Cora Collection Band 58

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HAPPY END AUF MALLORCA von KATE PROCTOR
Ein Essen zu zweit in einer Tapas-Bar in Palma de Mallorca – Altstadt-Flair, Sonnenschein, zauberhaft! Säße Beth nicht ihrem Ex gegenüber, dem berühmten Arzt Jaime Caballeros. Sie liebt ihn noch immer, aber er ahnt nicht, warum sie wirklich seine Klinik aufgesucht hat …

EINE MILLION FÜR DIE LIEBE von TRISH MOREY
Der griechische Tycoon Loukas gibt Schönheitschirurgin Jade die Schuld am Tod seiner Verlobten. Um Rache zu üben, lädt er Jade zum Dinner ein. Doch der Abend verläuft anders als geplant, und Loukas steht bald vor der Entscheidung: Rache oder Liebe?

WAS DEINE BLICKE MIR VERRATEN von MARGARET BARKER
Ein romantisches Abendessen bei Kerzenlicht, Küsse unter dem funkelnden Licht der Sterne – mit Dr. Pierre Mellanger hat die junge Ärztin Jacky ihren Traummann gefunden. Doch sie fürchtet, er wird sie verlassen, wenn er von ihrem Geheimnis erfährt …


  • Erscheinungstag 28.10.2022
  • Bandnummer 58
  • ISBN / Artikelnummer 9783751508803
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Kate Proctor, Trish Morey, Margaret Barker

CORA COLLECTION BAND 58

1. KAPITEL

Alles wird gut werden, sagte Beth Miller sich immer wieder, als die Tür des Arztzimmers hinter ihr ins Schloss fiel. Sie atmete tief durch. Der elegante Stil des Raumes beeindruckte sie. Doch schon fiel ihr wieder ein, was ihr in den letzten Stunden so viele Sorgen bereitet hatte. Auf dem Weg hierher war es ihr gar nicht so schlecht gegangen, obgleich sie natürlich unruhig gewesen war, aber sie hatte sich selbst unter Kontrolle. Jetzt aber war sie dabei, die Selbstbeherrschung zu verlieren.

Sie ging zum Fenster hinüber. Die schmale, hohe Gestalt war in ein einfaches braunes Seidenkleid gehüllt, das goldblonde Haar fiel ihr in sanften Locken auf die Schultern. Nach außen hin schien sie ein erfolgreiches, leicht unterkühltes und wunderschönes Mannequin zu sein, aber in ihr sah es ganz anders aus. Immer wieder fragte sie sich nach den Gründen, warum sie in diese angesehene, schicke Klinik in Palma gekommen war. Palma, die Hauptstadt der Insel, von der sie sich einstmals geschworen hatte, niemals wieder zurückzukehren. Und doch war sie seit fünf Jahren ihre Heimat.

Ihr eigenes Haus war in Pollensa hoch oben im Norden der Insel und nicht hier im Süden, wo ihr nichts vertraut war, wo … Sie brach diese Gedanken ab. Jetzt musste sie sich beruhigen. Sicher ist es der Schock, der mich so verwirrt hat, sagte sie sich entschieden. Es war natürlich umständlich, nicht das örtliche Krankenhaus nutzen zu können, doch diese Klinik hier verfügte über den besten Ruf. Und es musste einfach gut gehen!

„Beth?“

Sie runzelte die Stirn. Wie er diese einzige Silbe ihres Namens ausgesprochen hatte, das erinnerte sie an die schlimmsten Zeiten ihrer Vergangenheit.

„Mein Gott, du bist es wirklich!“

Seine Stimme war sanft und weich und ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Doch muss es sich dabei um Einbildung handeln, sagte sie sich, als sie sich umdrehte … Es war ein unglaublicher Schock, als sie endlich verstand, doch gelang es ihr kaum, einen klaren Gedanken zu fassen.

Sechs Jahre lang war sie dieser Situation aus dem Weg gegangen. Jetzt aber war es so weit. Hinter ihr stand Jaime Caballeros und sprach zu ihr.

Es kam ihr wie ein Albtraum vor, doch war es Wirklichkeit. Jaime ging langsam auf sie zu.

„Als ich den Namen Miller gehört habe, habe ich mir natürlich Fragen gestellt.“ Seine Stimme hatte diesen unverkennbar rauen Tonfall, den sie niemals vergessen hatte. „Aber ich habe mir gesagt, dass es sich wahrscheinlich um einen Zufall handelte.“

Am liebsten hätte sie lauthals protestiert, als sie den Mund öffnete, um ihm zu antworten. Doch dann sagte sie nur:

„Leider ist es für uns beide nicht so.“ Sie schaute ihn lange nachdenklich an. Doch dann kamen wieder die Bilder der Vergangenheit, und sie konnte kaum den Blick abwenden. Die unterschiedlichsten Eindrücke stürmten auf sie ein. Dabei versuchte sie, in seinen Gesichtszügen die Unterschiede zu lesen, die ihn fremd erscheinen ließen. Doch suchte sie umsonst. Er zeigte nach wie vor diese kühle Selbstbeherrschung, die manchmal in offene Arroganz umschlug. Das hatte ihn schon früher außergewöhnlich erscheinen lassen. Und immer noch sah er umwerfend gut aus.

„Warum leider? Ich hoffe, dass es nicht so sein wird.“

Einen kurzen Augenblick lag Ärger in seinen Augen, der sich deutlich von der Ruhe seiner Worte unterschied.

Nein, dachte Beth und hatte das Gefühl, dass sie gleich ersticken würde. Nichts hat sich geändert … Und schon gar nicht seine braunen Augen mit den grünen Punkten, die manchmal nachtschwarz wurden, wenn die Leidenschaft ihn packte. Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf, als wollte sie diese Gedanken vertreiben.

„Ich fürchte, ich bin nicht gerade in guter Form.“

Sie spürte selbst, wie unsicher sie klang und wie sehr ihre Stimme zitterte. Immer noch hatte sein Blick diese unglaubliche Wirkung auf sie.

„Ich warte auf einen Arzt.“

„Ich weiß“, gab er ruhig zurück. „Deshalb bin ich ja hier.“

Sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich die Knie wegknicken würden. Und dann spürte sie, wie er ihr die Hände auf die Schultern legte.

„Am besten setzt du dich“, sagte Jaime und führte sie zu einem Ohrensessel, der neben einem flachen Tisch in der Ecke des Raums stand. Nachdem sie Platz genommen hatte, setzte er sich neben sie.

Beth atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen, doch war sie vollkommen durcheinander.

„Möchtest du etwas trinken? Vielleicht einen Kaffee?“

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Bewegungen waren hart und verkrampft.

„Ich möchte gar nichts!“, rief sie angespannt aus. „Alles, was ich wissen will, ist, ob sich Dr. Perez’ Diagnose auf Blinddarmentzündung bestätigt hat.“

„Ja, leider“, gab Jaime zurück. „Die Untersuchung deines Sohnes, als er eingeliefert worden ist, hat ergeben, dass die Diagnose vollkommen richtig war.“

„Muss er operiert werden?“, flüsterte Beth. Fast hätte sie gesagt „dein Sohn“, da diese Worte immer wieder in ihrem Kopf hallten. Ob er wohl eigene Kinder hatte? Unzählige Male hatte Beth sich diese Frage gestellt. Vielleicht mit jener Frau, deren Namen sie niemals erfahren hatte.

„Ja. Vermutlich morgen Nachmittag“, antwortete er. Die professionelle Art, mit der er sprach, beruhigte sie ein wenig. „Beth, ich bin sicher, dass dein Arzt dir alle nötigen Auskünfte gegeben hat, aber ich verstehe natürlich, dass eine Mutter sich große Sorgen um ihr krankes Kind macht. Deshalb bin ich hier, um dir auf alle möglichen Fragen so gut ich kann zu antworten.“ Er machte eine kurze Pause und musterte sie nachdenklich. „Wenn du aber mit einem anderen Arzt sprechen möchtest, kann ich das natürlich einrichten.“

„Es stört mich nicht, mit dir zu tun zu haben“, sagte Beth. Es schwindelte ihr, so groß war die Anstrengung, die Gedanken in eine logische Reihenfolge zu bringen. „Mich interessieren nur die Tatsachen.“

Jaime nickte und begann, mit ruhiger, sachlicher Stimme die wichtigsten Teile aus dem Arztbericht vorzulesen. Dabei übersetzte er manchmal die Fachausdrücke, wenn er das Gefühl hatte, dass sie ihn nicht verstand.

Da von seinen Worten etwas abhing, das ihr mehr als ihr eigenes Leben bedeutete, gelang es ihr eine Zeit lang, sich zusammenzureißen und sich darauf zu konzentrieren, was er sagte. Immer wieder aber gingen ihre Gedanken in eine ganz andere Richtung.

