Celebration Inc. - Die besten Momente in unserem Leben (9-teilige Serie)

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Zusammen gründen einige Freunde ein texanisches Catering-Unternehmen, das sich darauf spezialisiert hat, für die besten Momente im Leben eines Menschen eine Feier zu organisieren. Dabei schaffen sie einige dieser Momente für sich selbst...

MITTEN HINEIN INS HERZ

Herzklopfen und heißes Begehren: Sergeant Shane Harrison weckt längst vergessene Gefühle in der hübschen AJ. Doch nach dem Tod ihres Ex' hat sie sich geschworen: Nie mehr verliebt sie sich in jemanden, der täglich sein Leben riskiert! Was nun? Ist eine Affäre etwa die Lösung?

CHAMPAGNERNÄCHTE MIT DREW

Endlich hat ihre Schwester Ja gesagt! Die schöne Konditorin Caroline war im Stress. Nur einen Lichtblick gab es: den sexy Trauzeugen Drew Montgomery. Wenn sie sich einen Traummann backen könnte, dann wäre das süße Ergebnis genau wie Drew. Aber noch ist die Hochzeitsfeier nicht vorbei …

EIN ÖLBARON UND HERZENSBRECHER

Über Nacht von der reichen Tochter zur Arbeitslosen - doch Pepper gibt nicht auf! Sie nimmt einen Job bei Ölbaron Robert Macintyre an, fest entschlossen, in die Upper Class zurückzukehren. Doch der attraktive Robert und sein süßer Sohn machen ihr einen Strich durch die Rechnung …

AUSGERECHNET DER BOSS?

Groß, breitschultrig, dunkelhaarig: Miles Mercer ist genau Sydneys Typ. Allerdings ist der berühmte Regisseur momentan ihr Boss und Liebe im Job für sie tabu. Aber was spricht gegen eine unverbindliche Affäre auf Zeit? Schließlich wandert sie sowieso bald nach Übersee aus, oder?

ZUM ERSTEN, ZUM ZWEITEN ... ZUM VERLIEBEN!

Er soll als Junggeselle versteigert werden?! Nur, um damit Spenden für die Kinderklinik zu sammeln, sagt Dr. Liam Thayer schließlich zu. Eine neue Liebe ist schließlich das Letzte, was der junge Witwer will. Aber warum sprühen dann die Funken bei seinem Date mit der schönen Kate?

KÜSS NIEMALS DEINEN BESTEN FREUND

Wir sind verlobt!" Bias bester Freund Aiden gibt sich spontan als ihr Zukünftiger aus.Angeblich nur, um sie nach einer katastrophalen Kurzaffäre mit einem Prominenten vor den Paparazzi zu schützen. Aber warum fällt sein gespielter Kuss dann so unglaublich leidenschaftlich aus?"

EINE FAMILIENPACKUNG GLÜCK

Nanny Lily hat vier Wünsche für Weihnachten: 1. Dr. Dunlevys verwaisten Patenkindern ein Lächeln entlocken, 2. sie am Brauen von Zaubertränken" hindern, 3. gemeinsam Plätzchen backen - wie eine echte Familie. 4. Den Mistelzweig so hängen, dass Dr. Dunlevy ihn auch wirklich sieht …"

DAS FÜNFTE RENDEZVOUS

"Fünf Dates, dann habe ich die perfekte Frau für dich." Anna ist es leid, dass ihr bester Freund Jake immer auf denselben Frauentyp reinfällt - und jedes Mal enttäuscht wird. Er soll endlich glücklich werden! Aber Anna übersieht, dass nur eine die Wahre für ihn ist: sie selbst …

SÜßE NACHT MIT EINEM FREMDEN

Becca ist verzweifelt: Sie gibt sich die Schuld an dem tödlichen Unfall ihres Neffen. Zwischen all den Tränen erlaubt sie sich eine zärtliche Ablenkung in den Armen eines attraktiven Fremden. Schließlich wird sie ihn nie wiedersehen! Doch da täuscht sie sich gründlich …


  • Erscheinungstag 08.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738631
  • Seitenanzahl 1296
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Nancy Robards Thompson

Celebration Inc. - Die besten Momente in unserem Leben (9-teilige Serie)

IMPRESSUM

Mitten hinein ins Herz erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2012 by Nancy Robards Thompson
Originaltitel: „Texas Wedding“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 47 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Übersetzung: Anna-Pia Kerber

Umschlagsmotive: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733738709

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

 

Werden Sie Fan vom CORA Verlag auf Facebook.

1. KAPITEL

Als der hochgewachsene Mann Mayas Schokoladengeschäft betrat – begleitet von einem warmen Wind, der die zarten Glöckchen über der Tür zum Klingen und die Schleifchen der Geschenkkörbe zum Flattern brachte –, kam es Maya so vor, als habe er etwas mitgebracht.

Einen Vorboten? Auf jeden Fall die Ahnung von etwas Größerem, auch wenn Maya zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu sagen vermochte, was es genau war.

Sie spitzte die Ohren und lauschte dem leisen Klingeln.

Hmm. Die Tür fiel mit einem leisen Klicken ins Schloss. Daraufhin sank die Stille auf den Laden wie ein leichtes Federkleid. Nur die Schritte der Stiefel waren noch zu hören, als sich der Fremde ihr behutsam näherte.

Was auch immer seine Ankunft bedeuten mochte – für Maya klang es nach dem Wind der Liebe.

Kein Zweifel, irgendetwas würde geschehen, und zwar bald.

Maya war nicht nur bekannt dafür, eine Chocolatiere zu sein – und das bereits in dritter Generation –, sondern auch für ihre speziellen Fähigkeiten, was die Liebe anging. Wenn sich irgendwo große Gefühle anbahnten, konnte sie das stets spüren. Mit anderen Worten: Sie war eine sehr geschickte Kupplerin.

In den Augen ihrer Freunde und Bekannten war das allerdings nicht nur eine harmlose Nebenbeschäftigung, sondern nahezu eine Obsession.

Aber was konnte sie denn dafür, wenn sie jede zarte zwischenmenschliche Schwingung sofort wie ein Schwamm aufsog? Das konnte sie doch nicht einfach ignorieren. Und wenn der Wind der Liebe so deutlich zu spüren war wie jetzt gerade, würde sie nicht eher Ruhe geben, bis die „Auserwählten“ zusammengeführt waren.

„Bonjour!“ Maya begrüßte den gut aussehenden Mann mit warmer Herzlichkeit, die er großzügig erwiderte. Er schenkte ihr mit seinen strahlend weißen Zähnen ein Grinsen. Durch seine breitschultrige Statur, das sandfarbene Haar und das offene Lächeln wirkte er wie ein Amerikaner. Vielleicht war er auch Skandinavier, doch Maya vermutete Ersteres.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte sie nun freundlich.

„Ich sehe mich nur um, danke.“

Oui. Américain.

Und ein überaus attraktiver Bursche noch dazu. Leider war er nicht wegen Maya gekommen, aber ihre Intuition verriet ihr, dass er auch nicht ohne Grund in ihren Laden gelangt war.

Es war nichts als eine Ahnung. Ein subtiles Gefühl, das sich wie eine unsichtbare Hand in ihren Nacken legte und dort die feinen Härchen aufrichtete. Aber eines hatte Maya aus der Vergangenheit gelernt: Dieses Gefühl kündigte stets eine Veränderung an. Und zwar im Leben dieses schmucken Amerikaners.

Ihr Blick folgte seinen Bewegungen, als er sich im Laden umsah. Er hatte die Haltung eines Soldaten, obwohl er keine Uniform trug. Seine breiten Schultern, die straffe Pose und die sonnengebräunte Haut verrieten ihr, dass er regelmäßig ein hartes Training absolvierte und viel Zeit im Freien verbrachte. Und dazu noch eine gewisse Härte, die man sich nur im Kampf aneignen konnte.

Hmm … Maya kniff die Augen zusammen. Aber womöglich war der Kampf, den dieser Mann ausfocht, eher emotionaler Natur. Als ob er mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen hatte …

Ein Grund mehr, warum sie ihm einen Schubs geben und ihn in die richtige Richtung lenken musste.

„Ich habe gerade frische Trüffel hergestellt“, erklärte sie ihm mit einem strahlenden Lächeln. „Möchten Sie welche probieren?“

Sergeant Shane Harrison betrachtete noch einmal die Fotografie in seiner Hand. Sie zeigte eine blonde Frau mit einem sympathischen Lächeln.

Sein Blick glitt von dem Foto durch die Windschutzscheibe seines Wagens zu der gegenüberliegenden Ladenfront. Auf dem Schaufenster befanden sich weiße Lettern mit dem Namen des Geschäfts: Celebrations Inc., Catering Service.

Demnach war dies also die richtige Adresse.

Er blickte noch einmal auf das Foto. Das Lächeln der Frau war wirklich verlockend, und sie hatte ein ziemlich hübsches Gesicht. Er hatte schon immer eine Schwäche für hübsche Gesichter gehabt. Auch wenn ihn das Schicksal eher unfreiwillig in die kleine Stadt Celebration geführt hatte, hielt es für ihn nun wenigstens eine angenehme erste Begegnung bereit.

Das Foto war letzten Endes auch der Auslöser gewesen, warum er sich dazu hatte breitschlagen lassen, für eine Zivilperson den Dienstboten zu spielen. Pralinen und Erinnerungsfotos an eine Unbekannte zustellen? Eine echte Premiere in seinem Leben.

Trotzdem hatte er zugesagt. Warum auch nicht? Er war gerade aus dem Mittleren Osten zurückgekehrt, und auf dem Rückweg nach Amerika war er durch den kleinen Ort St. Michel gekommen. Maya, die Besitzerin des Schokoladengeschäfts, hatte sich vor Aufregung beinahe überschlagen, als sie gehört hatte, dass sein nächstes Ziel Celebration war.

Dort lebte nämlich eine gute Freundin von ihr, die gerade erst einen Catering-Service eröffnet hatte. Maya bestand deshalb darauf, dieser Freundin einen süßen Überraschungsgruß zukommen zu lassen. Und das obendrein auch noch von einem süßen Boten. So oder so ähnlich hatten ihre Worte gelautet, und Shane wären sie äußerst peinlich gewesen, wenn er in seinem Leben nicht schon sehr viel Schlimmeres erlebt hätte.

Maya hatte ihn daraufhin zahllose Köstlichkeiten probieren lassen und schließlich mit einer gut gefüllten Pralinenschachtel für den kleinen Gefallen entschädigt.

Der Name ihrer Freundin war A J Sherwood-Antonelli – für seinen Geschmack ein ziemlich klangvoller Name, den er sich aus diesem Grund auch sofort hatte einprägen können.

Auf dem Foto blickte die Frau direkt in die Kamera. In ihrem Blick lag etwas Anziehendes – etwas, das ihn wünschen ließ, sie näher kennenzulernen oder sie zumindest einmal persönlich zu treffen. Schließlich war er gerade nicht auf der Suche nach einer festen Bindung. Er suchte überhaupt keine Bindung. Basta.

Für die kommenden sechs Wochen war er in Fort Hood stationiert. Man hatte ihn hierher abkommandiert, um die Gegend ins Auge zu fassen und ein geeignetes Gelände zu finden, auf dem später ein militärisches Trainingsareal errichtet werden könnte.

Es war eine lästige, allgemein unbeliebte Aufgabe, die er sich gerne erspart hätte. Immerhin war er kein Makler, sondern ein Anti-Terror-Spezialist. In den nächsten sechs Wochen würde so viel Schreibtischarbeit auf ihn zukommen, dass ihn schon alleine der Gedanke daran in Unruhe versetzte. Er war schon immer ein Mann der Tat gewesen, und er konnte nicht lange an einen Schreibtischstuhl gefesselt bleiben.

Er spannte seinen Körper an. Sechs Wochen, versuchte er sich zu beruhigen. Irgendwie würde er diese Zeit schon herumkriegen. Und danach wartete schließlich ein erstklassiger Einsatz in Europa auf ihn, auf den er bereits seit achtzehn Jahren hingearbeitet hatte.

Sechs Wochen Schreibtischarbeit fielen da doch kaum ins Gewicht.

Sechs Wochen, in denen er die langweilige Kleinstadtidylle ertragen musste. Celebration. Warum um Himmels willen hatte man diesen Ort nur so genannt? Ihm war jedenfalls ganz und gar nicht nach Feiern zumute.

Seufzend nahm er die Pralinenschachtel und die Fotos und stieg aus dem Wagen. Vielleicht würde eine Frauenbekanntschaft seine Stimmung ja heben. Und vielleicht würde sie die Zeit auch schneller verfliegen lassen.

Die Glocke über der Eingangstür kündigte Besuch an und riss A J abrupt aus ihren Gedanken. Sie befand sich gerade im rückwärtigen Teil des Geschäfts in der Küche, wo sie Probe-Appetithäppchen für das kommende Straßenfest vorbereitete.

Das Fest wurde von der Handelskammer gesponsert und war immer ein großes Ereignis in Celebration. Daher war es für A J besonders wichtig, mit ihrem Catering-Service dort zu glänzen.

Diesen betrieb sie zwar schon seit anderthalb Jahren im kleinen Rahmen, doch das Celebration-Food-Festival war das erste große öffentliche Fest, bei dem sie ihr Können präsentieren konnte.

Es war September – also noch Monate hin bis zu den Ferien und allen wichtigen Feiertagen –, doch für Werbung war es keinesfalls zu früh. Immerhin sahen sich potenzielle Kunden schon sehr zeitig nach guten Caterern um, die sie für Thanksgiving, Weihnachten oder Silvester buchen könnten.

Und genau diese Festlichkeiten waren es, die A J nutzen musste. Außerdem würde es ihr bestimmt großen Spaß machen, spezielle Weihnachts-Dinners auszutüfteln, Gewürze und Soßen auszuprobieren und ihre Kunden mit raffinierten Rezepten zu überraschen.

Im Geiste schwebten ihr schon Gerichte mit Zimt und Kardamom vor, Soßen mit Cranberrys und Lebkuchen und dazu die entsprechenden Desserts.

Doch noch war es nicht so weit.

Zuerst einmal arbeitete sie an dem perfekten Burger, und bei dem Food-Festival durfte A J erstmals in der Öffentlichkeit zeigen, was wirklich in ihr steckte. Hoffentlich würde sie damit viele neue Aufträge gewinnen.

Sie wischte sich die Hände an ihrer Küchenschürze ab und ging in den Empfangsbereich. Wenn sie wie jetzt alleine im Laden war, hielt sie die Eingangstür immer verschlossen. Aber nicht, weil sie Angst hatte; in einer reizenden Stadt wie Celebration wurde bestimmt kein Geschäft überfallen.

Aber die Vergangenheit hatte sie gelehrt, stets vorsichtig zu sein. Davon einmal abgesehen, ließ sie sich nicht gerne von unangekündigtem Besuch bei der Arbeit überraschen.

Erstaunt war sie aber dennoch, als sie plötzlich den großen, gut aussehenden Fremden vor der Tür erblickte. Überrascht … und ein bisschen argwöhnisch.

Für eine Frau war sie nicht besonders klein, doch zu dem Mann musste sie buchstäblich aufblicken. Er trug das sandfarbene Haar kurz geschnitten, und sein Körper wirkte durchtrainiert und kraftvoll. Eigentlich ein ganz hübscher Anblick.

Aber was hatte er mit dem Kästchen vor, das er da bei sich trug?

Es sah aus wie eine Pralinenschachtel.

Jetzt zog er ein Foto hervor, das er in Augenhöhe vor die Glasscheibe hielt, damit sie es sehen konnte.

A J betrachtete es genauer. Es war ein Foto von … ihr. Von ihr und ihrer Freundin Maya LeBlanc.

Das Bild war letzten Herbst gemacht worden, als sie nach St. Michel gereist war. Sie und Maya hatten Margeaux Broussard besucht, eine alte Freundin aus Internatszeiten, die sich mit ihrem todkranken Vater hatte aussöhnen wollen und um die Unterstützung ihrer Freundinnen gebeten hatte.

Rasch wischte A J sich noch einmal die Hände an der Schürze ab. In der Hoffnung, dass ihr kein Mehl mehr im Gesicht klebte, öffnete sie die Tür einen Spaltbreit. „Kann ich Ihnen helfen?“

„A J Sherwood-Antonelli?“

„Ja? Ich bin A J …“

„Eine Speziallieferung für Sie. Kommt direkt aus St. Michel.“ Er schob das Foto durch den Türspalt.

A J nahm es entgegen. „Von wem haben Sie das?“

„Von Maya. Und die hier sind auch für Sie.“ Mit diesen Worten reichte er ihr das Kästchen. Es war mit schwarzen und pinkfarbenen Schleifchen dekoriert – Mayas Markenzeichen.

Allein der Gedanke an die Köstlichkeiten, die sich darin befinden mussten, machte A J sofort Appetit.

„Ich soll Ihnen herzliche Glückwünsche wegen Ihres neuen Geschäfts ausrichten“, erklärte der Fremde mit angenehmer Stimme.

Endlich ließ A J die Tür vollständig aufschwingen. „Möchten Sie nicht hereinkommen?“

Er trat ein und ließ den Blick durch das Empfangszimmer gleiten. Die Renovierungsarbeiten waren noch lange nicht abgeschlossen – ein Umstand, der A J jetzt plötzlich wieder siedend heiß bewusst wurde.

Die Wände bestanden lediglich aus rohem Verputz, und A J war noch immer nicht dazu gekommen, Sitzgelegenheiten zu organisieren. Es gab nicht einmal einen Schreibtisch. Keine Dekorationen, keine Blumen – und nur eine einzige Deckenlampe, die schon bessere Tage gesehen hatte. A J hatte bisher nicht einmal daran gedacht, Visitenkarten auszulegen.

Vor drei Monaten hatte sie ihr Geschäft von der heimischen Küche in dieses Gebäude verlegt. Im Prinzip war Celebrations Inc. eine Ein-Mann-Show – oder besser gesagt eine Eine-Frau – Show. Die Firma gründete auf nichts als A Js Arbeit, ihren Ersparnissen und der unermüdlichen Hilfe ihrer Freundinnen Caroline, Pepper und Sydney. Die drei waren unverzichtbare Helfer in der Küche, beim Marketing und auch beim Einkauf.

A J selbst war in den vergangenen Wochen so sehr damit beschäftigt gewesen, neue Rezepte auszuprobieren, dass sie Peppers Ermahnungen über den Empfangsbereich vollkommen übergangen hatte.

Ein schwerer Fehler, wie sie sich jetzt eingestehen musste, denn der beklagenswerte Zustand des Raumes war A J mehr als peinlich. Vor allem vor …

„Und Ihr Name ist?“, hakte sie nun nach.

„Shane Harrison.“ Er streckte ihr die Hand entgegen.

A J drückte sie kurz. „Freut mich, Shane. Ich darf doch Du sagen, oder? Da wir ja eine gemeinsame Freundin haben … Woher kennst du Maya überhaupt?“

„Gerne.“ Er schenkte ihr daraufhin ein Lächeln, das ihr augenblicklich die Hitze in die Wangen trieb. „Aber ich kenne Maya eigentlich gar nicht. Ich kam nur zufällig vergangene Woche in ihren Laden, und als sie hörte, dass ich anschließend nach Celebration reisen wollte, hat sie mich mit Pralinen bestochen, damit ich dieses Carepaket überbringe.“

Seine Worte riefen A J ins Gedächtnis, dass Maya auch noch für etwas anderes als Schokolade schwärmte. Sie hielt sich nämlich zufälligerweise auch für eine ausgezeichnete Kupplerin.

Aber das hat bestimmt nichts mit der Speziallieferung zu tun, sagte sie sich.

Sie musterte Shane von den Schuhspitzen bis zu seinen kurz geschnittenen Haaren, bevor sie ihren Blick an die harmlose Pralinenschachtel heftete.

Er sah wirklich gut aus. Groß, gebräunt und extrem breitschultrig.

Eigentlich überhaupt nicht mein Typ. Trotzdem ließ der Gedanke sie erröten. Die Hitze breitete sich nun auch auf ihrem Dekolleté aus, flammte über den Hals und rötete schließlich ihre Wangen.

Das war doch lächerlich.

Nein, noch nicht einmal lächerlich, das war geradezu absurd. Wann um alles in der Welt war sie zum letzten Mal wegen ein paar breiten Schultern errötet? In der Highschool?

Jedenfalls war es verdammt lange her.

Und sie hasste das Gefühl, keine Kontrolle über sich zu haben.

Mit betont gleichgültiger Miene studierte sie die Fotos von sich und Maya und sah nicht eher auf, bis sie die Hitze langsam aus ihren Wangen verschwinden spürte. „Nun, Shane …“, begann sie, doch die passenden Worte wollten ihr einfach nicht einfallen.

„Eigentlich bin ich Sergeant“, half er ihr weiter. „Ich bin für die kommenden sechs Wochen drüben in Fort Hood stationiert. Aber für die Dauer des Aufenthaltes habe ich mir eine Bleibe in der Stadt gesucht.“

Er ist beim Militär.

Das hätte sie sich denken können. Selbst ohne Uniform strahlte der Mann Haltung und Stärke aus. Und sie konnte nicht leugnen, wie attraktiv ihn diese Stärke machte. Aber dann rief sie sich sofort zur Ordnung. Haltung und Stärke bedeuteten auch etwas anderes. Sie bedeuteten, dass dieser Mann ohne zu zögern sein Leben geben würde, um es einer vermeintlich größeren Sache zu opfern.

Das hatte sie schon einmal erlebt.

Einst hatte sie einen Mann geliebt, der sich ihrem Land verschrieben und geschworen hatte, die Menschen darin zu beschützen. Und jetzt war er tot!

Die Erinnerung daran war so schmerzhaft, dass sie sämtliche Traumblasen sofort zum Platzen brachte.

Selbst Mayas süßer Gruß wirkte jetzt nicht mehr ganz so süß.

„Vielen Dank für den Besuch, Sergeant Harrison“, sagte sie förmlich. „Leider muss ich jetzt wieder weiterarbeiten. Ich muss dringend nach dem Essen im Ofen sehen.“

Für den Bruchteil einer Sekunde zog sie in Erwägung, ihn zu einem Testessen einzuladen, doch dann entschied sie sich dagegen. Sie streckte den Arm aus und schüttelte flüchtig seine Hand. „Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt in Celebration“, sagte sie höflich und hielt ihm anschließend die Tür auf. „Es ist eine wirklich reizende Stadt.“

Er schenkte ihr daraufhin ein knappes Nicken und verließ den Laden.

Mit klopfendem Herzen blickte sie ihm hinterher. Aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihm schon bald wieder begegnen würde.

Und ganz gegen ihren Willen gefiel ihr dieser Gedanke.

2. KAPITEL

Jedes Mal, wenn Shane an einen anderen Einsatzort beordert wurde, nutzte er den ersten freien Tag dort, um sich mit der neuen Gegend vertraut zu machen. Selbst wenn es sich dabei nur um ein verschlafenes kleines Städtchen wie Celebration handelte.

Nicht, dass er auf Kleinstadtidylle Lust gehabt hätte, denn diese rief nur schmerzhafte Erinnerungen an die Vergangenheit in ihm wach.

Aber wenn sich ihm die Gelegenheit bot, die lokale Küche bei einem Straßenfest kennenzulernen, sagte er nicht Nein.

Bereits am ersten Tag hatte er die Poster gesehen, die für das Food-Festival warben. Der Erlös würde dem örtlichen Kinderkrankenhaus zugutekommen. Und was sprach schon gegen einen selbst gemachten Burger und ein Bier?

Und wenn er dabei zufälligerweise noch A J Sherwood-Antonelli über den Weg lief, umso besser.

Shane parkte den Wagen etwa eine Viertelmeile vom Zentrum entfernt in einer stillen Nebenstraße. Der glänzend schwarze Truck war ein Ford F-150 und sein ganzer Stolz. Da seine täglichen Ausgaben recht überschaubar waren und er sein Leben ohnehin komplett der U.S. Army verschrieben hatte, war das Auto der einzige, lieb gewonnene Luxus, den er sich erlaubte. Während seines Aufenthaltes im Mittleren Osten hatte die Army den Wagen für ihn verwahrt. Es fühlte sich großartig an, jetzt wieder hinter dem Steuer zu sitzen.

Nachdem er seine beachtlichen ein Meter fünfundneunzig aus dem Auto gehievt hatte, zerriss auf einmal ein schriller Pfiff die Stille. „Hey, coole Karre.“

Shane drehte sich um. Die Worte hatten weniger nach einem Kompliment als vielmehr nach einer spöttischen Herausforderung geklungen.

Vier junge Männer lungerten an der gegenüberliegenden Straßenecke und starrten ihn herausfordernd an. Beim genaueren Hinsehen stellte Shane fest, dass es sich um Teenager handelte. „Danke“, rief er knapp.

Etwas an der Art, wie sie sich bewegten und einander Blicke zuwarfen, ließ Shane allerdings zögern. Er stellte noch einmal sicher, dass er keine Wertgegenstände im Auto vergessen hatte, und schloss die Tür ab.

Dann sah er die Gang noch einmal eindringlich an. Falls sie irgendetwas im Schilde führten, sollten sie zumindest wissen, dass Shane sich ihr Aussehen gründlich eingeprägt hatte.

Die Jungs waren etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Weiß, von durchschnittlicher Größe und Statur, nur einer der vier war etwas größer und breitschultriger als die anderen.

Dieser hatte schulterlanges, dunkles Haar und trug eine so tief sitzende Jeans, dass seine Boxershorts zu sehen waren. Die Hose eines der anderen Jungen war unterhalb der Knie abgeschnitten, sodass das Tattoo an seiner Wade sichtbar war: eine Art Schlange, die sich sein Bein hinaufwand, oder vielleicht auch ein Drache.

Auch wenn sie nicht in das typische Kleinstadtbild passten, waren sie vermutlich harmlos. Immerhin war das hier Celebration.

Punks, dachte Shane. Vielleicht waren sie ja bloß wegen des Food-Festivals in die Stadt gekommen.

So oder so wollte er den Jungs nichts unterstellen, nur weil sie seinen Wagen angestarrt hatten. Er wandte sich ab und ging jetzt in Richtung Zentrum.

Im Geiste ließ er die Woche noch einmal Revue passieren. Er hatte bereits einiges in die Wege geleitet, sich mit Bauleitern und Ingenieuren getroffen und Pläne für das Trainingsgelände geschmiedet.

Es war zwar keine besonders anspruchsvolle Aufgabe, aber Shane war trotzdem erschöpft. Sein neuer Job glich vielmehr Babysitten als einer ernsthaften Herausforderung.

Die gesamte Woche über hatte er nicht gut schlafen können. Für gewöhnlich blieb er immer in Bewegung und gab sich selbst nie die Gelegenheit, ins Grübeln zu kommen, aber hier war das anders. Die Schreibtischarbeit machte ihn unruhig und rastlos.

Allein die Tatsache, dass er sich neuerdings schon von Teenagern aus der Ruhe bringen ließ, zeugte davon, dass er in Celebration viel zu viel Zeit zum Nachdenken hatte.

Dennoch drehte er sich noch einmal um – doch die Kids waren verschwunden.

Das Leben und das gnadenlose Training eines Anti-Terror-Kämpfers hatten ihn gelehrt, niemals Angst zu haben. Selbst in lebensbedrohlichen Situationen konnte er einen kühlen Kopf bewahren. Doch diese Tatenlosigkeit war Gift für ihn.

Shane atmete tief ein. Die trockene Sommerhitze der vergangenen Wochen war mittlerweile einer angenehmen Temperatur gewichen, die den Herbst ankündigte. Abends zog bereits ein kühler Wind auf.

Er liebte diese Jahreszeit, den knackigen, kühlen Geruch der Herbstluft nach knisterndem Laub und klarem Himmel.

Aber was jetzt in seine Nase drang, war ein ganz anderer Geruch. Der köstliche Duft nach gebratenem Fleisch und exotischen Gewürzen.

Shane beschleunigte seine Schritte. Immerhin lockte eine anständige warme Mahlzeit.

Im Grunde war es ihm egal, ob er sich mit Celebration anfreunden würde, denn die sechs Wochen würden schließlich wie im Flug vergehen.

Und danach wartete endlich der Job auf ihn, auf den er ein gefühltes Leben lang gewartet hatte. Der Job, der ihn zurück nach Europa bringen würde, um die Dämonen seiner Vergangenheit endgültig austreiben zu können.

Sein Blick glitt über die adretten Vorgärten. Einst hatte seine Familie ebenfalls so einen Vorgarten besessen.

Er rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. Erinnerungen wie diese waren wie Tretminen. Und tatsächlich, schon kurz darauf tauchte vor seinem geistigen Auge das liebevolle Gesicht seiner Mutter auf. Shane zwang sich, weiterzugehen.

Schon lange hatte ihn die Vergangenheit nicht mehr so schmerzhaft eingeholt wie jetzt.

Vielleicht lag es daran, dass sich der entsetzliche Jahrestag immer mehr näherte.

Zwanzig Jahre! Beinahe zwanzig Jahre was es nun her, und doch waren die Erinnerungen so lebhaft, als sei es erst gestern passiert.

Nachdem seine Familie bei der Explosion getötet worden war, hatte er gelernt, seine Gefühle abzustellen.

Denn wenn man zu sehr liebte, wurde man verletzt. Und wer die Verletzungen zuließ, der wurde letzten Endes zerstört.

Daher wurde er irgendwann Profi darin, Emotionen zu unterdrücken, und das machte ihn letztendlich zum perfekten Soldaten. Am Ende kam es auch nur noch darauf an, denn er hatte nun nichts anderes mehr, für das es sich zu leben lohnte.

