Brautschau auf Italienisch

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Nie hat der Seidenfabrikant Alessandro die anmutige Modestudentin Alice vergessen können. Nach ihrer ersten, verheißungsvollen Liebesnacht verschwand sie spurlos. Als er sie nun in Mailand wiedersieht, will er sie zurückgewinnen und lädt sie in seine Villa am Comer See ein. Doch nach einem traumhaften Wochenende ergreift Alice erneut die Flucht. Auf keinen Fall aber will Alessandro sie ein zweites Mal verlieren. Er wird kämpfen, alles wagen. Und dann kommt seine große Chance: Als er Alice auf einer Brautmodenschau im Publikum entdeckt, zieht er seinen kostbarsten Trumpf …


  • Erscheinungstag 27.02.2012
  • Bandnummer 1937
  • ISBN / Artikelnummer 9783864940446
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Majestätisch ragten die hohen Säulen des Doms in den strahlenden Himmel. Weiße Wölkchen segelten leicht dahin, und ein warmer Wind strich über den großen, sonnenüberfluteten Platz, erzählte von einem langsam sich zu Ende neigenden Sommer. Zwischen dem Lachen der flanierenden Menschen und den Geräuschen der Stadt schwebte sanft die Melodie eines Straßenmusikers, der mit dem Spiel seiner Violine das zauberhafte Ambiente noch unterstrich.

Alice konnte sich nicht sattsehen und ließ ihren Blick abermals über das imposante Bauwerk schweifen. Der Mailänder Dom, eines der Wahrzeichen Italiens, zählte zu den größten Kirchen der Welt. Eingebettet in das pulsierende Zentrum der Stadt und umgeben von unzähligen Schaulustigen, Touristen als auch Einheimischen, verbreitete das einzigartige Gotteshaus eine unbeschreiblich schöne Atmosphäre. Heute wie damals war Alice von der ganzen Pracht überwältigt, und sie hätte ewig hier stehen und staunen können.

Allerdings schmerzten ihr von der langen Besichtigungstour quer durch die City längst die Füße, denn sie trug blaue Pumps, die zwar elegant, aber nicht gerade bequem waren. Nun, sie war eben nicht zum Vergnügen, sondern in erster Linie als Repräsentantin von Richards Firma in die Modemetropole Mailand gekommen: „Lovely Dress“ – der Name des erfolgreichen Unternehmens war Programm, auch wenn ihre Vorstellung von schicker Haute Couture mit der ihres Onkels nicht unbedingt übereinstimmte.

Alice seufzte und sah sich um. Sie hatte sich nun wirklich eine Pause verdient. In welcher Richtung lag noch mal dieses kleine Café, in dem sie vor Jahren als Modestudentin immer so gerne gewesen war? Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern, hatte sie doch vieles aus dieser erlebnisreichen Zeit verdrängt. Und das ja auch aus gutem Grund …

Nicht an die Vergangenheit denken! beschwor sie sich und ging einfach los. Schließlich wollte sie jede freie Minute ihres Aufenthalts einfach nur genießen. Wie sehr hatte sie sich gefreut, als Richard ihr das Flugticket auf den Schreibtisch gelegt hatte.

„Aber wenn du wieder unglücklich verliebt zurückkommst, war dies deine letzte Reise nach Italien!“, hatte er mit einem Augenzwinkern hinzugefügt.

„Wo denkst du hin!“ Resolut hatte sie sich gegen diese Vorstellung gewehrt. „Ich liebe zwar Italien, aber ganz bestimmt nie wieder einen Italiener.“ Lachend hatte sie ihren Onkel umarmt und alle weiteren Bedenken beiseitegeschoben. Eine ganze Woche durfte sie nun also das südliche Flair auskosten, das sie in ihrer kühlen Heimatstadt so sehr vermisste. Sicher, London war eine großartige Metropole. Doch immer schon hatte Alice tiefe Sehnsucht nach dieser genießerischen mediterranen Lebensweise verspürt. Nur leider ließ ihr der anstrengende Job als Chefdirektrice kaum Zeit für den Luxus eines Urlaubs.