Sie erkannte jetzt, dass die Zeit doch nicht spurlos an ihm vorbeigegangen war. Als junger Mann hatte er fast weiche Gesichtszüge gehabt, die jetzt strenger waren. Mit sechsundzwanzig war er sehr attraktiv gewesen, jetzt mit zweiunddreißig gab ihm die dunkle Gefahr, die in seinen Augen aufblitzte, ein noch unwiderstehlicheres Aussehen. Beth wurde auch bewusst, dass sie sich selbst verändert hatte.

Vor sechs Jahren wäre sie unfähig gewesen, den eleganten Schnitt seiner dunklen Hose zu schätzen oder die außergewöhnliche Qualität des Seidenhemdes. Nein, vor sechs Jahren kannte sie nichts von diesen unwichtigen Dingen, die sie in der Zwischenzeit erlernt hatte … Damals hatte sie ihn einfach nur geliebt. Mit ihrem Körper und ihrer Seele und allem, was sie zu geben hatte.

Als er den Vortrag beendet hatte, machte er eine Pause.

„Gibt es noch etwas, das du wissen möchtest?“

„Nein, es war sehr ausführlich.“

„Gut, falls dir später noch etwas einfällt, zögere nicht, es mich wissen zu lassen.“

„Das ist sehr nett von dir“, gab Beth steif zurück. „Vielen Dank.“

„Ich nehme an, dass sich die Großmutter des Kindes um ihn kümmert.“

Beth fühlte erneut einen unglaublichen Schrecken. Das durfte doch einfach nicht wahr sein!

„Ja.“

„Sie ist dir sicher eine große Hilfe.“

„Ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun sollte“, antwortete Beth kühl. Hatte er etwas bemerkt? Was wusste er?

„Normalerweise hätte ich deinen Sohn selbst untersucht, bevor ich mit dir gesprochen habe, aber es gab einen Notfall, und ich bin erst vor Kurzem zurückgekommen.“ Er sprach, als ob er auf eine Frage antworten wollte, die sie gar nicht gestellt hatte. „Ich hatte gerade genug Zeit, mit dem Kinderarzt zu sprechen, der deinen Sohn behandelt. Es tut mir leid, aber ich weiß nicht einmal, wie alt er ist und wie er heißt.“

„Jacey“, stieß sie hervor, und dabei gelang es ihr kaum, einen feindlichen Ton in der Stimme zu unterdrücken.

Jaime Carlos, so hieß ihr Sohn, da sie ihn nach seinem Vater benannt hatte.

„Ein ungewöhnlicher Name.“

„Vielleicht“, entgegnete sie und versuchte, den Gedanken zu verdrängen, dass das alles nur ein Albtraum war. „Aber das ist nun einmal sein Name.“

„Und wie alt ist er?“

„Fünf, im April hatte er Geburtstag“, sagte sie und schaute ihm direkt ins Gesicht.

Bestimmt war ihm aufgefallen, wie sie alle Muskeln des Körpers zusammengezogen hatte und wie ihr das Blut in die Wangen geschossen war. Schnell versuchte er, den Zorn, der in seinem Blick brannte, zu verdrängen, doch es war schon zu spät. Beth hatte es genau gesehen … Die gleiche Wut hatte damals in seinen Augen gelegen. Damals vor sechs Jahren. Die Erinnerung daran wurde fast unerträglich.

„Ich kann dir versichern, Beth, dass dein Sohn die bestmögliche Pflege erhält.“

„Da bin ich sicher“, murmelte Beth mit weichen Knien. Natürlich würde man in dieser Klinik alles für ihren Sohn tun, schließlich war das doch kein Albtraum, sondern Wirklichkeit. Die Vorstellung aber, dass sie diesem Mann noch einmal vertrauen musste, ließ sie erzittern.

„Du scheinst nicht hundertprozentig überzeugt zu sein“, beobachtete Jaime. „Beth, wenn es ein Problem für dich ist, mich wiederzusehen, dann …“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“ Die Lüge war ihr fast unwillkürlich herausgerutscht. „Es ist doch immer gut, wenn man weiß, mit wem man es zu tun hat. Selbst, wenn es der Teufel in Person ist. Im Übrigen habe ich nicht den geringsten Zweifel daran, dass du ein sehr guter Arzt bist.“

„Beth, wir können doch nicht so tun, als ob …“ Er brach ab, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Auf Spanisch sagte er: „Sehr schön. Und ein wenig Kaffee würde uns auch guttun. Vielen Dank.“ Mit diesen Worten wandte er sich wieder an Beth: „Wir machen einige Routineuntersuchungen mit deinem kleinen Jungen, deshalb kommt seine Großmutter solange hierher zu uns.“ Er warf einen Blick auf die Uhr.

„Ich habe noch ein wenig Zeit, um auf die Fragen zu antworten, die sie vielleicht hat. Aber wenn du lieber mit ihr allein sein möchtest …“

„Nein danke … Ich möchte, dass du bleibst“, stammelte Beth, da sie wünschte, dass er mit seiner ruhigen Art auch Rosita die letzten Sorgen nahm.

„Beth, es ist schon in Ordnung“, erklärte er, und um seine Mundwinkel spielte ein leichtes Lächeln. „Wir Ärzte wiederholen tausendmal am Tag, dass es keinen Grund gebe, sich Sorgen zu machen, aber für eine Mutter sieht das natürlich ganz anders aus …“

Er brach ab, als es an der Tür klopfte.

„Herein.“

Beth sah auf und bemerkte eine Frau, die ein Tablett hereintrug. Sie sprang auf die Füße, als sie die runde, mütterliche Gestalt einer zweiten Frau dahinter wahrnahm.

„Rosita!“, rief sie, rannte durch den Raum und warf sich der älteren Dame in die Arme.

„Dass dir das passieren musste, Darling“, murmelte die spanische Frau sorgenvoll. Sie hatte schon von der Diagnose gehört und wandte sich jetzt an Jaime. Auch Beth drehte sich um und sah, wie der Arzt die Spanierin überrascht betrachtete.

„Señora Rubio?“, krächzte Jaime, als würde er seinen Augen nicht trauen.

„Ja“, gab Rosita zurück, ließ Beth los und machte einige Schritte auf Jaime zu, während sie ihn belustigt anschaute. „Ich habe den Namen des Inhabers dieser Klinik erst vor wenigen Minuten erfahren“, erklärte sie offen.

Jaime machte eine kurze, höfliche Verbeugung und reichte Rosita die Hand.

Während die beiden sich förmlich begrüßten, fragte Beth sich, warum Jaime so merkwürdig auf Rositas Anwesenheit reagiert hatte. Als Witwe eines der berühmtesten spanischen Maler war Rosita natürlich eine allseits bekannt Frau. Und die meisten hier wussten auch, dass ihr Mann, Miguel Rubio, bei einem tragischen Flugzeugunglück ums Leben gekommen war. Auch ihre zwanzigjährige Tochter Manolita, das einzige Kind, das sie hatten, war bei dem Unfall ums Leben gekommen. Jaime wusste, dass ihre eigenen Eltern tot waren, fiel Beth auf einmal wieder ein. Sie stieß einen heftigen Seufzer aus, als ihr bewusst wurde, wen Jaime als Großmutter ihres Sohnes erwartet hatte.

„Ist alles in Ordnung, Beth?“, fragte Rosita und lief zu ihr hinüber.

Sie nickte mit dem Kopf, doch war es ihr unmöglich, auch nur ein Wort auszusprechen, da ihr die Tränen über die Wangen rollten.

„Ich fürchte, meine Anwesenheit macht die Sache nicht gerade einfacher für Beth“, erklärte Jaime mit großer Offenheit. „Aber seien Sie sicher, Señora, dass der kleine Junge die bestmögliche Pflege erhält.“

„Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran“, gab Rosita zurück und warf Beth einen ängstlichen Blick aus den Augenwinkeln zu. „Ich habe gehört, dass sich die Diagnose auf Blinddarmentzündung bestätigt hat.“

„So ist es“, stimmte Jaime zu. „Vielleicht darf ich kurz wiederholen, was ich schon Beth erklärt habe.“

Als er geendet hatte, war es Beth endlich gelungen, den Tränenfluss unter Kontrolle zu bringen, doch war sie immer noch zutiefst verwirrt.

„Es tut mir so leid“, weinte sie in das Taschentuch, das Rosita ihr hingehalten hatte.

„Wieso denn das?“ Der Spanierin schien gar nicht zu gefallen, was sie da hörte. Entschieden ging sie zu Beth. „Weinen hat noch niemandem geschadet.“

„Wie wäre es mit einem starken Kaffee?“ Jaime hatte schon das Tablett aufgenommen und ging zu den beiden Frauen hinüber.