Er war achtzehn Jahre alt gewesen, als er seine Familie für immer verloren hatte. Seine Mutter, seinen Vater, Schwester und Bruder. Alle waren einfach weg.

Im Bruchteil einer Sekunde ausgelöscht, und seine Welt war aus den Fugen geraten und nie wieder richtig intakt geworden.

Warum bin ich als Einziger noch am Leben? Warum mussten sie alle sterben? Vielleicht hätte ich nicht in Italien bleiben sollen

In den ersten Jahren nach dem Unfall hatte er sich diese Fragen beinahe täglich gestellt. Bis zu dem Punkt, an dem sie ihn fast ruiniert hätten – und so hatte er das Grübeln schließlich aufgegeben und alle Fragen tief in sich begraben.

Aber jetzt drängten sich die Geister der Vergangenheit mit aller Macht in seine Gedanken.

Kein Wunder, beim Anblick von so viel Familienidylle überall. Wer so viel Zeit in tristen Junggesellenunterkünften verbracht hatte, war keine heimeligen Einfamilienhäuschen mehr gewohnt. Und draußen, am Rande der Stadt, wo Shane sich ein Appartement in einer schmucklosen Wohnanlage gemietet hatte, sah das Leben ein bisschen anders aus als hier.

In diesem Augenblick riss das schrille Geräusch einer Autohupe Shane aus seinen Gedanken. Etwas schoss über die Straße und sprang mit einem großen Satz auf den Bürgersteig.

Shanes Blick folgte dem struppigen Hund, der sich in eine Hofeinfahrt rettete, wo zwei Jungs Basketball spielten. Der Autofahrer gestikulierte ärgerlich und fuhr dann davon. Unbeeindruckt von dem Beinahe-Unfall stürzte sich der Mischling auf die beiden Jungen und strich ihnen, als sie sich hingekniet hatten, schwanzwedelnd mit der langen Zunge über die Gesichter. Die Jungs kreischten fröhlich auf.

„Ihr solltet euren Hund besser an die Leine nehmen“, rief ihnen Shane zu.

Die Kinder starrten ihn schweigend an. Derlei Reaktionen war Shane schon gewöhnt – immerhin kannte sich in einer Stadt wie Celebration vermutlich jeder mit Namen. Und Shane war in diesem winzigen Dallas-Vorort-Nest nichts weiter als irgendein Fremder.

„Er wäre beinahe überfahren worden“, fügte er sicherheitshalber hinzu, ging dann aber weiter, denn er wollte den Jungs keine Angst machen. Kurz darauf konnte er hinter sich fröhliches Bellen und Rufen hören.

Schon von Weitem sah er die weißen Zelte, die im Stadtpark aufgeschlagen waren. Der köstliche Duft wurde immer intensiver. Shane passierte ein Straßenschild mit der Aufschrift Celebration – 1.289 Einwohner.

Gemessen an dem Andrang waren offenbar alle 1.289 Einwohner auf den Beinen, um sich das Festival anzusehen.

In der Hoffnung auf deftige Hausmannskost schlenderte Shane an den Buden und Zelten entlang und wollte einen Blick in die Töpfe und Pfannen werfen. Doch zunächst wurde seine Hoffnung enttäuscht.

Celebrations Unternehmer schienen sich in diesem Jahr mit schrillen, ausgefallenen Rezepten beweisen zu wollen. Auf den Aushangschildern las Shane von Gerichten wie Kürbis-Quiche, Petit fours und Ingwer-Zitronen-Cupcakes.

Viel zu süß für seinen Geschmack.

Und es wurde noch absurder. Auf einem Grill brutzelten gelbe Bananen, in einer Pfanne daneben entdeckte er ein Gemisch, das als Quinoa-Gemüse ausgezeichnet war, und an einem kleinen Stand wurden kandierte Früchte serviert.

In dem Zelt, das ihm am nächsten war, wurde ein fluffiger pinkfarbener Schaum angeboten, der schwach nach Fisch roch. Lachsmousse lautete die für Shane wenig viel versprechende Bezeichnung. Das war so überhaupt nicht nach seinem Geschmack.

Doch die zierliche Dame mittleren Alters, die vor dem Zelt stand und Kostproben verteilte, hielt ihn auf.

Deloris’ Delikatessen, verkündete ein Schriftzug auf ihrer gestärkten Schürze, und Shane nahm an, dass es sich bei der Dame um Deloris höchstpersönlich handelte. „Hier, kosten Sie einmal“, ermunterte sie Shane und hielt ihm eine Schale und einen Plastiklöffel hin. Ihr Haar war in adrette kleine Löckchen gelegt und umrahmte ihr freundliches, offenes Gesicht. „Jeder, der meine Lachsmousse einmal probiert hat, ist sofort hin und weg“, versprach sie ihm und deutete auf die schaumige zartrote Masse. „Auf jeder Party heißt es: Deloris, du musst uns unbedingt das Rezept verraten!“, fuhr sie fort und bestätigte damit Shanes Vermutung, dass sie die Urheberin dieses seltsamen Gebildes war.

„Alle haben so lange auf mich eingeredet, es zum Verkauf anzubieten, dass ich es jetzt tue!“ Ihre Augen leuchteten vor Stolz, und ihre Wangen glühten mindestens ebenso rosafarben wie ihre Mousse.

Shane fiel es schwer, sie zu enttäuschen, denn die kleine Person strahlte so viel übermütige Freude aus, dass er sie einfach nicht enttäuschen wollte. Doch das zarte rote Gebilde wirkte einfach zu exotisch, um es auf leeren Magen zu essen.

„Wissen Sie was?“, meinte er nun freundlich. „Ich bin gerade erst angekommen. Ich möchte mir erst einmal einen Überblick verschaffen, was es hier noch so alles gibt. Nicht, dass ich mich schon satt esse, bevor ich überhaupt weiß, was mich noch alles erwartet.“

Sie schenkte ihm ein gutmütiges Lächeln. „Ich verstehe. Aber nachher kommen Sie noch einmal zurück, ja? Ich werde extra eine Schale für Sie beiseitestellen.“

Shane neigte den Kopf – eine Geste zwischen Nicken und Kopfschütteln, die hoffentlich so unverbindlich wirkte, wie er sich fühlte. „Da fällt mir ein, können Sie mir vielleicht weiterhelfen? Ich bin auf der Suche nach dem Zelt von Celebrations Inc.“

Deloris stellte das Tablett mit den Schälchen ab und legte den Zeigefinger an die Wange. „Hm. Ich weiß es zwar nicht genau, aber das finde ich schon heraus. Irgendwo hier müsste ein Lageplan des Festivals liegen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich herum und durchsuchte eine Box voller Flyer und Visitenkarten. Schließlich schien sie fündig geworden zu sein. „Hier haben wir ihn ja! Wollen wir doch mal sehen …“

Mit dem perfekt manikürten Zeigefinger – die Nägel waren in derselben Farbe wie die Lachsmousse lackiert – strich sie über die Karte. „Ah“, rief sie schließlich. „Sehen Sie … wir sind hier.“ Sie tippte auf einen Punkt auf der Karte. „Sie nehmen den direkten Weg durch den Park, dann an dem großen Pavillon vorbei, und genau gegenüber befindet sich Celebrations Inc. Es ist das Zelt mit der Nummer 78, genau unter dem großen Eichenbaum. Möchten Sie die Karte vielleicht mitnehmen?“

Shane unterdrückte ein Lächeln. „Das wird nicht nötig sein, vielen Dank.“

Deloris rollte die Karte daraufhin zusammen. „Es war mir ein Vergnügen.“ Ihre Augen weiteten sich vor Aufregung. „Oh, sind Sie vielleicht auf der Suche nach einem Caterer? Planen Sie ein Fest? Fragen Sie A J doch bitte, ob sie eventuell mit mir zusammenarbeiten würde. Ich würde ihr dann auch gerne meine Mousse zur Verfügung stellen.“

„Ehrlich gesagt möchte ich einfach nur Hallo sagen“, erklärte ihr Shane.

„Oh. Ooh!“ Ihre Miene erhellte sich, als ob Shane ihr gerade gestanden hätte, dass er A J einen Heiratsantrag machen wollte.

„Wie lange kennen Sie unsere A J denn schon?“

Das war auch etwas, was Shane an Kleinstädten nicht leiden konnte: Neuigkeiten verbreiteten sich viel zu schnell. Und wurden außerdem erfahrungsgemäß bei jeder Person noch ein bisschen mehr aufgebauscht.

Diese Gedanken musste er sofort im Keim ersticken, denn sonst würde ihm morgen womöglich schon eine Hochzeit angedichtet. „Eigentlich kenne ich sie kaum. Wir haben nur eine gemeinsame Bekannte, und ich soll ihr lediglich Grüße ausrichten.“

„Oh. Ach so.“ Jetzt wirkte Deloris regelrecht enttäuscht.

Doch zum Glück entkam Shane nun einem weiteren Verhör, weil sich gerade drei Frauen Deloris’ Delikatessen-Zelt näherten und die stolze Verkäuferin mit einem großen Hallo begrüßten.

Shane ergriff die Gelegenheit, winkte Deloris noch einmal zu und ging dann rasch weiter.

Er begab sich auf den Weg, den ihm Deloris beschrieben hatte, und suchte sich einen direkten Weg in Richtung Grünfläche. Er hob den Blick. In der Mitte des Parks befand sich tatsächlich der große Pavillon, in dem eine Countryband spielte. Auf der improvisierten Bühne wurde gerade Line Dance getanzt, der typisch amerikanische Reihentanz. Die Besucher wirkten fröhlich und gelöst, und die heitere Stimmung begann auf Shane überzugreifen, je näher er A Js Stand kam.

Jenseits des Pavillons befanden sich unter einem mächtigen Eichenbaum mehrere Zelte. Dort entdeckte Shane auch das gesuchte Schild: Celebrations Inc. – Catering Service.

Entschlossen lenkte er seine Schritte in Richtung des Zelts. Endlich. Hier kam also der köstliche Duft her.

Und da war auch A J. Wie ein zierlicher blonder Engel stand sie in dem Zelt und befüllte gerade ein Tablett.

Ein Engel, der Burger zubereitete.

Vielleicht sollte ich sie einfach sofort bitten, meine Frau zu werden, dachte Shane.

Dicke weiße Wolken schmückten den strahlend blauen Himmel wie weiche Zuckerwatte. Es war ein herrlicher Tag. Geradezu perfekt, um im Freien zu arbeiten und Burger zu braten.

A Js Laune hätte nicht besser sein können – wenn sie nur nicht immer wieder ein ganz bestimmtes Gesicht in der Menge gesucht hätte.

Jedes Mal, wenn ein großer blonder Mann vorbeiging, ertappte sie sich bei dem Wunsch, es möge Sergeant Shane Harrison sein.

Umso größer war ihre Freude, als er plötzlich tatsächlich vor ihr stand. „Da sind Sie ja.“

Er neigte den Kopf zu ihr hinunter. „Haben Sie mich etwa erwartet?“

Oh. „Äh, habe ich das etwa gesagt?“

„Indirekt.“ Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Und wenn ich mich richtig erinnere, waren wir bereits beim Du angelangt.“

„Ach ja. Richtig.“ A J wäre am liebsten im Erdboden versunken. Jetzt gab es nur noch einen Ausweg. Sie streckte ihm kurzerhand das Tablett entgegen. „Hier.“

„Soll ich probieren?“

„Ich bitte darum.“

Sein Blick verweilte für einige Sekunden auf ihrem Gesicht, bevor er auf das Tablett schaute. „Und was haben wir hier?“

„Es sind drei verschiedene Burger“, erklärte A J. „Ich habe Mini-Versionen kreiert, damit man alle drei probieren kann. Der erste besteht aus einem Rindfleischpatty, Cheddarkäse und karamellisierten Zwiebeln, verfeinert mit einer Barbecue-Soße. Dann haben wir hier einen mit Schinken, Brie und gebratenen Pilzen. Der dritte ist mit Antipasti gefüllt, gerösteter Paprika, Salami und Provolone, abgerundet mit einer Knoblauch-Basilikum-Soße.“ Sie hielt kurz inne, um Luft zu holen. Wenigstens kam etwas Vernünftiges aus ihrem Mund, wenn es um das Thema Essen ging.

Während Shane auf die Burger konzentriert war, musterte sie ihn heimlich. Im gleißenden Sonnenlicht wirkte sein kurz geschnittenes Haar noch heller. Er hatte hohe Wangenknochen und gleichmäßige Gesichtszüge. Nur die Nase war etwas zu groß, was seiner Attraktivität jedoch keinen Abbruch tat.

Mit einer kleineren Nase hätte er einfach zu perfekt ausgesehen. Vor allem wegen seiner schönen vollen Lippen …

A J blinzelte hastig, um den Blick von seinen Lippen losreißen zu können. „Es, äh, gibt auch noch Zwiebelringe dazu.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und wandte sich an ihre Freundin Pepper. Diese war bereits seit dem frühen Morgen auf den Beinen, um A J mit dem Aufbau und dem Bewirten zu helfen.

Pepper maß Shane mit einem anerkennenden Blick und räusperte sich leise. Ohne Zweifel erwartete sie, von A J vorgestellt zu werden.

„Pepper Merriweather, das ist Shane Harrison. Er kennt Maya, ist das zu glauben?“

„Wirklich? Enchanté“, gurrte Pepper den französischen Gruß, allerdings mit leidiger Betonung. Sie umgab sich gerne mit einem Hauch Glamour und Drama, weshalb sie Shane nun ihren Handrücken darbot, anstatt ihm einfach die Hand zu schütteln.

A J versuchte sich das Grinsen zu verkneifen, als Shane etwas ratlos auf Peppers schlaffe Finger sah. Besonders, als er sich nun gegen einen Handkuss entschied und nur flüchtig Peppers Finger drückte. „Freut mich sehr“, erwiderte er unbeeindruckt.

„Ganz offensichtlich stammen Sie nicht aus St. Michel“, meinte Pepper in Anspielung auf den verkorksten Handkuss.

„Pepper!“ A J sah ihre Freundin entsetzt an. Manchmal schien sie mit ihrer unverblümten Art gar nicht zu bemerken, dass sie andere vor den Kopf stieß.

Aber Shane brachte sie damit jedenfalls nicht aus dem Konzept. „Das ist richtig“, bestätigte er mit einem Anflug von Ironie. Dann erklärte er Pepper in knappen Worten, wie er auf dem Heimweg in die Staaten zufällig einen Abstecher in Mayas Laden gemacht hatte.

Vor dem Zelt hatte sich in der Zwischenzeit eine kleine Menschentraube gebildet, und A J war froh, dass Pepper sich nun den neuen Gästen zuwandte.

Mit erwartungsvoller Spannung sah A J dabei zu, wie Shane sich über den ersten Burger hermachte. Sie liebte es, andere zu bekochen. Nichts war für sie befriedigender als der glückliche Ausdruck auf den Gesichtern, wenn ihre Gäste satt und zufrieden waren.

„Und?“ Sie konnte ihre Neugier nicht mehr länger zügeln. „Was hältst du davon?“

Er nickte. „Er ist köstlich. Wirklich gut. Aber sagtest du nicht etwas von einer Barbecue-Soße?“

„Oh. Ja, natürlich.“ A Js Blick glitt über den vollgestopften Beistelltisch, auf dem sich Soßen, Gewürze und Besteck türmten. Sie griff nach der Flasche mit der Barbecue-Soße.

Als sie sich wieder umdrehte, sah sie sich auf einmal der Person gegenüber, von der sie inständig gehofft hatte, ihr heute nicht begegnen zu müssen: ihre Großmutter Agnes Jane Sherwood.

Wie erwartet fiel der Blick, den die Matriarchin über ihre scharfe Adlernase hinweg auf sie warf, übertrieben kritisch aus.

Für A J war das nicht weiter verwunderlich, denn ihre Großmutter hatte ihre beruflichen Entscheidungen noch niemals gutgeheißen.

Obwohl sie ihre Namenspatronin war, hatte sie mit A J nicht viel gemeinsam. A J vermutete insgeheim, dass ihre Mutter sie nur aus dem Grund nach Agnes Jane benannt hatte, um den schief hängenden Haussegen wieder geradezubiegen.

Allerdings ließ sich nicht mehr viel geradebiegen, sobald man erst einmal in Agnes Jane Sherwoods Augen versagt hatte.

Und das hatte ihre Tochter – versagt. Und zwar mit Pauken und Trompeten. In dem Augenblick, als sie auf die verwegene Idee gekommen war, einen einfachen Installateur zu heiraten. Keinen angesehenen Connecticut Collins oder Dallas Dashwood. Nein, einfach nur Joey Antonelli, den Klempner. Das war einfach weit unter der Familienwürde.

Die Heirat hatte Agnes so verärgert, dass sie jahrelang kein Wort mehr mit ihrer Tochter gesprochen hatte.

Inzwischen herrschte aber wieder ein – wenn auch nur fragiler – Frieden zwischen den beiden Frauen. Dass die junge A J aber nun beschlossen hatte, Köchin zu werden, hatte einen weiteren Keil in die Familie getrieben.

Denn Kochen war etwas für Dienstboten. Als Agnes Jane von A Js beruflichen Plänen gehört hatte, waren ihre Worte deshalb gewesen: „Offensichtlich hat die Kleine die Arbeiterklasse-Gene ihres Vaters geerbt.“

Und um das Maß endgültig vollzumachen, war Agnes Jane Sherwood auch noch zur Vorsitzenden des Food-Festivals erkoren worden. Allerdings anscheinend nur auf dem Papier, denn dass ihre Enkelin hier ebenfalls einen Stand hatte, schien sie ehrlich zu überraschen.

„Also wirklich, Agnes Jane. Burger wenden? Wie kannst du mich so beschämen?“ Sie rümpfte die Nase. „Wie kannst du dich selbst so beschämen?“

Für einen Augenblick schien sich eine peinliche Stille über das Zelt zu legen. Unter Agnes Janes wachsamem und gnadenlosem Auge blieb niemand ruhig. Schon ihre bloße Präsenz konnte einem das Fürchten lehren.

A J konnte bereits das Blut in ihren Ohren rauschen hören. Warum musste Shane ausgerechnet diesen peinlichen Zwischenfall mitbekommen?

Und ihre Großmutter war offenbar noch lange nicht fertig. „Seit wann lässt du dich denn dazu herab, Fast Food zu servieren?“, fragte sie schnippisch.

Jetzt löste sich Pepper von der heißen Pfanne und legte A J von hinten die Hand auf die Schulter, als wolle sie sagen: Keine Sorge, ich gebe dir Rückendeckung. Es war genau diese Geste, die A J aus ihrer Benommenheit riss.

„Großmutter, ich serviere heute Test-Gerichte für die kommende Saison. Rezepte, die es nur in meinem Geschäft geben wird.“ Sie betonte das Wort Geschäft, um ihre Großmutter zu beeindrucken. Immerhin war sie keine einfache Hilfskraft, sondern eine selbstständige Unternehmerin.

Und für dieses Unternehmen hatte sie keinen einzigen Penny von ihrer millionenschweren Großmutter verlangt. Stattdessen hatte sie gut geplant, scharf gewirtschaftet und zuvor eisern gespart.

Allerdings war die Eröffnung ihres eigenen Geschäfts etwas beschleunigt worden, nachdem ihr die Lebensversicherung ihres verstorbenen Verlobten ausgezahlt worden war.

Drei Jahre lang hatte sie das Geld nicht angerührt. Die Skrupel waren zu groß und die Erinnerungen zu schmerzhaft gewesen, um mit dem Geld etwas Sinnvolles anzufangen. Etwas Schönes.

Wie konnte sie überhaupt über die Zukunft nachdenken, wenn es für Danny keine Zukunft mehr gab?

Drei Jahre lang hatte sie sich wie benommen durch das Leben geschlagen. Um nicht nachzudenken, hatte sie sich in die Arbeit gestürzt und sich so verausgabt, dass sie keine Zeit mehr zum Nachdenken hatte.

Nur nachts, nach einer langen Schicht im Restaurant, konnte sie endlich Frieden finden. Im Schlaf, in ihren Träumen, in denen Danny noch am Leben und von ihrer Familie akzeptiert war.

Aber dann, eines Tages, hatten ihre Freundinnen eingegriffen. Sie hatten A J versucht klarzumachen, dass Danny sich bestimmt etwas anderes für sie gewünscht hätte.

Dass sie ihr Leben nicht einfach vergeuden solle, indem sie nur für andere schuftete – sondern das sie ebenso gut für ihren Traum schuften konnte: den Traum von einem eigenen Restaurant.

Danny hatte sie immer darin bestärkt. Und nachdem sie sich erst einmal dazu entschlossen hatte, den ersten Schritt zu machen, war es ihr vorgekommen, als wäre er bei jeder Entscheidung bei ihr.

Und selbst wenn es für ihre Großmutter so aussah, als würde sie nichts weiter tun, als „Burger zu wenden“ – war A J immerhin nicht von ihrem Vermögen abhängig. Sehr zu dem Missfallen ihrer Großmutter hatte diese demnach auch keine Kontrolle über A Js Leben. Im Grunde konnte A J tun und lassen, was sie wollte.

Es war nur schade, dass Shane gerade Zeuge dieser hässlichen Szene wurde.

Mit einem angestrengten Lächeln packte A J die Flasche mit der Soße fester und machte einen Schritt auf Shane zu.

Dabei übersah sie allerdings die Baumwurzel, die aus dem Erdboden ragte. Mit der Spitze ihres pinkfarbenen Doc-Martens-Stiefels blieb sie daran hängen und stolperte nach vorne.

Es kam ihr so vor, als könne sie sich selbst in Zeitlupe dabei zusehen, wie sie in Shanes Richtung fiel. Vor Schreck drückte sie dabei auf die Flasche, und ein Strahl Barbecue-Soße ergoss sich auf Shanes weißes Poloshirt.

3. KAPITEL

Shane konnte durchaus nachfühlen, wie peinlich die folgenden Minuten für A J waren.

Im Grunde wäre es keine große Sache gewesen: Ein bisschen Soße auf dem Shirt war für ihn noch lange kein Grund zur Aufregung.

Aber A Js Großmutter sorgte dafür, dass die Situation unangenehm wurde, und zwar gründlich. „So ein dummes Missgeschick“, rief sie laut und rümpfte dabei die Adlernase. „Wir werden Ihnen das Poloshirt natürlich ersetzen.“

Shane winkte ab. „Ich bitte Sie. Das ist doch nicht nötig.“

„Ich bestehe aber darauf“, erwiderte Agnes Jane so schneidend, dass sie damit Glas zum Springen hätte bringen können. „Wenn Sie uns Ihre Adresse nennen, werde ich veranlassen, Ihnen ein neues Shirt zu schicken.“

Mit der alten Streitaxt war offenbar nicht zu verhandeln, das spürte Shane sofort. Um das Thema A J zuliebe schnell fallen zu lassen, blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als ihr ihren Willen zu lassen.

Für einen Augenblick war er versucht, ihr die Adresse von Fort Hood zu geben. Doch dann besann er sich eines Besseren. Warum sollte er ihr nicht seine Wohnadresse nennen? Sollte die gute Von-und-Zu doch gleich wissen, wo genau er untergebracht war.

„Ich wohne zurzeit in dem Wohnblock oben am Highway. Apartment 201“, fügte er hinzu.

Wie er erwartet hatte, wurde Agnes Janes Blick noch ein wenig verächtlicher. „In dem Wohnblock?“ So, wie sie das Wort betonte, hätte man auch meinen können, dass Shane sich direkt im Rotlichtviertel eine Unterkunft gemietet hätte. Falls es so etwas in Perfectville überhaupt gab.

„Genau, Ma’am. Zumindest vorübergehend, bis ich wieder in Übersee bin“, fügte er mit einem Lächeln hinzu.

Shane liebte es, Menschen wie Agnes Jane herauszufordern. Menschen, die sich wegen ihrer Herkunft oder ihres Geldes stets für etwas Besseres hielten und an einem unangenehmen Überlegenheitskomplex litten.

Unglaublich, dass A J wirklich ihre Enkelin war. Sie war bescheiden und freundlich und sich nicht zu schade, ein paar Burger zu wenden.

Agnes Jane hingegen trug ihre vermeintliche Vormachtstellung wie eine Krone. Sie machte nicht den Eindruck, als hätte sie sich jemals in ihrem Leben die Hände schmutzig gemacht.

Und wenn Shane etwas nicht leiden konnte, dann waren es Reiche, die hart arbeitende Leute von oben herab betrachteten.

Zum Glück schien A Js Großmutter das Gespräch für beendet zu halten. „A J, lass dir die Adresse von dem Mann geben. Wir sehen uns später.“ Mit diesen Worten rauschte sie davon, und zwar mit einer Haltung, als würde ihr ein kompletter Hofstaat folgen.

Shane entging es nicht, dass sich zarte rote Flecken auf A Js Wangen gebildet hatten. „Es tut mir leid“, sagte sie zu ihm und hob in einer hilflosen Geste die Schultern. Dann griff sie nach einer Papierserviette und einem Stift. „Es ist wohl das Beste, wenn du deine Adresse notierst, denn meine Großmutter wird garantiert keine Ruhe geben, bis sie dir das Poloshirt ersetzt hat.“

Zum ersten Mal erhellte ein Lächeln ihr Gesicht, als sie hinzufügte: „Schreib auch deine Größe auf. Und nenn eine besonders teure Marke, wenn Granny schon darauf besteht …“

Shane schüttelte den Kopf. „Vergessen wir das Ganze doch einfach. Es ist doch nichts passiert.“

Doch A J gab nicht auf. „Als Entschädigung möchte ich dir wenigstens ein ausgiebiges Abendessen servieren“, erklärte sie. „Vielleicht in der kommenden Woche. Gibst du mir deine Telefonnummer?“

Shane zögerte. „Dann musst du mir aber auch deine Telefonnummer geben. Nenn mich von mir aus altmodisch, aber ich bin der Meinung, dass der Mann anrufen sollte, wenn es um das erste Date geht.“

Ihre Wangen flammten erneut auf. „Date?“ Ihr Gesichtsausdruck wirkte so bestürzt, als hätte Shane gerade etwas Unanständiges gesagt.

„Ist das denn das falsche Wort?“, hakte er nach. „Möchtest du nicht mit mir ausgehen?“ Er runzelte die Stirn. „Sag bloß, du hast Vorurteile gegen Männer, die nach Barbecuesoße riechen?“

Das brachte sie zumindest zum Lachen. „Ich kann mich nicht daran erinnern, dich um ein Date gebeten zu haben. Ich wollte lediglich für dich kochen. Magst du etwa meine Kochkünste nicht?“, entgegnete sie.

Als Antwort griff Shane nach dem zweiten Miniburger und nahm einen herzhaften Bissen. Er ließ den Geschmack auf der Zunge zergehen und schluckte dann langsam. Ihre Blicke trafen sich dabei.

„Wenn dieser Burger ein Vorgeschmack auf dein Talent ist, bin ich ziemlich sicher, dass ich es lieben werde. Aber lass uns zuerst mit einem Date anfangen, einverstanden?“

Während Shane zu seinem Wagen zurückkehrte, fragte er sich, wann er das letzte Mal eine Frau um ein Date gebeten hatte.

Nicht, dass er in all den Jahren bei der Army im Zölibat gelebt hatte. Nein, er hatte eine befriedigende Menge netter Abende mit reizenden Frauen verbracht. Attraktiven Frauen. Aber dabei hatte er nie den altmodischen Wunsch nach einem ersten Date im Kopf gehabt.

Er schloss den Pick-up-Truck auf, ließ sich auf den Fahrersitz gleiten und betrachtete noch einmal A Js Nummer, die sie ihm auf die Hälfte einer Papierserviette notiert hatte.

Irgendetwas an dieser Frau hatte in ihm sofort den Wunsch geweckt, es richtig zu machen. Und zwar von Anfang an.

Was genau er allerdings dabei richtig machen wollte, wusste er selbst nicht so genau. Und der Gedanke an Übersee passte außerdem so gar nicht dazu …

Vorerst musste er allerdings erst einmal nach Hause, um den Geruch nach Barbecue-Soße loszuwerden. Er ließ den Wagen an.

Doch noch bevor er das Ende der Straße erreicht hatte, schnellte plötzlich ein Schatten vor den Truck. Shane stieg hart auf die Bremse.

Es war derselbe Hund, dem er vorhin schon begegnet war.

Du liebe Zeit. Wollte diese Familie ihr Haustier loswerden? Oder wurde der Hund von einem unbändigen Freiheitsdrang getrieben, dem kein Zwinger auf der Welt standhalten konnte?

Wie Houdini, dachte Shane und hatte plötzlich Mitgefühl mit dem Tier, denn mit Freiheitsdrang kannte er sich gut aus.

Trotzdem konnte er den Hund nicht einfach sich selbst überlassen. Wenn seine Besitzer nichts unternahmen, war es nur noch eine Frage der Zeit, bis sie das arme Tier von der Straße kratzen mussten.

Shane parkte den Wagen am Straßenrand, stieg aus und stieß einen langen Pfiff aus. Zu seinem Erstaunen drehte der Hund augenblicklich den Kopf in seine Richtung und trottete auf ihn zu. Sein Fell wirkte struppig und ungepflegt. Stürmisch sprang er auf Shane zu und versuchte, ihm das Gesicht abzulecken, so lange, bis er auf die Barbecue-Soße auf Shanes Shirt aufmerksam wurde und sich stattdessen lieber dieser zuwandte.

