die er nie gesprochen hatte, verstand er fast jedes Wort. War es denn möglich, dass er es geschafft hatte? War er wirklich in England? Er hörte, wie der Mann protestierte.

"Die Sache ist die, Miss Grace. Es ist schwierig, eine Kugel zu entfernen, und ich glaube nicht, dass sich die Mühe hier lohnt."

"Tun Sie es bitte mir zuliebe, Mr. Dunmow. Ich werde Sie für Ihre Unannehmlichkeiten entschädigen, das verspreche ich Ihnen."

"Es wäre besser, Sie würden Dr. Ffriths Ankunft abwarten, Miss", gab der Mann unwillig zurück. "Natürlich wäre ich in der Lage, die Kugel herauszuholen, aber wahrscheinlich wird er während der Operation sterben, und ich möchte nicht für seinen Tod verantwortlich sein."

"Ich habe bereits nach Dr. Ffrith schicken lassen", erwiderte die Frau mit Nachdruck. "Aber er kommt womöglich zu spät. Wollen Sie nun endlich die Kugel entfernen?"

"Aber ich kann nicht versprechen, dass er überlebt!" gab der Mann zu bedenken.

"Er wird gewiss nicht überleben, wenn die Kugel drinbleibt!"

Er wollte der Frau beipflichten, doch die Stimme versagte ihm. Seit Wochen hatte er in Gefahr geschwebt. Nun waren ihm nichts als verschwommene Erinnerungen geblieben, um herauszufinden, warum er angeschossen worden war. Verzweifelt versuchte er die Augen zu öffnen, um die Frau zu sehen, die darauf bestand, sein Leben zu retten. Doch nichts als düstere Schatten drängten sich in seine Erinnerung …

Jean-Marc rief ihn, und sein Name hallte merkwürdig gebrochen in der nebligen Dämmerung dieses fremden Landes. Hen-ri! Hen-ri-i-i-i …

Wieder drehte er sich um und sah das flackernde Licht der Laterne hinter sich. Seine Brust war wie zugeschnürt, und das Atmen fiel ihm schwer. Doch er musste fort von hier. Wenn sie ihn einholten, war sein Schicksal besiegelt. Obwohl ihn düstere Gedanken quälten, klammerte er sich noch an das Leben. Stolpernd eilte er weiter, aber er hatte Angst, vom Pfad abzukommen und in den morastigen Stellen zu versinken, vor denen ihn der Wirt des Gasthauses gewarnt hatte …

Ein stechender Schmerz riss ihn aus den verzerrten Traumfetzen. Seine Schulter schien in Flammen zu stehen, und Henri versuchte sich mit einem Schrei aus diesem Albtraum zu befreien. Doch alles, was über seine Lippen kam, war ein schwaches Aufstöhnen. Als der brennende Schmerz unerträglich wurde, riss er vor Entsetzen die Augen auf.

Er blickte in ein verschwommenes Gesicht, das er nicht kannte, aber die sanfte Stimme, die er nun vernahm, kam ihm vertraut vor.

"Ich weiß, dass Sie furchtbare Schmerzen haben. Es tut mir so Leid, aber es muss sein. Gleich ist alles vorbei, das verspreche ich Ihnen."

Er spürte, wie seine Hand warm umschlossen wurde und Finger zärtlich über seine Stirn strichen.

"Halten Sie durch, bitte", flehte ihn die Frau an und drückte aufmunternd seine Hand. "Fahren Sie fort, Mr. Dunmow."

Der entsetzlich stechende Schmerz holte ihn erneut ein. Unwillkürlich umklammerten seine Finger die Hand, die in seiner lag. Als er hörte, wie jemand leise aufstöhnte, wusste er augenblicklich, dass er der Frau wehgetan hatte. Abermals versuchte er in ihr Gesicht zu blicken, als wollte er sich entschuldigen, aber bei dem höllischen Schmerz, der ihn in diesem Moment peinigte, wurde ihm schwarz vor Augen.

Besorgt schaute Grace in das bleiche Gesicht. Obwohl sie auf der Operation bestanden hatte, beschlich sie nun die Angst, dass der Franzose nicht mehr lange leben würde. Die kurzen Momente, in denen er wieder zu Bewusstsein kam, ließen einen Funken von Hoffnung zu. Doch jetzt musste sie erneut die Finger vor seinen halb geöffneten Mund halten, um ein Lebenszeichen festzustellen.