Als er Rosita eine Tasse reichte und dabei leicht lächelte, verstand diese mit einem Schlag, warum es Beth all die Jahre über nicht gelungen war, diesen Mann zu vergessen. Die Entdeckung, dass es gerade Jaime Caballeros war, dem das Krankenhaus gehörte, hatte sie erschreckt. Nachdem sie sich jedoch miteinander unterhalten hatten, fühlte sie sich wesentlich ruhiger, auch wenn sie selbst nicht recht verstand, welche Wirkung er auf sie ausübte.

Das meiste, was sie über Jaime gehört hatte, waren Gerüchte gewesen, aber da gab es auch einige harte Tatsachen. So wusste sie zum Beispiel, dass er aus einer adeligen Familie stammte. Doch selbst wenn man diesen Hintergrund nicht kannte, deutete seine ruhige, beherrschte und manchmal arrogante Art darauf hin. Obwohl Rosita niemals mit Beth darüber gesprochen hatte, vermutete sie doch, dass der Unterschied in ihrer sozialen Stellung, den das junge englische Mädchen niemals wahrhaben wollte, eine wichtige Rolle bei der brutalen Trennung gespielt hatte.

Und dann gab es da natürlich noch die zahlreichen Geschichten über Herzen, die er gebrochen hatte. Auch darüber hatte Rosita niemals mit Beth zu sprechen gewagt … Als er sie jetzt so anlächelte, fiel es Rosita wie Schuppen von den Augen. Dieses außerordentlich angenehme Gesicht verwandelte sich, und dahinter sah sie nur noch reine Unschuld. Sofort musste sie an Jacey denken.

„Señora, wenn es noch Fragen gibt, die Sie zu stellen wünschen“, sagte er, da er ganz offensichtlich ihren intensiven Blick falsch verstanden hatte, „dann zögern Sie bitte nicht.“

„Mir fällt im Moment nichts mehr ein“, gab sie zurück. Sie war sich ihrer Gefühle dem Mann gegenüber, der das Leben des Mädchens, das sie wie eine eigene Tochter liebte, beinahe zerstört hatte, nicht klar. Rosita warf Beth einen Blick zu und erkannte schmerzhaft, wie mitgenommen sie aussah.

„Wir sind sicher, dass der Junge in besten Händen ist“, erklärte sie aufmunternd.

„Natürlich“, stimmte Beth zu. Im Vergleich zu Jaceys Gesundheit traten alle anderen Überlegungen hintenan.

„Ich werde mit dem Ärzteteam sprechen, das sich um den Jungen kümmert. Und morgen früh werde ich dann noch einmal persönlich nach ihm schauen“, sagte Jaime. „Wahrscheinlich möchtet ihr beiden einen Augenblick miteinander allein sein, und ich muss mich um einen anderen Patienten kümmern.“

Er machte eine kurze, knappe Verbeugung.

„In ungefähr einer halben Stunde bin ich zurück, aber wenn es etwas Besonderes gibt, könnt ihr mich jederzeit per Telefon erreichen.“

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ergriff Rosita Beth bei der Hand.

„Darling, ich kann mir kaum vorstellen, was es für dich bedeuten muss, wieder mit diesem Mann zu tun zu haben. Und das unter diesen Umständen!“, bemerkte sie traurig. „Aber wir sollten vor allem an den Jungen denken und uns fragen, was wir für ihn tun können.“

„Jacey?“, murmelte Beth schwach. „Mein armes Kind. Er hat versucht, ganz tapfer zu bleiben …“

Rosita setzte sich auf die Lehne des Sessels und umarmte Beth, da diese wieder in Tränen ausbrach.

„Darling, es wird alles in Ordnung kommen“, sagte sie sanft. „Das weißt du doch, oder?“

Beth nickte mit dem Kopf und versuchte, die Selbstkontrolle wiederzugewinnen.

„Das ist das Einzige, dessen ich wirklich sicher bin. Aber das ist auch alles“, fügte sie hoffnungslos hinzu. „Rosita, vom ersten Augenblick an, als Jaime durch diese Tür gekommen ist, habe ich nicht mehr klar denken können … Es war so ein Schreck … Ich habe selbst nicht mehr begriffen, was ich eigentlich noch gesagt habe.“

„Beth, hör mir zu“, schnitt Rosita ihr das Wort ab. „Natürlich war es ein Schock! Gestern war deine Welt noch in Ordnung, und heute rast du in einem Krankenwagen hierher, da dein Junge krank ist, und dann triffst du auch noch auf seinen Vater. Dabei kann man ja wohl den Kopf verlieren!“

„Du hast recht“, gab Beth zu. „Ich brauche nur ein wenig Zeit, um mich an die neue Situation zu gewöhnen.“

„Ich fürchte, gerade Zeit ist etwas, das du nicht hast“, betonte Rosita traurig, während ihr Gesicht tiefstes Mitgefühl zeigte. „So wie Jaime den Jungen ‚dein kleiner Sohn‘ genannt hat, habe ich nur zu deutlich verstanden, dass du ihm die Wahrheit noch nicht gesagt hast.“

„Und das habe ich auch nicht vor!“, stieß Beth aus, da sie das Gefühl hatte, dass die ganze Welt um sie herum zusammenbrach.

„Darling, meinst du das wirklich ernst?“ Rosita sah erschrocken aus, als sie aufstand. „Das Alter des Jungen sagt doch schon genug …“

„Nein! Er weiß, wie alt Jacey ist“, unterbrach Beth sie. „Rosita verstehst du denn nicht? Er hat eine andere Frau und vermutlich auch Kinder … Da wird Jaime niemals die Wahrheit wissen wollen!“

„Darling, das ist ja ein wahrer Albtraum“, grummelte Rosita und sank in die Kissen zurück.

„All diese Jahre über haben wir kaum über Jaime gesprochen, und vielleicht war das keine gute Idee … Beth, da gibt es keine andere Frau und auch keine Kinder.“

Beth schaute Rosita ungläubig an.

„Ich hätte es dir schon vor über vier Jahren sagen sollen, dass er nicht verheiratet ist“, fuhr die ältere Frau traurig fort. „Aber ich hatte das Gefühl, dass sein Name ein Tabu war, und wollte nicht daran rühren.“

Beth versuchte zu verstehen, was sie da hörte. „Vor über vier Jahren? Vielleicht hat er in der Zwischenzeit geheiratet.“

Rosita schüttelte langsam den Kopf.

„Seine Verlobte ist einige Monate vor der Hochzeit gestorben“, sagte sie mit leiser Stimme.

„Aber Rosita … Das ist ja schrecklich!“ Beth erzitterte. „Doch das ist immerhin vier Jahre her … Ein Mann wie Jaime hat sicherlich keine Schwierigkeiten, eine andere Frau zu finden.“

Rosita rückte unruhig in dem Sessel hin und her. „Natürlich hatte er andere Frauen. All die gebrochenen Herzen, die er hinter sich gelassen hat …“

„Woher weißt du denn das alles?“, brach Beth heraus. Es war nicht so sehr, was sie hörte, sondern von wem sie es hörte, was sie durcheinanderbrachte.

„Du weißt genau, was ich von Gerede halte“, erklärte die spanische Frau. „Aber eine Zeit lang hat jeder hier auf der Insel darüber gesprochen, und ich war froh, dass du so viele Aufträge im Ausland hattest und nicht alles mit anhören musstest. Sogar in der Zeitung haben sie darüber geschrieben.“ Rosita brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich kenne nicht die Einzelheiten, wie seine Verlobte gestorben ist, aber für Jaime war es sicherlich ein fürchterlicher Schlag … Und seitdem benimmt er sich Frauen gegenüber sehr hart.“

„Möglicherweise braucht er einfach nur eine Frau, die ihren Platz einnehmen kann“, sagte Beth verstört.

Rosita zögerte. War es wirklich der richtige Zeitpunkt, über diese Fragen zu diskutieren?

„Vielleicht“, erklärte sie schließlich. „Aber Tatsache ist, dass Jaime nicht geheiratet hat.“

„Ach Rosita, so oft habe ich mich gefragt, ob Jacey wohl Halbschwestern oder Brüder habe. Allein die Idee war mir schon zuwider.“

„Liebes“, beschwichtigte Rosita. „Wichtig ist jetzt nur, dass Jaime einen Sohn hat, und du kannst ihm die Wahrheit nicht vorenthalten.“

„Er hat kein Recht darauf, es zu wissen“, explodierte Beth bitter. „Das hat er schon klargemacht, bevor Jacey geboren wurde.“

„Nein, Beth, er hatte niemals eine Wahl, wenn es um seinen Sohn ging. Und Jacey ist schließlich von ihm“, beharrte Rosita auf ihrem Standpunkt. „Er hat ein Recht darauf, das zu wissen.“

Beth schüttelte entschieden den Kopf.