„Aus“, sagte Shane im Befehlston und drückte das Tier sanft zu Boden.

Wie sich herausstellte, war der Hund gut erzogen und brav, solange man ihn mit fester und ruhiger Stimme behandelte. Er ließ sich ausgiebig hinter den Ohren kraulen und machte den Eindruck, nirgendwo lieber auf der Welt sein zu wollen als an Shanes Seite.

„Na komm, Junge“, forderte Shane den Mischling schließlich auf. „Bringen wir dich nach Hause.“

Doch zu Shanes Überraschung gehörte der Hund überhaupt nicht der Familie, in deren Hofeinfahrt die Jungen vorhin gespielt hatten.

Als Shane an der dazu gehörigen Haustür schellte, öffnete ein untersetzter Mann mittleren Alters die Tür und musterte Shane argwöhnisch. Offenbar war es der Vater der beiden Jungen. Als dieser hörte, dass Shane nach dem Besitzer des streunenden Hundes suchte, wurde er allerdings freundlicher.

Leider konnte er Shane auch nicht weiterhelfen, denn er hatte den Hund noch nie zuvor gesehen und kannte niemanden, dem er entlaufen sein könnte.

Somit blieb der Hund also Shane überlassen.

Auf dem Weg zurück zum Wagen lief er dicht bei Shane und strich um seine Beine. „Was machen wir denn jetzt mit dir?“ Shane untersuchte das Halsband des Hundes, konnte allerdings keinen Anhänger finden. Nichts deutete darauf hin, zu wem er gehörte.

„Tja. Ich kann dich ja nicht einfach auf der Straße lassen, was, Kumpel?“

Der Hund blickte ihn mit großen, seelenvollen Augen an und rieb seinen schmutzigen Kopf hingebungsvoll an Shanes Hand.

A J hatte nicht damit gerechnet, so schnell von Shane zu hören. Wenn überhaupt noch einmal.

Nach allem, was der arme Mann heute miterlebt hatte, könnte man ihm das auch nicht verdenken.

Allerdings hatte er das Wort Date ja überhaupt erst ins Spiel gebracht. Schließlich hatte sie nichts anderes im Sinn gehabt, als ihn mit einem Abendessen für das dumme Missgeschick mit der Soße entschädigen zu wollen.

Daher war sie auch mehr als überrascht, als gegen halb sieben plötzlich ihr Handy klingelte. Sie war gerade dabei, das letzte Besteck vom Festival abzutrocknen und die gereinigten Küchenutensilien wegzuräumen.

Der Anrufer war Shane, und er fragte sie nach … Hundeshampoo?

„Mir ist heute ein Streuner zugelaufen“, erklärte er ihr. „Wahrscheinlich, weil ich so gut nach Barbecue-Soße gerochen habe.“ Sein Lachen klang warm.

A J war froh, dass er die ganze Sache mit Humor betrachtete. Und das, obwohl er nicht einmal viel von dem Festival gehabt hatte.

Überhaupt wies er viele Charaktereigenschaften auf, die ein Mann A Js Meinung nach haben sollte. Er war nachsichtig, unkompliziert und humorvoll. Und was beinahe das Beste war: Er hatte sich von ihrer Großmutter nicht einschüchtern lassen. Viele Leute knickten nämlich unweigerlich bei Agnes Janes harscher, hochmütiger Art ein. Aber nicht so Shane.

Davon einmal abgesehen, musste er ein gutes Herz haben, wenn er sich um einen streunenden Hund kümmerte.

Plötzlich breitete sich ein warmes, unerwartet gutes Gefühl in A Js Magen aus.

Hatte sie wirklich einem Date mit diesem Mann zugestimmt?

Offensichtlich. Auch wenn es jetzt vorerst nur darum ging, einen herrenlosen Hund von Schmutz zu befreien.

Doch das schlechte Gewissen lauerte bereits unter der Oberfläche. Seit Danny hatte sie an keinen anderen Mann mehr gedacht; hatte kein einziges Mal mehr Schmetterlinge im Bauch gehabt.

Und jetzt? Durfte sie sich darauf freuen, mit Shane auszugehen?

Fünf Jahre waren vergangen, seit ihr Verlobter im Dienst erschossen worden war. Er war wie jeden Morgen zur Arbeit gegangen und dann einfach nicht mehr zurückgekehrt.

Der grelle Schmerz war mit der Zeit zu einem dumpfen Verlust verblasst.

Sie war jetzt dreiunddreißig Jahre alt. Danny hätte bestimmt nicht gewollt, dass sie ihr restliches Leben aufgab.

Shanes Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Das Problem ist nur, dass ich keinen Gartenschlauch habe, um ihn sauber zu machen“, erläuterte er. „Alles, was ich in meinem Apartment habe, ist eine kleine Duschkabine. Vielleicht sollte ich es mal mit Trockenshampoo versuchen. Weißt du, ob man so etwas bei Hunden verwenden darf?“

„Lieber nicht. Und falls er Flöhe hat, wirst du die damit auch nicht los“, gab A J zu bedenken.

„Okay. Irgendeine Ahnung, was ich sonst noch benutzen könnte …“ Shane verstummte. „Entschuldige. Ich habe dich ja gar nicht gefragt, ob ich dich gerade bei irgendetwas störe.“

„Ach was.“ A J legte lächelnd die Servierzange zurück in die Schublade. „Ich bin längst wieder zu Hause und gerade mit dem Aufräumen fertig geworden.“ Ihr Blick fiel auf das aufgeklappte Notebook auf dem Küchentisch. „Wenn du eine Minute Zeit hast, kann ich schnell im Internet nachsehen, womit man Hunde entflohen kann.“

Er räusperte sich. „Darauf hätte ich auch selbst kommen können.“

„Schon, aber den Geräuschen nach zu urteilen, bist du gerade im Auto“, widersprach ihm A J. „Und ich rate dir, nicht gleichzeitig zu fahren und im Internet zu surfen.“

„Keine Sorge, ich halte gerade am Straßenrand“, versicherte ihr Shane.

Währenddessen hatte A J den Laptop gestartet und den Browser geöffnet. „Wollen wir doch mal sehen …“ Sie tippte die entsprechende Frage in eine Suchmaschine ein und überflog einige Artikel über Hundepflege. Schließlich wurde sie auf der Seite eines Tierarztes fündig. „Hm. Dieser Arzt schreibt, dass der pH-Wert eines Hundes sich um zwei Punkte von dem eines Menschen unterscheidet. Offensichtlich ist das ein großer Unterschied. Er schreibt, gewöhnliches Shampoo kann die Haut eines Hundes austrocknen und dabei Reizungen verursachen.“

„Tja, so etwas habe ich befürchtet. Jetzt muss ich versuchen, einen Laden aufzutreiben, wo ich Hundeshampoo bekomme. Oder ich besorge mir einfach eine Dose Insektenspray. Die müsste ich allerdings hier im Auto benutzen, bevor ich den Köter in mein Apartment lasse.“

Er benutzte zwar das Wort Köter, doch es klang bei ihm nicht unfreundlich. A J schüttelte langsam den Kopf, bis ihr bewusst wurde, dass Shane diese Geste am Telefon gar nicht sehen konnte. „Ich würde kein Insektenspray verwenden“, entgegnete sie trocken. „Damit wirst du dich am Ende nur noch selbst vergiften. Warte mal.“

Erneut tippte sie eine Suchanfrage ein. In aller Eile überflog sie die Antworten. „Aha. Hier steht, das beste Mittel gegen Flöhe ist Borax. Neun von zehn Leuten, die den Artikel kommentiert haben, fanden es hilfreich.“

Shane schien einen Augenblick nachzudenken. „In Ordnung. Dann werde ich jetzt losfahren und irgendwo Borax besorgen. Und dann stopfe ich das Hundevieh einfach in meine Duschkabine.“

„Bring ihn doch zu meinem Haus. Ich habe einen Gartenschlauch und genug Platz. Wir können ihn draußen waschen.“

Wow. A Js Magen zog sich angesichts ihrer plötzlichen Kühnheit schmerzhaft zusammen.

Shane räusperte sich hörbar. „Ich kann dieses schmuddelige Fellbündel doch unmöglich zu dir bringen. Du würdest es mir garantiert niemals verzeihen, wenn er dir Flöhe in die Wohnung schleppt.“

„Borax“, antwortete A J selbstbewusst. „Neun von zehn überzeugte User. Damit werden wir ihn behandeln!“ Sie nickte nachdrücklich, als wenn sie sich selbst von der Idee überzeugen wollte. „Du kannst den Hund in der Auffahrt waschen, und danach lassen wir ihn auf der Veranda trocknen. Also keine Chance für Flöhe in der Wohnung.“

Es war bereits kurz nach halb acht, als Shane den Wagen vor A Js Haus parkte. Es war an einem Hügel etwa fünf Meilen außerhalb der Stadt gelegen und wirkte auf den ersten Blick genauso adrett und gewöhnlich wie alle anderen Häuser in Celebration. Ein bescheidenes einstöckiges Haus mit weißen Schindeln und tannengrünen Fensterläden.

Allerdings hielt er A J weder für adrett noch für gewöhnlich und war deshalb gespannt, wie das Haus von innen aussehen würde. Und er fragte sich unwillkürlich, wie wohl A Js Schlafzimmer eingerichtet war.

Doch dann fiel ihm plötzlich ein, dass er es womöglich nicht einmal bis in den Flur schaffen würde, immerhin galt es nur, einen Hund zu waschen und von Flöhen zu befreien.

Dieser war sichtlich erfreut über sein neues zeitweiliges Herrchen und gehorchte Shane aufs Wort.

A Js Rat folgend, hatte Shane Borax besorgt, dazu noch mehrere Dosen Hundefutter und eine Leine. Diese befestigte er nun am Halsband und führte den Hund zu A Js Haustür. So wild und freiheitsliebend dieser noch vor wenigen Stunden gewirkt hatte, so friedlich und zahm benahm er sich jetzt. Ohne zu zögern, hatte er sich auf die alte Jacke gelegt, die Shane im Truck für ihn ausgebreitet hatte. Diese würde er morgen wohl oder übel in die Reinigung geben müssen. Der Geruch nach verfilztem Hund haftete ihr nämlich schon jetzt intensiv an – womöglich genauso wie Shane selbst.

Dies wurde ihm allerdings erst bewusst, als er vor A Js Haus stand.

Nur wenige Sekunden, nachdem er geklingelt hatte, öffnete sie bereits die Tür. „Hey.“

Sie hatte die weiße Kochschürze gegen ein rotes T-Shirt getauscht, das ihre Kurven an genau den richtigen Stellen zur Geltung brachte. Die verblassten Jeansshorts betonten außerdem ihre langen, sonnengebräunten Beine.

„Hi.“ Shane nahm den Blick schweren Herzens von ihrem Outfit. Sie sah viel zu gut aus, um darin einen Hund zu waschen. Andererseits erwartete er ja auch gar nicht, dass sie die Ärmel hochkrempeln und ihm dabei helfen würde. „Danke, dass wir rüberkommen durften.“

Nun bemerkte er, wie sich ihr Blick ebenfalls an seinen Bauch heftete. Ihm fiel auf, dass er noch immer das soßenbefleckte Poloshirt trug. In all der Aufregung um den Hund hatte er nicht einmal daran gedacht, sich umzuziehen. Bei der Gelegenheit hätte er auch gleich duschen und sich rasieren können.

Aber jetzt war es zu spät.

„Schönes Shirt“, meinte sie augenzwinkernd und ließ sich nieder, um den Hund hinter den Ohren zu kraulen.

„Nicht wahr? Mein bestes Hundewasch-Outfit“, erwiderte er so souverän wie nur möglich.

Ihr Lachen klang aufrichtig, wodurch er sich gleich noch ein wenig besser fühlte. „Wie heißt der Hund?“

„Ich weiß es nicht. Offenbar ist er ein Streuner. Entweder ist er jemandem weggelaufen, oder er wurde ausgesetzt.“

„Du armes Ding.“ A J streichelte sanft den Rücken des Tieres. „Aber er braucht auf jeden Fall einen Namen. Wir können ihn doch nicht ‚Hund‘ nennen.“

Oh-oh. Shane lehnte sich an das Geländer der Veranda. „Gib einem Hund einen Namen, und du hängst dein Herz an ihn. Und das kann ich mir gerade wirklich nicht erlauben.“

„Hast du etwa ein Problem damit, dein Herz an etwas zu hängen?“ Sie schlug einen auffällig leichten und unverfänglichen Ton an, doch Shane entging nicht, wie sich auf ihrer Stirn winzige Fältchen bildeten. Offenbar war diese Frage wichtig für sie.

Nachdenklich betrachtete er ihre hinreißenden blauen Augen und das glatte blonde Haar. Ihr Anblick bewegte ihn dazu, seine Worte sehr genau abzuwägen. „Ich kann mein Herz nicht an ein Haustier hängen“, entgegnete er, „denn mein Auftrag hier endet in sechs Wochen, und dann gehe ich nach Europa. Dahin kann ich keinen Hund mitnehmen.“

Schweigen folgte seinen Worten. Für einige Augenblicke war nichts zu hören außer dem Zirpen der Grillen in der sanften Abenddämmerung.

Shane wollte gerade etwas hinzufügen, doch A J kam ihm zuvor. „Ich verstehe“, sagte sie knapp, dann erhob sie sich und sah ihm tief in die Augen. „Ein Hund ist schließlich eine Verpflichtung.“ Sie wandte sich ab. „Dann mal los. Hinter dem Haus ist der Gartenschlauch.“

Es kam Shane so vor, als sei die Temperatur gerade um einige Grade gesunken, als er hinter A J herging. Trotzdem entging ihm nicht ihr sanfter Hüftschwung und die Rundung ihres hübschen Pos, der bisher von einem Kochkittel verdeckt gewesen war.

Sie traten nun durch eine kleine Pforte in dem weiß lackierten Lattenzaun und gingen um das Haus herum, wo A J auf einen Schlauch deutete, der sorgfältig eingerollt auf dem Boden lag.

Shane widerstand dem Impuls, sich zu verteidigen. Sie hatte ihre Worte nämlich so klingen lassen, als sei er nicht gewillt, überhaupt eine Verpflichtung einzugehen.

Aber war das nicht ein bisschen ungerecht von ihr?

Sicher, er zog von Ort zu Ort und war keinem Menschen verpflichtet. Zumindest keiner Familie.

Andererseits war er sozusagen mit der Army verheiratet, und zwar mit Leib und Seele. In gewisser Weise konnte man doch gar keine größere Verpflichtung eingehen.

„Warum behältst du ihn denn nicht?“, schlug er vor, während er den Gartenschlauch entrollte.

Sie warf ihm einen eisigen Blick zu. „Ich arbeite viel zu viel, um einen Hund halten zu können.“

Er grinste jetzt. „Ich verstehe. Ein Hund ist schließlich eine Verpflichtung!“

Einige Sekunden lang starrte sie ihn verärgert an, dann lachte sie und hob abwehrend die Hände. „Schon gut, schon gut, ich hab’s kapiert.“

Gedankenverloren sah sie ihm dabei zu, wie er den Hund einshampoonierte. Auf einmal schien ihr etwas einzufallen. „Hey, wir machen einen Deal. Wir denken uns gemeinsam einen Namen für ihn aus, und im Gegenzug helfe ich dir dabei, ein neues Zuhause für ihn zu finden.“

Ohne groß darüber nachzudenken, stimmte Shane zu. „Deal.“

„Fein“, erwiderte A J erfreut. „Für einen Streuner scheint er übrigens in ziemlich guter Verfassung zu sein. Wir könnten Flyer mit einem Foto von ihm verteilen, falls er doch jemandem weggelaufen ist. Und du solltest ihn zum Tierarzt bringen. Es könnte doch sein, dass er einen dieser Chips implantiert hat, auf dem sich seine Daten befinden.“

Shane nickte. „Gute Idee. Und bei der Gelegenheit kann ich ihn auch gleich impfen lassen.“ Er sah A J an. Der strahlende Glanz in ihren Augen versetzte ihm einen Stich ins Herz. „Schön. Und wie sollen wir ihn nennen?“

Dem Hund einen Namen zu geben, war keine gute Idee, das wusste Shane sofort. Und es kam ihm so vor, als ob er eine Menge Dinge tat, die keine gute Idee waren, seit er in Celebration angekommen war.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte er: „Houdini!“

„Houdini? Wie kommst du denn auf diesen Namen?“

„Weil er offenbar ein Überlebens- und Entfesselungskünstler ist. Er kann sich überall befreien und ist heute gleich zwei Mal nur knapp einem Autounfall entgangen.“

A J lächelte. „Prima. Hey, Houdini! Wie gefällt dir dein neuer Name?“

Der Hund spitzte die Ohren und stieß daraufhin ein kurzes, tiefes Bellen aus, das sie zum Lachen brachte.

Die folgende halbe Stunde verging wie im Flug. A J half Shane dabei, den Hund abzuduschen. Am Ende war ihr T-Shirt vollkommen durchnässt, und Shane konnte nur mit Mühe den Blick davon abwenden.

„Wir können ihn nicht draußen lassen, denn sein Fell ist noch nicht völlig trocken, sonst wird er nachher krank“, stellte sie fest. „Kommt doch so lange mit ins Haus. Ich mache uns Abendessen. Du bist bestimmt am Verhungern.“

Hungrig war Shane tatsächlich, aber sein Hunger würde kaum mit einem Abendessen gestillt werden können.

Diese Erkenntnis ließ ihn für einen Augenblick innehalten.

Zwischen ihnen gab es eine unleugbare Anziehung, aber er hatte nicht den Eindruck, als ob A J Sherwood-Antonelli der Typ für flüchtige Affären war.

An eine längerfristige Beziehung war allerdings momentan bei ihm nicht zu denken, und das war auch genau der Grund, warum jetzt der richtige Zeitpunkt zum Gehen war.

Wie aufs Stichwort sprang Houdini hoch und schüttelte ausgiebig sein tropfnasses Fell. Jetzt war Shane ebenfalls durchnässt, und das soßendurchtränkte Poloshirt klebte unangenehm an seiner Brust. „Vielen Dank, Kumpel“, sagte er grimmig.

A J konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Keine Sorge. Ich kann dir ein frisches Hemd geben.“

Er hob die Brauen. „Deine Größe wird mir kaum passen.“

Das brachte sie kurz aus der Fassung. Es kam ihm so vor, als ob ihr jetzt erst bewusst wurde, was sie eben gesagt hatte. Sie rang nervös nach Worten. „Es ist ein Männerhemd“, erklärte sie schließlich.

Der Umstand, dass sie Männerkleidung in ihrem Haus aufbewahrte, traf Shane unerwartet heftig. Er konnte sich den Grund dafür aber einfach nicht erklären. Überhaupt konnte er sich so einiges nicht erklären, seit er dieser Fremden eine Schachtel Pralinen überreicht hatte.

Trotzdem versuchte er, einen leichten und lustigen Ton anzuschlagen. „Warum hast du denn Männerkleidung im Schrank? Ist sie für den spontanen Hundereiniger reserviert? Oder für den Fall, dass du jemandem Barbecue-Soße servierst?“

Ein gezwungenes Lächeln hob ihre Mundwinkel, das allerdings nicht ihre Augen erreichte. „Das ist eine lange Geschichte“, sagte sie knapp, und es klang nicht so, als wolle sie näher darauf eingehen.

Offensichtlich hatte er unabsichtlich einen empfindlichen Nerv bei ihr getroffen.

Männerkleidung. Und eine lange Geschichte, die sich dahinter verbarg.

Ein leichter Wind kam nun auf und spielte mit den Zweigen der Bäume.

Shane dachte daran, wann er das letzte Mal Frauenkleidung bei sich aufbewahrt hatte. Seine Gedanken schweiften nach Italien – ein Kleid über einer Stuhllehne, Dessous auf dem Teppich verstreut.

Aber die Gegenwart war sehr viel präsenter.

Wessen Hemd mochte A J aufbewahren? Vielleicht eins von ihrem Bruder? Ihrem Vater?

Wahrscheinlich eher nicht. Aber wenn es ihrem Freund gehörte, hätte sie ihn wohl kaum zum Abendessen eingeladen.

Mit einem Mal ergriff eine tiefe Unruhe von Shane Besitz. Er blickte in A Js meerblaue Augen und suchte nach irgendeinem Hinweis.

Doch das Einzige, was er zu erkennen glaubte, war ein tief sitzender Schmerz. Ein Schmerz, der seinen eigenen exakt widerspiegelte.

In diesem Moment glaubte er zu wissen, dass sie beide verlorene Seelen waren, die sich einen perfekten Selbstschutz angelegt hatten, um den Alltag bestreiten zu können.

Wenn A J tatsächlich ebenfalls von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht wurde, dann war jetzt nicht der richtige Moment, sie danach zu fragen. Zumindest gerade nicht.

„Vielen Dank für deine Hilfe“, begann Shane deshalb. „Du warst den ganzen Tag auf den Beinen. Du solltest dich jetzt ausruhen. Aber wenn du morgen Abend noch nichts vorhast, würde ich dich gerne ausführen. Zu dem Date, über das wir gesprochen haben.“

4. KAPITEL

Der Sonntag war A Js liebster Wochentag.

Zum Glück waren in den vergangenen anderthalb Jahren, seit sie sich selbständig gemacht hatte, nicht viele Aufträge auf Sonntage gefallen, sodass sie diesen Tag weiterhin zum Ausruhen und Entspannen nutzen konnte.

Heute fiel es ihr allerdings schwer, zu relaxen, da sie am Abend mit Shane ausgehen würde.

Um sich abzulenken, hatte sie Caroline, Pepper und Sydney zum Brunch eingeladen und sich dafür ein raffiniertes Rezept ausgedacht. Sie servierte ihren Freundinnen Spargel-Ziegenkäse-Omelettes und Endiviensalat mit frischen Birnen und kandierten Walnüssen.

Caroline hatte für das Dessert gesorgt: ein Apfelkuchen mit Streuseln und einer Glasur aus braunem Zucker. Eigentlich war Caroline Finanzanalystin, aber in ihrer Freizeit war sie auch eine passionierte Konditorin. Mit ihren Torten sorgte sie regelmäßig für Highlights bei A Js Verköstigungen.

Während sich ihre Freundinnen den ersten Prosecco genehmigten, hielt A J sich zurück. Denn sie wollte auf keinen Fall beschwipst sein, wenn Shane sie abholte. In genau sieben Stunden und fünfundzwanzig Minuten.

Und ja, sie zählte die Minuten.

„Pepper, was geht eigentlich bei Texas Star vor?“, wollte Sydney nun wissen.

„Ich habe keine Ahnung.“ Pepper hob das Glas an die Lippen, doch dann zögerte sie. „Du bist doch diejenige, die dort die Öffentlichkeitsarbeit macht. Sag du es uns.“

Sydney wirkte bedrückt. „Richtig. Das sollte man meinen, aber irgendetwas stimmt da nicht, und ich weiß einfach nicht, was. Es liegt eindeutig etwas in der Luft. Hat dein Vater irgendetwas gesagt? Vielleicht nur so nebenbei, beim Abendessen?“

Pepper stellte das Glas auf die schwere Granitplatte der Kücheninsel. Die Küche war A Js ganzer Stolz und ihr liebster Raum im Haus. Nachdem sie vor vier Jahren in das Haus gezogen war, hatte sie als Erstes die Küche komplett renoviert und ganz nach ihren Vorstellungen eingerichtet.

Zu dieser Zeit war erst ein Jahr vergangen, nachdem Danny im Dienst erschossen worden war.

Für einen Augenblick drohten die Erinnerungen sie wieder zu überwältigen, doch dann konzentrierte sie sich bewusst auf das Anrichten des Salats.

Ja, die Küche war ihr wirklich gut gelungen. Sie bot genug Raum für Gäste und erlaubte es A J, während des Zubereitens bei ihren Freundinnen zu sein, sodass sie auch beim Kochen Teil der Party war.

„Du weißt doch, dass ich meine eigene Wohnung habe“, erinnerte Pepper ihre Freundin. „Es ist lange her, dass ich mit meinem Vater zu Abend gegessen habe. Selbst meine Mutter bekommt ihn kaum noch zu Gesicht. Er arbeitet immerzu. Aber du siehst besorgt aus, Syd. Was ist denn passiert?“

Sydney hob die Schultern. „Eigentlich gar nichts. Ich habe nur so ein komisches Gefühl. So als wäre irgendetwas im Argen.“

„Mom und Dad haben gerade einen neuen Firmenflieger bestellt“, meinte Pepper. „So schlimm kann es also gar nicht sein. Aber wenn du möchtest, frage ich meinen Vater einfach direkt, was los ist.“

„Um Himmels willen.“ Sydney schüttelte so heftig den Kopf, dass sie ihre ganze Frisur damit in Gefahr brachte. „Zumindest nicht in meinem Namen.“

„Natürlich nicht.“ Pepper verzog das Gesicht. „Ich bin ganz vorsichtig, keine Bange.“

„Und wenn du schon dabei bist, Pepper“, warf A J ein und fügte das Dressing zu dem Salat, „fragst du dann bitte deine Eltern, wann sie meine Catering-Rechnung begleichen werden?“

„Oh.“ Peppers Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Sie haben dich noch nicht bezahlt? Aber das ist doch schon beinahe drei Monate her.“

A J nickte.

„Hmm …“ Peppers hübsche Stirn legte sich in Falten. „Vielleicht ist die Rechnung in all dem Papierkram untergegangen. Schick sie ihm doch einfach noch mal, A J.“ Sie gab sich unbeschwert, doch A J konnte aus Peppers Worten genau heraushören, wie beunruhigt ihre Freundin nun war.

Während das Gespräch sich schon bald wieder um andere Themen drehte, kreisten A Js Gedanken die ganze Zeit um Shane.

Warum um alles in der Welt war sie nur so nervös? Er würde sie doch nur zum Essen ausführen, mehr nicht.

Auch wenn sie nicht leugnen konnte, dass zwischen ihnen die Funken geflogen waren. Und genau diese Funken hatten sie in einem unbedachten Augenblick dazu gebracht, ihm Dannys Kleidung anzubieten.

Erst am nächsten Morgen war ihr die Tragweite dieses Angebots richtig bewusst geworden, und im Stillen hatte sie sich über sich selbst geärgert.

Nachdem sie aus der gemeinsamen Mietwohnung ausgezogen war, hatte sie Dannys gesamte Kleidung spenden wollen. Doch irgendwie waren die Kleider in einer Kiste gelandet und diese Kiste in ihrem Schrank in dem neuen Haus.

Und dort waren sie geblieben. Fünf Jahre lang.

Shane in Dannys Kleidung zu sehen, wäre bestimmt merkwürdig gewesen. Unwirklich. Und sie war froh, dass Shane das Angebot abgelehnt hatte.

„A J, hast du zugehört?“

„Wie bitte? Nein. Tut mir leid.“ A J sah Caroline entschuldigend an.

„Ich habe dich schon zwei Mal gefragt, ob du auch ein Glas Prosecco haben möchtest. Und ich habe den Eindruck, dass du in Gedanken ganz schön weit weg bist.“

Plötzlich waren alle Blicke auf A J gerichtet.

„Ich hatte einfach viel um die Ohren“, sagte A J, und selbst für sie hörte sich diese Ausrede lahm an.

„Du arbeitest zu viel“, stellte Pepper fest. „Noch ein Grund mehr, warum wir alle vier mal wieder zusammen ausgehen sollten. Was haltet ihr davon? Heute Abend läuft ein neuer Johnny-Depp-Film im Kino.“

Ihr Vorschlag wurde von allen Seiten mit großer Begeisterung aufgenommen, nur nicht von A J. Sie zögerte kurz, aber dann beschloss sie, ihren Freundinnen einfach die Wahrheit zu sagen. „Ich kann nicht mitkommen, denn ich habe heute Abend ein Date.“

Es war, als hätte sie eine Bombe fallen lassen. Die drei starrten sie überrascht und schweigend an.

Pepper fasste sich als Erste wieder. Sie stemmte empört die Hände in die Hüften. „Du willst also sagen, du hast heute Abend ein Date und hattest nicht vor, uns davon zu erzählen?“

Zum Glück kam ihr Caroline zu Hilfe. Sie hob die Hand und brachte Pepper damit zum Schweigen. „Lass mal, Pepper.“ Dann sah sie A J aufmerksam an. „Liebes, das ist dein erstes Date seit …“ Der Satz blieb unvollendet, aber in ihren strahlend grünen Augen glitzerten Tränen der Rührung.

A J nickte stumm.

„Ist es etwa dieser umwerfende Typ, der gestern zum Probeessen vor unserem Zelt stand?“, kombinierte Sydney sofort.

Erneut konnte A J nur mit dem Kopf nicken.

Schließlich gab sie nach. Sie wusste, dass es ihr guttun würde, mit ihren besten Freundinnen darüber zu sprechen. „Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, ob ich das wirklich kann“, gab sie zu. „Manchmal kommt es mir so vor, als ob Danny erst gestern gestorben wäre. Aber ich weiß ja, dass ich mich nicht bis an mein Lebensende vergraben sollte.“

Shane war den gesamten Sonntagmorgen durch die Stadt gelaufen und hatte Flyer verteilt, die er in aller Eile hatte drucken lassen.

Houdini war sichtlich erfreut über den Spaziergang und wollte am liebsten jede Straßenecke erkunden. Sobald Shane kurz innehielt, um einen Flyer an eine Laterne zu kleben, wartete auch Houdini folgsam an seiner Seite.

Shane mochte den lieben und gutherzigen Rüden und konnte sich durchaus vorstellen, dass irgendwo eine Familie sehnsüchtig darauf wartete, ihn zurückzubekommen.