Aber es gab noch einen anderen Grund, warum sie mit ihrer Arbeit in jüngster Zeit nicht ganz zufrieden war. Während sie vor Begeisterung für neue, moderne Kreationen sprühte, bremste Richard ihren Schaffensdrang regelmäßig aus. Er begnügte sich mit der langjährigen Klientel seines Hauses, meist ältere, gut betuchte Damen mit konservativem Geschmack. Alice hatte lange dafür gekämpft, die Kollektionen nun endlich etwas aufzufrischen. Die Reise nach Italien zu Mailands berühmter Modewoche, ein Event, das sowohl im Frühjahr als auch im Herbst Tausende von Modebegeisterten aus aller Welt anzog, war ein erster Erfolg – und allein ihr Erfolg. Sie hatte sich fest vorgenommen, die Modelinie im Haus künftig stärker mitzugestalten und sich fortan auch die eine oder andere Reise zu gönnen. Das hatte sie sich nach den vielen Jahren harter Arbeit einfach verdient.

„Attenta, attenta!“ Alice schreckte auf. Wer mahnte sie denn da so aufgebracht zur Vorsicht? Ganz in Gedanken versunken, hatte sie nicht auf den Weg geachtet. Gerade noch rechtzeitig konnte sie einem wütend klingelnden Radfahrer ausweichen. Betäubt vor Schreck, sah sie ihm nach. Wo befand sie sich überhaupt? Sie war einfach in eine der Seitenstraßen abgebogen und stand nun vor einem der vielen typischen Cafés, das im Schutz der großen hellen Markise mehr als einladend wirkte. Kurz entschlossen nahm sie an einem der freien Tische Platz und streckte ihre geplagten Füße aus. Wie gut das tat! Aus dem Inneren der Bar drang das laute Rumoren der Espressomaschine, und der kühle Schatten war – obwohl der Kalender bereits Ende September zeigte – immer noch eine Wohltat, denn Alice hatte ein paar herrlich warme Spätsommertage erwischt. Sie bestellte sich einen Milchkaffee und vertiefte sich rundum zufrieden in ihren Reiseführer. Ob dieses nette Lokal hier darin erwähnt wurde?

„Sie wünschen, Signorina?“ Alice sah von ihrer Lektüre auf und in das lächelnde Gesicht des Kellners. Der Bursche war noch ziemlich jung, aber es war schon abzusehen, dass er sich zu einem Frauenschwarm entwickeln würde. Was war es nur, das ihr an italienischen Männern so gefiel? War es ihr selbstbewusstes Auftreten, ihr offenes Lachen oder diese unergründlich dunklen Augen, die jedem gewechselten Wort den Hauch eines Geheimnisses verliehen? Sie lächelte zurück und bestellte einen Milchkaffee. Dann jedoch runzelte sie die Stirn. Genau das war ja das Problem dieser Männer – ihr Geheimnis. Das meist darin bestand, dass sie nicht nur eine, sondern gleich mehrere Geliebte hatten. Sie sollte sich lieber auf die Gegenwart konzentrieren, statt diesen Gedanken nachzuhängen, die sie damals nach ihrer überstürzten Abreise aus Mailand so gequält hatten.

Der junge Ober servierte den Milchkaffee, und Alice griff, nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, wieder nach ihrem Reiseführer und stockte. Was steckte denn dort zwischen den Seiten? Sie zog an dem weißen Stück Papier, und hervor kam ein Kuvert, das eine ihr wohlbekannte Handschrift trug: Für Alice. Onkel Richard! Aber warum? Halb überrascht, halb skeptisch öffnete sie den Umschlag. Wahrscheinlich hatte er es nicht lassen können, ihr noch ein paar fürsorgliche Anweisungen mit auf den Weg zu geben. Er kümmerte sich eben wie ein echter Vater um sie, war stets um ihr Wohl besorgt – so sehr, dass es ihr manchmal zu viel wurde …

Sie öffnete das Kuvert. Darin steckte eine schlichte weiße Karte, aus der, als sie aufgeklappt wurde, eine nagelneue 500-Euro-Note auf den Boden segelte. Schnell bückte sie sich und hob den Geldschein auf. Na so was! Sie überflog Richards wenige Worte: Kauf Dir was Schönes! Oder gönne Dir einen Luxus! Dein Dich liebender Onkel. Alice jedoch wollte kein rechtes Dankeslächeln gelingen. Stattdessen starrte sie lange auf den Schein. So war Richard eben: In irgendeiner Weise streckte er immer die Finger nach ihr aus, meinte es stets gut mit ihr – und übersah dabei geflissentlich, dass sie schon lange selbstständig war. Sie brauchte sein Geld längst nicht mehr!