„Das werde ich niemals zulassen, Rosita.“

„Schon gut“, besänftigte die Spanierin. „Aber …“ Sie brach ab und runzelte die Stirn. „Bilde ich es mir nur ein, oder hast du gesagt, dass er Jaceys Alter kenne?“

Beth nickte mit dem Kopf. Niemals hätte sie es übers Herz gebracht, mit jemandem über den letzten Abend, den sie mit Jaime verbracht hatte, zu sprechen. Zu tief steckte der Schmerz. Der einzige Mensch, der wusste, was wirklich passiert war, war Cisco Suarez, ein junger Student, der als Barmann arbeitete und der Beth einige Stunden lang in der höchsten Not zugehört hatte. Jaime war natürlich davon ausgegangen, dass die sogenannte Großmutter Ciscos Mutter war. Deshalb war er auch so überrascht gewesen, als Rosita das Büro betreten hatte.

„Aber er wird doch nicht glauben, dass …“

„Doch, Rosita, genau das“, gab Beth schwach zurück. „Aber um fair zu sein, muss ich zugeben, dass ich ihn auch auf eine falsche Spur gelockt habe. Es macht mich ganz krank, wenn ich jetzt daran zurückdenke, aber damals ging es mir so schlecht … Ich wollte ihm vorspielen, dass es einen anderen Mann in meinem Leben gab, um ihn zu verletzen. Das hat ihn zwar in seinem Stolz getroffen, aber gleichzeitig war er sehr zufrieden, diese Lügen zu hören.“

„Du warst jung und verletzlich“, flüsterte Rosita traurig, und Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Aber schau mich doch heute an!“ Beth konnte es einfach nicht ertragen, die Spanierin so aufgebracht zu sehen.

„Das tue ich ja“, antwortete Rosita mit unverhülltem Stolz. „Ich habe den Eindruck, dass du manchmal selbst nicht weißt, was du eigentlich geschafft hast. Du bist doch nur durch Zufall in die Modewelt geraten, und dafür hast du es wirklich nicht schlecht gemacht. Heute bist du ein internationaler Star, du … Du brauchst gar nicht die Augen zu verdrehen wie ein kleines Mädchen“, machte Rosita sich über Beth lustig. „Was glaubst du, wie viele fünfundzwanzigjährige Frauen es gibt, die es durch eigene Arbeit zu einem gewissen Lebensstandard gebracht haben?“

„Ich bin einfach gut bezahlt worden“, lachte Beth. „Und ich habe mein Geld geschickt angelegt. Das war einfach Glück!“

„Nein, du hast es dir wirklich verdient“, gab Rosita zurück. „Darling, es tut mir schrecklich leid, aber ich muss noch heute Abend nach Pollensa zurück. Morgen versuche ich, eine Vertretung für die Galerie zu finden, und dann …“

„Juanita ist doch in den Ferien, da musst du selbst morgens in der Galerie arbeiten“, schnitt Beth ihr das Wort ab. „Es bleibt dabei, was wir entschieden haben. Wenn es geht, kommst du nachmittags hierher.“

„Aber …“

„Kein aber“, erklärte Beth lächelnd. „Es wäre natürlich etwas anderes, wenn Jacey ernsthaft krank wäre. Aber es handelt sich ja nur um eine Routineoperation. Und für mich brauchst du deine Pläne nicht zu ändern.“

„Das würde ich aber sofort tun!“, rief Rosita aus und warf Beth einen schnellen Blick zu. „Du weißt, was du zu tun hast … Aber ich bin nicht sicher, ob du dich immer daran halten wirst.“

„Mach dir keine Sorgen“, entgegnete Beth. Ihr Herz zog sich zusammen, als sie daran dachte, wie es wäre, Jaime die Wahrheit zu erzählen. „Versprochen, Rosita!“

„Dann gibt es nichts mehr dazu zu sagen“, bemerkte die ältere Dame ruhig. „Jetzt geht es vor allem darum, dass …“ Sie brach ab, als die Tür geöffnet wurde. Jaime trat ein.

„Ich habe mit dem Ärzteteam gesprochen“, kündigte er an. „Jacey schläft schon.“ Er schaute von einer Frau zur anderen. „Ich habe gehört, dass die Kinderabteilung des Krankenhauses im Norden zurzeit geschlossen ist. Das hätte nur noch zusätzliche Probleme bereitet. Was werdet ihr tun, solange ihr hier seid?“

„Ich fahre nach Pollensa zurück und komme, soweit möglich, am Nachmittag wieder her. Beth möchte natürlich hierbleiben“, erklärte Rosita. „Ich wollte gerade vorschlagen, ein Hotel für sie zu suchen.“

„Es ist wirklich nicht nötig, dass Sie die ganze Insel abfahren, um ein Zimmer zu finden“, betonte Jaime. „Mein Haus steht Beth und Ihnen jederzeit zur Verfügung.“

„Ich danke für das freundliche Angebot“, antwortete Rosita ruhig, „aber ich muss mich um meine Galerie kümmern.“

„Das ist verständlich … Aber wie sieht es mit Beth aus?“

Er warf ihr einen Blick zu, um zu sehen, wie sie reagierte. Doch schien sie gar nicht gehört zu haben, was er gesagt hatte. Jaime runzelte die Stirn und wandte sich wieder an Rosita.

„Es gibt keine festen Besuchszeiten hier“, fuhr er fort. „Deshalb wäre es viel einfacher, in meinem Haus zu wohnen. Wir haben auch eine direkte Telefonleitung, die Beth jederzeit benutzen könnte.“

Rosita legte Beth eine Hand auf den Unterarm, da diese in ihren eigenen Gedanken gefangen zu sein schien.

„Es ist schon ziemlich spät, um jetzt noch ein Zimmer zu finden“, murmelte sie zögernd. „Und es wäre zu anstrengend. Ihr Angebot ist sehr freundlich.“

„Ich frage mich, ob sie genug gegessen hat“, sagte Jaime und warf Beth einen ärztlich prüfenden Blick zu.

Rosita schaute auf die Uhr und stand auf. „Beth hat den ganzen Tag fast nichts zu sich genommen.“

Beth schüttelte den Kopf und stand auf. Natürlich hatte sie genau begriffen, was um sie herum vorgegangen war, doch konnte sie einfach keinen klaren Gedanken fassen, da sie immer wieder an ihren Sohn denken musste.

„Es tut mir leid, aber ich war Kilometer entfernt.“ Sie stand auf und zwang sich zu einem leichten Lächeln, da Rosita sie sorgenvoll betrachtete.

„Ich fühle mich ganz schwach“, gab sie zu. „Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich so großen Hunger habe.“ Sie zögerte einen Augenblick. „Erst einmal möchte ich zu Jacey, um ihm gute Nacht zu sagen.“

„Solange werde ich mich mit Rosita unter vier Augen unterhalten“, sagte Jaime. „Wir treffen uns dann in der Eingangshalle.“

Als Beth zu der Kinderabteilung ging, fragte sie sich, was Jaime wohl mit Rosita zu besprechen hatte. Erst als sie neben dem Bettchen ihres Sohnes stand, empfand sie Ruhe und Frieden. Am liebsten hätte sie den kleinen Jungen in die Arme genommen. Sie lehnte sich über ihn und hauchte ihm einen leichten Kuss auf die Stirn. Als sie bemerkt hatte, dass sie ein Kind von Jaime unter dem Herzen trug, hatte sie trotz aller Leiden beschlossen, das wachsende Leben zu schützen.

Wie sie jetzt den Jungen in dem schwachen Licht der Nachttischlampe betrachtete, hatte sie das Gefühl, wieder die Gesichtszüge vor sich zu sehen, die sie so sehr gehasst wie zuvor geliebt hatte. Zu Beginn war es ihr immer wieder merkwürdig erschienen, wie sehr Jacey seinem Vater ähnelte. Und manchmal zog es ihr das Herz zusammen, wenn er sie mit einem Ausdruck anschaute, den sie nur zu gut kannte. Zum Glück waren seine Augen noch weniger wirkungsvoll, doch schon ließen sie Beth an andere Zeiten zurückdenken. Im Laufe der Jahre hatte Jacey einen eigenen Charakter entwickelt, und diese seltsamen Augenblicke waren seltener geworden. Dazu zeigte er eine Art von weicher Schönheit, die wenig mit dem harten und herrischen Aussehen seines Vaters zu tun hatte.

Immer wieder hatte Beth darüber nachgedacht, was sie wohl antworten sollte, wenn er nach seinem Vater fragen würde. Doch gleichzeitig wusste sie, dass ihr die Antwort erst in dem Augenblick einfallen würde, wenn er die Frage stellte. Kurz vor seinem letzten Geburtstag hatte er sie dann aber doch überrascht, als er danach gefragt hatte, wann er endlich einen Bruder oder eine Schwester bekommen würde. Beth spürte einen Schock. Sie hatte ihren Sohn lange liebevoll angeschaut, doch gezögert, was sie antworten sollte.

Beth schüttelte den Kopf, während sie ihren schlafenden Sohn betrachtete. Morgen würde sein Vater ihn so anschauen, für heute Abend aber hatte sie ihn noch ganz für sich allein.