Vor dem Haus des Mannes, dessen Jungs mit Houdini im Hof gespielt hatten, erlebte er eine Überraschung.

Zwei Cops unterhielten sich mit dem Hausbesitzer und fassten dabei Shane argwöhnisch ins Auge, als dieser sich mit Houdini näherte. Sie traten auf ihn zu und begannen dann mit einer ungezwungenen, doch spürbar ernsthaften Befragung.

Sie wollten wissen, welche Flyer Shane da gerade verteilte, wo er wohnte und was er am gestrigen Nachmittag getan hatte.

Nachdem Shane ihnen seinen Militär-Ausweis gezeigt und den Grund seines Aufenthaltes in Celebration erläutert hatte, wurden sie sofort nachsichtiger. Er erfuhr, dass es gestern Nachmittag bei dem Hausbesitzer einen versuchten Einbruchdiebstahl gegeben hatte. Allerdings hatte dieser die Täter wohl überrascht, bevor sie etwas hatten mitgehen lassen können. Unglücklicherweise hatte der Mann sie allerdings nur gehört und nicht sehen können, als sie durch das Fenster geflohen waren.

Die diensteifrigen Cops wollten deshalb wissen, ob Shane irgendetwas beobachtet hatte. Da der Zeitpunkt des Einbruchs ungefähr mit Shanes Eintreffen zusammenfiel, berichtete er den Polizisten von den vier Jugendlichen, die an der Straßenecke herumgelungert hatten.

„Vielleicht gibt es gar keinen Zusammenhang, aber die vier Jungs machten mir den Eindruck, als würden sie gerade etwas aushecken“, meinte Shane, der nur ungerne jemanden verdächtigte, wenn es keine eindeutigen Beweise gab.

Die Cops nickten. „Sie sind nicht der Einzige, der die Burschen gesehen hat. Auch die anderen Nachbarn haben die Jungs bemerkt. Können Sie sie vielleicht beschreiben? Hatten sie irgendetwas bei sich, vielleicht Rucksäcke?“

Shane verneinte. „Soweit ich gesehen habe, trugen sie nichts bei sich. Sie wirkten auf mich wie Punks. Lange Haare, lässige Kleidung. Einer war allerdings größer als die anderen und schien auch mehr zu sagen zu haben.“

Die Polizisten notierten sich Shanes Personenbeschreibungen.

Obwohl sie sich anfangs so verhalten hatten, als stehe Shane selbst unter Verdacht, änderte sich die Stimmung schlagartig, als sie erfuhren, dass er mit A J befreundet war.

A J schien offenbar das Zauberwort zu sein, das ihm Türen und Herzen öffnete.

Die Polizisten ließen ihn sofort ziehen, und der Hausbesitzer, der bisher schweigend an der Haustür gewartet hatte, bat Shane sogar freundlich herein.

„Ich bin Bob Germaine“, stellte er sich vor und schüttelte Shane herzlich die Hand. „Tut mir leid, dass ich gestern so kurz angebunden war, aber bei Fremden bin ich immer sehr vorsichtig. Leider zu Recht, wie sich herausgestellt hat“, erklärte er mit Andeutung auf den Einbruch.

Er brachte Shane nun ins Wohnzimmer und servierte ihm dort einen Eistee, während die Jungs sich begeistert auf Houdini stürzten.

„Da bist du ja wieder!“, riefen sie begeistert.

Bob verzog für einen Augenblick das Gesicht. „Habt ihr etwa schon mal mit dem Tier gespielt? Ihr wisst doch, dass freilaufende Hunde gefährlich sein können.“

„Aber Dad“, widersprachen ihm die Jungs eifrig, „er will doch nur spielen! Siehst du, er ist ein ganz Lieber.“

Shane beobachtete, wie der Hund den Jungs den Kopf hinhielt, um sich von ihnen hinter den Ohren kraulen zu lassen. „Ich glaube auch, dass er an Kinder gewöhnt ist“, beruhigte er den besorgten Familienvater. „Vielleicht gehört er ja irgendeiner Familie hier in der Gegend. Oder er ist jemandem weggelaufen, der hier Urlaub macht.“ Er hob die Schultern. „Leider bin ich gerade erst hergezogen, deshalb kenne ich hier noch niemanden.“

„Aber A J kennen Sie. Sie ist so ein nettes Mädchen“, schwärmte Bob. „Alle in der Stadt haben sich gefreut, als sie hierher zurückgezogen ist. Woher kennen Sie sie denn?“

Von dem anfänglichen Misstrauen war nun nichts mehr zu spüren, stattdessen sprach jetzt aufrichtiges Interesse aus Bob Germaine. Weil Shane A J kannte, war er nun nicht mehr länger der Fremde und der Außenseiter in der eng gestrickten Gemeinschaft.

Und genau deshalb wählte Shane seine nächsten Worte mit Bedacht – nicht, dass man ihm morgen eine Verlobung mit A J nachsagte. „Wir haben eine gemeinsame Bekannte“, erklärte er vage.

Bob nickte daraufhin. „Ich kenne A J schon seit der Highschool. Anschließend wurde sie von ihrer Großmutter auf so ein schickes Internat im Norden geschickt. Agnes Sherwood ist wirklich keine einfache Person. Aber das würde ich lieber nicht zu laut sagen. Denn sie ist auch eine wichtige Stütze der Stadt, und die meisten Leute begegnen ihr daher mit viel Respekt. Wenn Sie meinen Rat hören möchten: Kommen Sie ihr bloß nicht in die Quere.“

5. KAPITEL

A J war froh, dass Shane ein zwangloses Date vorgeschlagen hatte. Es hätte sie ehrlich gesagt auch sehr gewundert, wenn er auf ein Abendkleid bestanden hätte.

Zum Glück, denn schließlich war sie selbst auch eher der Jeans-und-T-Shirt-Typ. Daher schlüpfte sie am Abend in ihre nachtblaue Röhrenjeans und in einen schwarzen Kaschmirpullover. Sie band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz hoch, legte Puder, Mascara und Rouge auf und war bereit zum Gehen.

Shane klopfte pünktlich um sieben Uhr an ihre Tür, ebenfalls in Jeans gekleidet und in einem marinefarbenen Hemd, das seine blauen Augen unwahrscheinlich gut zur Geltung brachte.

„Hi.“ Sein Blick musterte sie von Kopf bis Fuß. „Du siehst toll aus.“

A J war so nervös, dass sie für einige Sekunden kein einziges Wort herausbrachte. Sie starrte ihn nur an. „Danke“, stieß sie schließlich hervor. „Ich muss nur noch die Alarmanlage einschalten, dann können wir gehen.“

Er hob die Braue. „Du hast eine Alarmanlage?“

„Ja, mein Sicherheitssystem. Du weißt schon, alleinstehende Frau und so weiter. Heutzutage kann man schließlich nicht vorsichtig genug sein.“

Dann wechselte sie rasch das Thema. „Lass uns in die Stadt laufen. Es ist so ein schöner Abend.“

Als sie den Hügel hinabgingen, wurden sie mit einem fantastischen Sonnenuntergang belohnt. Der Abendhimmel strahlte in Zartrosa- und Blautönen und sah fast aus wie ein Gemälde.

Ihr Ziel war Taco’s Tex Mex, wo sie sich in eine gemütliche Nische am Fenster setzten. Sie bestellten Margaritas, während eine Mariachi-Band das Restaurant mit Musik erfüllte.

A J begann, sich langsam zu entspannen. „Hat sich schon jemand wegen Houdini bei dir gemeldet?“, wollte sie wissen und nippte dabei an ihrem Cocktail.

Shane schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich bin mir sicher, dass er noch nicht lange auf der Straße lebt. Und er ist absolut stubenrein und gut erzogen.“ Er grinste. „Zum Glück. Sonst hätte ich ihn heute Abend bestimmt nicht alleine in der Wohnung gelassen.“ Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Übrigens: Als ich die Flyer aufgehängt habe, bin ich Bob Germaine begegnet.“

„Ah ja, Bob. Wir waren zusammen in der Grundschule“, erklärte A J.

Shane nickte. „Ein netter Kerl. Er hat gesagt, dass du damals Celebration verlassen hast, um auf ein Internat zu gehen. Warum denn das?“

Oh. Müssen wir wirklich jetzt darüber reden? dachte sie. A J spielte mit der Serviette. Sie wollte Shane mit Geschichten der langen, verschrobenen Sherwood-Antonelli-Familiensaga verschonen. Andererseits wollte sie aber auch kein Geheimnis daraus machen. „Als ich vierzehn wurde, hat meine Großmutter beschlossen, dass es an der Zeit ist, mir eine ‚vernünftige Erziehung angedeihen zu lassen‘“, erklärte A J mit gerümpfter Nase. „Sie hat mich deshalb auf die Le Claire Academy geschickt, oben im Norden. Sie selbst ist auch dort hingegangen, ebenso wie meine Mutter und meine Schwestern. Es ist so eine Art Familientradition. Nicht, dass ich eine Wahl gehabt hätte.“

Uff. Sie hörte sich ganz verbittert an. Und das war nicht gerade sehr attraktiv, stellte sie selber fest.

„Trotzdem hatte das Internat auch eine gute Seite“, versuchte A J zurückzurudern. „Immerhin habe ich dort zwei meiner besten Freundinnen kennengelernt, Pepper und Caroline.“ Sie senkte den Blick. „Aber ich will hier wirklich nicht wie das verwöhnte reiche Mädchen klingen.“

Sollte sie ihm erzählen, dass sie danach ihren eigenen Weg gegangen war? Dass sie gegen den Willen ihrer Großmutter nicht das angesehene College, sondern eine Kochschule besucht hatte?

Sie streckte die Hand nach dem Teller voller Tortillas aus. Shane griff im selben Moment danach, sodass sich ihre Finger kurz berührten. A J durchlief ein warmer Schauer, trotzdem zog sie rasch die Hand zurück.

„Bitte, bedien dich.“ Shane deutete auf den Teller.

A J lächelte verlegen, nahm einen Tortillachip und tauchte ihn in die Salsa-Soße.

Es kämpften gerade die widersprüchlichsten Gefühle in ihrem Inneren. Sie wollte die Zeit mit Shane ja genießen, doch auf der anderen Seite machte es ihr schon beinahe Angst, wie wohl sie sich in seiner Gegenwart fühlte. Ganz zu schweigen von den Schmetterlingen in ihrem Bauch. Ein Gefühl, das ihr nach so langer Zeit schon ganz fremd geworden war.

Konnte sie es wirklich zulassen? Nach all den Jahren, in denen sie an niemand anderen als an Danny gedacht und sich in die Arbeit gestürzt hatte …

Als sie wieder aufsah, trafen sich ihre Blicke.

Es war nicht zu leugnen: Shane war ein wirklich attraktiver Mann, und sie fühlte sich zu ihm hingezogen. Und das vom ersten Moment an.

„Eine Sherwood-Familientradition also“, griff er den Faden wieder auf und holte sie zurück in die Gegenwart.

„Wie bitte?“

„Das Internat. Das war also eine Sherwood-Tradition. Wie passt die Antonelli-Seite dazu?“

A J straffte sich. „Was meine Großmutter angeht, hatten die Antonellis ohnehin nie viel zu melden. Denn nachdem meine Mutter einen Antonelli geheiratet hatte, herrschte erst einmal lange Zeit Funkstille zwischen ihr und meiner Großmutter. Aber auch das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle sie dir ein anderes Mal.“

Er zwinkerte ihr zu. „Heißt das, es wird noch ein zweites Date geben?“

Ein Prickeln rann über A Js Haut. Trotz der Tatsache, dass er Celebration bald wieder verlassen würde, wollte sie ihn auf jeden Fall wiedersehen und ihn besser kennenlernen.

„Ich weiß es nicht.“ Sie versuchte ein zwangloses Lächeln. „Wenn du mich ein zweites Mal fragen würdest …“

Er lachte leise – ein tiefer und angenehmer Ton. „Natürlich tue ich das.“

Sie atmete unbemerkt auf. Seine Worte entfalteten jede Menge ungeahnter Möglichkeiten, bei deren Vorstellung ihr fast schwindlig wurde.

Um das Thema von ihrer zerrütteten Familie abzulenken, erwiderte sie: „Jetzt bist du dran. Erzähl mir etwas über dich.“

„Was willst du denn hören?“

„Ich weiß nicht … Welchen Sport magst du am liebsten?“

„Oh, das ist einfach. Basketball.“

„Ich auch.“

Seine Augen leuchteten auf. „Wirklich? Als Zuschauer oder Spieler?“

„Beides.“

„Im Ernst? Du spielst Basketball?“

„Ich werde es zwar niemals in die Nationalmannschaft schaffen, aber ich kann ein paar ganz ordentliche Körbe werfen.“

„Das klingt ja nach einer Kampfansage.“ Er grinste. „Wann spielen wir gegeneinander?“

„Wann immer du möchtest. Im Park gibt es ein Basketballfeld.“

„Wie wäre es mit morgen Abend?“, schlug er vor.

„Ich würde gerne, aber da muss ich leider arbeiten. Ich habe einen großen Auftrag vom Celebration Women’s Club bekommen. Montagabend ist ihr jährliches Gala-Dinner, bei dem wichtige Stipendien vergeben werden.“

Er nickte. „Ich verstehe. Dann vielleicht übermorgen? Dir ist schon klar, dass ich dich einfach jeden Tag fragen werde, bis du Zeit für mich hast. Immerhin bin ich neu in der Stadt und habe nichts anderes zu tun – außer zu arbeiten.“

„Das heißt, außer Houdini bin ich hier dein einziger Freund?“

Er lächelte. „Das klingt aber ziemlich jämmerlich, findest du nicht auch?“

„Hm. Wir müssen eben mehr ausgehen und dich anderen vorstellen.“

Aber im Grunde ihres Herzens gefiel ihr der Gedanke, dass er noch mehr Zeit mit ihr verbringen wollte. Sie liebte sein Lächeln, das Funkeln seiner blauen Augen und seine Art, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Außerdem lief es so gut zwischen ihnen, dass sie die Leichtigkeit nicht mit schwierigeren Themen in Gefahr bringen wollte.

„Also, wie kommt es, dass ich dich noch nie in Uniform gesehen habe?“, fragte sie daraufhin.

„Wenn wir nicht gerade im Dienst sind, haben wir keine ACU-Pflicht.“

„ACU?“

„Army combat uniform. Ein Kampfanzug.“

„Kampfanzug? Musst du den auch tragen, wenn du nicht gerade in einem Krisengebiet bist?“

Er nickte.

So lächerlich das klang, aber bisher hatte sich A J keine Gedanken darüber gemacht, dass Shanes Aufgabe in der Army gefährlich sein könnte. Vielleicht sogar lebensbedrohlich. Er gehört also offensichtlich zu einer Einheit, die jederzeit in den Krieg geschickt werden kann. Dieser Gedanke war mehr als nur ernüchternd.

Warum hatte sie bisher nicht eins und eins zusammengezählt?

Weil er vorübergehend in Celebration stationiert war, dem wohl friedlichsten Ort auf der ganzen Welt. Und weil sie ihn bisher noch niemals in Uniform gesehen hatte.

„Das ist die Standarduniform.“ Shane hob die Schultern, als sei das keine große Sache. „Komm doch einfach mal bei der Baustelle vorbei, dann kann ich sie dir vorführen.“ Sein Lächeln bewegte sich irgendwo auf dem schmalen Grat zwischen frech und anmaßend.

Aber genau so war er. Ein Mann, der sich selbst nicht allzu ernst nahm, weil er ausreichend Selbstbewusstsein hatte. Allerdings wirkte er dabei kein bisschen arrogant, sondern unbeschreiblich anziehend.

Ein finsterer Gedanke schlich sich plötzlich in A Js Hinterkopf: Was, wenn Shane eingezogen wurde? Zu einem Einsatz, von dem er niemals zurückkehren würde?

Aber jetzt war Shane erst einmal hier, gegenwärtig und sehr lebhaft, und seine Präsenz war einfach unwiderstehlich.

„Hast du davon gehört?“ Es klang, als würde Shane eine Frage wiederholen.

Die Mariachis näherten sich nun dem Tisch, und A J ergriff die nächstbeste Entschuldigung. Sie legte eine gekrümmte Hand an ihr Ohr. „Tut mir leid, was hast du gesagt? Es ist so laut hier.“

Im selben Moment lehnten sie sich über den Tisch und einander entgegen, sodass ihre Stirn nur noch wenige Zentimeter von seinem Gesicht entfernt war. Ihr Blick ruhte dabei fasziniert auf seinen Lippen.

Wie er wohl schmeckt? Sie schluckte.

„Hast du von dem versuchten Einbruch in Bobs Haus gehört?“

Oh. Sie löste den Blick wieder von seinem Mund und sah ihm in die Augen. „Ja. In letzter Zeit häufen sich die Zwischenfälle. Das ist wirklich ungewöhnlich für Celebration und macht die Leute selbstverständlich nervös.“ Sie nahm sich noch mehr Tortillachips. Immerhin war das hier Celebration, Texas. Guten Menschen widerfuhren keine schlimmen Dinge an diesem Ort. Genau aus diesem Grund war sie ja auch hierher zurückgekehrt, nachdem Danny erschossen worden war.

Sie stützte das Kinn in die Handflächen. „Für dich klingt das wahrscheinlich ziemlich albern.“

Die Band befand sich nun am Nebentisch und sang ein fröhliches Lied.

Shane schüttelte den Kopf. „Nein.“ In seinen Augen spiegelte sich tiefes Verständnis. „Ein einziger unüberlegter Gewaltakt kann ein ganzes Leben verändern.“ Er schnippte mit Daumen und Zeigefinger. „Einfach so.“

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte A J, einen tiefen Schmerz in seinen Augen zu erkennen, aber dann war er auch schon wieder verschwunden.

Offenbar steckte noch mehr dahinter. Shane Harrison war mehr als nur ein attraktiver Typ mit blauen Augen. Viel mehr.

Und es schien etwas zu geben, was ihn zu dem Mann gemacht hatte, der er heute war. Ein einschneidendes Erlebnis.

Ob es mit einer Frau zu tun hatte? fragte sich A J unwillkürlich. Wider besseres Wissen hakte sie nach: „Das hört sich an, als würdest du aus Erfahrung sprechen.“

Er nickte. Doch im selben Augenblick sah es so aus, als würde er sich vor ihr verschließen. A J konnte beinahe eine Tür zufallen hören.

„Ich fürchte, wir alle haben den einen oder anderen Verlust zu beklagen, der durch gewaltsames Eingreifen passiert ist.“

A J durchfuhr ein kalter Schauer, als sie an die Nacht zurückdachte, in der sie von Dannys Tod erfahren hatte.

Shane hatte ihre Reaktion genau beobachtet. „Du auch, oder?“

Sie zuckte zusammen. Hatte Bob ihm von Dannys Tod erzählt? Natürlich wusste in Celebration jeder darüber Bescheid.

In den Wochen, nachdem A J zurückgekehrt war, war es das Gesprächsthema Nummer eins gewesen. Nicht, dass sich jemand damit direkt an A J gewandt hätte. Aber ihr waren weder die mitleidigen Blicke entgangen noch die Dinge, die man sich über sie erzählt hatte.

Arme A J …

Eine Tragödie für eine so junge Frau …

Ich habe gehört, dass die Einladungen zur Hochzeit bereits gedruckt waren …

„Mein Verlobter“, antwortete A J tonlos. Es hatte doch keinen Zweck, es zu verschweigen.

„Was ist passiert?“

„Er war Police Officer. Er wurde im Dienst erschossen.“

„Das tut mir leid.“ Die Worte klangen aufrichtig und voll Mitgefühl.

Sie schwieg. Noch mehr würde sie heute bestimmt nicht von sich preisgeben. Und sollte es eine stille Übereinkunft zwischen ihnen geben, so bedeutete es eine Information im Austausch gegen eine andere.

Und jetzt war er an der Reihe.

Dennoch dauerte es eine ganze Weile, bis er zu sprechen begann: „Erinnerst du dich an den Terroranschlag damals in Italien? Ein Flugzeug ist abgestürzt. Sämtliche Passagiere kamen dabei ums Leben. Das ist jetzt schon fast zwanzig Jahre her.“

Ja, sie erinnerte sich natürlich daran. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen in Erwartung auf das, was er ihr nun anvertrauen würde.

„Meine gesamte Familie war an Bord. Meine Eltern, meine kleine Schwester, mein Bruder. Eigentlich sollte auch ich bei ihnen sein, aber ich hatte beschlossen, noch eine Weile in Italien zu bleiben. Es war Sommer, und ich hatte meine Meinung in letzter Minute geändert …“

Für ein Mädchen? Die Frage lag nahe, und A J musste sich auf die Zunge beißen, um sie nicht laut auszusprechen. Schließlich ging es hier um seine Familie.

„Ich war jung. Ich fühlte mich damals unverwundbar. An den Tod hatte ich bis dahin keinen einzigen Gedanken verschwendet. Verdammt, ich war gerade mal achtzehn Jahre alt. Nach dem Sommer sollte ich aufs College gehen. Mein Vater war ebenfalls in der Army, und für seinen Job wollte meine Familie für einige Zeit nach Europa ziehen. Allerdings wollten sie noch einmal zurück nach Amerika, um alles zu regeln und ihre Sachen nachzuholen. Ich beschloss damals, in Italien zu bleiben. Ich ging davon aus, dass meine Familie bald zurückkommen würde. Aber sie waren wohl zur falschen Zeit am falschen Ort.“

Mit einer resignierten Geste hob er die Schultern, als sei damit alles gesagt.

Sie streckte daraufhin den Arm aus und ergriff seine Hand. Ihre Blicke trafen sich und hielten einander fest. Etwas veränderte sich in diesem Augenblick in A Js Innerem.

Es kam ihr so vor, als würde Dannys Geist sich zum ersten Mal flüsternd zurückziehen.

6. KAPITEL

Als Shane die Restauranttür für A J öffnete und ihr nach draußen in die kühle Nachtluft folgte, begann er sich zu fragen, was schlimmer war: ein Date, bei dem man nichts als alberne Oberflächlichkeiten austauschte, oder ein Date, das Themen heraufbeschwor, die einem am allerschwersten auf dem Herzen lasteten … und die er bisher immer erfolgreich verschwiegen hatte.

Mit keiner anderen Frau hatte er je über seine Familie gesprochen. Was hatte A J an sich, dass er sich ihr öffnete?

In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Trotzdem wusste er eines ganz genau: Er wollte nicht, dass dieser Abend schon zu Ende ging.

Nicht weit von Taco’s entfernt lag der Park, der gestern noch mit unzähligen Zelten und Buden gefüllt gewesen war.

War das wirklich erst gestern gewesen? Shane kam es vor, als seien seither bereits Wochen vergangen.

„Ich würde gerne noch einen kleinen Spaziergang machen, bevor wir zurückgehen“, sagte Shane und klopfte mit einer übertriebenen Geste auf seinen Bauch. „Nach dem Essen gerade.“

A J hob die Brauen. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du von den paar Tacos überhaupt satt geworden bist.“ Dann hellte sich ihre Miene auf. „Aber gegen einen Spaziergang habe ich natürlich nichts einzuwenden. Es ist eine so schöne Nacht.“

Na gut, seine Motive waren mehr als nur durchschaubar, aber im Augenblick war es Shane gleichgültig. Er reichte ihr den Arm, und A J hakte sich bereitwillig bei ihm unter.

Gemeinsam schlenderten sie die Hauptstraße entlang. Hier gab es einige entzückende Läden, die mit ihrem antiquierten Aussehen Celebrations nostalgische Idylle nur noch unterstrichen. Shane musterte im Vorbeigehen The Three Sisters Dress Shop, den Dolce-Vita-Feinkostladen und Barbara’s Beauty Salon.

Das war also A Js Welt.

Danach passierten sie ein Restaurant. Trotz der kühlen Nachtluft waren einige Tische nach draußen gebracht worden, und im Schein von unzähligen Teelichtern saßen kleine Gästegruppen bei Wein und einem späten Abendessen beisammen.

„Bistro Saint-Germain“, las Shane das kunstvolle Schild am Eingang und war überrascht, wie gut besucht das Kleinstadtrestaurant für einen Sonntagabend war.

„Wie ist das Essen hier?“

„Wirklich gut. Es gibt französische Delikatessen und Häppchen. Als ich nach Celebration zurückgekommen bin, habe ich hier gearbeitet, bis ich mein eigenes Geschäft eröffnet habe.“

Shane kam nicht umhin, sich zu fragen, was A J dazu bewogen hatte. Von schicker französischer Küche zu Fast Food? Allerdings musste er einräumen, dass es ziemlich gehobenes Fast Food war. Und ziemlich köstliches noch dazu.

Als sie in Höhe der Eingangstür waren, winkte ihnen auf einmal ein Mann zu, der am Empfangstresen stand und Reservierungen entgegennahm. Er trat nach draußen auf den Gehweg und begrüßte A J überschwänglich. „Wie schön, dich zu sehen.“

„Hallo, James. Shane, das ist James, ihm gehört das Bistro Saint-Germain. Und das ist mein guter Freund Shane.“

James schüttelte Shane herzlich die Hand. „Freut mich sehr, Shane. Freunde von A J sind auch meine Freunde.“

Shane nahm die Begrüßung des Restaurantbesitzers mit Verblüffung auf. Schon wieder schien der Zusatz „Freund von A J“ wahre Wunder zu wirken. Während er vorher in dem kleinen Nest höchstens mit kühler Distanz empfangen worden war, schienen ihm jetzt die Herzen der Einwohner förmlich zuzufliegen. Wie klein und übersichtlich diese Welt doch war … aber im Augenblick gefiel es ihm, als ein Teil von Celebration betrachtet zu werden.

„Kommt doch herein und trinkt ein Glas Wein“, bat sie James nun. „Geht auch aufs Haus.“

„Das ist lieb von dir, James, aber ich muss morgen früh raus und fit sein“, lehnte A J dankend ab. „Ich beköstige nämlich das Women’s-Club-Galadinner.“ Da schien ihr plötzlich etwas einzufallen. „Sag mal, das Bistro ist doch morgen geschlossen, oder?“

James nickte. „Ja, warum?“

„Leider fehlen mir für morgen noch Servicekräfte. Zwei Bedienungen haben mir heute kurzfristig abgesagt. Hättest du vielleicht etwas dagegen, mal in deinem Team nachzufragen, wer sich morgen ein paar Dollar dazuverdienen will?“

James strich sich nachdenklich über den gepflegten Ziegenbart und hob die Brauen. „Nun, ich könnte dir schon einige meiner Leute empfehlen. Eine wirklich fähige Mannschaft, aber glaub ja nicht, dass du sie mir einfach stehlen darfst, Schätzchen. Wir wissen beide, wie schwierig es heutzutage ist, gute Servicekräfte zu finden.“

A J lachte. „Aber sicher doch. Keine Angst“, versicherte sie ihm dann, „ich möchte sie mir ja nur ausleihen. Und wenn sie für dich arbeiten, kann ich wenigstens sicher sein, dass sie bestens trainiert sind.“

Der Restaurantbesitzer strich sich erneut über den Bart, dieses Mal mit einer ziemlich selbstgefälligen Geste. „Tja, Liebes, mit Schmeichelei erreichst du bei mir alles“, gab er zu und grinste. Daraufhin wandte er sich an Shane. „Wissen Sie, dass A J meine beste Mitarbeiterin war? Es hat mir das Herz gebrochen, als sie uns verlassen hat.“

„Das kann ich mir vorstellen“, stimmte ihm Shane aus vollem Herzen zu.

„Noch dazu habe ich jetzt eine ernst zu nehmende Konkurrentin“, fügte James hinzu, doch es klang trotzdem ziemlich wohlwollend.

A J schüttelte den Kopf. „Unsinn. Ich bin Caterer, und du bist Restaurantbesitzer. Wir sprechen doch ein völlig unterschiedliches Publikum an.“

„Das weiß ich doch, Liebes. Ich wollte damit nur sagen, dass ich stolz auf dich bin“, stellte James klar.

„Danke.“ A J wirkte kein bisschen verlegen, und Shane fand, dass sie auch keinen Grund dazu hatte.

„Na schön. Ich habe alle Nummern meiner verfügbaren Kräfte in meinem Blackberry“, verkündete James und zog daraufhin ein Handy aus der Tasche seiner Anzughose. „Ich werde sie dir direkt zuschicken. Stimmt deine alte Nummer noch?“

A J bejahte.

„Gut. Ich werde die Kollegen schon einmal vorwarnen. Und ihnen ganz nebenbei einbläuen, dass sie sich ja nicht von deinem Charme einwickeln lassen sollen.“

Jetzt errötete A J. „Von wegen. In der Küche kann ich ein echter Sklaventreiber sein. Du wirst schon sehen, sie werden ganz freiwillig zu dir zurückkommen.“

Zur Verabschiedung bekam A J noch einen Kuss auf die Wange und Shane eine Umarmung, dann winkte James ihnen zu und ging zurück an den Empfangstresen.

Langsam schlenderten sie weiter, bis die Gesprächsfetzen der Bistro-Gäste schließlich ganz verklangen.

Shane dachte an das Gala-Dinner. „Was wirst du denn morgen servieren?“, wollte er wissen.

Sie lachte leise. „Warum? Willst du auch kommen?“

Sein Herz machte sich sofort bemerkbar. Er liebte den Klang ihres Lachens und die Art, wie sie den Kopf neigte und zu ihm aufsah.

„Zu einem Women’s-Club-Dinner? Lieber nicht“, erwiderte er schmunzelnd.