Neben sich vernahm Grace ein erleichtertes Aufatmen, und sie schaute sich genau in dem Moment um, als der Apotheker das Furcht erregende Instrument aus der klaffenden Wunde zog. Zwischen der Zange, die dem Fremden so viele Schmerzen bereitet hatte, steckte die Kugel, die ihn an den Rand des Todes gebracht hatte.

"Sie saß sehr tief", sagte Dunmow mit einem Anflug von Befriedigung. "Ein Wunder, dass er nicht daran gestorben ist. Offenbar hat sie sein Herz nur um Haaresbreite verfehlt."

Er ließ die Bleikugel in eine Blechschale auf dem Nachttischchen fallen und legte die Zange zur Seite. Grace wandte sich wieder dem Franzosen zu. Ihr Blick streifte die klaffende Wunde nur kurz und ruhte schließlich auf dem bleichen Antlitz. Ihr Herz schien einen Freudensprung zu machen, als sie glaubte, eine schwache Regung in seinem Gesicht zu entdecken. Er hatte die schwere Operation überlebt!

"Was beabsichtigen Sie nun zu tun?" fragte sie und schaute zu dem Apotheker hinüber, der gerade in seine kleine Instrumententasche griff.

"Ich werde die Wunde hiermit reinigen", antwortete er und holte eine kleine Flasche hervor. "Die Kugel wird Bleispuren im Körper hinterlassen haben …"

"Die ihn vergiften könnten", ergänzte Grace und strich dem Franzosen unbewusst eine Haarsträhne aus der schweißbedeckten Stirn. "Ja, bitte säubern Sie die Wunde gründlich."

Mr. Dunmow machte sich unverzüglich ans Werk, wischte das Blut weg und goss eine wohl dosierte Menge aus der Arzneiflasche auf die Wunde. Die Flüssigkeit lief über die Brust des Mannes und tropfte auf die Laken. Grace nickte dem Apotheker dankbar zu, nahm ein frisches Stück Leinen und begann einen neuen Verband anzulegen, während Mr. Dunmow den Oberkörper des Fremden leicht anhob.

"Dr. Ffrith wird sich die Wunde sicherlich ansehen wollen." Nachdem die Arbeit, die er zunächst nicht hatte erledigen wollen, getan war, wirkte Mr. Dunmow so selbstzufrieden, als wäre die Operation seine eigene Idee gewesen. "Ich glaube, er hätte es auch nicht besser gekonnt, aber er wird den Burschen zu versorgen wissen, falls er Fieber bekommt."

"Wie können wir das verhindern?" erkundigte sich Grace besorgt, denn sie fürchtete erneut um das Leben des Franzosen.

Der Apotheker zuckte mit den Schultern. "Man könnte ihn zur Ader lassen, aber er hat ja schon so viel Blut verloren."

Grace pflichtete ihm im Stillen bei. Sie hätte es niemals zugelassen, dass ihr Patient noch mehr geschwächt würde. Sie hoffte, dass Dr. Ffrith einen besseren Vorschlag hatte, sprach Mr. Dunmow ihren aufrichtigen Dank aus und stellte ihm eine angemessene Bezahlung in Aussicht. Der Apotheker schien sich insgeheim darüber zu freuen, tat dann aber so, als habe er ihr bloß einen Gefallen getan. Da Grace gelernt hatte, es sich mit den Leuten aus der Gegend nicht zu verscherzen, unterließ sie es, Mr. Dunmow an sein anfängliches Zaudern zu erinnern, während sie ihn aus dem Zimmer führte.

"Ich habe meine Arbeit getan, Miss Grace, aber ich kann nicht versprechen, dass er durchkommt", sagte Mr. Dunmow mit düsterer Miene, als er sich auf dem oberen Treppenabsatz noch einmal umdrehte. "Er ist noch lange nicht über den Berg. Das wird Ihnen auch Dr. Ffrith bestätigen. Lassen Sie ihn urteilen, aber wenn Sie mich fragen, steht es schlecht um Ihren Gast. Vermutlich wird er die Nacht nicht überleben."

Verärgert über die Schwarzmalerei des Apothekers wuchs ihr Entschluss, das Leben des unbekannten Franzosen zu retten. Kaum hatte sie das Zimmer betreten, in dem der Franzose lag, wartete eine unangenehme Überraschung auf sie.

Die schwerfälligen Schritte auf der Treppe hätten sie warnen sollen, aber ihre ganze Aufmerksamkeit war erneut auf den Verwundeten gerichtet gewesen, als im nächsten Moment ihre alte Kinderfrau eintrat.