2. KAPITEL

Als Rosita abfuhr, wäre Beth ihr am liebsten nachgelaufen, um sich an ihr festzuhalten.

„Gehen wir zu meinem Auto“, sagte Jaime. „Und dann werden wir sehen, ob wir nicht etwas für dich zu essen finden.“

Beth drehte sich um und sah, wie er ihre Reisetasche aufhob, die sie aus Rositas Wagen genommen hatte. Wieder fragte sie sich, was seiner Stimme einen so unnachahmlichen Klang gab. Auch nach all den Jahren erkannte sie sie sofort wieder.

„Beth?“

„Ich habe keinen Hunger“, stieß sie hervor und folgte ihm über den dunklen Parkplatz.

„Vorhin hast du genau das Gegenteil behauptet“, erklärte er und musterte sie von Kopf bis Fuß.

„Das habe ich nur gemacht, um Rosita einen Gefallen zu tun“, gab Beth zurück und zuckte mit den Schultern, während sie sich dem grünen Auto näherten. „Sie macht sich viele Gedanken darum, dass ich nicht regelmäßig esse.“

„Ganz offensichtlich sorgt sie gut für dich“, bemerkte er und öffnete die Beifahrertür. „Du kannst dich glücklich schätzen.“

„Ja, das kann man wohl sagen“, stimmte Beth zu, drückte sich tiefer in die Lederpolster und schloss die Augen. „Ich wüsste nicht, was ich ohne sie tun sollte“, fügte sie ohne Bitterkeit hinzu. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie Rosita ein Versprechen gegeben hatte. Es war ihre Pflicht, Jaime von seinem Sohn zu erzählen. Aber wie sollte sie das anstellen? Es war schon beinahe unmöglich, sich die richtigen Worte in Gedanken zurechtzulegen, wie sollte sie sie dann erst aussprechen?

„Es gibt eine kleine Bar hier in der Nähe, wo man Kleinigkeiten, die berühmten Tapas, essen kann“, sagte er, als sie vom Parkplatz herunterfuhren. „Vielleicht gefällt dir das besser als ein richtiges Restaurant.“

„Ich habe dir schon gesagt, dass ich keinen Hunger habe.“

„Aber ich“, gab er spitz zurück. „Und Señora Rubio würde mir vorwerfen, dass ich mich nicht ordentlich um dich kümmere.“

Beth legte sich in Gedanken verschiedene Sätze zurecht, wie sie ihm die Neuigkeit ankündigen könnte, doch kam sie zu keinem Ergebnis. So schwiegen sie, als sie bei dem Restaurant ankamen und Jaime Tapas und Kaffee bestellte. Während des Essens wurde das Schweigen immer gespannter. Beth dachte daran, wie sie früher zusammen gespeist hatten. Damals hatte eine ganz andere Stimmung in der Luft gelegen, da sie sich beide unwiderstehlich zueinander hingezogen gefühlt hatten. Sie versuchte, diese Bilder zu vertreiben, und begann zu essen, während sie unendliche Traurigkeit in sich fühlte.

„Es ist sehr schön, dass du doch etwas zu dir nimmst“, bemerkte Jaime kühl und musterte sie. „Ich habe schon von Frauen gehört, die als Mannequin arbeiten und die man zwingen muss, ein wenig Salat zu essen, da sie Angst hatten, auch nur ein Gramm zuzunehmen.“

„Tatsächlich?“ Beth fühlte, wie Ärger in ihr aufstieg. Sowie er gesprochen hatte, klang es ja beinahe so, als sei sie ein Straßenmädchen. „Zum Glück gehöre ich zu den Menschen, die essen können, was sie wollen, ohne zuzunehmen. Aber im Moment gehen mir so viele Gedanken durch den Kopf, dass ich keinen rechten Appetit habe.“

Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

„Ich habe dich verstimmt“, murmelte er. „Das war wirklich nicht meine Absicht.“ Doch weder das Lächeln noch die Entschuldigung ließen seinen Blick sanfter erscheinen. „Du hast eine fantastische Karriere gemacht, Beth. Ich glaube, es gibt kein Land auf der ganzen Welt, wo noch kein Foto von dir erschienen ist.“

Jetzt klingt es ja fast so, als sei Mode eine ansteckende Krankheit, dachte Beth ärgerlich und nahm schnell ein paar Tapas, um nicht unüberlegt zu antworten.

„Wie sieht es aus mit deinen Plänen, Spanisch zu lernen und den Armen in Südamerika zu helfen?“, fragte er.

„Ich habe in der Zwischenzeit ein Kind bekommen“, erklärte sie unterkühlt. Es gefiel ihr ganz und gar nicht, dass er sie wieder an die früheren Träume erinnerte. Jacey war erst wenige Monate alt gewesen, als ihr klar geworden war, wie viel Geld man als Mannequin verdienen konnte. In Rosita hatte sie eine wahre Freundin gefunden und bildete mit Jacey eine kleine Familie. Dazu war sie endlich finanziell unabhängig. Doch im Hintergrund gab es noch etwas anderes: Die Furcht, Jaime in die Arme zu laufen, obwohl sie wusste, dass er in Madrid arbeitete.

Jaime lehnte sich auf einmal zurück und strich sich mit den Händen übers Gesicht.

„Es tut mir leid, Beth“, sagte er leise. „Dein Tag war sicher sehr anstrengend, und ich bin dir keine Hilfe dabei.“ Er wollte ihr eine Hand auf den Unterarm legen, doch zögerte er auf einmal. Ohne sie zu berühren, brach er die Bewegung ab. Die helle Haut seiner langen, eleganten Finger bildete einen wundersamen Kontrast mit dem dunklen Holz des Tisches.

Beth konnte den Blick kaum abwenden. Wieder musste sie daran denken, wie es war, wenn er jeden Zentimeter ihres Körpers liebkoste.

Sie atmete tief durch, da sie spürte, wie die Lust auf ein Abenteuer sie überkam. Ein heißer Schauer lief ihr über den Rücken.

„Wie willst du denn wissen, wie ich den heutigen Tag erlebt habe?“, antwortete sie scharf, da sie genau erkannte, dass er bemerkt hatte, wie das sexuelle Verlangen in ihr zunahm.

„Da ich keine eigenen Kinder habe, kann ich mir natürlich nicht vorstellen, wie es ist …“ Er brach ab und rief ungeduldig aus: „Verdammt, Beth! Machen wir uns doch nichts vor. Heute oder in zehn Jahren, wir wissen beide, dass das Wiedersehen nicht einfach ist.“

„Ich habe keine Lust, alte Geschichten wieder aufzuwärmen“, gab Beth kühl zurück.

„Das geht mir genauso. Deshalb hoffe ich auch, dass es dich nicht verärgert, wenn ich dich frage, ob du verheiratet bist.“

„Nein, ich bin es nicht“, stieß sie hastig aus, da die Frage sie verwirrte.

„Ich frage nur, da ich gehört habe, dass Francisco Suarez hier wieder in den Ferien ist“, bemerkte er mit tonloser Stimme. „Aber vielleicht weißt du es schon.“

Beth’ Finger zitterten so sehr, dass sie die Kaffeetasse mit beiden Händen halten musste, um einen Schluck zu trinken. So gab sie sich zumindest den Anschein, die Situation unter Kontrolle zu haben. Unglaublich! Jaime hielt Cisco tatsächlich für Jaceys Vater. Gerechterweise musste Beth sich eingestehen, dass Jaime stets Verhütungsmittel benutzt hatte. Und doch hatten sie gemeinsam einen Sohn gezeugt. So war das Leben, aber Jaime wollte trotz aller medizinischer Erfahrung einfach nicht der Wahrheit ins Auge sehen. Lag es daran, dass er niemals akzeptieren würde, einen Sohn mit Beth zu haben?

„Es tut mir leid, dass ich das Thema überhaupt angeschnitten habe“, erklärte er scharf, und in seinen Augen lag ein dunkles Glitzern. „Vergiss es ganz einfach.“

„Du hast es aber trotzdem erwähnt“, entgegnete Beth spitz. Ein dicker Kloß drückte ihr die Kehle zu.

Einen Augenblick schien es so, als wollte Jaime sie doch berühren. Dann aber schüttelte er kurz und heftig den Kopf, nahm die Kaffeetasse und trank einen Schluck.

„Bitte versteh mich richtig, ich möchte dir keinen Schmerz zufügen … Du musst mir glauben.“

Beth schaute ihn an. Sein Gesicht war ebenmäßig und schön und hatte auf einmal einen ernsten, ehrlichen Ausdruck angenommen. Plötzlich überkam sie die unwiderstehliche Lust, in lautes Lachen auszubrechen. Es war ein langer, harter Tag gewesen, doch jetzt erschien ihr die ganze Situation einfach zu komisch. Ausgerechnet Jaime wollte ihr schmerzhafte Erinnerungen ersparen! Sie hätte ihm am liebsten mitgeteilt, was ihr an Gedanken durch den Kopf schoss, doch gelang es ihr nicht mehr, das Lachen zu unterdrücken.