„Oh, ich bin mir sicher, dass die Ladys sich freuen würden“, antwortete A J übermütig. Doch dann verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck. „Allerdings wird es ein ziemlich stressiges Event. Hoffentlich kommen James Mitarbeiter auch wirklich.“

„Ich kann dir doch auch helfen.“ Shane hatte das Angebot ohne nachzudenken vorgeschlagen. Aber warum nicht? Wenn er ihr behilflich sein konnte, würde er es gerne tun.

Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen. „Aber du hast doch schon einen Job.“

„Ich suche ja auch keinen neuen Job. Aber abends habe ich frei, und ich würde mich freuen, wenn ich dir morgen helfen kann. Natürlich möchte ich dafür auch keine Bezahlung.“

Sie schüttelte heftig den Kopf. „Ich würde niemals zulassen, dass du umsonst für mich arbeitest.“

„Dann arbeite ich eben für Essen. Ich komme nur selten in den Genuss von echter Hausmannskost.“ In aller Ruhe spazierten sie die Straße entlang, und Shane durchfuhr ein warmes Gefühl, als A J seinen Arm fester umfasste.

„Also, was kommt denn da morgen Abend auf mich zu?“, fragte er leichthin. „Soll ich abwaschen? Servieren?“

„Ich könnte jemanden am Grill gebrauchen“, überlegte A J. „Hast du so etwas schon einmal gemacht?“

„Ist das gerade ein Bewerbungsgespräch?“, neckte sie Shane. „Nicht, dass ich mich gleich noch um Kopf und Kragen rede.“

„Ich interpretiere das mal als Nein“, erwiderte A J mit spielerischem Ernst.

„Erwischt.“ Shane zuckte mit den Schultern. „Gleich nach der Highschool bin ich der Army beigetreten. Ich hatte deshalb niemals Nebenjobs als Kellner oder Servicekraft.“

A J schien einen Augenblick lang nachzudenken. „Aber dein Job hier in Celebration ist doch nicht typisch für deine Aufgaben in der Army, richtig? Es ist nur vorübergehend, oder?“

Vorerst blieb Shane eine Antwort erspart, denn ein Paar kam ihnen lächelnd und winkend von der anderen Straßenseite aus entgegen. „A J, wie schön, dich zu sehen“, begrüßte sie eine zierliche Frau mit dunklem Haar und zog A J in eine feste Umarmung.

„Sasha, wie geht es dir? Ich möchte euch jemanden vorstellen. Das ist Shane Harrison. Er wohnt vorübergehend in Celebration und arbeitet an einem Projekt für die Army. Shane, das sind Sasha und Patrick Green, gute alte Freunde von mir. Wir sind alle gemeinsam hier aufgewachsen.“

Wow, blieben denn alle Leute ihr Leben lang in Celebration? Nicht, dass Shane das ermüdend fand oder langweilig, auch in kleinen Städten lebten interessante Menschen.

Und wer eine Familie gründen wollte, der war hier bestimmt gut aufgehoben. Selbst A J war schließlich irgendwann nach Celebration zurückgekehrt.

A Js Freunde bezogen Shane sofort in das Gespräch mit ein. Sie wollten wissen, wie lange er in Celebration bleiben und was sein nächstes Ziel sein würde.

„Italien, höchstwahrscheinlich“, räumte Shane ein und erntete damit begeisterte Ausrufe. Wie sich herausstellte, hatten Sasha und Patrick vergangenes Jahr Venedig besucht.

Davon würde Shane allerdings weit entfernt sein. „Ich reise nach Norditalien, denn dort gibt es einen Army-Stützpunkt.“

Die beiden nickten höflich, doch es hatte den Anschein, als wären sie in Gedanken weit weg. So verliebt, wie sie sich kurz danach ansahen, schwelgten sie vermutlich gerade in süßen Erinnerungen an ihre Venedigreise.

Shane warf A J einen Seitenblick zu. Auch sie schien in Gedanken zu sein, allerdings offenbar nicht in angenehmen.

Ob es sie enttäuschte, dass Shane nur vorübergehend in Celebration war? Enttäuscht war vielleicht das falsche Wort, immerhin kannten sie sich ja kaum, aber es schien sie zu beschäftigen.

Und das konnte nur bedeuten, dass sie ebenfalls die Funken spürte, die zwischen ihnen knisterten. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem er verkündet hatte, dass sein nächstes Ziel Europa war.

Während die drei Freunde das Gespräch wieder aufnahmen, beobachtete Shane das Paar aufmerksam. Sie schienen ein tiefes, liebevolles Verhältnis zu haben, etwas, das Shane leider noch nie erlebt hatte.

Sicher, er war ein oder zwei Mal flüchtig verliebt gewesen, doch für mehr hatten seine Gefühle nie ausgereicht.

Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er so etwas wie Bedauern. Bedauern darüber, dass ihm nicht dieselbe tiefe Zuneigung zuteilwurde wie diesem Paar.

Unwillkürlich sah er A J an. In ihre Augen war das gewohnte Strahlen zurückgekehrt. Sie unterhielt sich lebhaft mit dem befreundeten Paar über gemeinsame Freunde, die Eröffnung eines Töpferwarenladens und schließlich über die neue Kampagne für nachbarschaftliche Sicherheit, zu deren Treffen sie alle drei gehen würden.

Shane spürte, wie eng der Zusammenhalt in dieser Gemeinschaft war. Offensichtlich gab es einen Grund, warum die Leute gerne nach Celebration zurückkehrten.

Er versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, ebenfalls Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Dazuzugehören, jeden zu kennen und nicht immer der Fremde zu sein, der nach dem Weg fragen musste, wenn er etwas brauchte.

Die Kehrseite einer solchen Gemeinschaft war allerdings, dass jeder alles über jeden wusste. Doch das war eigentlich nichts, was Shane störte, immerhin hatte er nichts zu verbergen.

Was ihn eher beunruhigte, war der Gedanke, wieder zu lieben und am Ende alles zu verlieren.

An diesem Punkt war er schließlich schon einmal gewesen, und ein zweites Mal wollte er das ganz sicher nicht erleben.

Im Grunde unterschied sich Celebration gar nicht so sehr von Burns, Oklahoma – dem Ort, an dem er aufgewachsen war. Sein Leben hätte in denselben ruhigen Bahnen verlaufen können. Er hätte das College besuchen, dann einen Job dort annehmen können und schließlich eine Familie gründen …

Aber all das wiegte einen in einer falschen Sicherheit. Denn das Leben konnte sich von einer Sekunde zur anderen vollständig verändern.

Shane ballte unbemerkt die Hand zur Faust. Es war einfach müßig, darüber nachzudenken. Sein Leben gehörte der Army. Punkt. Aus.

Nachdem sie sich von Sasha und Patrick verabschiedet hatten, war eine deutliche Veränderung in A J vorgegangen.

Sie hakte sich nicht wieder bei ihm unter, und obwohl sie auf ihrem Weg weiteren Bekannten begegneten, stellte sie Shane nicht mehr vor, sondern grüßte die anderen lediglich aus der Ferne.

Shanes Blick wanderte nun über den Park, an dessen Rand sie entlangschlenderten. Am Abend wirkte er seltsam still und verlassen. Die einzige Lichtquelle entsprang einem beleuchteten Springbrunnen, dessen sanftes Plätschern die Stille der Nacht durchbrach.

Nicht weit davon entfernt entdeckte Shane eine Bank. „Komm, wir setzen uns einen Moment hin“, bat er sie und schlug die Richtung zum kiesbedeckten Pfad ein, der um den Springbrunnen herum zur Bank führte.

Schweigend nahm A J neben ihm Platz.

„Das war ein wirklich schöner Abend“, begann Shane.

„Finde ich auch.“

Shane suchte nach Worten. Er wollte ihr erklären, wie wichtig es ihm war, noch mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Ungeachtet dessen, wie lange er noch in Celebration bleiben würde.

Doch anstelle der richtigen Worte fiel ihm plötzlich etwas anderes auf. Er deutete hastig zum Himmel. „Sieh mal, eine Sternschnuppe! Wünsch dir was!“

A J wünschte sich, Shane würde sie küssen.

Für den Bruchteil einer Sekunde war sie sich sicher, dass er es tun würde. Doch dann lehnte er sich wieder zurück und legte die Arme auf die Lehne der Parkbank.

Es war ohnehin eine dumme Idee, Shane zu küssen, denn er würde bald den halben Planeten umrunden und dann in Europa leben.

Das Schweigen wurde immer tiefer, also sagte A J das Erstbeste, was ihr in den Sinn kam. „Sternschnuppen erinnern mich immer an meinen Dad.“

Sie sah Shane nicht an, doch sie konnte seinen Blick auf ihrem Gesicht spüren.

„Warum das?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ist nicht so wichtig. Außerdem bist du jetzt dran.“

„Womit?“

„Mir etwas über dich zu erzählen.“

Er lachte leise. „Ich wusste gar nicht, dass das hier ein Wettkampf ist.“

„Das ist es auch nicht. Es ist vielmehr ein Spiel. Und jetzt bist du an der Reihe.“ Jetzt war es an ihm, den Blick abzuwenden.

„Es gibt nicht viel über mich zu erzählen. Meine Familie ist tot. Im Grunde bin ich eine Waise.“

A Js Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie fühlte seine Trauer und das tiefe Loch, das der Verlust in seine Brust gerissen hatte. Worte schienen ihr nicht angebracht, um ihr Mitgefühl auszudrücken.

Stattdessen streckte sie den Arm aus und legte die Hand auf seine Schulter.

Er setzte sich gerade hin, führte ihre Hand an seine Lippen und küsste behutsam ihre Fingerknöchel. Die Geste war so unerwartet sanft und liebevoll, dass A J nicht wagte, sich zu bewegen.

„So. Jetzt bist du dran“, sagte er ruhig und umschloss ihre Finger mit seiner großen, warmen Hand.

All die zarten Berührungen und innigen Gesten brachten A J komplett aus der Fassung.

Sie war versucht, ihm den Grund dafür zu verraten. Aber sollte sie ihm wirklich beichten, dass sie seit Dannys Tod kein Date mehr gehabt hatte? Zugeben, dass er der erste Mann war, der sie seit fünf Jahren in Versuchung brachte?

Nein. Das war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dafür.

Vor allem jetzt nicht, da das Objekt ihrer Begierde sich ihr plötzlich näherte und mit ihrer Haarsträhne zu spielen begann.

Nun musste sie sich entscheiden. Wollte sie zulassen, dass er ihr noch näher kam? Oder wollte sie das Date an dieser Stelle beenden?

„Geht es dir gut?“, fragte er leise.

Ein zartes Prickeln rann über ihre Haut. Das war Antwort genug für sie. Sie nickte.

Er rückte noch ein Stück näher und legte die Stirn an ihre.

Bis zu diesem Augenblick war ihr gar nicht bewusst gewesen, wie sehr sie menschliche Wärme vermisst hatte.

Aber nicht die irgendeines Menschen. Sie sehnte sich danach, von diesem Mann berührt zu werden.

Ihr Herzschlag rauschte in ihren Ohren. Er würde sie gleich küssen, und sie wollte es! Ganz egal, was morgen, übermorgen oder in zwei Wochen sein würde … alles, was sie sich jetzt in diesem Augenblick wünschte, war seine Berührung.

Er legte den Arm um sie und zog sie dichter an sich heran. Seine Bewegungen waren zugleich selbstsicher und unendlich liebevoll. In seinen Armen fühlte sie sich geborgen. Es fühlte sich richtig an.

Zwei Empfindungen, an die sie sich kaum noch zurückerinnern konnte. So lange war es her, dass sie sich bei jemandem aufgehoben gefühlt hatte.

In diesen Armen konnte sie sich fallen lassen und endlich einmal jegliche Verantwortung ablegen. Zumindest für den Augenblick.

Sie neigte den Kopf. Ihre Lippen trafen sich. Der Kuss begann zärtlich und vorsichtig. Nur der Hauch eines Kusses, der ihr Herz zum Flattern brachte und einen wohligen Schauer über ihre Haut sandte.

Jede Faser ihres Körpers schien auf diesen Kuss zu reagieren. Nur eine winzige Stimme in ihrem Inneren glaubte sich zu erinnern, dass es nicht Danny war, den sie da gerade küsste.

Sie vernahm die Stimme zwar, wollte aber trotzdem nicht, dass Shane den Kuss beendete.

Also öffnete sie bereitwillig die Lippen, als Shanes Berührung noch intensiver wurde. Noch tiefer. Er schmeckte köstlich und männlich und nach einem Hauch Margarita, und sie ließ sich in den Kuss fallen, als hinge ihr nächster Atemzug von ihm ab.

Ihre Hände gruben sich in sein T-Shirt. Sie zog ihn noch dichter an sich und atmete seinen Duft ein.

Empfindungen, von denen sie geglaubt hatte, dass sie gemeinsam mit Danny gestorben waren, wurden nun wieder in ihr geweckt. Sehnsucht, Verlangen … die Lust, einen Mann zu berühren, drängten mit einem Mal heftig in ihr herauf.

Das Zeitgefühl ging in dem Rausch verloren, und A J ließ es zu. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wann sie sich das letzte Mal so lebendig und so frei gefühlt hatte.

Frei von Trauer und Verlust und Schuldgefühlen, weil sie ihr Leben weiterführen durfte, während ihr Verlobter seines verloren hatte.

Es war schon viel zu lange her.

Heute Nacht durfte sie sich endlich wieder frei fühlen. Sie konnte die Berührung dieses heißen, breitschultrigen Mannes genießen – einfach so, ohne weitere Verpflichtungen.

Jetzt zählte nur der Augenblick.

Ihr Atem war schwer, als sich ihre Lippen wieder voneinander lösten. Ein breites Lächeln umspielte ihren Mund.

Bis sich Shane auf einmal ruckartig abwandte. „Da!“, rief er aufgeregt und deutete über ihre Schulter.

„Shane, was …“ Ihre Frage blieb unbeantwortet. Aber als sie den Kopf drehte, sah sie sofort, was er meinte. „Oh! Ein Feuer!“

Die Funken schlugen wild in den Nachthimmel. Allerdings war die Quelle des Feuers von dichten Azaleenbüschen verdeckt, die auf der gegenüberliegenden Seite des Springbrunnens wuchsen.

Gleichzeitig sprangen sie auf und liefen in die Richtung der Flammen. „Ruf die Feuerwehr“, sagte Shane. Dann wurde seine Aufmerksamkeit von den drei dunkel gekleideten Gestalten gefesselt, die gerade fluchtartig den Park verließen.

Er hielt inne und ergriff A Js Oberarm. „Das waren diese Teenager. Einen von ihnen habe ich wiedererkannt.“

A J holte ihr Handy aus der Tasche und reichte es ihm. „Hier. Ruf du die Feuerwehr an. Erzähl ihnen, was du weißt.“

7. KAPITEL

Am späten Nachmittag begann A J buchstäblich damit, die Messer zu wetzen.

Schon seit Stunden befand sie sich in der blitzenden, perfekt eingerichteten Großraumküche des Festsaals, wo das Women’s-Club-Galadinner stattfinden sollte.

Die Gäste wurden um sechs Uhr zur Cocktailstunde erwartet, das Abendessen würde um acht Uhr serviert werden.

Zum Glück hatte A J im Vorfeld schon alles perfekt vorbereitet, denn jetzt fiel es ihr unglaublich schwer, bei der Sache zu bleiben. In Gedanken spielte sie immer wieder den gestrigen Abend durch. Der unglaubliche Kuss. Das Feuer.

Wie sich herausgestellt hatte, hatten die Kids einige benzingetränkte Lumpen in einen Abfalleimer geworfen. Das Feuer war gelöscht worden, bevor es auf den riesigen alten Eichenbaum übergreifen konnte, doch die Täter waren entkommen.

Es war wirklich seltsam. Als sie noch in Dallas gewohnt hatte, hätte A J der Vorfall gar nicht weiter beunruhigt. Aber hier, im friedlichen Celebration? Seit wann gab es hier sinnlosen Vandalismus?

Aber vorerst musste sie versuchen, diese finsteren Gedanken aus ihrem Geist zu vertreiben. Außerdem fand übermorgen das Treffen für nachbarschaftliche Sicherheit statt, und dort würde es noch ausreichend Gelegenheit geben, sich darüber auszutauschen.

A J begutachtete noch einmal die Küche. Für diesen wichtigen Abend hatte sie jeden Schritt bis ins kleinste Detail geplant. Jeder Bissen musste die Gäste überzeugen, von den Horsd’œuvres bis hin zum Dessert.

Viele einflussreiche Damen waren heute unter den Gästen, und diese würden darüber entscheiden, ob A Js Geschäft in Zukunft als top oder flop abgestempelt wurde.

Allen voran Peppers Mutter Marjory Merriweather. Sie war nicht nur die diesjährige Vorsitzende des Women’s Club und eine gern gesehene Salonlöwin im gesamten Raum Dallas, sondern noch dazu die Frau von Harris Merriweather, dem Gründer des Texas-Star-Energy-Konzerns.

Auf dessen Vermögen ruhte ein Großteil der Stipendien, die heute Abend vergeben wurden.

Pepper war es gewesen, die ihre Mutter dazu gedrängt hatte, A J für das wichtigste Galadinner des Clubs zu engagieren. Aus diesem Grund wollte A J ihre Freundin auf keinen Fall enttäuschen.

Für diesen besonderen Abend hatten sich A J und Marjory zusammengesetzt und ein wirklich raffiniertes Menü ausgetüftelt. Es gab glaciertes Huhn auf Kastanienrisotto, dazu sautierte Brechbohnen und einen Salat aus Wasserkresse mit Blauschimmelkäse, Birnen und gerösteten Walnüssen.

Außer Peppers Familie wurden noch weitere zweiundsiebzig Gäste erwartet – und jedes Gericht musste auf den Punkt gebraten und serviert werden. Um diese organisatorische Leistung zu schaffen, arbeitete A J mit peniblen To-do-Listen, die sie gewissenhaft Punkt für Punkt abarbeitete.

Sie versuchte, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Als die Tür zum Hintereingang aufgestoßen wurde, blickte sie rasch auf. Doch entgegen ihrer Erwartung war es nicht Shane, sondern Caroline, die gerade einen äußerst gehetzten Gesichtsausdruck zur Schau stellte.

„Hi. Ich bringe das Dessert.“ Caroline hatte sich mit ebenso großem Feuereifer auf die Herausforderung „Galadinner“ gestürzt wie A J. Nur mit dem Unterschied, dass sie nebenher noch ihren regulären Job in der Firma ihres Vaters stemmen musste.

A J sah sie besorgt an. „Ist alles in Ordnung? Du siehst abgekämpft aus.“

Ihre Freundin hob die Schultern. „Kein Wunder. Ich habe die ganze Nacht gebacken und musste heute früh wieder pünktlich in die Firma. Mein Vater sitzt an einem wichtigen Projekt und scheucht uns alle wild herum. Zurzeit darf sich niemand Urlaub nehmen oder sich erlauben, krank zu werden.“

„Er erlaubt es nicht, krank zu werden?“ A J hob die Brauen. „Das ist ein bisschen übertrieben, findest du nicht?“

Caroline hob lediglich die Schultern und deutete zur Tür.

A J folgte ihrer Freundin nach draußen und half ihr, die Kuchen und Torten aus dem Wagen zu holen. Caroline hatte sich für die Torten ein köstliches Rezept mit Frischkäsefüllung ausgedacht. Sie waren mit roter Glasur überzogen und mit einem Hauch Kokosflocken bestäubt.

Mehrere Stunden hatte sie in der heimischen Küche mit Glasuren, Cremes und Lebensmittelfarben experimentiert, bis sie das perfekte Ergebnis gefunden hatte. A J wusste, wie viel Zeit es sie gekostet hatte, allein die richtige Konsistenz der Zuckerglasur herauszuarbeiten, sodass sich die Masse nicht gleich beim Auftragen wieder verflüchtigte.

„Das sieht wirklich großartig aus“, lobte A J. Sie wusste genau, wie viel Caroline das Backen bedeutete. Und wie unglücklich sie in der Welt der trockenen Finanzen war. Der Familientradition gehorchend, hatte Caroline zuerst die Harvard Business School besucht und sich dann mit halbherzigem Eifer an die Spitze gekämpft. Doch der Job erfüllte sie nicht und erlaubte es ihr vor allem nicht, ihre kreative Seite auszuleben.

Ein Grund mehr, warum A J die Freundin endlich davon überzeugen musste, vollständig bei Celebrations Inc. einzusteigen.

„Ich muss wieder los“, erklärte Caroline atemlos, nachdem sie die letzten Boxen in den Kühlraum gebracht hatten. „Viel Erfolg! Wir telefonieren morgen.“

A J winkte ihr zu, als sie vom Hof fuhr. In diesem Moment näherte sich ein glänzend schwarzer Pick-up-Truck. Ihr Herz machte einen Sprung.

Shane.

Sobald sein Blick in A Js blaue Augen fiel, fühlte er sich sofort besser.

Shane hatte die gestrige Nacht damit verbracht, dem Sheriff eine Personenbeschreibung zu geben und alle Informationen zusammenzutragen.

Die Hooligans hatten nicht nur Schaden angerichtet, sondern ihm auch den Abend mit A J ruiniert. Allein dafür hätte Shane sie am liebsten höchstpersönlich zur Verantwortung gezogen.

Außerdem missfiel ihm der Gedanke, dass diese Idioten weiterhin das friedliche Städtchen terrorisieren könnten.

A J lächelte ihm entgegen. Ihr Anblick ließ ihn unwillkürlich an den gestrigen Kuss denken. Er war wie gefangen gewesen in dem Rausch, in den ihn der Kuss versetzt hatte. In seinem Inneren war ein richtiges Feuerwerk entfacht.

Ein Feuerwerk, das erst in dem Moment gedämpft wurde, in dem in der Realität ein wirkliches Feuer entzündet worden war.

Aber A Js Lächeln ließ seinen Zorn auf die Rowdys sofort verrauchen.

„Wie schön, dass du gekommen bist“, begrüßte sie ihn und geleitete ihn in die Küche, wo sie ihm seinen Arbeitsplatz zeigte.

Doch zuerst ließ sie ihn einen Blick in das Kühlfach werfen, wo Carolines unglaubliche Tortenkreationen verstaut waren. „Sehen sie nicht einfach großartig aus? Caroline hat sie gebacken.“

Shane nickte, doch sein Blick wanderte unweigerlich wieder zurück zu A J. „Ich hoffe, ich darf später probieren“, murmelte er, „… von der Torte.“

Falls A J die Bemerkung gehört hatte, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. „Sieh dir das an“, schwärmte sie und umfing den Raum mit einer Geste. „So viel Platz! Und das Equipment ist auf dem neuesten technischen Stand. Trotzdem habe ich meinen eigenen Ofen mitgebracht. Man weiß ja nie, ob die Temperatur hier punktgenau richtig ist.“

Shane nickte und folgte ihr durch die Großküche. Genau wie die anderen Servicekräfte war er von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Neben drei regulären Aushilfen hatte A J nicht nur ihn, sondern auch noch zwei weitere Personen aus James Team zum Helfen bestellt. Nun rief sie die Mannschaft zusammen, stellte alle einander vor und erklärte die genaue Vorgehensweise.

Shane hörte ihr aufmerksam zu. Er hätte sie gerne berührt, doch er hielt sich zurück. Außerdem wollte er ihren Zeitplan nicht durcheinanderbringen. Offenbar war jede Minute ganz genau getaktet. Es war beeindruckend, wie präzise A J alle Details geplant hatte. Er würde sich anstrengen müssen, um all seinen Aufgaben gerecht zu werden.

Shane hatte in seinem Leben schon alle möglichen Herausforderungen angenommen, Tanklastwagen gefahren und Gewehre benutzt, aber seine Erfahrung in einer Großraumküche war gleich null.

Während die Hälfte des Teams in den Festsaal eilte, um dort die Tische einzudecken, bat A J ihn zu sich in die Küche. Dort beugte sie sich über einen Topf, in dem grüne Brechbohnen garten. „Nach dem Kochen werden sie sautiert“, erklärte sie ihm. „Das Geheimnis beim Sautieren ist die Butter. Viel, viel Butter.“ Sie hob die Schultern. „Jetzt weißt du’s.“

Shane lächelte. „Gut. Da ich dieses Geheimnis nun kenne, habe ich ein zweites Standbein als Caterer sicher, wenn ich in einem Jahr in Rente gehe.“

Sie hob die Braue. „In Rente? Dafür bist du doch noch viel zu jung.“

„Ich habe der Army zwanzig Jahre lang gedient, das reicht aus, um in Rente zu gehen.“

„Oh.“ Sie blinzelte. „Demnach bist du aber sehr jung zur Army gegangen.“

„Ich war achtzehn. Es war gleich, nachdem meine Familie … verunglückt war.“

Verunglückt. Von wegen. Ihr Tod war schließlich kein Unfall gewesen. Es war ein kalter und ganz bewusst geplanter Terroranschlag gewesen.

Trotzdem hatte er dieses Wort benutzt, denn er wollte vermeiden, dass A Js großer Abend von düsteren Gedanken überschattet wurde.

„Bist du deswegen in die Army eingetreten?“, fragte A J leise. Sie ließ das Messer sinken, mit dem sie die Enden der Bohnen abgeschnitten hatte, und berührte nun mit der freien Hand seinen Arm.

Ihr Blick war so voll Mitgefühl, dass es Shane für einen Moment die Kehle zuschnürte. „Ja“, sagte er schließlich. „Das war meine Methode, damit fertigzuwerden. Ich wollte nicht, dass meine persönlichen Rachegedanken überhandnahmen. Wer weiß, was sonst aus mir geworden wäre.“ Er straffte sich. „Ab diesem Zeitpunkt wollte ich alles dafür geben, dass so etwas anderen Familien erspart bleibt.“

„Für einen Teenager hast du aber ziemlich vernünftig gehandelt“, stellte A J bewundernd fest. „Und sehr selbstlos.“

Er machte eine wegwerfende Geste. „Ich weiß nicht, ob es das trifft.“ Denn der Zustand, in dem er sich befunden hatte, nachdem er von dem Tod seiner gesamten Familie erfahren hatte, war alles andere als vernünftig gewesen. Es hatte vielmehr an ohnmächtige Raserei gegrenzt.

Doch A J hielt an ihrer Sicht fest. „Schließlich hast du dich dazu entschlossen, deinen Schmerz in etwas Sinnvolles zu verwandeln“, beharrte sie. „Und das ist mehr, als ich von mir selbst behaupten kann.“

„Warum? Was hast du denn getan?“

„Nichts. Absolut nichts, außer mich in einen Job zu knien, den ich nicht einmal mochte. Ich habe wirklich lange gebraucht, bis ich mir selbst wieder erlaubt habe, zu leben. Anfangs hatte ich das Gefühl, als dürfte ich ohne Danny nicht weiterexistieren. Aber dann kam ich langsam wieder zu mir. Ich eröffnete Celebrations Inc. Dank meiner Freundinnen.“ Ein zartes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. „Und weißt du was? Außer meinen Freundinnen bist du der Erste, mit dem ich darüber spreche.“

Dieses Geständnis wunderte ihn sehr. „Nicht einmal mit deiner Familie?“

Sie schüttelte den Kopf und schluckte schwer. „Nein. Danny war meiner Großmutter ohnehin ein Dorn im Auge. Über seinen Tod wurde nicht viel gesprochen. Genau wie bei meiner Mutter damals. Erst, nachdem mein Dad tot war, hat Granny sich langsam wieder mit meiner Mutter versöhnt. Über Danny brauchte meine Großmutter gar nicht erst zu reden, denn wir waren ja noch nicht einmal verheiratet.“

Für Shane waren derartige Familienverhältnisse nur schwer nachvollziehbar. Sicher, auch seine Familie war nicht immer perfekt gewesen. Und im Nachhinein verklärte man die lieben Verstorbenen, das wusste er sehr genau.

Aber das war in Ordnung. Er wollte gute Erinnerungen bewahren. Und in seiner Erinnerung gab es keine jahrelange Funkstille zwischen Familienmitgliedern. Schon gar nicht wegen der Wahl ihrer Partner.

Doch bevor er noch mehr von ihr erfahren konnte, strömten die anderen Hilfskräfte zurück in die Küche und baten um neue Anweisungen.

A J setzte wieder ihre Arbeitsmiene auf und verteilte die Aufgaben mit ruhiger Präzision, dann wandte sie sich erneut an Shane: „Bist du bereit für den Ansturm? Das wird ein langer Abend …“

Er nickte. „Aber sicher. Ab jetzt kannst du frei über mich verfügen.“ Seine Anspielung zauberte rötliche Flecken auf ihre Wangen. Ihre blauen Augen leuchteten.

Sie sah so hinreißend aus, dass es Shane beinahe körperliche Schmerzen bereitete, nicht die Hand auszustrecken und ihre Wange zu berühren.

Umso mehr, als sie nach einer weißen Küchenschürze griff und sich auf die Zehenspitzen stellte, um sie ihm anzulegen. „Hier. Ich ernenne dich mit dieser Schürze offiziell zum Souschef“, erklärte sie ihm.

Er bezweifelte allerdings, ihren Worten gerecht werden zu können.

Doch entgegen seiner Befürchtung stellte sich in den kommenden Stunden heraus, dass sie wirklich gut zusammenarbeiten konnten.

Mehr noch: Sie waren ein perfektes Team.

Allerdings kam Shane überhaupt nicht dazu, darüber nachzudenken, denn der Druck wuchs mit jeder Minute. Trotzdem entstand kein Stress. Dazu hatte A J viel zu gut organisiert, und das Dinner verlief ohne Zwischenfälle.