Mrs. Mabel Lamport, eine rundliche Dame mit einem mächtigen Busen und einem ausgeprägten Doppelkinn, vergaß leider allzu oft, dass ihr Säugling von einst inzwischen zu einer Frau von achtundzwanzig Jahren herangewachsen war, die seit geraumer Zeit für sich selbst sorgte. Der Tod ihres Vaters lag nun schon beinahe fünf Jahre zurück. Seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr hatte Grace für ihren Vater den Haushalt geführt. Nachdem Pfarrer Dovercourts Frau gestorben und sein Sohn nach Rainham gezogen war, hatte er nur noch seine Tochter gehabt. Wegen ihrer Gehbehinderung war Grace schon früh zu der Überzeugung gelangt, dass sie sich nach keinem Ehemann umzuschauen brauchte. Stattdessen hatte sie den Platz ihrer Mutter eingenommen und sich um den Haushalt gekümmert.

Kaum hatte Mab aufgehört zu murren, Grace vergeude bloß ihre Jugendjahre, verstarb Mr. Dovercourt. Doch anstatt zu ihrem Bruder zu ziehen, wie es sich für eine gut erzogene Frau in ihrer Situation schickte, hatte ihr widerspenstiger Schützling den Kauf eines kleinen Hauses in Erwägung gezogen, in dem sie nur mit ihrem Dienstmädchen leben wollte. Mab war mehr als empört gewesen.

"Das können Sie nicht machen, Miss Grace! Um Himmels willen, was hätte wohl Ihr seliger Vater, der Herr Pfarrer, dazu gesagt!"

"Er hätte mir gewiss zu dem Kauf geraten", hatte Grace eigensinnig entgegnet. "Du weißt sehr wohl, dass Papa sich nie viel aus Anstandsregeln gemacht hat."

"Dann denken Sie doch bitte an Ihren armen Herrn Bruder. Er wird von Ihrem Vorhaben ganz bestimmt nicht angetan sein!"

Grace hatte ihren Bruder Constant Dovercourt, der ebenfalls Pfarrer war, in der Tat lange überreden müssen, bis er ihre Entscheidung schließlich akzeptierte. Nachdem sie ihn nicht hatte überzeugen können, dass sie ihm finanziell nur zur Last fallen würde, hatte Grace ihre Gehbehinderung als Argument angeführt.

"Lieber Constant, sosehr ich deine Sorgen um mich auch nachvollziehen kann, möchte ich dich bitten, meine Situation zu verstehen. Wenn ich dein Angebot annähme und in dein Haus zöge, wäre ich nur eine Bürde für euch. Auch wenn ich es wollte, ich wäre Serena keine große Hilfe im Haushalt, denn wie du weißt, sind meine Kräfte begrenzt. Hinzu kommt, dass ich es nicht ertragen würde, jeden Tag an ein glückliches Familienleben erinnert zu werden, das mir nie vergönnt sein wird! Viel lieber würde ich es vorziehen, mein eigenes bescheidenes Leben zu leben."

Grace hatte lange auf ihren Bruder einreden müssen, bis er ihr Vorhaben endlich guthieß. Nicht, dass er vom Gesetz her berechtigt gewesen wäre, seiner Schwester den Hauskauf zu verbieten. Immerhin war sie volljährig und besaß durch die kleine Erbschaft ihres Vaters die Möglichkeit, ihren eigenen Weg zu gehen.

Mab hatte sich nie mit der Entscheidung der jungen Frau abgefunden, und Grace hegte die starke Vermutung, dass ihre ehemalige Kinderfrau den Wirt Mr. Lamport nur aus einem einzigen Beweggrund geheiratet hatte: Sie musste gefürchtet haben, im hohen Alter eine Last für Grace zu werden. Obwohl die treue Mab ihr ans Herz gewachsen war, hatte Grace bei der Aussicht aufgeatmet, ihre strengen Ermahnungen nicht länger hören zu müssen. Die tadelnden Worte hatten keineswegs abgenommen, aber Grace bekam sie nun in größeren Abständen zu hören, denn Mabs Pflichten im Wirtshaus ihres Mannes hatten sie weitaus mehr vereinnahmt als erwartet.