Doch sie war nun einmal Richards Ersatztochter und wusste, wie sehr er sich eigene Kinder gewünscht hatte, auch wenn er und Tante Sue keine bekommen konnten. Da war es wie ein tragischer Wink des Schicksals gewesen, als ihre Eltern bei einem tragischen Unfall ihr Leben verloren und sie als kleines Mädchen in die Obhut ihres Onkels kam. Alice konnte sich nicht erinnern, dass es ihr je an Liebe und Zuwendung gefehlt hatte.

„Die Lady wirft also mit Banknoten um sich!“, riss sie plötzlich eine tiefe Stimme aus den Gedanken.

Alice zuckte zusammen. Sie hatte da wohl einen ungebetenen Beobachter – wahrscheinlich einer dieser vielen einheimischen Frauenjäger, die in den Bars und Cafés beständig auf Beute lauerten. Das kannte sie ja schon. In diesem Fall war es das Beste, gar nicht erst zu reagieren.

„Schön, dich mal wiederzusehen! Und das nach so langer Zeit!“

Jetzt aber wurde ihr anders, heiß und kalt zugleich. Nun erst stellte sie fest, dass ihr Beobachter nicht Italienisch, sondern nahezu perfekt Englisch sprach. Jede Faser ihres Körpers spannte sich plötzlich an, und sie spürte, wie das Blut aus ihrem Kopf wich. Denn diese Stimme kannte sie doch, diese Stimme konnte nur einem gehören …

„Alessandro!“ Fast klang es wie ein Schrei, als sie sich ihm zuwandte. Und tatsächlich saß er da, zwei Tische neben ihr, mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen. Ein amüsiertes Lächeln umspielte seine Mundwinkel, und er musterte sie mit den gleichen faszinierenden Augen wie eh und je, Augen, die dunkelbraun glänzten und doch einen hellen Grund bargen, Augen, die sie von Anfang an gefangen genommen hatten … Alessandro Domenico!

Was für ein seltsamer Zufall, ihn hier zu treffen. Und wie unglaublich gut er aussah! Alice konnte seinen muskulösen Oberkörper und das dunkle Brusthaar unter seinem weißen Hemd erahnen. Ein durch und durch attraktiver Mann! Sieben Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Jahre, in denen auch aus ihr eine richtige Frau geworden war. Was war sie einst doch für ein naives Mädchen gewesen …

„Du bist es wirklich! Alice! Alice Morton!“ Schon war Alessandro aufgestanden und kam zu ihr herüber. „Ich habe meinen Augen eben nicht getraut. Doch als du dich nach dem Geldschein gebückt und dir dann die Haare aus dem Gesicht gestrichen hast, habe ich dich erkannt. An dieser Geste …“

Alice blieb vor Überraschung die Luft weg. Wie leicht Alessandro daherredete, so, als wäre zwischen ihnen überhaupt nichts passiert. Doch noch bevor sie etwas erwidern konnte, saß er bereits an ihrem Tisch und griff nach ihrer Hand. „Warum schaust du mich denn an, als ob ich ein Geist wäre?“ Er musterte sie unverhohlen. „Du siehst übrigens umwerfend aus.“

Immer noch rang sie um Fassung, während Alessandros warme Finger eine Flut kleiner heißer Wellen durch ihren Körper schickten. Sie versuchte ein unverbindliches Lächeln, doch es gelang ihr nicht. Sie war viel zu schockiert über dieses unerwartete Zusammentreffen.

Auch Alessandro war von dieser Begegnung mehr als überrascht. Doch es warf ihn nicht so sehr aus der Bahn wie offensichtlich Alice. Sie war tatsächlich noch hübscher geworden. Diese grünen, nein blauen, nein grünblau leuchtenden Augen, die elegant geschwungenen feinen Augenbrauen und dieses schöne kastanienbraune Haar, das er allerdings als wirre Lockenmähne in Erinnerung hatte … Aber warum verhielt sie sich so übertrieben reserviert? Nun wies sie auch noch seinen freundschaftlichen Händedruck zurück, als seien sie völlig Fremde.