Jaime stand auf, warf einige Geldscheine auf den Tisch und sagte: „Beth, gehen wir.“ Da es so schien, als habe sie ihn gar nicht gehört, nahm er sie beim Arm und führte sie hinaus.

„Hör auf, bitte!“

Doch je mehr sie versuchte, sich zu beherrschen, desto mehr musste sie lachen. Sein ernsthafter Gesichtsausdruck schien das Lustigste zu sein, was sie je im Leben gesehen hatte.

Dann aber seufzte er leicht auf, und das brachte Beth auf den Boden der Tatsachen zurück. Einen Augenblick lang sah sie einen schmerzhaften Ausdruck auf seinem Gesicht, den sie niemals zuvor bemerkt hatte. Wieder seufzte er:

„Beth, ich bitte dich, hör auf zu lachen.“

Er nahm sie leicht in die Arme, und einige Sekunden lang legte sie den Kopf an seine Schulter. Schon war die Erinnerung an den unendlichen Frieden, den sie in seinen Umarmungen gefunden hatte, wieder da.

Dann schob er sie leicht von sich zurück, und sie schauten sich in die Augen. Doch was sie sah, brach den Zauber. Der Schmerz war dem kühlen Blick eines Arztes, der einen schwierigen Patienten betrachtete, gewichen.

Sie machte sich aus dem Griff frei und ging zu dem Auto hinüber. „Ich kann dir unmöglich erklären, was so lustig war, du würdest es doch nicht verstehen.“

Jaime setzte sich hinter das Lenkrad und ließ den Motor an. „Beth, was auch immer du denken magst, ich wollte dich wirklich nicht verärgern.“

„Schon gut, Jaime“, antwortete sie leichthin. „Immerhin konnte ich herzhaft lachen.“

Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu, doch sagte er nichts mehr, bis sie die Auffahrt eines eleganten Anwesens in einem der vornehmsten Viertel der Stadt hinauffuhren.

„Ich habe vorhin angerufen, damit bei deiner Ankunft alles vorbereitet ist.“

„Vielen Dank“, murmelte Beth.

Sie stieg aus dem Wagen und hatte das Gefühl, dass ihr die Knie weich wurden. Jaime holte währenddessen die Reisetasche aus dem Kofferraum. Überall blühten Blumen, und die Blüten der Geranien gaben der hohen Fassade ein fröhliches Aussehen. Was um alles in der Welt mache ich nur hier? fragte Beth sich. Sie folgte Jaime zu dem Haus und schaute zu, wie er das Eisengitter aufschloss, um die Eingangstür zu öffnen.

Die Halle war beeindruckend. Das leicht getönte Weiß der Wände stand im Gegensatz zu dem dunklen Holz des Bodens. Eine weit geschwungene Treppe führte in den ersten Stock hinauf.

„Ich zeige dir erst dein Zimmer“, sagte Jaime, während er zu der Treppe ging.

Beth folgte ihm hinauf in den ersten Stock, wo eine Galerie um die Eingangshalle herumführte. Und plötzlich wurde ihr bewusst, warum es Rosita so wichtig gewesen war, dass sie hier bei Jaime und nicht in einem Hotel übernachtete. Natürlich wollte sie sichergehen, dass er nicht zu weit weg war, wenn sie sich endlich entscheiden würde, ihm die Wahrheit einzugestehen. Ich werde nicht mehr lange Zeit kneifen können, sagte Beth sich, als Jaime eine der fein geschnitzten Holztüren öffnete.

„Es gibt ein Badezimmer gleich nebenan“, bemerkte er und stellte die Reisetasche in dem Zimmer ab. „Es müsste alles bereitliegen, aber wenn etwas fehlt, lass es mich gleich wissen.“ Mitgefühl lag in seinem Blick, als er sie anschaute. „Der heutige Tag muss sehr anstrengend für dich gewesen sein. Wie wäre es mit einem Bad oder einer Dusche zur Entspannung? Danach kommst du vielleicht nach unten, um noch eine heiße Schokolade zu trinken. Ich schaue mir solange den Bericht über deinen Sohn an, falls du noch Fragen hast.“

„Vielen Dank für alles“, sagte Beth. Sie hatte beschlossen, ihm noch heute Abend die Wahrheit einzugestehen. Schon machte sie einige Schritte auf die Tür zu, doch dann zögerte sie und drehte sich zu ihm: „Danke, dass ich bleiben kann.“

„Beth, du bist hier immer willkommen“, sagte er. „Und ich meine das wirklich so.“

Bevor sie noch etwas antworten konnte, hatte er die Tür geschlossen. Beth war allein. Das Zimmer war groß und freundlich, die Möbel aus Rosenholz von schlichter Eleganz. Die Wände waren auch hier weiß, auf dem Fußboden lagen dicke Teppiche. Sie schloss wenige Sekunden lang die Augen. Je schneller sie duschen würde, desto rascher wäre sie bei Jaime, um ihm die Wahrheit über seinen Sohn zu eröffnen. Entschlossen hob sie die Reisetasche auf und legte sie auf einen Beistelltisch.

Wenige Augenblicke nachdem sie das Badezimmer verlassen hatte, klopfte es an der Tür. Beth zog sich rasch ein Kleid über und öffnete.

Jaime hielt ein Tablett in der Hand.

„Ich fürchte, es gibt ein Problem in der Klinik“, sagte er. „Ich muss sofort dorthin fahren. Deshalb bringe ich dir die heiße Schokolade vorbei.“

„Das ist sehr nett von dir“, sagte Beth und nahm das Tablett.

„Fühle dich ganz wie zu Hause“, sagte Jaime höflich und distanziert. „Und wenn du etwas brauchst, bediene dich. Ich hätte dir gern alles selbst gezeigt, aber ich habe leider keine Zeit.“

Wieder schloss er die Tür, bevor Beth antworten konnte.

Sie ging zum Bett hinüber, stellte das Tablett auf den Nachttisch und setzte sich. Es war, als hätte sie einen Schlag in den Magen erhalten. Zunächst war sie unendlich erleichtert gewesen, doch jetzt wurde ihr klar, wie dumm diese Reaktion gewesen war. Allein schon der Gedanke an die kommende Nacht, in der sie vor lauter Fragen kaum Schlaf finden würde, ließ sie erschauern. Doch vielleicht bin ich gar nicht die Einzige, die vor der Wahrheit wegläuft, dachte sie, als sie sich ein Nachthemd anzog und das Deckenlicht löschte.

Bitter zog sie die Lippen zusammen, als sie sich zwischen die kühlen Leinenlaken schob. Es schien Jaime schon den ganzen Abend über nicht leichtgefallen zu sein, ihre Anwesenheit zu ertragen. Vielleicht hatte er daher entschieden, dass es besser sei, sich erst einmal nicht mehr zu sehen.

Sie nahm die Schale und trank einen Schluck heiße Schokolade. Die ganzen Jahre über hatte sie einen Schutzwall aufgebaut, doch jetzt brach er zusammen, und die Erinnerung daran, wie sehr sie ihn einst geliebt hatte, war nicht mehr zu verdrängen. Sein Verrat damals hatte sie fast zerstört, und sie hatte lange gebraucht, um ein eigenes Leben zu gestalten.

Beth schloss die Augen, doch ließen sich die Bilder nicht vertreiben. In den ersten Wochen, nachdem er sie verlassen hatte, hatte sie immer und immer wieder an jeden einzelnen Augenblick ihrer Beziehung zurückgedacht, und es war ihr unmöglich gewesen, die Liebe, die sie für ihn bis zum bitteren Ende empfunden hatte, zu unterdrücken. Dann aber hatte sie langsam die Kraft gefunden, ihn so zu sehen, wie sie ihn am Schluss erlebt hatte. Sein sonst so angenehm anzuschauendes Gesicht hatte sich in eine kalte, abweisende Maske verwandelt.

Sie war erst neunzehn gewesen, und er hatte ihr keine Chance gelassen. Vielleicht aber war sie auch verletzlicher gewesen als andere Frauen, da sie sich so lange nach liebevoller Zuneigung gesehnt hatte. Einen Monat nach ihrem elften Geburtstag waren ihre geliebten Eltern bei einem schrecklichen Autounfall aus dem Leben gerissen worden. Zehn Monate später war ihr Großvater, bei dem sie lebte und dem es langsam gelungen war, in ihr wieder Lebenslust zu wecken, einem Herzinfarkt erlegen. Von da an war ihr Leben traurig und freudlos gewesen, da sich die Witwe ihres Großvaters mehr schlecht als recht um sie gekümmert hatte. Die Großeltern hatten erst spät geheiratet, und Agnes Miller, die wesentlich jünger war, hatte ihre Antipathie dem Kind gegenüber niemals verheimlicht. Aus irgendeinem irrationalen Grund machte sie ihre Enkelin für den Tod ihres Mannes verantwortlich.