Dass Mab an diesem Morgen vorbeigekommen war, wunderte Grace nicht im Geringsten. Die alte Frau musste sich unverzüglich auf den Weg gemacht haben, nachdem ihr zu Ohren gekommen war, dass ihr Schützling aus heiterem Himmel vor der schweren Aufgabe stand, sich um einen Unbekannten zu kümmern, der eine Kugel in der Schulter hatte. Unglücklicherweise befand sich Mr. Lamports Schenke in East Hall, wo auch der Apotheker wohnte, zu dem Jemima geeilt war. Vermutlich hatte sie es für ihre Pflicht gehalten, Mrs. Lamport unverzüglich von dem Vorfall zu berichten. Nun war es nicht mehr zu ändern, und Grace machte sich auf die bevorstehenden Ermahnungen gefasst.

"Gütiger Himmel, hier ist ja was los, Miss Grace, aber ich will doch hoffen, dass Mr. Mayberry den Burschen sofort aus dem Haus bringen lässt, bevor die Leute anfangen zu reden", kam Mab ohne Umschweife zur Sache.

"Sprich bitte nicht so laut", mahnte Grace und führte die alte Kinderfrau zum gegenüberliegenden Fenster. "Der Mann ist von der Operation erschöpft, und ich möchte nicht, dass er aufwacht."

Mab versuchte einen Blick auf den Patienten zu werfen. "Unerhört, dass er sich gerade bei Ihnen eingeschlichen hat, Miss Grace, aber das ist nun wohl nicht mehr zu ändern. Sie sind ihn bald wieder los, glauben Sie mir."

"Aber ich will ihn doch gar nicht los sein!" entgegnete Grace leicht ungehalten. "Außerdem werde ich auf keinen Fall zulassen, dass irgendjemand den Fremden wegbringt. Er ist lebensgefährlich verwundet!"

Mabs Wangen röteten sich vor Entrüstung. "Sie werden ihn auf gar keinen Fall hier behalten! Was sollen denn die Leute sagen?"

"Es interessiert mich nicht, was die Leute sagen, Mab, und wenn du nur hergekommen bist, um mit mir zu schimpfen, dann kannst du gleich wieder gehen!"

Mrs. Lamport richtete sich empört auf. "Kein Grund, die Fassung zu verlieren, Miss Grace, denn Sie wissen sehr wohl, dass ich Recht habe. Sie müssen an Ihren guten Ruf denken und …"

"Mab, um Himmels willen! Der Mann ist dem Tode nahe! Was kann er da schon tun, um meinen Ruf zu ruinieren?"

Mab rümpfte die Nase. "Er braucht gar nichts zu tun, und die Leute reden trotzdem."

"Dann sollen sie sich eben das Maul zerreißen."

Die Kinderfrau dachte einen Augenblick lang nach. "Nun, wenn Ihnen so viel daran liegt, den Mann hier zu behalten, dann bleibe ich am besten auch hier, solange er im Haus ist."

Das hatte Grace gerade noch gefehlt! "Unmöglich, Mab. Für dich ist kein Zimmer mehr frei. Und außerdem kannst du Mr. Lamport doch nicht im Wirtshaus allein lassen."

"Ein oder zwei Tage wird er schon ohne mich auskommen", beharrte sie.

"In der kurzen Zeit wird sich der Mann noch nicht erholt haben", sagte Grace entschieden. "Nach all den Strapazen wird es meinem Patienten frühestens nach einer Woche besser gehen."

"Er ist also Ihr Patient?" fragte die Kinderfrau und sah ihren Schützling herausfordernd an.

Grace bedachte die Frau mit einem kühlen Blick. "Es ist ganz allein mein Fehler, dass er sich nun in diesem Zustand befindet. Ich habe ihn letzte Nacht gehört, und wenn ich aufgestanden wäre, hätte ich mich um ihn kümmern können. Dann hätte er nicht so viel Blut verloren."

Es war zu erwarten, dass diese Erklärungen bei Mab wenig Anklang fanden. Doch während sie Grace auszureden versuchte, sie sei am Zustand des Mannes schuld, verwarf sie ihren ursprünglichen Plan, sich im Haus einzuquartieren. Sie kündigte an, in den kommenden Tagen für ein oder zwei Stunden nach dem Rechten zu sehen, um Grace am Krankenbett abzulösen.

"Danke für deine Hilfe, Mab. Ich käme sonst zu nichts mehr", deutete Grace erleichtert an, "und wenn ich in Verzug gerate, schaffe ich meine Arbeit nicht. Und Mr. Staply braucht das Schreiben am Ende der Woche."

Kaum hatte Grace dieses Thema angesprochen, machte Mab ihr gleich den alten Vorwurf, sie verrichte Büroarbeit. Sie wollte Grace gerade zurechtweisen, als hinter ihnen ein angestrengtes Stammeln zu vernehmen war, so dass sie ihren Streit sofort unterbrachen.