Irritiert ließ er ihre Hand los. Sein Lächeln verschwand. Schlagartig erinnerte er sich wieder daran, wie rätselhaft sich Alice damals verhalten hatte. Von einem Tag auf den anderen war sie aus seinem Leben verschwunden gewesen – spurlos. Sie hatte ihm keine Adresse hinterlassen, und ihre Telefonnummer existierte plötzlich nicht mehr. Und das nach ihrer ersten, so vielversprechenden Liebesnacht! So etwas war ihm noch nie passiert. Ganz sicher hatte sie seinen Stolz verletzt. Aber seitdem war viel Zeit vergangen, und die Erde hatte sich weitergedreht. Doch immer wieder hatte er darüber nachgegrübelt, warum sie an diesem schönen Sommertag vor Jahren nicht zu ihrer Verabredung erschienen war. Dabei wäre dieses Treffen doch so wichtig gewesen! Alles, die ganze Zukunft, hätte danach anders verlaufen können …

„Alessandro …“, sagte Alice nochmals, diesmal jedoch mit fester Stimme. Hatte sie nicht damit rechnen müssen, dass er ihr in Mailand eventuell über den Weg lief? „Es ist wirklich sehr lange her …“

„Du warst einfach fort! Was ist denn passiert?“

Alessandro klang nun fast etwas verärgert, was Alice wiederum empörte. Als könnte er kein Wässerchen trüben! Doch sie würde auf seine Frage ganz einfach nicht antworten. „Seit wann sprichst du so gut Englisch?“, wollte sie lieber wissen, denn als sie ihn kennenlernte, beherrschte er ihre Muttersprache nicht unbedingt gut. Jedenfalls hatte sie es nicht nötig, sich zu erklären, nachdem er es gewesen war, der sie so schamlos mit einer anderen betrogen hatte. Von wegen „mia gioia“ – wie oft hatte Alessandro ihr dieses Kosewort ins Ohr geflüstert …

Alessandro lehnte sich zurück. „Ich bin viel gereist, nachdem du fort warst“, ging er zunächst auf ihre Frage ein und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Denn aus der Nähe war Alice mehr als verführerisch: Das seidig schimmernde Kleid schmiegte sich eng an ihren reizvollen Körper, und elegante blaue Designerpumps betonten die langen, schlanken Beine. Aus dem etwas unbeholfenen Mädchen von damals war eine selbstbewusste, sinnliche Frau geworden. Selbst die großen Augen, die ihn von Anfang an mit ihren Blau- und Grüntönen so fasziniert hatten, schimmerten heute in einem noch intensiveren Farbton.

Alice setzte eine selbstsichere Miene auf und genoss es sogar ein wenig, von Alessandro derart gemustert zu werden. Wenn sie ihm nun schon über den Weg lief, so sollte er auch wissen, dass sie sich zu einer begehrenswerten Frau entwickelt hatte. Allerdings würde sie sich heute nicht noch einmal von einem italienischen Gigolo – wie Alessandro es sicherlich immer noch war – um den Finger wickeln lassen.

„Du bist viel gereist? Wie interessant …“ Nur mühsam brachte sie diese Worte hervor, denn Alessandros intensive Blicke hatten eine geradezu hypnotisierende Wirkung. Sie erschauerte. Es war fast so, als würde er mit seinen Augen ihre Haut streicheln. Das konnte und durfte aber nicht sein! Dieser Italiener bedeutete ihr doch schon lange nichts mehr! Sicher – sie hatte Jahre gebraucht, um ihn wirklich zu vergessen. Aber ihr Entschluss, sich von besonders gut aussehenden Männern wie ihm nicht mehr täuschen zu lassen, stand fest. Schließlich hatte sie eine solch schmerzvolle Erfahrung nicht nur einmal machen müssen. Anscheinend konnten Männer wie Alessandro einfach nicht treu sein.