Dadurch, dass Agnes auch zu anderen Menschen stets unfreundlich war, hatte Beth niemals Freunde gehabt und die ganze Schulzeit über allein gelebt. Als Beth vierzehn war, hatte sie erfahren, dass die Schule ein Projekt unterstützte, bei dem armen Menschen in der Dritten Welt geholfen wurde. Sofort war ihr klar gewesen, was sie später einmal machen wollte. Sie würde Spanisch und Pädagogik studieren, um Kindern zu helfen, die noch weniger Glück im Leben hatten als sie selbst … Jahrelang verfolgte sie diesen Traum, der sie oftmals über die einsamen Tage ihrer Kindheit hinweggetröstet hatte.

Dann ging die Schulzeit zu Ende, und die Universität zeigte ein ganz neues Leben auf. Es gab ungeahnte Abenteuer und Entfaltungsmöglichkeiten. Eine Studentin, die Beth recht gut kannte, erzählte ihr, dass sie den ganzen Sommer in Spanien verbringen werde, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Sie hatte einen Schulfreund, dessen Eltern eine Villa in Mallorca besaßen. Beth hatte nicht versteckt, wie sehr sie die andere Studentin beneidete. Eines Tages hatte diese sie gefragt, ob sie nicht mitkommen wolle.

„Offen gestanden würdest du mir einen Gefallen tun“, versuchte sie, Beth zu überreden. „Die anderen fahren nur nach Spanien, um jeden Tag ein Fest zu feiern. Und deine spanische Aussprache ist ja auch nicht viel besser als meine, das wäre doch eine gute Gelegenheit, etwas dafür zu tun.“

Beth hatte jedes Wochenende und drei Nächte pro Woche in einem Restaurant gearbeitet, um das Geld für die Reise zu verdienen.

Arme Lily dachte Beth an damals zurück, und wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen. Die Freundinnen hatten in Spanien tatsächlich jede Nacht ein rauschendes Fest gefeiert, während Lily sich schlaflos im Bett wälzte. Eine Woche nach ihrer Ankunft auf der Insel hatte sie die Koffer gepackt und war nach England zurückgekehrt. Beth aber war geblieben, denn zu diesem Zeitpunkt war schon Jaime in ihr Leben getreten. Und niemals mehr wollte sie woanders sein als er.

Die Erinnerung daran war schmerzhaft, und Beth schluckte schwer, bevor sie die Nachttischlampe ausmachte. Es ist noch schlimmer als vorhin in der Bar, dachte sie traurig. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach diesem Mann. Sie spürte das gleiche heiße Verlangen wie damals, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte.

Beth drückte das Gesicht in die Kissen. Die schmerzhaften Erinnerungen wurden übermächtig. Niemals hatte sie sich ganz davon erholt, wie schon die Tatsache zeigte, dass sie keine Beziehung zu einem anderen Mann eingegangen war. Es war immer das Gleiche: Die Männer konnten noch so intelligent, ernsthaft und gut aussehend sein, wenn sie versuchten, Beth zu verführen, zog diese sich zurück und beendete die Beziehung. Als wollte sie alle Männer für die Sünden, die Jaime Caballeros begangen hatte, bestrafen.

3. KAPITEL

Sanft fiel helles Sonnenlicht durch die hohen Fenster und umspielte Beth’ Gesicht, sodass sie aufwachte. Sie lag noch einige Augenblicke regungslos unter der warmen Decke und schaute von einem Möbelstück zum anderen, während ihr Geist langsam die Fahrt vom Schlaf zum Wachzustand zurücklegte. Als diese Reise jedoch beendet war, bekam sie einen gehörigen Schrecken. Am liebsten hätte sie sich gleich wieder in den Schutz der Nacht zurückgezogen.

Sie machte sich Vorwürfe, so gefühlvoll zu reagieren, und sprang aus dem Bett, um barfuß ins Badezimmer zu gehen. Am Vortag hatte sie eine ganze Reihe von fürchterlichen Schocks erlitten, da war es kein Wunder, dass sie sich am Abend so theatralischen Gedanken hingegeben hatte. Das aber liegt jetzt hinter mir, sagte sie sich entschieden und stellte die Dusche an. Auch war es ganz überflüssig, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, mit welchen Worten sie Jaime die Wahrheit über seinen Sohn ankündigen wollte. Wenn die Situation da war, würde es ihr schon einfallen. Sie ließ das heiße Wasser über den Körper rauschen und entspannte sich ein wenig.

Dann ging sie ins Schlafzimmer und setzte sich vor den Spiegel, um sich zu frisieren. Die Sorgen und die unruhige Nacht hatten Spuren hinterlassen. Beth fühlte sich vollkommen übermüdet, und so sah sie auch aus. Bleich im Gesicht, dunkle Ringe unter den Augen. Doch jetzt kam es nicht auf solche Äußerlichkeiten an.

Sie kämmte das Haar und ließ es offen auf die Schultern fallen. Dann zog sie ein helles Kleid aus Baumwolle an, von dem sie wusste, dass Jaime es besonders gern mochte. Beth fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut, als sie das Zimmer verließ und die Treppe nach unten ging. Das Haus war sehr groß, und sie hatte nicht die geringste Vorstellung, wo sie sich eigentlich befand. Und dann würde sie wohl auch auf Jaimes Vater stoßen, obwohl dieser zumeist in Barcelona lebte … Jaceys Großvater. Erleichtert lächelte sie, als sie auf eine Hausangestellte traf, die ihr den Weg zum Speisezimmer zeigte.

„Beth“, sagt Jaime leise, als sie den Raum betrat. Mit formvollendeter Höflichkeit stand er auf und umkurvte den langen Holztisch. Dabei bewegte er sich mit einer Geschmeidigkeit, die Beth früher schon an ihm bewundert hatte. „Hast du gut geschlafen?“

„Ja, danke.“ Trotz allem, was sie sich vorgenommen hatte, unterlag sie wieder dem Eindruck, dass das nichts mit der Realität zu tun hatte. Sie schaute sich um, doch kam ihr alles hier unwirklich vor. Der Raum war lang gestreckt und wurde von dem dunklen Holztisch beherrscht, auf dem silbernes Besteck und wertvolles Porzellan gedeckt waren. Was sie hier erblickte, gab ihr einen Eindruck davon, in welcher Welt der Vater ihres Sohnes lebte. Und das hatte nichts mit den bescheidenen Verhältnissen zu tun, aus denen sie stammte.

„Am liebsten würde ich gleich ins Krankenhaus fahren, wenn du nichts dagegen hast.“

„Natürlich nicht“, sagte er immer noch stehend. „Aber zuerst solltest du frühstücken“, fügte er hinzu und zeigte auf den Platz zu seiner Linken.

Beth ging den Tisch entlang und setzte sich.

„Ich nehme nur einen Kaffee, danke.“

„Vielleicht möchtest du ein Ei oder …“

„Nein, es ist schon in Ordnung.“

„Bist du wirklich sicher?“ Jaime musterte sie aufmerksam, während er Kaffee einschenkte. „Ich erinnere mich daran, dass dir das spanische Frühstück mit den süßen Keksen immer merkwürdig vorgekommen ist.“

Beth tat so, als habe sie nicht gehört, was er gesagt hatte. Die Situation war schon schwierig genug, da wollte sie nicht an die Vergangenheit erinnert werden.

„Ich habe dafür gesorgt, dass dir ein Auto zur Verfügung steht, wenn ich dich nicht selbst zum Krankenhaus fahren kann.“

„Danke, das ist sehr nett von dir“, gab Beth zurück, während sie den Keks in Tausende von Krümeln zerbrach.

„Jaime, ich … Gestern …“

„Was war gestern?“, fragte er und warf ihr einen neugierigen Blick zu.

„Ich habe deinen Vater ganz vergessen.“ Es waren gar nicht diese Worte, die sie aussprechen wollte. „Ich hoffe, mein Aufenthalt hier stört ihn nicht zu sehr.“

„Mein Vater?“, unterbrach er sie. „Beth, er ist vor fast drei Jahren gestorben.“

„Ich … Jaime, es tut mir wirklich leid“, stotterte sie, da sie genau wusste, wie nah Jaime und sein Vater sich gestanden hatten.

„Warum sollte es dir leidtun?“, fragte er mit bitterem Unterton in der Stimme. „Du kanntest ihn doch gar nicht.“

„Aber er ist nicht sehr alt geworden.“

„Nein, das ist er nicht“, stimmte Jaime traurig zu. „Sechsundfünfzig …“ Plötzlich brach er ab.