"Ils arrivent! … Sie kommen! … Mes papiers, mademoiselle … sie werden dafür töten!"

 

2. Kapitel

 

Grace eilte sofort zum Bett und sah, dass der Verwundete sie mit seinen grünen Augen anstarrte. In seinem Blick lag Verwirrung, aber auch Angst.

"Niemand kommt hierher. Beruhigen Sie sich. Sie haben nichts zu befürchten", redete sie besänftigend auf ihn ein.

"Mes papiers", flüsterte er mit gebrochener Stimme.

"Ich habe sie sicher verwahrt", beruhigte Grace ihn und legte eine Hand auf seine Stirn. Seine Haut war kühl. Erleichtert atmete Grace auf, sah dem Mann erneut in die müden Augen und lächelte ihn an. "Ich glaube, Sie haben geträumt, Sir. Es besteht kein Grund zur Besorgnis. Sie müssen sich jetzt ausruhen."

Die grünen Augen wurden matt, und der Mann bewegte kaum merklich den Kopf, als wollte er Grace zunicken. "Merci", murmelte er, als seine Lider sich wieder schlossen. Im nächsten Augenblick war er eingeschlafen.

Als Grace aufschaute, sah sie, dass Mab an der anderen Seite des großen Bettes stand. Sie hatte die Arme in die Seite gestemmt, und ihre Augen funkelten streitlustig.

"Ein Franzose, wie?" fragte sie mit einem unheilvollen Unterton.

Grace legte einen Finger an den Mund und brachte sie mit einem strengen Blick zum Schweigen. Dann ging sie zur Tür und machte Mrs. Lamport ein Zeichen, ihr zu folgen. Rasch zog sie Mab aus dem Zimmer und lehnte die Tür an.

"Ich werde es nicht zulassen, dass du ihn aufweckst, Mab! Ja, er ist Franzose, aber ich möchte, dass du das noch für dich behältst."

Mab rümpfte beleidigt die Nase. "Warum sollte ich etwas sagen? Sobald der Bursche den Mund aufmacht, weiß doch ohnehin jeder, woher er stammt!"

"Aber es kann dauern, ehe er wieder zu sich kommt. Ich möchte so lange wie möglich verhindern, dass man von der Herkunft des Fremden erfährt. Die Leute würden nur unangenehme Fragen stellen, wenn sie hören, dass er Franzose ist. Siehst du das ein?"

"Sie schweben in größerer Gefahr, als ich zuerst dachte. Das ist alles, was ich sehe", brummte die Kinderfrau.

"Red keinen Unsinn!" entgegnete Grace ungehalten.

"Ich möchte nicht wissen, was Ihr Herr Bruder dazu sagen wird!"

Erleichtert dachte Grace daran, dass sie in dieser Hinsicht Glück hatte. Constant war mit seiner ganzen Familie für mehrere Wochen an die Küste gefahren, weil die Seeluft seiner Frau gut tat. Serena wirkte seit einigen Jahren kränklich, und nun musste Grace ihrem Bruder dankbar sein, dass er sich um die Gesundheit seiner Frau Sorgen machte. Denn zweifellos hätte Constant Dovercourt das Verhalten seiner Schwester nicht gebilligt.

Doch dann ergriff sie die Hände ihrer Kinderfrau und drückte sie. "Bitte, Mab, sei auf meiner Seite! Ich brauche deine Hilfe, meine Liebe."

Grace schaute ihre Kinderfrau absichtlich mit flehenden Augen an, denn sie wusste nur zu gut, dass Mab ein weiches Herz hatte. Und sie sollte Recht behalten. Mrs. Lamport richtete sich auf und erklärte, dass sie immer zu Grace stehen würde, auch wenn sie ein ungutes Gefühl mit dem verwundeten Mann habe. Als die Kinderfrau dann noch feststellte, dass ihr Schützling in all der Aufregung noch gar nicht zum Frühstücken gekommen war, schimpfte sie die junge Frau erneut aus.

"Was nützen Sie dem Burschen, wenn Sie selbst verhungern, Miss Grace? Sie müssen bei Kräften bleiben. Ich bleibe bei ihm, damit Sie in Ruhe einen Bissen zu sich nehmen können. Machen Sie sich keine Sorgen."

Grace ließ sich nur widerwillig zur Treppe geleiten, doch sie wusste, dass Mab trotz all ihrer Einwände genauso gut für den Franzosen sorgen würde wie sie.