„Ja, diese Jahre waren wirklich sehr interessant. Einmal quer durch Europa, Kanada, Amerika, Australien …“ Alessandro lehnte sich zurück und strich sich mit der Hand über das Kinn, wie so oft, wenn er nachdenklich wurde. Natürlich merkte er, dass Alice von seinen Fragen nur ablenken wollte. Aber das würde er ihr nicht durchgehen lassen. Er jedenfalls hatte sich einst ernsthaft für sie interessiert und sie sogar seinem Vater vorstellen wollen. Nicht, dass er sie vom Fleck geheiratet hätte, das war natürlich Unsinn. Dafür kannten sie sich ja viel zu wenig. Aber er hatte seinem Vater endgültig klarmachen wollen, dass er selbst darüber bestimmte, auf welche Frau er sich einließ – auch wenn diese, wie damals Alice, nur eine ganz normale Studentin war. Leider aber vertrat sein Vater auch heute noch die erzkonservative Meinung, seine Söhne müssten bei der Wahl ihrer Herzdame seinen Vorstellungen folgen und vor allem den wirtschaftlichen Vorteil im Auge haben … Als ob Geld alles im Leben wäre! Doch wieso dachte er gerade jetzt an diesen unerfreulichen Dauerstreit? „So eine Weltreise ist für das Leben jedenfalls ungemein bereichernd.“ Mit diesen Worten holte er seine Gedanken wieder in die Gegenwart zurück.

Plötzlich spürte Alice so etwas wie Neid. Dieser Kerl lebte anscheinend ganz frei und unbeschwert, flirtete mit den Frauen, wie und wann er wollte, und reiste durch die Weltgeschichte. Bestimmt hatte er schon eine Menge erlebt und gesehen, während sie nichts anderes getan hatte, als für die Firma ihres Onkels zu arbeiten. Was konnte sie schon aus ihrem Leben berichten? Doch sie würde es erst gar nicht dazu kommen lassen, dass er sie ausfragte.

Ihr Blick folgte seiner wohlgeformten Hand, und unwillkürlich beugte sie sich ein Stück nach vorne. Auf dem markanten Kinn, das früher stets von dunklen Bartstoppeln bedeckt und heute so perfekt rasiert war, entdeckte sie eine längliche Narbe! Hatte er die schon immer gehabt? Es lag ihr auf der Zunge, danach zu fragen, doch sie beherrschte sich: Wozu sollte sie mit Alessandro überhaupt privat werden? Es belastete sie bereits genug, dass sie ihm tatsächlich über den Weg gelaufen war. Da war sie erst einen Tag hier, und schon saß er an ihrem Tisch.

Nun nahm sie sein herb duftendes Aftershave wahr, und ihre Kehle wurde trocken. Früher hatte sich Alessandro so anders gegeben, hatte die schönen schwarzen Haare etwas länger getragen und sich sogar fast etwas nachlässig gekleidet. Doch heute wirkte er in dem feinen weißen Hemd und der schicken schwarzen Hose wie verwandelt. Alice musste zugeben, dass ihr dieser weltgewandte und Ruhe ausstrahlende Mann sogar noch besser gefiel als der etwas zu temperamentvolle Bursche, in den sie sich einst Hals über Kopf verliebt hatte.

Nun wurde es Alessandro langsam zu viel. Immer noch sah Alice ihn wie versteinert an. Wo war nur die fröhliche junge Frau von damals geblieben? Wie oft hatte er in seinen Erinnerungen nach einem Grund gesucht, warum sie damals förmlich untergetaucht war. Doch er fand nichts. Dafür stand ihm die schöne Zeit mit ihr plötzlich wieder klar vor Augen. Er hatte ihr die verstecktesten Winkel von Mailand gezeigt, und zusammen waren sie auf seiner Vespa durch die Stadt gebraust, bis er sie eines Abends dann zärtlich verführt hatte.