Shane musste sich konzentrieren, um bei ihrem Tempo mithalten zu können. Er portionierte Bohnen und Risotto auf die Teller, und am Ende gelang es ihm sogar, die Mengen bis auf das Gramm genau anzugleichen.

Trotzdem war er froh, als der letzte Gang endlich serviert wurde. Was A J für ihren Lebensunterhalt tat, war offenbar ein echter Knochenjob – und es vertiefte seinen Respekt vor ihr umso mehr.

Erst, nachdem auch der Kuchen abgeräumt war und die letzten Kaffees gekocht waren, wandte er sich wieder an A J, die gerade damit beschäftigt war, einen großen Topf zu schrubben. „Und? Wie habe ich mich gemacht?“, wollte er von ihr wissen.

Sie stützte sich auf den Topf, legte für eine Sekunde den Handrücken an die Stirn und tat so, als würde sie scharf nachdenken müssen. „Mal sehen. Du warst schnell. Du hast alle Anweisungen befolgt. Du hast niemanden mit irgendetwas bekleckert und nicht heimlich von den Tellern der Gäste genascht. Ich glaube, ich würde dich einstellen.“

„Du hast erlebt, dass Aushilfen Essen von Tellern klauen?“

Sie winkte ab. „Du willst gar nicht wissen, was ich in dem Business schon so alles erlebt habe.“

Er schüttelte sich. „Wie beruhigend.“

Das brachte sie zum Lachen. „Keine Angst. Du brauchst dich nur an mich zu halten, wenn du ein Restaurant in der Gegend besuchen willst, wo so etwas garantiert nicht vorkommt.“

„Darauf komme ich natürlich gerne zurück.“ Er sah ihr tief in die Augen. „Apropos. Ich erinnere mich an eine Einladung zum Basketball.“

Sie nickte. „Stimmt. Wie wäre es übermorgen Abend? Du könntest zuerst zum Treffen für nachbarschaftliche Sicherheit mitkommen. Immerhin hast du die Täter schon zwei Mal gesehen, und danach gehen wir gemeinsam in den Park zum Spielen.“

Zum Spielen. Shane lächelte. „Sehr gerne.“

8. KAPITEL

Erst im Nachhinein wurde A J bewusst, wie zweideutig ihre Worte geklungen hatten. Doch daran konnte sie nun nichts mehr ändern.

Außerdem freute sie sich schon darauf. Es war schön, Zeit mit Shane zu verbringen, und offensichtlich sah er das genauso. Immerhin hatte er einen freien Abend geopfert, um ihr in der Küche zu helfen. Das war eine sehr nette Geste und ziemlich süß.

Für ziemlich süß schien Shane auch noch jemand anders zu halten: Pepper, die gerade mit einem zufriedenen Ausdruck im Gesicht in die Küche segelte. „Oh, da ist ja unsere Sahneschnitte“, flötete sie mit einem Blick auf Shane.

A J schloss für einen Moment die Augen. Hatte Pepper das eben wirklich gesagt? Sie öffnete die Augen und sah ihre Freundin warnend an.

„Was denn?“, fragte diese und lächelte unschuldig. „Es stimmt doch. Dein Sahneschnittchen hat hier wahre Wunder gewirkt. Und kam mindestens genauso gut an wie das Dessert selbst.“

A J hätte gerne die Hände vor das Gesicht geschlagen, doch zum Glück hatte Pepper etwas anderes im Sinn. „Du wirst übrigens im Speisesaal erwartet“, wandte sie sich an A J.

„Warum? Stimmt etwas nicht?“

„Nicht stimmen?“ Pepper lachte vergnügt. „Von wegen. Man möchte dir ein Lob aussprechen. Auf die Meisterköchin sozusagen.“ Mit diesen Worten zupfte sie A J am Ärmel und drängte sie aus der Küche.

A J wurde mit einem lauten Applaus empfangen. Mit glühenden Wangen glitt ihr Blick über die Gäste, die sich geschlossen von ihren Plätzen erhoben hatten. Alle – bis auf eine.

Ausgerechnet die, deren Anerkennung A J von allen am meisten bedeutet hätte. Sie war nicht zu übersehen. Mit unbewegter Miene war sie auf ihrem Stuhl sitzen geblieben und hielt die Hände sorgfältig in ihrem Schoß gefaltet.

Von Agnes Jane Sherwood gab es natürlich keinen Applaus.

Das warme Gefühl, das sich beim Anblick ihrer zufriedenen Gäste in A Js Magen ausgebreitet hatte, wich nun einem kalten, harten Klumpen.

Für jeden anderen mochte es vielleicht so wirken, als ob ihre Großmutter eine neutrale Miene aufsetzte, aber A J kannte sie besser. Ihre Großmutter war nicht erfreut, aber viel zu höflich, um darum groß Aufhebens zu machen.

A Js Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, warum sie so viel Herzblut in dieses Projekt gesteckt hatte. Für Pepper und Marjory. Für ihre wahre Familie. Diese wussten A Js Arbeit wenigstens zu würdigen. Sie wussten, dass A J mit Leib und Seele Köchin war.

Und nicht nur niedere Arbeit verrichtete, wie ihre Großmutter es nannte. Es war an der Zeit, dass Agnes Jane endlich darüber hinwegkam.

Vielleicht war es auch an der Zeit, dass A J darüber hinwegkam.

Zum Glück blieb A J nicht viel Gelegenheit, noch länger darüber nachzugrübeln, denn nachdem der Applaus abgeebbt war, trat Florence Lapham zu ihr.

Die ehemalige Vorsitzende des Women’s Club war eine angesehene Persönlichkeit und ließ ihren Einfluss in ganz Dallas spielen. Umso mehr überraschte A J deshalb ihr Anliegen. „Meine Enkelin wird in wenigen Wochen heiraten. Wir sind noch auf der Suche nach dem perfekten Caterer“, erklärte sie mit wichtiger Miene. „Wenn Sie so ein großartiges Dinner zaubern könnten wie heute Abend, würden wir Sie gerne engagieren.“

Dieses Mal machte A Js Herz einen fröhlichen Sprung. Vergessen war der Ärger über ihre Großmutter. Sie hatte eine neue Kundin – und noch dazu eine bedeutende Kundin.

„Hier ist meine Karte.“ A J reichte der Dame ihre Visitenkarte. „Sie können sich gerne jederzeit bei mir melden, dann stellen wir gemeinsam das perfekte Menü zusammen“, erklärte sie mit einem strahlenden Lächeln.

Dass Florence Lapham sie engagieren wollte, konnte nur bedeuten, dass A J heute Abend alle beeindruckt hatte.

Und es bedeutete außerdem, dass ihre Großmutter zumindest keinen Boykott gegen ihre Firma angezettelt hatte. Demnach war sie womöglich doch nicht so ablehnend und kalt, wie sie sich nach außen hin gab.

„Gut. Wir sollten so schnell wie möglich mit der Planung anfangen. Die Hochzeit ist nämlich bereits in drei Wochen.“

Moment mal. Zunächst glaubte A J, sich verhört zu haben. Die Hochzeit sollte in drei Wochen stattfinden, und diese Leute hatten noch keinen Caterer?

Einen Job so kurzfristig anzunehmen, war der reine Wahnsinn.

Aber sollte sie es schaffen, würde sich ihr Erfolg in den richtigen Kreisen herumsprechen …

Gut. Dann würde sie es eben schaffen. Ganz gleich, wie.

„Dann müssen wir uns aber ranhalten.“ A Js Stimme war betont locker, doch in ihrem Inneren begann sie bereits zu rotieren.

Während Florence Lapham an ihren Platz zurückrauschte, überschlugen sich A Js Gedanken. Hochzeit. Dinner. Hochzeitstorte.

Es gab nur eine einzige Person, die sie mit der Torten-Aufgabe betrauen könnte, und das war Caroline. Womöglich war das der Zeitpunkt, Caroline endlich zum Geschäftsteilhaber machen zu können und sie so aus der Finanzwelt zu befreien.

Ohne zu zögern, eilte A J in die Küche und rief ihre Freundin sofort an. Caroline befand sich gerade auf dem Heimweg und klang genauso müde, wie man sich jemanden vorstellte, der die gesamte Nacht gebacken und den ganzen Tag im Büro verbracht hatte.

A J hatte ein schlechtes Gewissen, ihre Freundin jetzt noch zu überfallen, aber sie wollte ihr unbedingt sofort die gute Nachricht überbringen. „Deine Kuchen sind wahnsinnig gut angekommen“, lobte sie Caroline ehrlich. „Und jetzt halt dich fest: Dein nächster Auftrag wird eine Hochzeitstorte!“

Entgegen ihrer Hoffnung war Caroline zunächst nur wenig begeistert von der Idee. Denn sie traute sich nicht zu, in so kurzer Zeit eine angemessene Torten-Idee auszutüfteln. Außerdem schien sie gerade ganz andere Sorgen zu haben.

„Ich habe vorhin mit Sydney gesprochen“, sagte sie nachdenklich. „Sie ist noch immer besorgt wegen Texas Star. Irgendetwas stimmt da nicht. Urplötzlich soll der Quartalsbericht eingeholt werden, und es herrscht eine seltsame Unruhe in der Firma.“

„Mr. Texas Star höchstpersönlich ist heute Abend hier“, versuchte A J ihre Freundin zu beruhigen. „Und er hat einige wirklich großzügige Stipendien vergeben. So schlimm kann es also nicht sein.“

„Ach, das sind doch bloß Steuerabschreibungen“, widersprach ihr Caroline. „Das sind Peanuts für eine so große Firma. Nein, irgendetwas geht da vor.“ Sie schien ein Gähnen zu unterdrücken. „Aber sag mal, wie lief es denn mit deinem gut aussehenden Soldaten? Hat er sich ordentlich gemacht?“

Glühende Hitze stieg augenblicklich in A Js Wangen. „Das kann man so sagen. Mit diesem Bizeps könnte er fünf Torten auf einmal stemmen. Sehr fähig, der Mann …“

In diesem Augenblick räusperte sich jemand hinter ihr. A J fuhr herum – und erstarrte. Shane stand in der Küchentür und grinste. „Ich muss jetzt Schluss machen“, sagte sie ins Telefon. „Wir reden morgen weiter. Erhol dich gut.“

„Entschuldige, ich wollte dich nicht stören.“ Shane holte den Servierwagen. „Wir sind fast fertig. Deine Gäste überschlagen sich immer noch vor Lob.“

„Das, äh, freut mich.“ A J kam sich nun mehr als albern vor.

Shane dagegen schien sich sichtlich wohlzufühlen. Bevor er die Küche wieder verließ, drehte er sich noch einmal zu ihr um. „Ich mach dann mal weiter. Ich will die Boss-Lady ja nicht enttäuschen.“ Er ließ die Muskeln seines Oberarms spielen und zwinkerte ihr zu. „Wie man hört, hält sie mich nämlich für sehr fähig …“

Für den folgenden Mittag hatte A J ihre Freundinnen Caroline, Sydney und Pepper ins Celebrations-Inc.-Gebäude eingeladen. Allerdings nicht nur, um ihnen einen köstlichen Lunch aus dem übrig gebliebenen Galadinner zu servieren, sondern auch, um eine Art Kriegsrat zu halten. Die Lapham-Hochzeit sollte in Kürze stattfinden, und dafür musste A J jegliche Hilfe, die sie kriegen konnte, mobilisieren.

Während A J den Freundinnen großzügig die Teller füllte, erzählte sie von dem Missgeschick mit dem Telefonat, das Shane unglücklicherweise mit angehört hatte.

Caroline, die es ebenfalls hasste, wenn ihr etwas peinlich war, zeigte vollstes Mitgefühl. Pepper hingegen machte sich nicht allzu viel daraus. Sie hielt Shane zugute, dass er A Js Bemerkung mit Humor aufgefasst hatte. „Keine Angst, Liebes“, tröstete sie A J und nahm sich Salat, „so leicht wirst du den nicht los.“

„Nicht los?“ A Js Stirn kräuselte sich. „Vielleicht ist es ja genau das, wovor ich Angst habe.“

„Wie meinst du das?“ Plötzlich waren alle Blicke gespannt auf A J gerichtet.

„Natürlich will ich ihn nicht loswerden, aber dazu wird es zwangsläufig kommen, weil er Celebration schon bald wieder verlässt. Und das … macht mir Angst.“

Caroline legte die Hand auf A Js Arm. „Du darfst dich von deiner Angst nicht ausbremsen lassen, und das weißt du auch. Sonst hättest du niemals das Bistro Saint-Germain verlassen, um Celebrations Inc. zu gründen.“

„Das stimmt“, pflichtete ihr Sydney bei. „Und du hast praktisch bei null angefangen. Du hattest ja nicht mal Erfahrung als Caterer.“

A J ließ die Schultern sinken. „Aber ohne euch hätte ich das niemals geschafft. Ihr wart immer da, um mich zu ermutigen. Ihr habt mir geholfen, mich aufgebaut, mich …“

„… aus deiner Komfortzone geholt, wenn es nötig war.“ Pepper grinste. „Und genau das tun wir heute auch wieder. Denn wir haben ein kleines Geschenk für dich.“

Eine erwartungsvolle Stille trat ein, als Pepper eine kleine Schachtel aus der Handtasche nahm. Sie war in unschuldiges, mit Blumen bedrucktes Papier eingeschlagen und ziemlich leicht. „Hier. Das ist von uns dreien.“

Unter den Blicken ihrer Freundinnen wurde A J sofort misstrauisch. „Was ist da drin?“

„Mach es doch einfach auf“, ermunterte sie Sydney.

A J wickelte vorsichtig das Papier ab. Zum Vorschein kamen …

„Kondome?“ Ihre Stimme überschlug sich. Sie ließ das Päckchen auf die Küchenzeile fallen, als hätte sie sich daran verbrannt. „Oh, mein Gott. Was in aller Welt soll ich denn mit einem Päckchen Kondome?“

„Sex haben“, stellte Pepper sachlich fest.

A J wünschte sich, der Boden würde sich augenblicklich auftun und sie verschlucken.

„Oder auch nicht“, lenkte Sydney schnell ein. Ihre Stimme war sanft. „Sieh mal, du sollst ja nichts überstürzen. Wir wissen, dass es nicht leicht für dich ist. Wir wollten dich nur daran erinnern, was die Welt alles zu bieten hat. Und wenn dir irgendwann danach ist, Shane näherzukommen, bist du wenigstens vorbereitet.“

Der Gedanke, eine eigene kleine Kondompackung mit sich herumzutragen – für den Fall der Fälle –, war so absurd und zugleich aufregend, dass A J zu lachen begann. Zunächst klang es wie ein hysterischer Schluckauf, doch dann verwandelte es sich in ein tiefes, befreiendes Lachen aus dem Bauch heraus, das ihre Freundinnen ansteckte, bis schließlich alle Lachtränen in den Augen hatten.

Nun legte A J die Box beiseite. „Schluss jetzt“, ermahnte sie die anderen mit gespielter Strenge. „Wir können nicht den lieben langen Tag über Sex reden. Wir haben schließlich eine Menge Arbeit vor uns.“ Trotzdem warf sie noch einen letzten, scheuen Blick auf die Kondome.

Nein, das Päckchen hatte sie nicht verbrannt. Nicht buchstäblich, aber es hatte eine Hitze in ihr entfacht, die ihr vollkommen neu war. Der Gedanke, Shane näherzukommen, war seltsam erregend. Wie eine fiebrige Vorahnung, die sich schon bald erfüllen könnte … wenn sie es nur zuließ.

„Ich habe mich einmal schlaugemacht, wie man mehrstöckige Torten entwerfen kann“, warf Caroline ein. A J war ihrer Freundin dankbar, dass sie vom Thema Shane weglenkte. „Ich denke, mit ein bisschen Übung und den entsprechenden Materialien bekomme ich das schon hin.“

„Ich wusste, ich kann auf dich zählen“, entgegnete A J erleichtert.

„Nicht so schnell. Zuerst mal heißt es üben.“ Caroline strich sich eine Strähne aus der Stirn. „Ich werde eine Etagere brauchen. Hat zufällig jemand eine zu Hause?“

„Das nicht“, warf Pepper ein, „aber meine Großtante hat so ein schickes silbernes Ding. Ein Sammlerstück, das sie nie benutzt. Aber ich bin sicher, dass sie es uns zur Verfügung stellen wird.“

„Gut.“ Caroline nickte. „Außerdem werde ich Tortenringe brauchen. Und viel frisches Marzipan.“

„Wofür denn das?“, wollte Sydney wissen.

„Für die Dekoration. Ich werde Rosen aus Marzipan formen.“

„Wow.“ Pepper klopfte Caroline anerkennend auf die Schulter. „Da hast du dir ja wirklich was vorgenommen. Ich kenne diese Marzipanrosen nur aus dem Werbefernsehen.“

„Ich auch. Das ist so europäisch“, warf Sydney ein.

Dabei musste A J unwillkürlich an Italien denken, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht.

Auch Carolines Ausdruck verfinsterte sich. „Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben“, murmelte sie grimmig. „Vielleicht gelingen sie mir ja gar nicht, und am Ende sehen die Rosen aus wie missglückte Marzipanschweinchen.“

„Und wenn schon“, meinte Pepper und lachte vergnügt. „Schweinchen bringen Glück! Die Laphams sollten sich freuen!“

Die Freundinnen grinsten.

„Wo willst du denn das Testessen veranstalten?“, wollte Sydney daraufhin wissen.

„Na, hier.“ A J umschloss den Raum mit einer großen Geste. „Wo denn sonst?“

Sydney und Pepper tauschten einen Blick. Es wurde verdächtig still im Raum.

„Was denn?“, fragte A J beunruhigt.

Einige Sekunden verstrichen schweigend, dann schien sich Pepper ein Herz zu fassen. „Liebes, dir ist schon bewusst, dass du nicht Celebrations Postboten, sondern Francis Lapham hierher einlädst, oder?“, begann sie vorsichtig. „Diese Frau gehört zur Schickeria. Sie ist ein Snob. Die kannst du nicht mit gutem Essen beeindrucken, wenn gleichzeitig in deinem Empfangszimmer der Putz von den Wänden bröckelt.“ Sie seufzte. „Davon einmal abgesehen, gibt es noch nicht einmal Möbel hier. Wo willst du sie denn hinsetzen? Auf einen Campingstuhl?“

A J wurde siedend heiß bewusst, dass sich ihr Empfangszimmer noch immer in demselben erbärmlichen Zustand befand wie vor zwei Monaten. Sie war in Gedanken so sehr mit neuen Rezepten, ausgefeilten Menus und neuen Küchengeräten beschäftigt gewesen, dass sie an das Erscheinungsbild ihres Ladens überhaupt keinen Gedanken verschwendet hatte.

„Um Himmels willen“, stöhnte sie und legte die Hand an die Stirn. „Das Testessen findet schon in drei Tagen statt. Das wird eine Katastrophe.“ A J vergrub das Gesicht in den Handflächen. Mit einem Mal nahm sie die kahlen Wände mehr als überdeutlich wahr. Und eine Horrorvorstellung, in der sich Francis Lapham mit gerümpfter Nase auf einem Küchenhocker niederließ …

Jemand ergriff behutsam ihre Hände. Es war Pepper. „Keine Sorge“, sagte sie ungewohnt sanft. „Das kannst du getrost uns überlassen.“

Die drei Freundinnen nickten gleichzeitig und sahen A J aufmunternd an.

„Na schön … Ich habe ohnehin keine andere Wahl“, stimmte A J schließlich zu.

Die Vorstellung, die Kontrolle abzugeben, war aufregend und Furcht einflößend zugleich.

9. KAPITEL

Am Dienstagmorgen ertappte sich Shane in seinem Büro wieder und wieder dabei, wie seine Gedanken um eine gewisse Frau kreisten.

A J Sherwood-Antonelli war nicht nur clever, witzig und wunderschön – die drei wichtigsten Attribute, die eine Frau seiner Meinung nach haben sollte –, sondern sie war obendrein auch noch eine fantastische Köchin. Eine Kombination, die jeden Mann in die Knie zwingen würde.

Davon abgesehen gab es noch unzählige andere Kleinigkeiten, die ihm an ihr gefielen. Er mochte es, wie sich ihre Nase beim Lachen kräuselte. Und er mochte ihre Art, seinem Blick standzuhalten, wenn er sie dabei erwischte, wie sie ihn von der Seite musterte. Dann lächelte sie immer zaghaft oder hob die Braue, aber sie wich seinem Blick niemals aus. In diesen blauen Augen lag eine Stärke verborgen, die ihn tief beeindruckte.

War es ihr damit gelungen, sich so schnell so tief in seinem Kopf einzunisten?

Er wusste es nicht, aber er wusste, dass diese Frau mehr war als nur eine flüchtige Bekanntschaft. Von denen hatte es in den vergangenen Jahren viele gegeben. Leidenschaftlich, ja, aber niemals emotional. Immer ohne jede Verpflichtung.

Wie hätte er auch Verpflichtungen eingehen können? Dafür war er einfach nicht gemacht. Und es würde bei jedem nur Schaden anrichten, der mehr von ihm erwartete. Deshalb hatte Shane nie mehr versprochen, als er zu geben bereit war.

Trotzdem konnte er nicht aufhören, an A J zu denken. So lange, bis er schließlich zum Telefon griff und ihre Nummer wählte. A J hatte wissen wollen, wie er in seiner Uniform aussah. Vielleicht hatte sie ja Lust, ihn einmal auf der Baustelle besuchen zu kommen. Daher redete Shane auch nicht lange um den heißen Brei herum, sondern fragte sie direkt und offen heraus, ob sie nach Feierabend vorbeischauen wollte. Und sie sagte spontan Ja.

Ihr Anblick brachte Shane für einen Moment aus der Fassung, als sie pünktlich um halb sechs durch die Tür seines improvisierten Büros trat. Sie sah viel zu sexy aus, um sich eine gewöhnliche Baustelle anzusehen. Sie war in ein seidenes königsblaues Kleid gehüllt und trug dazu schwarze High Heels. Zur Begrüßung umarmte sie ihn flüchtig.

„Du siehst großartig aus“, hörte Shane sich sagen, auch wenn er die größten Bedenken hegte, wie ihr Outfit in diese schlichte Umgebung passen sollte.

Allerdings war es unglaublich, wie natürlich sie ihre Verwandlung vollzogen hatte: von der geschäftstüchtigen Boss-Lady im Kochkittel zur eleganten Dame, die hervorragend in die Kreise passte, die sich ihre Großmutter für sie wünschte.

„Hast du dich etwa für mich so schick gemacht?“, fragte er, jedoch nur halb im Scherz.

Sie warf ihm einen koketten Blick zu. „Ehrlich gesagt kann ich nicht lange bleiben, weil ich heute Abend noch etwas anderes vorhabe. Aber da wir gerade von schick sprechen: Endlich sehe ich dich mal in deiner Uniform!“

In Gedanken war Shane direkt am Anfang ihres Satzes hängen geblieben. Was hatte sie heute Abend noch vor? Wen würde sie treffen?

Die Enttäuschung zehrte unbewusst an ihm. Er hatte eigentlich gehofft, mit ihr noch einen Happen essen gehen zu können, nachdem er ihr die Baustelle gezeigt hatte.

War es denn so vermessen anzunehmen, dass sie den Abend mit ihm verbringen wollte? Shane begann, sich über sich selbst zu ärgern. Vor allem über das ungewohnt besitzergreifende Gefühl, das er A J gegenüber empfand. Das war doch lächerlich. Er hatte schließlich keinerlei Anspruch auf sie, aber …

„Das ist also dein Büro.“ A J sah sich in dem schlichten Containerbau um.

Shane folgte ihrem Blick über die spartanische Einrichtung, den zweckmäßigen Schreibtisch aus Metall und die in die Jahre gekommene Kaffeemaschine. Nicht gerade Glanz und Glamour.

„Gut, dass ich jetzt weiß, wohin du jeden Tag verschwindest“, erklärte sie ihm mit einem Lächeln.

Aber Shane konnte das Lächeln kaum erwidern, denn er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu fragen, wohin sie heute Abend verschwinden würde.

Das zweistündige Testessen mit Florence Lapham und ihrer Enkelin Jade hätte nicht besser verlaufen können, und sobald die beiden zur Tür hinaus waren, sank A J erleichtert in einen Stuhl.

In den Händen hielt sie den unterzeichneten Vertrag: Jetzt war sie die offizielle Lieferantin der pompösen Lapham-Hochzeit.

Denn pompös wurde es in jedem Fall. Und genauso hatten die Ladys auch die Menü-Abfolge gewählt. Das luxuriöse Festessen würde mit delikaten Kanapees eröffnet werden, sobald die Gäste nach der Trauung eintrafen.

Um den kleinen Hunger zu überbrücken, würde es Bloody Marys, garniert mit Jumbo-Cocktail-Shrimps, geben.

Zum Hauptgang hatten die Gäste die Wahl zwischen Rinderfilet oder Hummer, dazu wurden Wasserkressesalat und Prinzess-Kartöffelchen gereicht.

Eine lange Liste exotischer Beilagen und kostspieliger Drinks reihte sich daran an, und zum Ende wurde das Bankett dann mit Carolines Hochzeitstorte gekrönt.

Dennoch wusste A J, dass sie die Laphams auch mit dem großartigsten Festmahl nicht hätte überzeugen können, wenn das Ambiente nicht gepasst hätte.

Pepper und Sydney hatten wirklich wahre Wunder gewirkt.

Sie hatten den kalten, kahlen Empfangsraum in ein Meer aus Weiß und Silber verwandelt – ein Traum für jede angehende Braut.

Von den unverputzten Wänden war nichts mehr zu sehen, denn Sydney hatte Lagen um Lagen Organza besorgt, ein leicht transparentes, schillerndes Gewebe, das an Zuckerwatte und Silberfäden erinnerte.

Pepper hatte irgendwo einen ausladenden Kristalllüster aufgetrieben, der das Licht in tausend gläsernen Sprenkeln an die Decke warf. Dann hatten die beiden noch unzählige Blumenarrangements besorgt … Schnittblumen, Bonsaibäumchen und einzelne langstielige Rosen in schlanken Vasen. Zuletzt hatten sie Lichterketten aufgehängt und den Tresen mit einer Reihe Teelichter in geschliffenen Gläschen geschmückt.

Das Ergebnis war ganz und gar atemberaubend.

Endlich hatte A J Zeit, den Raum richtig auf sich wirken zu lassen. Je länger ihr Blick auf der Deko verweilte, umso wärmer wurde ihr ums Herz. Ihre Freundinnen waren wirklich umwerfend.

Und nicht nur das: Ihre Vision und ihr Geschick riefen plötzlich ganz neue Möglichkeiten hervor. Was, wenn Celebrations Inc. auch als Eventmanager tätig wurde? Und fortan nicht nur das Essen, sondern auch das Dekorieren übernahm, die Inneneinrichtung, die Organisation …

Dieser Gedanke begleitete A J immer noch, als sie eine halbe Stunde später die Tür hinter sich abschloss. Was von dem Testessen übrig geblieben war, trug sie nun in einem halben Dutzend Vorratsboxen bei sich. Bevor sie die Straße überquerte, sah sie noch einmal zurück. Beim Anblick ihres erleuchteten Schaufensters machte ihr Herz einen freudigen Sprung.

Pepper hatte die Lichterketten brennen lassen, damit man den Schmuck auch von außen sehen konnte. Ein Funkeln und Glitzern erfüllte nun das Schaufenster. Es sah wunderschön und einladend aus, und A J fiel es fast schwer, sich abzuwenden.

In dem Augenblick, in dem sie über die Straße ging, raste plötzlich ein Wagen vorbei. Trotz des 30er-Zone-Schilds erhöhte der rote Honda seine Geschwindigkeit noch einmal und fuhr mit mindestens Tempo achtzig.

„Hey! Immer schön langsam, ja?“, rief A J atemlos. Sie sah sich erschrocken um. Um diese Zeit waren die umliegenden Geschäfte längst geschlossen, und auf den Straßen war es in dieser Gegend äußerst ruhig.

Kopfschüttelnd ging sie zu ihrem Auto und verstaute die Boxen vorsichtig im Kofferraum. Der Schreck über den rücksichtslosen Autofahrer wich nun langsam der anhaltenden Freude über den Erfolg dieses Abends.

Und der Abend hatte wirklich so gut angefangen …

Shane hatte in seiner Uniform zum Anbeißen ausgesehen. Gleichzeitig war es beinahe ein wenig einschüchternd, ihm in seiner offiziellen Montur zu begegnen.

Vielleicht war das auch der Grund, warum sie ihm nicht von dem Testessen erzählt hatte. Außerdem hatten in ihrem Inneren leise Zweifel genagt, ob sie diesen wichtigen Auftrag am Ende wirklich bekommen würde. Aber sie hatte es geschafft – und Shane sollte es nun als Erster erfahren.

Gerade, als sie den Kofferraum schloss und um das Auto herumging, vernahm sie ein Motorengeräusch. Sie blickte auf. Da war er wieder, der rote Honda. Dieses Mal fuhr er langsamer. Dann hielt er etwa vierzig Meter entfernt von ihrem Laden in der Mitte der Straße an und wartete dort mit laufendem Motor.

A J reckte den Hals, um das Nummernschild entziffern zu können, doch es war nur schwer zu erkennen. Mutiger geworden, machte sie nun einen Schritt in die Richtung des Hondas. Die Reifen hatten auffällige glänzende Felgen.

Jetzt stieg der Fahrer erneut aufs Gas, und der Wagen raste mit quietschenden Reifen davon.