Kaum hatte Jemima die unverwechselbaren Schritte ihrer Herrin vernommen, eilte sie aus der Küche und teilte Grace mit, dass sie im Salon schon den Tisch gedeckt habe. Sie wollte ihr Tee und ein paar pochierte Eier auf Toast servieren.

Als Grace den Salon betrat, bemerkte sie, wie hungrig sie war. Ein Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims verriet ihr, dass es bereits kurz vor elf war. War es schon drei Stunden her, dass Jemima den Franzosen gefunden hatte? Weder Dr. Ffrith noch Mr. Mayberry hatten bislang vorbeigeschaut, und das konnte nur bedeuten, dass man sie nicht zu Hause angetroffen hatte. Die Nachricht, dass ein verwundeter Mann in Miss Dovercourts Schuppen entdeckt und in ihr Gästezimmer gebracht worden war, hätte ausgereicht, um die beiden Männer unverzüglich in ihr Haus zu locken. Wie würden sie auf die Mitteilung reagieren, dass der Fremde Franzose war?

Plötzlich fielen ihr die Papiere ein, von denen er gesprochen hatte, nachdem er zu sich gekommen war. Sollte sie es jetzt riskieren, einen Blick darauf zu werfen? Nein, denn sie wusste, dass sich Neuigkeiten in einem Dorf rasch herumsprachen und sie schon bald nicht mehr ungestört wäre. Sie brauchte Zeit und Ruhe, um sie genau zu studieren. Ihr Inhalt schien brisant zu sein. Was hatte der Mann vorhin gesagt? Ils arrivent! "Sie kommen." Und diese Leute – um wen es sich dabei auch immer handelte – würden vor einem Mord nicht zurückschrecken, um in den Besitz der Schriftstücke zu gelangen. Gütiger Gott, in was für ein furchtbares Geheimnis war sie hineingezogen worden?

 

Dr. Ffrith war ein hagerer Mann, der die Angewohnheit hatte, ständig über den Rand seines Kneifers zu schauen. Die Leute meinten, er wäre überheblich, doch Grace hielt ihn nur für etwas altmodisch. Nach wie vor trug er eine Perücke, obwohl immer mehr Herren von vornehmem Stand ihr eigenes Haar nicht länger verbargen, und er ließ sich nicht davon abbringen, Grace mit ihrem Nachnamen anzusprechen. Dabei war sie in der ganzen Gegend als Miss Grace bekannt. Als Schwester des Gemeindepfarrers und Tochter eines angesehenen Mannes nahm Grace eine höhere gesellschaftliche Stellung ein, aber sie war es inzwischen gewohnt, dass der Arzt ihr gegenüber gern erkennen ließ, er gehöre zusammen mit ihr der erlauchten Elite der Gegend an.

Grace achtete stets darauf, nicht eingebildet zu wirken, und begegnete jedem gleichermaßen freundlich, aber sie war sehr wohl in der Lage, die Autorität ihrer Stellung geltend zu machen, wenn sie es, wie in diesem Fall, für notwendig hielt. Es ärgerte sie, dass der Arzt die ganze Angelegenheit zunächst mit Mr. Mayberry – der ebenfalls anwesend war – durchgesprochen hatte, bevor er zu ihr gekommen war.

"Wie gut, dass ich nach Mr. Dunmow geschickt habe", rief sie zornig, "denn hätten wir die ganze Zeit auf Sie gewartet, wäre der arme Mann gestorben!"

"Clem sagte mir, dass der Apotheker bereits verständigt sei", sagte der Arzt und warf ihr einen strengen Blick über den Rand seiner Brille zu, "ansonsten wäre ich sofort gekommen. Doch Clems Beschreibungen zufolge …"

"Kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit Clems Schwarzmalerei", unterbrach sie ihn scharf. "Ich darf doch wohl davon ausgehen, dass ein Arzt seine Diagnose nicht von der Bemerkung eines einfachen Landarbeiters abhängig macht."

Dr. Ffrith straffte die Schultern und schob sich die Brille auf die Nase. "Sie haben Recht, das ist nicht meine Art, Madam. Da ich wusste, dass Mr. Dunmow sein Bestes geben würde, um dem Mann zu helfen, hielt ich es für ratsam, umgehend alles Nötige zu veranlassen, um Ihnen, Miss Dovercourt, so schnell wie möglich diese Bürde abzunehmen. Die Verantwortung, die Sie sich auferlegt haben, muss Sie ängstigen."

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