Gut erinnerte er sich an die darauf folgende leidenschaftliche Nacht, und instinktiv griff er wieder nach ihrer Hand. Hatte Alice das alles vergessen? Warum war sie seiner Einladung, ihn zu Hause zu besuchen, nicht gefolgt? Stattdessen war sie unauffindbar gewesen, und es war daraufhin zu diesem fürchterlichen Streit mit seinem Vater gekommen …War es nicht er, der von ihr eine Entschuldigung zu bekommen hatte? Fest umschloss er ihre Finger. Nicht dass sie auf die Idee kam, ein weiteres Mal einfach so zu verschwinden. „Ich frage dich noch mal: Was ist damals passiert? Warum warst du plötzlich fort?“

Alice straffte sich. Alessandro glaubte wohl, er sei unwiderstehlich und könne einfach so an früher anknüpfen. Diese italienischen Männer strotzten nur so vor Selbstbewusstsein, das musste man ihnen lassen. „Alessandro, bitte …“, begann sie stockend und wollte ihre Hand aus der seinen lösen. Denn was hatte es für einen Sinn, ihm nach all den Jahren zu erzählen, dass sie ihn damals mit einer anderen gesehen hatte? Es war zu spät. Plötzlich fühlte sich Alice unendlich müde. „Ich … ich muss jetzt gehen.“

Er ließ sie los und lehnte sich zurück. Einen Augenblick taxierte er sie schweigend, und abermals wurde es Alice unter seinen Blicken unerträglich heiß. Es würde nicht einfach sein, nun aufzustehen, aber sicherlich war es das Beste. Sie wollte diese Begegnung sofort wieder vergessen und nichts weiter von Alessandro wissen. Dennoch ertappte sie sich dabei, wie sie auf seine Hände sah. Trug er einen Ehering? Nein …

Nun schüttelte Alice über sich selbst den Kopf und lachte auf. Warum interessierte sie das überhaupt? Und sollte sie die ganze Sache nicht etwas lockerer sehen? Alessandro war zwar ihre erste große Liebe gewesen, doch das war lange vorbei. Sie sollte damit lieber Frieden schließen und ihm für die Zukunft alles Gute wünschen. Das war sicherlich die eleganteste Lösung für diese angespannte Situation hier.

Alessandro verschränkte die Arme vor der Brust. Alice schuldete ihm immer noch eine Antwort … Nun gut, wenn er sie jetzt nicht bekam, dann eben später. Deutlich spürte er ihre Unsicherheit, und dass sie ihm einfach nur entkommen wollte. Ihn jedoch reizte der Gedanke, einen Abend mit ihr zu verbringen. Wie lange schon hatte er sich nicht mehr derart plötzlich zu einer Frau hingezogen gefühlt? Und so konnte er gar nicht anders, als herausfordernd zu sagen: „Alice, wir werden heute Abend gemeinsam ein fantastisches Restaurant besuchen. Ich möchte mit dir auf unser Wiedersehen anstoßen. Das willst du mir doch nicht etwa verweigern?“ Gespannt beobachtete er ihre Reaktion.

Alice wand sich auf ihrem Stuhl. Der Gedanke, sich von Alessandro im Glanz der Stadt ausführen zu lassen, war gleichermaßen verlockend wie verstörend. Doch sie durfte jetzt nicht schwach werden und rief sich die leise mahnenden Worte Richards ins Gedächtnis: „Wenn du wieder unglücklich verliebt zurückkommst, war dies deine letzte Reise nach Italien …“ In diesem Fall war es wohl ratsam, auf ihren Onkel zu hören. Denn alle ihre Sinne sagten ihr, dass sie Alessandros Angebot, einen Abend mit ihm zu verbringen, wider alle Vernunft nicht lange widerstehen konnte. Sie hätte nicht im Traum daran gedacht, dass ihr so etwas noch einmal passieren könnte. Abrupt stand sie auf. Sie musste unbedingt die Notbremse ziehen. Mit einer kleinen Notlüge würde er sie sicherlich gehen lassen.

„Alessandro, ich kann die Einladung nicht annehmen. Ich bin schon verabredet. Aber ich wünsche dir alles erdenklich Gute.“ Hastig suchte sie in ihrer Tasche nach ein paar Münzen und warf sie auf den Tisch. „Lebe wohl.“ Und erst als sie sich ein gutes Stück von dem Café entfernt hatte, ließ sie es zu, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten. Allerdings wusste sie nicht, ob der Grund für diese Traurigkeit im aufgewühlten Schmerz von früher lag oder in der Enttäuschung darüber, dass ihr ehemaliger Geliebter ihr nicht einfach hinterherkam und sie fest in seine starken Arme schloss.