A J spürte, wie sich die feinen Härchen auf ihren Armen aufrichteten.

Teenager, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Das waren doch nur Teenager, die sich für besonders cool hielten.

Vielleicht dieselben, die das Feuer im Park gelegt hatten?

Das ungute Gefühl ließ sich einfach nicht abschütteln, und A J stieg rasch ins Auto und verriegelte danach die Türen. Aber nichts würde sie davon abhalten, Shane anzurufen und ihm von ihrem Erfolg zu erzählen.

Sie fuhr los, und über die Freisprechanlage rief sie ihn an und sagte: „Ich habe gehört, Sie sind eine sehr fähige Servicekraft.“

Sein leises Lachen jagte A J einen angenehmen Schauer über den Rücken. „Sagt man das?“

„Oh ja. Sind Sie verfügbar? Für eine Hochzeit am achten Oktober …“

„Warum? Machen Sie mir gerade einen Antrag?“

A Js Magen führte eine kleine Pirouette auf. „Vielleicht.“ Es war so einfach, mit Shane zu flirten, und so aufregend.

So aufregend, dass sie gerade eine gelbe Ampel überfahren hatte. Sie ermahnte sich zur Vorsicht.

Doch dann bemerkte sie mit einem Blick in den Rückspiegel erneut das andere Auto. Es hatte nicht angehalten und fuhr nun dicht auf.

Dabei hatte die Ampel inzwischen bestimmt schon auf Rot geschaltet – so rot wie der Wagen …

Der rote Honda.

A Js Herz begann, schmerzhaft schnell zu schlagen.

Die Seitenfenster des Hondas waren getönt, sodass A J keinen Blick ins Innere werfen konnte. Doch jetzt war der Wagen so dicht hinter ihr, dass sie die beiden Kerle durch die Windschutzscheibe sehen konnte. Sie sahen jung aus.

Und A J wurde das Gefühl nicht los, dass es dieselben Typen waren wie die im Park.

Nun bekam sie Panik.

„Das hört sich jetzt vielleicht komisch an“, ihre Stimme hatte zu zittern begonnen, „aber ich glaube, ich werde gerade verfolgt.“

In knappen Worten berichtete sie Shane von dem Geschehen vor ihrem Laden und dass der unbekannte Wagen noch immer hinter ihr war.

„Das gefällt mir gar nicht“, sagte Shane alarmiert. „Bist du in der Nähe der Polizeistation?“

„Nicht wirklich. Aber ich bin gleich zu Hause.“ Ihr Griff um das Lenkrad wurde noch fester.

„Fahr nicht nach Hause!“, schärfte Shane ihr ein. „Biege ein paar Mal nach links ab, um sicherzugehen, dass es kein Zufall ist und sie dir wirklich folgen.“

A J folgte seinem Rat. „Sie sind immer noch hinter mir.“

„Dann fahr jetzt sofort zur Polizeistation. Zögere nicht. Ich komme auch dahin und warte auf dich.“

Shane brachte A J am nächsten Morgen zurück zur Polizeistation, um ihr Auto zu holen. Sie hatten es dort gelassen, weil Shane hoffte, den Kerlen damit einen Denkzettel erteilen zu können.

Er hatte A J gefragt, ob sie die Nacht lieber bei ihm verbringen wollte, doch sie hatte schüchtern abgelehnt. Shane war nicht überrascht deswegen, vor allem weil er das kurze Zögern bemerkt hatte. Vielleicht war A J für einen Moment in Versuchung geraten, aber sie hatte ihr nicht nachgegeben.

Womöglich war es ja auch besser so. Sich noch näher zu kommen, hätte die Dinge nur unnötig verkompliziert. Viel zu bald würde er Celebration wieder verlassen müssen, und A J war einfach mehr wert als ein flüchtiges Abenteuer.

Also hatte er sie brav nach Hause gebracht. A J hatte auch das Angebot des Officers abgelehnt, einen Streifenwagen vor ihrem Haus Patrouille fahren zu lassen. Sie war der Meinung, dass ein Polizeiauto viel zu viel Aufmerksamkeit in der Nachbarschaft erregen würde. Außerdem hatte sie Shane daran erinnert, dass ihr Haus mit einer Alarmanlage ausgestattet war. „Immerhin macht sich das teure Ding jetzt endlich mal bezahlt“, hatte sie versucht zu scherzen. „Ich glaube, das sind nur Rowdys, die mich erschrecken wollten. Vielleicht haben sie ja mitbekommen, dass ich im Park die Polizei gerufen habe, und wollen sich deshalb rächen, indem sie mir Angst eingejagt haben. Wenn ich heute Nacht nicht zu Hause schlafen würde, hätten sie gewonnen.“

Gegen diese Argumente konnte Shane nichts einwenden.

Nach der Arbeit machte er sich auf den Weg zum Treffen für nachbarschaftliche Sicherheit. Die Veranstaltung war so gut besucht, dass Shane zunächst keinen einzigen freien Platz im Saal ausmachen konnte.

Glücklicherweise entdeckte er kurz darauf A J, die ihn zu sich nach vorne winkte. Da er auf der Baustelle aufgehalten worden war, hatte er keine Zeit mehr gehabt, um sich umzuziehen. Dieser Umstand bescherte ihm nun viele neugierige und argwöhnische Blicke, als er sich in seiner Uniform durch die Stuhlreihen schob.

„Da bist du ja.“ A J erhob sich, um ihn zu umarmen. Sie wirkte viel gelöster als gestern Nacht und schenkte ihm ein warmes Lächeln.

„Geht es dir wieder besser?“, wollte Shane besorgt wissen.

Ihr Lächeln verblasste kurz. „Nun, stell dir vor: Der Sheriff hat mich vorhin angerufen und mir gesagt, dass der rote Honda gestohlen war. Ich wusste zwar nicht das gesamte Kennzeichen, aber die Beschreibung hat wohl ausgereicht, um ihn zu identifizieren.“ Dann straffte sie sich und reckte das Kinn, als wolle sie alle finsteren Gedanken damit abstreifen. „Egal. Alles wird gut.“

„Ja, das wird es“, betonte Shane. „Dafür werde ich schon sorgen.“ Und genauso meinte er es auch.

Dann begann die Veranstaltung. Das Treffen war gut organisiert und folgte einem strategischen Ablaufplan. Zunächst durften Bedenken und Beobachtungen vorgebracht werden, dann wurden Gruppen gebildet und Vorsitzende ernannt, an die man sich in den verschiedenen Bezirken wenden konnte.

Shane konnte es allerdings kaum erwarten, A J auf andere Gedanken zu bringen. Nach der Bürgerversammlung wollten sie sich endlich auf den Weg in den Park machen, um die lang ersehnte Runde Basketball zu spielen. Selbstverständlich hatte A J vorausgedacht und ein Picknick vorbereitet, das sie in einem großen Korb bei sich und unter dem Sitz verstaut hatte.

„Wollen wir jetzt gehen?“, fragte Shane und nahm ihr den Korb ab.

„Ja, los geht’s“, stimmte sie zu.

Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch die Menge. Kurz bevor sie die Tür erreicht hatten, legte sich allerdings eine Hand auf Shanes Schulter.

Er wandte sich um und erkannte Agnes Sherwood. Obwohl Shane größer als sie war, gelang es ihr irgendwie trotzdem, auf ihn hinabzublicken.

„Oh, hallo, Grandma“, sagte A J. „Ich wusste gar nicht, dass du heute Abend auch hier bist.“

„Hallo, Liebes.“ Die Worte waren zwar an A J gerichtet, doch Agnes Blick ruhte nach wie vor abwertend auf Shane. „Sie sind also derjenige, der meiner Enkelin gestern Nacht geholfen hat.“

„Richtig, Ma’am. Das war doch das Mindeste.“

Sie nickte mit einer undurchdringlichen Miene. „Gut zu wissen, dass jemand auf sie aufpasst. Sind Sie nicht auch der Unglückliche, den meine Enkelin mit Barbecue-Soße bekleckert hat?“

„Ganz genau. Und ich muss sagen, ich liebe A Js Barbecue-Soße.“

Agnes schnaubte hörbar durch die Nase. Es war ein entrüsteter Laut – fast niedlich, wie Shane fand –, doch er spürte, wie sich A J an seiner Seite verkrampfte.

„Es war wirklich schön, dich zu sehen, Großmutter“, warf sie rasch ein, „aber wir haben noch etwas vor. Wir wollen im Park Basketball spielen.“

Ein erneutes Schnauben folgte. „Basketball? Das ist so ein vulgärer Sport. Nicht besonders ladylike. Aber wenn du meinst.“ Mit diesen Worten rauschte sie davon.

Wenn Shane anfangs gedacht hatte, nun bei A Js Großmutter punkten zu können, musste er seine Hoffnung wieder revidieren. Aber es kümmerte ihn andererseits auch nicht wirklich. Bei allem gehörigen Respekt: Er hatte ein Date mit A J, nicht mit ihrer Großmutter.

„Du liebe Zeit“, murmelte A J leise. „Es tut mir leid. Meine Großmutter benimmt sich andauernd unmöglich. Aber wenn es dir irgendein Trost ist: Sie hat für niemand ein gutes Wort übrig. Am wenigsten für Männer, an denen ich Interesse habe.“

Wie bitte? Moment mal. Shane hätte sie beinahe gebeten, den letzten Teil des Satzes zu wiederholen. Den Teil, in dem es um „Männer, an denen sie Interesse hat“ ging. Aber er tat es nicht, stattdessen versuchte er, ihre Stimmung zu heben. „Keine Sorge. Ich nehme mal an, das war ihre Art, sich bei mir zu bedanken. Sie mag vielleicht nicht den Eindruck erwecken, aber ich habe gespürt, wie erleichtert sie ist, dass es dir gut geht. Und nur so ganz nebenbei: Der Mann hat ebenfalls Interesse.“

A J hob die Schultern. „Vielleicht hast du recht. Es war nur mal wieder ziemlich unglücklich ausgedrückt.“

„Und wenn schon. Man sollte eben nur das Gute heraushören. In Ordnung? So, und jetzt gehen wir ein paar Körbe versenken, nicht wahr, Agnes Jane?“

„Für dich immer noch A J, Mister!“ A J machte einen geschickten Ausfallschritt, dribbelte an Shane vorbei, warf und versenkte den Ball im Korb.

Er lachte ausgelassen und hob die Hand. „Das war ja astrein. Schlag ein!“

„Damit hast du nicht gerechnet, hm?“ Sie grinste.

„Nein, das stimmt, aber wenn das deine Großmutter sehen könnte …“

„Stolz wäre sie jedenfalls nicht“, erwiderte A J. Ein wenig atemlos deutete sie auf den Essens-Korb. „Zeit für das Picknick.“

Die Bewegung hatte ihr gutgetan, aber jetzt freute sich A J darauf, Shane die Kostproben von der Lapham-Vorführung zu servieren. Auf dem Weg zu einem schattigen Platz unter einer mächtigen Eiche warf sie Shane einen Seitenblick zu. „Du hast mich doch nicht etwa gewinnen lassen, oder?“

„Niemals.“ Er hob die Hand. „Ehrenwort.“

Sie kicherte. Seit sie die Bürgerversammlung verlassen hatten, fühlte sie sich ungewohnt frei und unbeschwert. Mit wachsender Vorfreude breitete sie die Picknickdecke aus, öffnete die Vorratsdosen und gab Shane von allem etwas auf einen großen Teller. „Hier. Tut mir leid, dass es von gestern ist, aber glaub mir, die Aromen können sich so viel besser entfalten. Vermutlich schmeckt es heute sogar noch besser als gestern.“

Shane betrachtete neugierig den Teller. „Machst du Witze? Das hier hat nichts mit den Resten vom Vortag zu tun, die ich als Kind immer essen musste. Es sieht vielmehr aus wie von einem Fünf-Gänge-Menü … von einer Celebrity-Hochzeit oder etwas in der Art.“

A J lächelte. Sie liebte die Wirkung, die gutes Essen auf die Menschen hatte. Deshalb bereitete sie jedes Mahl auch mit so viel Liebe und Leidenschaft zu.

Sie beobachtete Shane, als er von dem Hummer-Salat kostete. Diesen hatte sie aus den verbleibenden Hummerschwänzen gefertigt und dann mit Kräutern verfeinert. Shanes Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war das Ergebnis wohl befriedigend. Mehr als das sogar, sein Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an, als hätte er gerade von einem Stück Paradies gekostet.

Es war so, als würden sich gerade die Flügel unzähliger Schmetterlinge in A Js Bauch entfalten.

Seit Danny hatte sie zwar für viele Menschen gekocht, doch das hier war etwas ganz Besonderes. Die Freude darüber, dass es Shane schmeckte, hatte eine noch viel tiefer liegende Bedeutung für sie, das spürte A J instinktiv.

Für einen Augenblick überkam sie die Angst. Sie sollte fliehen und weglaufen, so weit wie nur möglich, denn sie konnte buchstäblich fühlen, wie verletzlich sie sich gerade machte.

Aber sie lief nicht weg. Denn das Gefühl war zwar beängstigend, aber gleichzeitig auch so wunderbar, dass sie sich nicht losreißen konnte.

Inzwischen hatte die Dämmerung eingesetzt. A J nahm einige Teelichter aus dem Korb, ließ sie in kleine Gläser gleiten und zündete sie an.

„Erzähl mir von deiner Kindheit. Und den Resten vom Vortag, die du immer bekommen hast“, fügte sie hinzu. Es sollte unbeschwert klingen, aber sie spürte unwillkürlich, dass sie keine unbeschwerte Antwort bekommen würde.

„Natürlich nur, wenn du es willst“, ruderte sie hastig zurück. „Ich würde nur gerne mehr über deine Familie erfahren. Schließlich haben sie dich zu dem gemacht, der du bist.“

Sie war gespannt, ob er darüber reden würde. Sie hätte auch gerne über Danny gesprochen. Es kam ihr so vor, als würde sie damit Dannys Segen bekommen, und sie könnte sich von seinem Geist lösen.

Nicht, dass sie ihn je vergessen wollte, aber sie wollte sich von den selbst auferlegten Fesseln befreien, die ihr Herz noch immer gefangen hielten.

„Meine Mutter war unglaublich“, begann Shane mit ruhiger Stimme. „Mein Vater auch, aber meine Mutter war wahnsinnig selbstlos. Sie hätte alles für ihre Kinder getan. In jenem Sommer hatte ich gerade die Highschool abgeschlossen, und wir waren nach Italien gezogen. Meine Mutter war so aufgeregt deswegen. Sie wollte uns unbedingt die europäische Kultur näherbringen. Sie war keine besonders gute Köchin, deshalb wollte sie Kurse nehmen, sobald wir uns ein bisschen eingelebt hatten. Aber dazu ist es leider nie gekommen.“

A J schwieg. Ihr gingen zwar tausend Phrasen durch den Kopf, mit denen man für gewöhnlich sein Mitgefühl ausdrückte, doch keine davon schien in diesem speziellen Fall angebracht. Sie hielt es stattdessen für besser, Shane einfach reden zu lassen. Nur eine Frage konnte sie sich nicht verkneifen: „Warum bist du in Italien zurückgeblieben, als deine Familie damals in die Staaten geflogen ist?“

„Es gab da ein Mädchen … eine junge Frau, sollte ich wohl besser sagen. Wir waren jung. Ich war dumm. Ich dachte, ich würde sie lieben, und wollte sie deshalb nicht verlassen. Viel mehr gibt es da nicht zu erzählen.“

Seine Worte versetzten ihr einen kleinen Stich, obwohl sie genau damit gerechnet hatte. „Und du wirst jetzt wieder nach Italien zurückgehen? Du hast das bei meinen Freunden erwähnt.“

Er nickte.

Natürlich gab es noch etwas, das A J brennend interessierte, und sie musste es jetzt einfach fragen. Solange sie noch den Mut dazu aufbrachte: „Hast du mit der Frau von damals noch Kontakt?“

Sie versuchte sich innerlich gegen die Antwort zu wappnen, denn sie war überzeugt davon, dass sie diese eigentlich gar nicht hören wollte.

Doch Shane schüttelte den Kopf.

A J atmete unbemerkt auf. Allerdings hielt sie das nicht davon ab, noch eine letzte Frage zu stellen. „Gehst du zurück, um sie wiederzufinden?“

Shane blieb ihr eine Antwort schuldig, denn in diesem Moment ertönte eine Sirene, und fast gleichzeitig begann A Js Handy zu klingeln.

Beim Blick auf das Display wurde ihr Magen schwer wie Blei. „Oh mein Gott. Das ist die Feuerwehr!“

10. KAPITEL

„Das war ganz eindeutig Brandstiftung“, stellte der Stadtbrandmeister fest. „Wir haben nämlich Benzinspuren am Tatort gefunden. Ungefähr dort, wo das Feuer auch ausgebrochen sein muss.“

Shane legte den Arm so fest um ihre Hüfte, als habe er Angst, dass sie gleich in Ohnmacht fallen würde.

Aber sie fiel nicht in Ohnmacht. Sie starrte nur mit leerem Blick auf die verkohlten Überreste, die einmal Celebrations Inc. gewesen waren.

Ihren Laden gab es nicht mehr. Nicht nur das – alles, wofür sie in den vergangenen Jahren so hart gearbeitet hatte, war nun in Flammen aufgegangen. Übrig geblieben war nichts außer Leere und kaltem Rauch.

Alles war komplett verbrannt. Ihr Equipment, die Akten, der Organza-Stoff, der ihrem Laden gerade erst Leben eingehaucht hatte. Celebrations Inc. hatte einen Abend lang wie ein Traum ausgesehen, und jetzt war dieser Traum geplatzt.

In ungefähr zehn Tagen würde die Lapham-Hochzeit stattfinden, und sie verfügte nun nicht einmal mehr über einen tragbaren Ofen.

Nichts.

Wer um alles in der Welt hatte das getan?

Sie hatte doch gar keine Feinde. Wie war das bloß möglich?

Ihre Gedanken kreisten sofort um die Teenager, die sie im Park gesehen hatte. Und um den roten Honda, der sie mitten in der Nacht verfolgt hatte.

Inzwischen hatte man sogar einen Verdächtigen festgenommen. Hatte A J die Drohungen zu arglos in den Wind geschlagen? Handelte es sich wirklich um eine Art Rache, weil sie der Polizei eine Personenbeschreibung gegeben hatte?

Ihr Körper begann, unkontrolliert zu zittern, und sie glaubte, sich gleich übergeben zu müssen.

Shane zog sie noch dichter an sich. Das half zumindest ein wenig, und ihr Atem beruhigte sich. Um nichts in der Welt würde sie das Picknick-Dinner auf seine Schuhe spucken.

Es schien auf einmal so, als gäbe es auf der gesamten Welt keinen sicheren Ort mehr.

Nicht in der Großstadt und auch nicht mehr in der kleinen, beschaulichen Welt, in der sie aufgewachsen war.

Am liebsten hätte sie das Gesicht an Shanes Brust verborgen und sich in seine Arme gekuschelt.

Aber auch hier gab es keine Sicherheit, zumindest nicht auf die Dauer, denn er würde bald nach Italien gehen, aus welchen Gründen auch immer.

Doch heute Nacht brauchte sie ihn wirklich. Das war auch der Grund, warum sie nicht Nein sagte, als er darauf bestand, die Nacht in ihrem Haus zu verbringen. „Wir müssen nur noch schnell Houdini abholen“, sagte Shane entschuldigend.

Aber A J war froh darüber, dass sie noch etwas zu erledigen hatten. Denn es tat gut, in Bewegung zu bleiben, und als sie schließlich zwischen Shane und Houdini eingeklemmt auf der Vorderbank von Shanes Truck saß, konnte sie wenigstens für einige Minuten die Katastrophe verdrängen. An Shanes Schulter angelehnt, kraulte sie Houdinis weiches Fell und spürte, wie sich ihr jagender Pulsschlag langsam wieder beruhigte.

So lange, bis ihre Gedanken wieder in eine finstere Richtung drifteten. Wie hieß es doch in allen Märchen, die einem als Kind erzählt wurden? Mit harter Arbeit und festem Glauben wurden Träume wahr. Man konnte alles erreichen, was man sich wünschte – vom Traumschloss bis zum Märchenprinzen.

Aber Traumschlösser wurden schließlich zu Asche verbrannt und Prinzen aus dem Leben gerissen.

Es kam ihr plötzlich so vor, als könne man sich auf nichts mehr verlassen. Nicht auf das Leben, nicht auf die Hoffnung. Und am allerwenigsten auf die Menschen.

Und doch brauchte sie zumindest heute Nacht dringend jemand, dem sie sich anvertrauen konnte. Jemand, in dessen Arme sie sich flüchten konnte.

Auch wenn sie natürlich tief in ihrem Inneren wusste, dass auch Shane am Ende gehen würde. Und diese innere Stimme suchte sich nun einen Weg nach draußen. „Du wirst wirklich weggehen, oder?“, fragte sie tonlos.

„Was meinst du damit?“

„Nach deinem Projekt in Celebration wirst du nach Italien gehen und vermutlich nie mehr zurückkehren, stimmt’s?“

Er zögerte. „Ich muss gehen, ich habe keine andere Wahl.“

„Doch, die hast du“, beharrte sie. „Man hat immer eine Wahl! Alles andere sind doch nur Ausreden.“

An einem Stoppschild richtete er sich auf und straffte seinen Körper, sodass sich ihre Schultern kaum noch berührten. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet. „In der Army hast du keine Wahl“, widersprach er. „Ich muss dorthin gehen, wo man mich hinschickt, aber es wird wahrscheinlich nur einige Monate dauern. Wir können darüber reden, wenn es erst einmal so weit ist.“

A J kam sich albern vor, gerade jetzt einen Streit zu riskieren, aber sie konnte nicht anders. Wenn sie zu den Menschen gehört hätte, die sich für eine Nacht in heißem, gedankenlosem Sex verlieren konnten, hätte sie es vielleicht gewagt.

Aber der Gedanke, am nächsten Morgen aufzuwachen und dann das volle Gewicht der Realität zu spüren zu bekommen, machte ihr mehr Angst, als sich ihm jetzt sofort zu stellen.

„Warum gerade Italien, Shane?“, fragte sie deshalb.

Er warf ihr einen Seitenblick zu, den sie nur schwer zu deuten vermochte. „Das ist nicht so einfach“, begann er. „Vielleicht habe ich das Gefühl, dass ich an den Ort zurückkehren muss, wo all das begann. Der Schmerz … Es war meine Familie, A J. Ich habe sie alle verloren. Du weißt doch genau, wie das ist. Du hast doch auch schon viel verloren.“

Augenblicklich wurde sie wegen ihrer schlechten Gedanken ernüchtert. Was ihnen widerfahren war, konnte man nicht vergleichen – auch wenn Shane ihr mit seinen Worten sein Mitgefühl ausdrücken wollte.

„Heute habe ich nur Dinge verloren“, sagte sie ruhig. „Ein Laden kann ersetzt werden. Geschäftspläne können neu gemacht werden. Aber keine Familie.“ Es war diese Erkenntnis, die die Dinge auf einmal wieder ins rechte Licht rückte.

A J würde weitermachen.

Nur eine Frage brannte ihr noch auf der Seele, aber sie wagte es nicht, sie auszusprechen.

Das war auch gar nicht nötig, denn Shane schien ihre Gedanken irgendwie zu erraten. „Ihr Name war Manuela“, erklärte er ungefragt.

„Ich habe sie seit dem Unfall nicht mehr gesehen. Das ist jetzt über zwanzig Jahre her. Aber ich muss zugeben, dass ich noch manchmal an sie gedacht habe. Bevor ich dich getroffen habe, habe ich mich schon gefragt, ob ich sie suchen soll, wenn ich erst einmal in Italien bin. Ich habe mich gefragt, ob sie inzwischen wohl geheiratet hat oder ob sie unter Umständen … Vielleicht habe ich mir eingebildet, dass ich mit der Vergangenheit abschließen könnte, wenn ich sie treffe. Laut ausgesprochen klingt das furchtbar albern, ich weiß. Sie hat inzwischen bestimmt Kinder, einen Ehemann – eine Familie. Etwas, das ich mir auch wünsche. Ich konnte es mir bisher bloß nicht eingestehen, weil der Verlust meiner eigenen Familie einfach zu schwer gewogen hat.“

An der nächsten Ampel legte er den Arm um sie und zog sie fest an sich. Eine Minute verstrich schweigend, dann sagte er: „Komm doch einfach mit mir nach Italien.“

Wie bitte? Es kam ihr so vor, als hätte ihr Herz plötzlich Schluckauf. Das konnte doch nicht sein Ernst sein.

Und selbst wenn … Nein, sie konnte es nicht. Es gab hier viel zu viel zu tun. Sie musste mit der Versicherung verhandeln, einen passenden Laden finden, neue Geräte anschaffen …

Sie legte sanft die Hand auf seine Schulter. „Shane, du weißt, dass ich das nicht kann.“

„Natürlich kannst du es. Es ist deine eigene Wahl.“

Ihr Herz sagte ihr, dass er das Angebot ernst meinte. Aber sie spürte auch, was es noch bedeutete, weil er nun ihre eigenen Worte benutzte: Man hat immer eine Wahl. Es kam ihr so vor, als würde er damit die Last der Entscheidung auf ihre Schultern legen. Die Entscheidung über ihre gemeinsame Zukunft.

Er konnte nicht bleiben, und sie konnte nicht gehen.

Glaubte er wirklich, dass sie einen gemeinsamen Weg finden würden?

„Du weißt, dass ich jetzt nicht gehen kann. Nicht nach allem, was passiert ist.“

„A J, wenn du für deinen Job hierbleibst – ist das dann wirklich etwas anderes, als wenn ich für meinen Job weggehe?“

Nein. Doch … oh, es war furchtbar. Wahrscheinlich wollte er sie mit dem Angebot nur testen und ihre Motive infrage stellen. Ihr Herz wurde schwer.

Shane lenkte den Wagen nun in ihre Einfahrt und ließ den Motor laufen.

„Also wusstest du genau, dass ich mich in dich verlieben würde, obwohl es eine absolut aussichtslose Situation ist?“

„Nein. Ich habe nichts davon geplant.“ Er drehte den Kopf zu ihr und versenkte den Blick in ihren. „Tust du es denn?“

„Was?“

„Dich in mich verlieben?“

Natürlich hatte er sie durchschaut. Sie hatte das Gefühl, dass ihr die Antwort direkt ins Gesicht geschrieben stand. Und dennoch konnte sie diese nicht einfach aussprechen.

Wozu auch? Damit war doch niemandem geholfen. Er würde sie trotzdem verlassen, und das hatte er auch von Anfang an klargestellt.

„Danke für alles.“ Ihre Stimme war brüchig. „Ich bin sehr müde. Ich werde zu Bett gehen. Du und Houdini könnt gerne im Gästezimmer schlafen.“ Mit diesen Worten stieg sie aus und betrat das Haus durch die Garage.

Shane folgte ihr. Sie zeigte ihm, wo er schlafen und sich frisch machen konnte, dann erklärte sie ihm die Alarmanlage. „Es wäre schön, wenn du sie wieder einschaltest, nachdem du mit Houdini rausgegangen bist. Besonders nach allem, was heute passiert ist.“

Er war jetzt sehr still, doch ihm war anzusehen, wie es in ihm arbeitete. Schließlich sagte er: „Das mit Italien habe ich ernst gemeint. Heute ist eine Menge passiert. Bitte denk darüber nach.“

„Shane, du weißt, dass ich das nicht kann.“

„Ich erwarte jetzt noch keine Antwort von dir. Ich möchte nur, dass du wenigstens darüber nachdenkst.“

Sie standen sich gegenüber, mit nichts als einem dünnen Gute Nacht zwischen sich.

Dann legte er die Arme um sie und zog sie an sich, bis sich ihre Lippen ganz sanft berührten.

Für einen Augenblick wagte es A J nicht, sich auch nur einen Millimeter zu rühren, und wartete still ab.

Ihre Geduld wurde belohnt. Er vertiefte den Kuss und drückte sie fest an sich.

Als er sie so berührte, wurde A J plötzlich bewusst, dass er sie ebenso brauchte wie sie ihn.

Ein weißes, glühendes Feuer durchströmte ihren Körper und schien alle Ängste und Sorgen zu versengen, bis nichts mehr übrig war außer reiner Begierde. Sie schob die Hände unter sein Shirt und fühlte die harten Muskeln unter seiner Haut.

Schwer atmend wich er einige Zentimeter zurück. „Du weißt, wo das hinführt, oder?“

Hin- und hergerissen zwischen Gefühl und Vernunft, konnte sie nichts anderes tun, als zu nicken, doch ihre Hände ruhten weiterhin fest auf seiner Brust.

Ich möchte, dass du darüber nachdenkst, hatte er gesagt.

Aber im Augenblick war Nachdenken das Letzte, was sie wollte.

Stattdessen wollte sie sich nur in seinem glühenden Kuss verlieren, eins mit ihm werden und die Welt um sich herum komplett vergessen, bis es nichts mehr gab außer ihren erhitzten Körpern.

Shane löste sich von ihr und legte behutsam die Hände auf ihre Schultern. Nur selten im Leben war es ihm so schwergefallen, das Folgende zu sagen: „Du solltest dich jetzt hinlegen. Das war ein harter Tag.“

Jede Faser in seinem Körper sträubte sich dagegen, A J auch nur eine Sekunde loszulassen, aber es wäre falsch.