2. KAPITEL

Die Kreationen, die auf dem Laufsteg von bildschönen Models vorgeführt wurden, waren einfach fantastisch. Alice kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Schillernde Stoffe, raffinierte Arrangements, schwebende Leichtigkeit – selten hatte sie der Anblick extravaganter Mode so begeistert. Hier war ein besonders schöpferisches Talent am Werk. In letzter Sekunde hatte sie eine Einladung für die Modenschau der italienischen Jung-Designerin Elisa Guccini erhalten und war kurz vor Beginn noch durch den Eingang geschlüpft. Die Schau galt als exklusiver Geheimtipp und fand parallel zu den großen Herbst-Schauen für Damenmode, Milano Moda Donna, statt. Alice freute sich schon darauf, der Designerin nach der Schau Beifall zu spenden. Denn den hatte sie sich ganz gewiss verdient.

Einen Moment lang lehnte sie sich zurück. Sie saß zwar auf einem der hinteren Plätze, hatte aber den Saal gut im Blick. Wie sie ihren Aufenthalt hier in Mailand genoss! Zu Recht galt die Stadt neben Paris als Fashion-Metropole Europas. Den ganzen Nachmittag war sie durch das Modeviertel im Zentrum gepilgert, wobei es ihr besonders die berühmte Via Monte Napoleone, die prächtigste und teuerste der Einkaufsstraßen, angetan hatte. Hier hatten fast alle führenden Modelabels der Welt ihren Sitz, hier prangten an imposanten Fassaden die großen Lettern derjenigen, die Rang und Namen hatten: Prada, Versace, Dolce&Gabbana, Valentino, Laura Biagiotti …

Begeistert war sie von Shop zu Shop gegangen und hatte ein sündhaft teures Kleid erstanden. Schließlich war es ihre Pflicht, als Frau vom Fach das Angebot der hiesigen Boutiquen zu erkunden. Aber ehrlich gesagt hatte sie sich mit ihrer Shopping-Tour auch von der verwirrenden Begegnung mit Alessandro am Tag zuvor ablenken wollen. Sie wollte erst gar nicht an ihn denken. Heute jedenfalls machte sie auf der Modenschau als Chefdirektrice von „Lovely Dress“ eine ziemlich gute Figur. In ihrem neuen Kleid und mit den hochhackigen Schuhen fühlte sie sich absolut sicher. Zwar musste sie hart für ihr Geld arbeiten und gehörte nicht zu den verwöhnten Stars und Jetset-Girls in der ersten Reihe. Doch an Stil und Schönheit mangelte es ihr bestimmt nicht.

Das letzte Model stolzierte nun über den Laufsteg, und die Musik steigerte sich zu einem lauten Crescendo. Das Licht verebbte, und an der Decke blitzten die silbernen Monde auf, die bisher nur als dezente Dekoration im Hintergrund geschwebt waren. Plötzlich explodierten die leuchtenden Kugeln und hervor schoss eine Fontäne aus silbernem Schnee, der nun glitzernd herabrieselte. Jetzt erstrahlte die Bühne in hellem Licht, und nun posierten dort noch einmal all die Models, die eben über den Laufsteg gegangen waren, gemeinsam. Was für ein furioses Ende! Tosender Applaus brandete auf.

Als endlich auch Elisa Guccini die Bühne betrat und sich dankbar vor dem Publikum verbeugte, ertönten Jubelrufe. Irgendwie kam Alice die zierliche Schwarzhaarige mit dem hübschen Gesicht und den anmutigen Bewegungen bekannt vor. Wo nur hatte sie die Designerin schon einmal gesehen? Sie klatschte und klatschte und ließ ihren Blick über das Publikum schweifen, das nun im Scheinwerferlicht gut zu erkennen war. Natürlich war sie neugierig, ob sich auch der eine oder andere Star hier tummelte …

Immer noch applaudierend standen die Gäste jetzt auf, sodass Alice die Schaulustigen in der ersten Reihe noch besser erkennen konnte. Tatsächlich kam ihr so manches Gesicht bekannt vor. Wie hieß noch mal diese blonde Schauspielerin, die dort neben diesem hochgewachsenen Mann mit den schwarzen Haaren stand? Doch statt an der Schauspielerin blieb ihr Blick jetzt an dem Mann haften, denn irgendetwas rührte er in ihr an … Nun drehte er sich etwas zur Seite, um weiterhin Elisa Guccini und den Models Beifall zu spenden, die auf der Bühne noch einmal in einer Ehrenrunde defilierten. Da, als sie sein markantes Profil sah, durchfuhr es Alice wie ein heißer Blitz.

Der Mann neben der Schauspielerin – das war ja Alessandro! Alessandro, den sie nie wieder hatte sehen wollen! Was zum Teufel machte der denn hier? Wieso traf sie ihn an all den Orten, wo auch sie war? Und seit wann interessierte er sich für Mode? War er gar der Begleiter der Schauspielerin? Oder mit einem der schönen Models befreundet? Alice sank auf ihren Stuhl zurück. Ihre Beine waren mit einem Mal ganz schwach. Nun hatte sie es geschafft, den ganzen Tag nicht an Alessandro zu denken und guter Dinge zu sein, und jetzt begegnete sie ihm schon wieder. Und dazu sah er besser aus denn je. Inmitten der illustren Gästeschar machte er in seinem perfekt geschnittenen Anzug eine hervorragende Figur. Ein Stich der Eifersucht durchzuckte sie, als sie sah, wie Alessandro da überschwänglich die tollen Models beklatschte. Doch so wahr sie Alice Morton hieß – sie würde sich den Abend von ihm nicht verderben lassen!

Entschlossen stand sie auf und stimmte wieder in den langsam verebbenden Beifall ein. Ganz anders als bei anderen Modeschauen verschwanden die Models nun aber nicht hinter den Kulissen, sondern sprangen lachend von der Bühne und mischten sich unter das Publikum, um hier und dort die Anwesenden mit Umarmungen und Küsschen zu begrüßen. Alice beobachtete mit regloser Miene, wie einige der Mädchen auch Alessandro umringten und auf ihn einredeten. Wie selbstverständlich und sicher er sich in all diesem Glamour und inmitten der zahlreichen Verehrerinnen bewegte! Dabei hatte er damals – obwohl selbst aus gutem Hause – immer etwas verächtlich von derartigen exklusiven Events gesprochen und sie beschworen, dass es im Leben in erster Linie auf innere Werte wie Ehrlichkeit und Loyalität ankomme. Alice schluckte schwer. Sie musste da wirklich einem ziemlich dreisten Schwindler aufgesessen sein.

Alessandro unterdessen sah sich unversehens von einer Schar grell geschminkter Frauen umringt, die ihn mit seinem Namen ansprachen und sich an seinen Arm klammerten. Ja, manch eines der Models kannte er flüchtig, doch keins war ihm vertraut genug, diese Annäherungen als passend zu empfinden. Aber gut, das gehörte eben zum Spiel, und er zählte hier in Mailand nun einmal zu den begehrtesten Singles. Doch heute war er nicht wegen der vielen schönen Frauen hier, sondern einzig und allein wegen seines Schützlings Elisa. Wie strahlend und glücklich sie war! Wie hart sie für ihren Erfolg gearbeitet hatte! Niemand außer ihm wollte bisher so recht an sie glauben. Er aber hatte schon vor vielen Jahren das in ihr schlummernde Talent erkannt, und er hatte sie stets unterstützt. Es war also auch sein Verdienst, dass sie hier und heute als neue Ikone gefeiert wurde. Stolz erfüllte seine Brust. Doch wo war Elisa überhaupt?

Nun wurden Gläser mit Champagner gereicht, um auf die erfolgreiche Veranstaltung anzustoßen. Alessandro machte sich, ein Wort der Entschuldigung murmelnd, von seinen ungebetenen Verehrerinnen los. Er nahm zwei Kelche und sah sich um. Dann stockte er. Auf ihm ruhte der Blick aus zwei großen, grünblau leuchtenden Augen. Alice. Sie stand nur einige Meter vor ihm und sah ihn unverwandt an.

Autor

Jane Waters
<p>Die erste Schreibmaschine, an der die Zehnjährige Geschichten schrieb, stammte von ihrem Großvater; später schenkten die Eltern ihr ein brandneues Modell, auf dem sogar kleine Bücher entstanden. Heute verdient Jane Waters als Autorin ihren Lebensunterhalt. Ihren Laptop nimmt sie auf viele Reisen rund um den Globus einfach mit, denn Schreiben...
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