Nach den heutigen Ereignissen war sie extrem durcheinander und verletzlich, und Shane hatte nicht vor, diese Situation auszunutzen. Er wollte nichts tun, was sie womöglich am nächsten Tag schon bereuen würde. Dafür war sie ihm einfach zu wertvoll.

Er sah ihr in die Augen. Das Verlangen spiegelte sich deutlich in ihrem Blick, und für einen Moment hätte Shane beinahe doch nachgegeben. Sie fühlte sich so gut an …

Doch dann sah er noch etwas anderes darin.

Jenseits des Verlangens und der Angst und der Unsicherheit glaubte er, noch ein weiteres Gefühl zu erkennen.

Mehr als alles andere auf der Welt wünschte er sich plötzlich, dass sie glücklich war. Viel mehr noch als sein eigenes Glück.

Es war ein so unbekanntes und mächtiges Gefühl, dass es ihm für einen Augenblick schier den Atem raubte.

„Shane, ich …“ Doch sie ließ den Satz unvollendet. „Du hast recht. Ich werde noch rasch duschen gehen, bevor ich mich hinlege. Bitte nimm dir aus der Küche, was du möchtest. Gute Nacht.“

Sie drehte sich so schnell um, als hätte sie Angst, es sich noch einmal anders zu überlegen.

Shane sah ihr hinterher. Kurze Zeit später konnte er hören, wie im Badezimmer das Wasser aufgedreht wurde.

Er ging daraufhin ins Gästezimmer, bedeutete Houdini, sich am Fußende des Bettes hinzulegen, und setzte sich auf die Matratze. Das Geräusch der Dusche verstummte bald. Eine Tür wurde geschlossen, dann herrschte Stille im Haus.

Erst jetzt nahm er das durchdringende Zirpen der Zikaden wahr. Er erhob sich erneut, trat ans Fenster und öffnete es einen Spalt.

Was ging jetzt in A J vor? Ob sie schon schlief? Oder hielten sie die schrecklichen Ereignisse des Tages noch wach?

Die Minuten verstrichen. Shane spähte in den stillen Garten. Plötzlich zerriss ein greller Blitz die nächtliche Dunkelheit. Kurz darauf ertönte in der Ferne Donnergrollen.

Houdini hob den Kopf. „Ruhig, Junge“, tröstete ihn Shane. Seine tiefe Stimme schien den Hund tatsächlich zu entspannen.

Unentschlossen blickte Shane zur Tür. Sollte er nach A J sehen? Womöglich hatte sie der Donner erschreckt.

Er wollte zumindest nachsehen, ob sie irgendetwas brauchte. Mehr nicht.

Mit diesem festen Vorsatz verließ er das Zimmer und ging leise den Flur hinunter.

11. KAPITEL

Als A J die Augen aufschlug, sah sie als Erstes die Silhouette eines großen Mannes im Türrahmen stehen. Ihr Herzschlag stolperte. Doch bevor Panik einsetzen konnte, mischte sich die Erinnerung in ihr vom Schlaf getrübtes Bewusstsein. „Shane?“ Ihre Stimme zitterte.

„Ja, ich bin es.“

Sie atmete geräuschvoll aus. „Du hast mich zu Tode erschreckt.“ Sie zog die Bettdecke bis unter das Kinn hoch. Nachdem sie vorhin duschen gegangen war, hatte sie ein kurzes Nachthemd angezogen und noch eine ganze Weile wach gelegen. Erst dann war sie erschöpft eingeschlafen – bis ein dumpfer Schlag sie wieder aufgeweckt hatte.

„Was ist los?“

„Nur ein Gewitter. Ich wollte nachsehen, ob dich der Donner geweckt hat. Und ob du vielleicht etwas brauchst“, fügte er hinzu und trat näher.

„Oh. Ach so.“ A J strich sich erleichtert das Haar aus der Stirn.

Shane zögerte einen Moment lang, dann setzte er sich auf den Bettrand. „Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.“

„Ist schon in Ordnung. Ich hatte bloß … ganz seltsame Träume.“ Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie nahe Shane ihr war. Sie streckte die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen seinen Arm, als ob sie sichergehen wollte, dass nicht auch er nur Teil ihres Traums war.

Aber er fühlte sich warm und stark an und kein bisschen wie ein Geist.

Jetzt bewegte er den Arm, bis ihre Handfläche in seiner ruhte. Mit dem Daumen streichelte er sanft über ihren Handrücken.

A J wurde warm.

Shane ließ sich nun vorsichtig neben ihr auf das Bett sinken.

Sie drehte sich auf die Seite, sodass sie sich beinahe berührten. Ihre Lippen waren nur noch wenige Zentimeter von seinem Mund entfernt.

Sehr langsam hob er den freien Arm, legte ihr die Hand auf die Hüfte und streichelte die bloße Haut, wo der Stoff des Nachthemds hochgerutscht war.

„Offensichtlich ist das kein Traum.“ Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

Er hob den Kopf, und im Halbdunkel des Zimmers trafen sich ihre Blicke. „Doch, in gewisser Weise ist es das schon.“

Sein Lächeln konnte sie bloß erahnen. Behutsam strich er das lange Haar über ihre Schulter. „Bist du dir sicher?“, fragte er sanft.

Aber anstatt einer Antwort nickte sie nur, beugte sich vor und küsste ihn zart auf den Mund.

Die Spannung, die schon vorhin im Flur zwischen ihnen geherrscht hatte, war augenblicklich wieder da. Doch dieses Mal gab es nichts mehr, was sie noch aufhalten würde. A J spürte es, und sie war froh, dass Shane zu ihr gekommen war.

Mehr als nur froh. Sie war überwältigt, und allein der Gedanke, ihn in ihrem Bett zu spüren, ließ sie erröten.

Er küsste ihren Hals, ihren Nacken und ihre Schultern, dann richtete er sich auf, griff nach dem Saum ihres Nachthemds und streifte es ihr über den Kopf.

Sein Blick glitt bewundernd über ihren Körper. Sie war nackt bis auf das Höschen, und er schien jeden Zentimeter ihrer Haut auswendig lernen zu wollen: den sanften Hüftschwung, die cremeweiße Haut und die Wölbung ihrer vollen Brüste.

A J entfuhr ein leises Stöhnen, als sich seine warme Handfläche um ihre Brust schloss.

Ihr kam es so vor, als hätte sie sich seit Jahren nicht mehr so lebendig gefühlt. Als würde sie Shanes Berührung in die Wirklichkeit zurückholen und sie daran erinnern, dass sie noch einen Körper besaß. Einen lebendigen, fühlenden Körper, der seine ganz eigenen Wünsche und Bedürfnisse hatte.

Und diesen Bedürfnissen würde sie heute Nacht endlich wieder nachgeben.

Doch bevor das geschehen würde, schaltete sich ein letztes Mal ihre Vernunft ein. „Ich nehme keine Pille“, eröffnete sie ihm leise.

Shane hielt mitten in der Bewegung inne. Er machte den Eindruck, als müsse er sich sehr zusammenreißen, um nicht zu fluchen. Stattdessen legte er die Hand an ihre Wange. „Ich habe leider keine Kondome dabei.“ Seine Stimme war rau. „Aber wir müssen heute Nacht auch keinen Sex haben. Ich möchte alles tun, damit du dich wohlfühlst.“

Die Hitze stieg in hastigen kleinen Wellen in ihre Wangen. „Aber ich möchte es“, wisperte sie. „Und ich, äh, habe auch Kondome. Seit Kurzem ehrlich gesagt erst. Sie waren ein Geschenk von meinen Freundinnen.“

In der Dunkelheit war es nur schwer zu erkennen, aber A J hatte den Eindruck, dass Shane sich ein Lächeln verkneifen musste. „Ich mag deine Freundinnen.“

Sie dich offenbar auch.“ A J räusperte sich verlegen. „Würdest du das Päckchen vielleicht holen? Es liegt im Badezimmerschrank.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, gab Shane ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und verließ das Zimmer. Gleich darauf kehrte er wieder zurück, nahm ein Kondom aus der Box und drapierte es auf dem Nachtschränkchen. Danach legte er sich neben sie, zog sie dicht an sich und bedeckte ihren Körper mit intensiven kleinen Küssen.

Er nahm sich viel Zeit. Dann fanden seine Lippen erneut ihren Mund.

A J ließ sich komplett in diesen Kuss fallen. Er war zart, langsam und schwelgerisch und ließ sie glauben, sie würden es heute Nacht vielleicht doch nicht zu mehr kommen lassen.

Die Dinge langsam angehen lassen.

Was sie allerdings nicht davon abhielt, nach seinem T-Shirt zu greifen. Der Wunsch, seine nackte Haut auf ihrer zu spüren, wurde einfach übermächtig. Sie streifte den Stoff über seine Brust, und er half ihr dabei, indem er das Shirt über seinen Kopf zog.

Sein Körper wurde nun im Licht der Straßenlaterne gebadet, das durch das Fenster fiel.

Er war so vollkommen, dass A J kurz in ihrer Bewegung innehielt, um ihn anzusehen.

Seine Brust war breit und glatt, die Haut leicht gebräunt, und unter dem festen, flachen Bauch begann eine zarte Spur dunkler Haare, die sich im Bund seiner Jeans verlor …

Halt dich zurück, ermahnte sie sich, als ihre Hände unwillkürlich nach dem Reißverschluss seiner Hose greifen wollten.

Stattdessen ließ sie die Fingerspitzen über seine Brustmuskeln gleiten und atmete seinen männlichen und irgendwie minzigen Geruch tief ein.

Sie war so gefangen in seinem Anblick und in dem Duft und der Textur seiner warmen Haut, dass sie fast vergaß zu atmen.

So lange, bis er die Hand ausstreckte und ihr das Höschen herunterstreifte.

A J sog scharf die Luft ein.

Seine Hand glitt zwischen ihre Beine und berührte dort zaghaft ihre empfindliche Stelle.

Da! Es geschah wirklich. All ihre Sinne waren jetzt geschärft und gleichzeitig wie in weiche Watte gepackt. Sie schmeckte seinen Kuss, und sie atmete seinen Duft ein.

Sie spürte, wie seine Finger in die feuchte Hitze zwischen ihren Schenkeln eindrangen.

Ihr Körper erzitterte vor gespannter Erwartung.

Auch er zitterte leicht, als er sein Körpergewicht langsam auf sie senkte und seine Hüften ihre Taille berührten.

Sie öffnete die Beine ein wenig mehr, um ihn einzulassen. „Shane“, flüsterte sie atemlos. „Oh, Shane …“

Er verschloss ihren Mund mit den Lippen. Er schien instinktiv zu spüren, mit welchen Bewegungen sie sich gut fühlte.

Sie wollte ihm etwas von der Lust zurückgeben, die er ihr bereitete, deshalb glitt ihre Hand zwischen ihre Körper … doch bevor sie seine Erregung ergreifen konnte, packte er ihr Handgelenk. „Nicht“, wisperte er.

„Warum nicht?“

„Du machst mich vollkommen verrückt, aber jetzt geht es erst einmal nur um dich. Ich will, dass du dich völlig fallen lässt.“

Mit diesen Worten ließ er ihr Handgelenk los und berührte erneut ihr heißes Zentrum. Je mehr er sie streichelte, desto erregter wurden sie beide.

Seine Blicke brannten sich förmlich auf ihrem nackten Körper ein.

Sie wollte mehr, und als ob er ihre Gedanken lesen könnte, drangen nun seine Finger noch tiefer in sie ein.

Ihre Hände suchten Halt und schlossen sich fest um seine Schultern. Sie fühlte, wie sich die Hitze immer mehr in ihr zusammenballte.

„Lass los“, flüsterte er heiser. „Lass einfach los, A J.“

Seine Stimme entfesselte den letzten sengenden Funken ihrer Leidenschaft. Sie bäumte sich ihm entgegen und nahm seine Berührung in sich auf, bis sich ihr Innerstes heiß und feucht um ihn zusammenzog.

Sie ließ sich fallen!

Er hielt sie fest, während die Wellen der Lust über ihr zusammenschlugen.

Danach kuschelte sie sich so eng wie nur möglich an seinen Körper und vergrub das Gesicht an seiner breiten Brust.

Er schlang die Arme um sie. Es kam ihr so vor, als würde sie sich in einem sicheren Hafen befinden, und sein Duft war zugleich aufregend und heimelig, tröstlich und erregend, sodass sie glücklich und vollkommen zufrieden die Augen schloss.

„Wie war es für dich?“ Seiner Stimme haftete ein raues Kratzen an.

Sie hob den Kopf und öffnete die Augen. Sein Blick strich forschend über ihr Gesicht, als wolle er ihre tiefsten Gefühle ergründen.

„Es war wunderschön. Unglaublich wunderschön.“

Er lächelte. „Und das war nur der Anfang.“

Als sie sich erneut an ihn drängte, spürte sie auch seine Erregung an ihrem Schenkel. „Wenn das so ist … Ich bin gerne bereit, mich umhauen zu lassen.“

Allein der Gedanke daran, seinen festen, harten Körper an ihrem zu spüren, ließ die Hitze erneut in ihr aufsteigen. Das Verlangen nach ihm war noch größer, seit er sie berührt hatte.

Sie wich zurück, um den Reißverschluss seiner Jeans öffnen zu können, dann half er ihr dabei, sich aus Jeans und Shorts zu befreien. Schon der erste kurze Anblick seiner Männlichkeit machte sie sofort heiß und feucht.

Sie streckte die Hand aus und berührte seine Erregung. Sein Körper erschauerte daraufhin. Er atmete scharf ein und ließ den Kopf in den Nacken fallen.

Mit den Augen verschlang sie seinen prächtigen männlichen Körper, die Schultern, den flachen Bauch und sein hartes Glied.

Sie hätte ihn stundenlang betrachten können, doch dieses Mal überwog seine Ungeduld. Er griff nach dem Kondom auf dem Nachttisch und streifte es sich über seine imposante Männlichkeit.

Augenblicklich wandte er sich wieder ihrem Körper zu und legte sich auf sie. Seine Hüften fanden schnell ihr heißes Zentrum. Sie erzitterte vor Erwartung dessen, was jetzt kommen würde.

Schon drang er mit einem sanften, langsamen Stoß in sie ein.

Die Hitze floss förmlich von seinem Körper auf sie über. Sehr langsam und vorsichtig bewegte er sich in ihr. Ihre Bewegungen passten sich ihm an, und sie folgte seinem heißen, immer schneller werdenden Rhythmus.

Die Lust begann erneut von ihr Besitz zu ergreifen, mit einer Intensität, die sie alles andere vergessen ließ. Sie hob die Hüften, um sich ihm entgegenzudrängen.

Kein Millimeter war mehr zwischen ihren Körpern Platz, und die gemeinsame Lust war so spürbar, als würden sie ineinanderfließen und jede Empfindung miteinander teilen. Sie konnte sich nicht mehr länger zurückhalten und stieß kurz darauf einen erstickten Schrei aus.

Shane stöhnte ebenfalls auf, ließ ihre Hände los und vergrub sein Gesicht in ihrer Halsbeuge.

Während ihre Hände langsam über seinen Rücken strichen, begannen ihre Gedanken allmählich wieder Form anzunehmen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sein bisheriges Leben wohl verlaufen war; versuchte sich die Orte vorzustellen, an denen er gelebt hatte, die Frau, in die er in Italien verliebt gewesen war.

Aber eines schien sie in diesem Augenblick genau zu kennen: sein Herz.

Und mit einem Mal fühlte sie sich vollkommen entfesselt. Sie hob die Hüften, schlang die Beine um seine Mitte und krallte die Fingernägel in seine Schultern, um ihn endgültig und vollkommen in sich zu spüren.

Sein raues Stöhnen spiegelte ihre Lust und bestätigte ihren Wunsch, völlig vereint mit ihm zu sein.

Als er in ihre Augen sah, spürte er ganz deutlich, wie sich etwas darin veränderte.

Oh nein, dachte er. War das möglich?

Ja. Das war es. Er liebte ihr Lächeln und ihre Ideen und wie sie sich anfühlte. Ihre weiche Haut und ihren Duft und wie sie ihn ansah – so, als ob sie genau das Gleiche empfinden würde wie er.

Er mochte jedes Detail, das er bisher über sie erfahren hatte, und er wollte alles erzählt bekommen, was er bisher noch nicht wusste.

Davon einmal abgesehen, erfüllte es ihn mit einem schrecklich albernen und doch übermächtigen Stolz, dass er der erste Mann war, der ihr nach fünf einsamen Jahren hatte näherkommen dürfen.

„Shane?“ Sie musterte ihn aufmerksam. „Geht es dir gut?“

„Mehr als nur gut.“ Er küsste sie innig.

Mehr als nur gut

Sein Atem ging immer noch schnell, und er strich ihr übers Haar. Es war ein seltsamer Gedanke, doch am liebsten hätte er sie ganz und gar verschlungen. Nicht nur ihren Körper, ihre duftende Haut, sondern auch ihre Seele.

Als er mit ihr geschlafen hatte, hatten sich drei Worte mit aller Macht immer wieder in seinen Geist gedrängt. Drei Worte, die ihm beinahe auf der Zungenspitze gelegen hatten …

Oh nein … Tu das nicht, ermahnte er sich. Du lässt dich lediglich von der Hitze des Augenblicks mitreißen. Sag nichts, was du nicht auch so meinst.

Das Problem war nur, dass er es sehr wohl so meinte. Und zwar von ganzem Herzen.

Dennoch: Etwas zu empfinden und etwas laut auszusprechen, waren zwei vollkommen verschiedene Dinge. Vor allem bei etwas, das so weitreichende – oder verheerende – Folgen haben könnte wie ein Ich liebe dich.

Ihr Blick fand erneut den seinen, und sie erforschte sein Gesicht. „Ist wirklich alles in Ordnung bei dir?“

Er wünschte sich, ihr sagen zu können, was er jetzt gerade empfand, doch alles, was er herausbrachte, war: „Es könnte gar nicht besser sein.“

Vielleicht waren es all die Dinge, die ihm auf der Seele brannten und die keinen Weg nach draußen fanden, die dazu führten, dass er plötzlich spürte, wie eine trockene Hitze in seine Augen stieg.

Auf keinen Fall wollte er ihr das Gefühl geben, enttäuscht zu sein.

Auch wenn er es war – und zwar von sich selbst.

Doch er wollte diesen besonderen Augenblick zwischen ihnen nicht ruinieren. Deswegen zog er sie fest an sich und versuchte, sich völlig dem Moment hinzugeben.

Und dabei nicht unweigerlich an eine drohende Zukunft zu denken, in der es Abschied nehmen hieß.

12. KAPITEL

Shane parkte den Truck in dem mit Kies bestreuten Rondell vor Agnes Sherwoods imposantem Anwesen.

Er warf A J, die auf dem Beifahrersitz saß und so langsam die Hand nach der Tür ausstreckte, als wolle sie das Aussteigen hinauszögern, einen kurzen Seitenblick zu. „Wer genau wird denn heute Abend überhaupt hier sein?“, hakte er nach.

„Nur meine Großmutter und meine Mutter“, entgegnete A J.

Am Vormittag hatten sie vollkommen überraschend von Agnes eine Einladung zum Dinner erhalten. A J hatte sofort ihr Misstrauen darüber geäußert, dass Agnes Sherwood – das selbst ernannte Musterbeispiel an Anstand – eine so kurzfristige Einladung ausgesprochen hatte.

Andererseits hatte es auch weniger wie eine Einladung als vielmehr wie eine Vorladung geklungen, und an eine Absage war deshalb auch überhaupt nicht zu denken gewesen.

„Wie ist deine Mom so?“, wollte er jetzt wissen.

„Wir sehen uns ziemlich ähnlich. Und was ihren Charakter angeht, ist sie eine der liebenswertesten Personen, denen du je begegnen wirst. Allerdings verbiegt sie sich seit Jahren komplett, um Großmutters Gunst wiederzugewinnen. Ich hatte dir ja erzählt, dass meine Großmutter sie quasi verstoßen hat, nachdem sie meinen Vater geheiratet hatte. Aber nachdem meine Mutter Kinder bekommen hatte, wurde Agnes klar, dass sie ihre Enkel dann auch nicht sehen würde, wenn sie meine Mutter weiterhin ablehnte. Also nahm sie den Kontakt wieder auf … zumindest sporadisch. Allerdings hat sie sich erst nach dem Tod meines Vaters wieder richtig geöffnet. Dann konnte sie ja gut die Märtyrerin spielen und die verlorene Tochter wieder aufnehmen. Zu ihren Bedingungen selbstverständlich, wohlgemerkt. Das ist natürlich lächerlich, denn meine Mutter könnte im Grunde selbst bestimmen, wann Agnes ihre Enkel zu sehen bekommt. Meine Mutter war aber der Meinung, dass wir am Ende darunter leiden würden, und hat sich deshalb stets Großmutters Wünschen gefügt.“

A J schüttelte den Kopf. „Meiner Meinung nach dürfte sich niemand von Großmutter so herumschubsen lassen. Aber meine Mutter war machtlos. Als ich vierzehn Jahre alt war, hat sie Großmutters Drängen endlich nachgegeben und mich auf das Internat Le Claire geschickt. Davon einmal abgesehen, war es ja auch Großmutter, die die Schecks unterschrieb. Also bekam sie ihren Willen. Und das bis heute. Ich bin deshalb ihre größte Enttäuschung, weil ich mich einfach nicht an ihre Regeln halten will. Meine Schwestern haben alle eine Elitehochschule im Norden besucht, weil Großmutter die nötigen Beziehungen dorthin hatte. Und natürlich auch das nötige Kleingeld. Aber ich bin aus der Reihe getanzt und habe mich stattdessen zur Köchin ausbilden lassen. Was für eine Enttäuschung.“

So, wie sie es sagte, klang es weder bedauernd noch beschämt. Trotzdem war Shane nicht sicher, wie viel ihr die Meinung ihrer Großmutter trotz allem bedeutete. Er enthielt sich deshalb lieber einer Antwort, denn er wollte jetzt nichts sagen, was sie aufregte. Seit gestern Nacht lagen die Dinge zwischen ihnen besser als je zuvor – und Shane hatte vor, es dabei zu belassen.

Außerdem hoffte er, dass A J ihre Meinung über Italien vielleicht noch ändern würde.

„Ich will meine Familie nicht schlechtmachen“, entschuldigte sie sich jetzt. „Ich glaube, meine Mutter ist ein viel besserer Mensch als ich. Viel selbstloser. Sie kann einfach nicht Nein sagen, wenn meine Großmutter etwas von ihr will. Trotzdem ist ihr Verhältnis nicht das beste. Nun ja … ich glaube, das waren genug Informationen. Du wirst das Schauspiel ja gleich selbst erleben.“

„Was für eine Einleitung“, murmelte Shane.

„Noch ist es nicht zu spät, um sich aus dem Staub zu machen“, erwiderte A J. In ihren Augen lag ein merkwürdiges Funkeln.

Shane beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie innig auf den Mund. „Na dann mal los. Je schneller wir reingehen, desto schneller können wir wieder nach Hause fahren. Nicht, dass ich deine Familie nicht treffen will, aber seit ich heute Morgen das Haus verlassen habe, träume ich schon davon, wieder mit dir alleine zu sein.“ Mit diesen Worten stieg er aus, ging um den Truck herum und hielt A J die Wagentür auf. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und sie erneut geküsst, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass das keine angemessene Geste in Agnes Sherwoods Auffahrt war.

A J rückte nun seine Krawatte gerade und zupfte mit übertriebener Geste ein nicht vorhandenes Staubkorn von seiner Jacke, dann zwinkerte sie ihm zu.

Mrs. Sherwood schien ihn nicht besonders gut leiden zu können, und trotzdem hatte sie ihn eingeladen. Den Grund dafür konnte Shane sich beim besten Willen nicht vorstellen. Er straffte sich und setzte eine ruhige, entschlossene Miene auf. Doch innerlich hatte er das Gefühl, in feindliches Territorium vordringen zu müssen.

Oder anders gesagt: in die Höhle des Löwen.

Wie sich herausstellte, hatte Agnes die Dinnerparty arrangiert, um Shane für alles zu danken, was er „in dieser unglückseligen Zeit“ für A J getan hatte.

Da das ein völlig untypisches Verhalten für ihre Großmutter war, kam A J nicht umhin, ein verstecktes Motiv dahinter zu wittern. Wahrscheinlich wollte sie den neuen Mann an A Js Seite auf diese Weise ganz genau durchleuchten oder ihn einschüchtern.

Warum sie sich dafür allerdings so viel Mühe gab, war A J schleierhaft. Vielleicht ging es ja auch gar nicht um sie, sondern um ein erneutes Kräftemessen mit ihrer Mutter.

Dennoch verlief die Cocktailstunde sehr viel besser, als A J erwartet hatte. Shane entpuppte sich als angenehmer, umgänglicher Gast, der sich jedem Gesprächsthema wertfrei und offen näherte.

Zu A Js Mutter, Rebecca, war er besonders charmant, während er sich Agnes gegenüber eher höflich und zurückhaltend gab.

Selbst als Shane sich lobend über A Js Kochkünste äußerte und Agnes eine abfällige Bemerkung über „Dienstbotenarbeit“ machte, blieb A J vollkommen entspannt. Um nichts in der Welt wollte sie an diesem Abend einen Streit vom Zaun brechen.

Umso erstaunter war sie, als Shane auf einmal das Thema auf die Zukunft lenkte. Er ergriff nun das Wort und verkündete, dass er A J gerne mit nach Italien nehmen würde.

Beinahe hätte sich A J an ihrem Drink verschluckt.

Ihre Mutter nickte höflich, sagte jedoch nicht viel dazu. Großmutter thronte wie die Königin von England auf ihrem Platz am Kopfende der Tafel und stellte wie üblich ihr Irgendetwas-ist-da-faul-Gesicht zur Schau.

„Lassen Sie es sich durch den Kopf gehen“, sagte Shane – offenbar wild entschlossen, seinen Standpunkt noch einmal zu untermauern. „Momentan hat A J hier doch gar keine Möglichkeit mehr, zu kochen. Sie könnte in Italien arbeiten, während hier ihre neuen Geschäftsräume gebaut werden. Ich selbst könnte die Army in weniger als einem Jahr verlassen, und dann könnten wir gemeinsam überlegen, wo wir weitermachen wollen. Ich finde, man sollte zumindest darüber nachdenken.“

A J erhob sich. „Ich werde erst einmal Räume anmieten, um die anstehende Lapham-Hochzeit organisieren zu können. Und danach wird hoffentlich alles schnell wieder beim Alten sein. Ich kann nicht einfach weggehen, weil ich dann noch mehr Kunden verlieren würde.“

Es war Agnes, die das anschließende Schweigen schließlich brach. „Möchten Sie damit vielleicht andeuten, dass Sie meine Enkelin heiraten wollen?“

A J entfuhr ein krächzender Laut. „Shane“, sagte sie hastig mit rauer Stimme. „Ich möchte dir das Haus zeigen. Jetzt sofort.“ Bevor er antworten konnte, ergriff sie schon seine Hand und scheuchte ihn aus dem Esszimmer. Im Wintergarten schloss sie sorgfältig die Tür hinter sich und fuhr Shane an: „Was machst du denn da bloß? Warum hast du ihnen von Italien erzählt?“

Shane zeigte ihr ein diebisches Lächeln. „Ich dachte, wenn deine Großmutter so sehr etwas dagegen hat, dass du kochst, würde sie mein Vorhaben vielleicht unterstützen. Aber … du hast mich ihre Frage nicht beantworten lassen. Die, ob ich dich heiraten will.“

In A Js Ohren setzte plötzlich ein Geräusch ein, das dem der nächtlichen Zikaden vor ihrem Fenster nicht unähnlich war. Sie spürte, wie sich eine zarte Röte auf ihrem Dekolleté ausbreitete und langsam den Hals hinaufglitt. „Darüber solltest du keine Witze machen, okay?“

Sie zupfte an seinem Ärmel. „Komm. Ich will dir etwas zeigen.“ Sie ergriff seine Hand und führte ihn zu der großen Küche im rückwärtigen Teil des Hauses. „Sieh dir das mal an.“

Ein Catering-Service-Team war gerade dabei, Salatteller anzurichten und das Abendessen vorzubereiten.

„Sie hat tatsächlich meine Konkurrenz für heute Abend engagiert. Es gibt im Raum Dallas so viele davon, dass ich sofort weg vom Fenster wäre, wenn ich auch nur ein paar Monate aussetzen würde. Der gute Ruf, den mir die Lapham-Hochzeit einbringen wird, würde ganz schnell wieder verfliegen.“

„Um deine Großmutter mal in Schutz zu nehmen: Wäre es für dich nicht ein bisschen schwierig gewesen, gleichzeitig das Essen zu servieren und heute Abend hier Gast zu sein?“

„Gast? Ganz ehrlich, ich würde mich in der Küche viel wohler fühlen.“ Sie umschrieb den weitläufigen Raum mit einer Geste. „Vor allem in dieser Küche. Sie ist einfach perfekt. Ich würde alles daransetzen, so eine Küche benutzen zu dürfen. Und Großmutter setzt hier nie auch nur einen Fuß hinein. Shane, hör mir zu: Ich kann nicht mit dir gehen. Verstehst du das? Es geht einfach nicht, also frag mich bitte nicht noch einmal.“

Autor

Nancy Robards Thompson
Nancy Robards Thompson, die bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, lebt in Florida. Aber ihre Fantasie lässt sie Reisen in alle Welt unternehmen – z. B. nach Frankreich, wo einige ihrer Romane spielen. Bevor sie anfing zu schreiben, hatte sie verschiedene Jobs beim Fernsehen, in der Modebranche und in der...
Mehr erfahren