Was auch immer er hatte aussprechen wollen, offenbar hatte er die Meinung geändert. Den Rest des Essens verbrachten sie schweigend, und auch auf der Fahrt ins Krankenhaus wechselten sie kein Wort.

Bestimmt hat der Tod seines Vaters ihn mitgenommen, überlegte sie, während sie sich den Weg durch den morgendlichen Verkehr bahnten. Auf keinen Fall wollte sie seine Trauer noch verstärken und ihm von seinem Sohn erzählen. Plötzlich fiel ihr ein, dass der Junge niemals seinen Großvater kennenlernen würde. Doch war es an der Zeit, dass er erfuhr, wer sein Vater war.

Sie fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief, und betrachtete den Mann an ihrer Seite, um sich von diesen Gedanken abzulenken. Er hatte sich eine elegante Lederjacke übergeworfen, die hervorragend zu der hellen Hose passte. Wenn es etwas gibt, das ich als Mannequin gelernt habe, überlegte sie, dann ist es, genau zu wissen, wie man sich vorteilhaft anzieht. Und darin war Jaime wirklich perfekt.

Natürlich hatte sie das alles nicht begriffen, als sie ihn vor vielen Jahren das erste Mal getroffen hatte, und die Tatsache, dass sie aus vollkommen unterschiedlichen sozialen Schichten stammten, war ihr niemals als Problem erschienen … Das aber zeigt doch nur, wie naiv ich damals war, überlegte Beth.

„Wir sollten über ein Problem diskutieren“, sagte Jaime, als sie auf den Parkplatz des Krankenhauses fuhren. „Die Frage ist, ob du damit einverstanden bist, dass ich deinen Sohn operiere.“

„Nein, Jaime“, gab sie zurück und spürte endlich eine große innere Ruhe. „Ich möchte dir …“

„Es ist schon in Ordnung“, bemerkte er ruhig und stieg aus dem Wagen.

Auch Beth kletterte aus dem Auto. „Jaime, bitte, ich möchte mit dir reden …“

„Es gibt doch nichts mehr zu besprechen“, gab er zurück, und in seinen Augen lag ein gefährliches Glitzern, als sie sich über das Auto hinweg ansahen. „Ein Arzt ist ein Arzt, und wir haben sehr viele, die ihren Job genauso gut machen wie ich.“

„Das freut mich“, gab sie steif zurück. „Aber ich möchte dir gern meine Gründe erklären.“

„Tut mir leid, dir den Spaß zu verderben“, gab er zurück, und sein Blick verdunkelte sich. „Aber das interessiert mich überhaupt nicht.“

Beth machte auf dem Absatz kehrt.

„Ach, übrigens“, rief er ihr nach, als sie das Krankenhaus betraten. „Ich muss mich um einige Patienten kümmern, wir sehen uns dann später.“

Beth ging langsam zu Jaceys Zimmer und versuchte, sich zu beruhigen. Jetzt wurde ihr zumindest ein Grund dafür bewusst, warum es ihr so schwerfiel, Jaime die Wahrheit zu sagen … Beth fürchtete, dass er eiskalt behaupten würde, dass ihn das Kind einfach nicht interessierte. Ärgerlich zuckte sie mit den Schultern. Was machte das schon? Er hatte in ihrem Familienleben bis jetzt keine Rolle gespielt, und daran würde sich auch nichts ändern.

Die Tür zu Jaceys Zimmer ging auf, und eine Krankenschwester kam heraus.

„Señora Miller?“, fragte die junge Frau und lächelte, während sie die Tür leise schloss.

Beth nickte und gab das Lächeln zurück.

„Sprechen Sie Spanisch?“, fragte die Schwester in unsicherem Englisch.

„Ja“, gab sie zurück. Dank Rosita war ihr Spanisch mittlerweile akzentfrei und flüssig.

„Ich bin Catalina Ruiz und kümmere mich um Jacey, solange er hier bei uns ist. Es freut mich, Sie kennenzulernen.“

„Stimmt etwas nicht?“, fragte Beth ängstlich.

„Nein, es geht Ihrem Sohn den Umständen entsprechend gut“, betonte die Krankenschwester. „Er schläft jetzt gerade.“

„Er schläft?“, wunderte sich Beth.

„Ja, Jacey hatte heute Morgen leichte Bauchschmerzen, was ja zu erwarten war. Deshalb haben wir ihm ein Schmerzmittel gegeben.“ Schwester Catalina lächelte leicht. „Ich musste ihm versprechen, Ihnen zu sagen, wie tapfer er die Spritze ertragen hat.“

„Eine Spritze!“, rief Beth aus, doch Catalinas sichere Art beruhigte sie. „Ich nehme an, dass ihm das gar nicht gefallen hat.“

„Ich musste ihm auch schwören, nicht zu verraten, wie er reagiert hat“, lächelte die Schwester. „Wie wäre es mit einem Kaffee?“

„Das ist sehr nett von Ihnen“, gab Beth zurück. „Aber ich habe gerade gefrühstückt.“

„Dann vielleicht später. Ich komme regelmäßig hier vorbei, um nach Ihrem Sohn zu schauen.“ Beth lächelte dankbar und betrat das Zimmer, in dem ihr Sohn lag.

„Hallo, Liebling“, flüsterte sie gefühlvoll und war mehr als überrascht, als er die Augen öffnete. „Die Krankenschwester hat mir gesagt, dass du schlafen würdest!“, flüsterte sie und beugte sich über den Jungen, um ihn zu küssen.

„Catalina?“, fragte er und streckte eine pummelige Hand aus, um seiner Mutter übers Gesicht zu streicheln.

„Ja, Catalina. Sie hat mir auch verraten, dass du ganz tapfer gewesen bist, als sie dir eine Spritze gegeben hat.“

„Das war schrecklich“, jammerte der Junge verschlafen. „Aber mein Bauch tut jetzt viel weniger weh … Wo ist Yaya?“

„Sie kommt später“, gab Beth sanft zurück. „Gestern war sie hier, aber …“

„Warum bist du nicht mit ihr nach Hause gefahren?“, unterbrach Jacey sie.

Beth schüttelte den Kopf. „Yaya denkt bestimmt, dass ich ein Dummerchen bin, das sich viel zu viele Sorgen macht, aber ich wollte hier in Palma in deiner Nähe bleiben.“

„Du bist kein Dummerchen“, protestierte Jacey leise, da ihm die Augen schon zufielen. „Und Yaya konnte nicht bleiben, da sie sich um die Galerie kümmern muss. Wenn ich groß bin, male ich wundervolle Bilder, und Yaya wird sie in der Galerie ausstellen. Das ist doch toll, oder?“

„Ja, das wird sehr schön sein“, flüsterte Beth liebevoll. Es war nur zu deutlich, wie der Junge gegen den Schlaf kämpfte. Deshalb setzte sie sich auf die Bettkante. „Ich fürchte, ich bin ein wenig müde. Hast du etwas dagegen, wenn ich meinen Kopf auf das Kissen lege?“

Jacey machte eine zustimmende Geste, und sie streckte sich neben ihm aus. Kaum hatte er ihr den Kopf an die Schulter gelegt, war er auch schon eingeschlafen. Beth wartete eine Weile, zog sich dann vorsichtig zurück und stand auf. Sie hatte keine genaue Vorstellung davon, wie sie es sagen würde, doch der Zeitpunkt war gekommen, endlich die Wahrheit auszusprechen.

Sie ging in die Eingangshalle und wandte sich an die Schwester, die am Empfang Dienst tat.

„Ich möchte gern Dr. Caballeros sprechen.“

„Da haben Sie Glück“, entgegnete die Schwester freundlich. „Dort kommt er gerade.“

Beth drehte sich hastig um und sah ihn durch eine Flügeltür kommen. Ihr Herz begann zu rasen.

„Jaime, ich muss dich unbedingt sprechen!“

„Kein Problem“, sagte er. „Ich habe die Unterlagen über deinen Sohn dabei“, fügte er hinzu und öffnete die Akte, die er bei sich trug. „Aber ich hatte noch keine Zeit, sie durchzuschauen“. Er warf einen Blick auf das Deckblatt und zog die Augenbrauen erstaunt zusammen.

„Jaime Carlos?“, fragte er belustigt. „Ich wusste gar nicht, dass dir mein Name so gut gefällt!“

„Jaime, hör auf damit!“

„Was hast du denn auf einmal?“ Er musterte sie, während sich auf seinem Gesicht die verschiedensten Gefühle spiegelten.

„Es ist wirklich nicht einfach, das auszusprechen!“, rief sie aus. „Ich habe diesen Namen gewählt, weil … Jaime, er ist von dir … Jacey ist dein Sohn!“

„Jaime Carlos“, murmelte er ungläubig und machte einen Schritt zurück, bis er an die Tür stieß. „Mein Sohn?“

„Jaime, ich habe es ja versucht …“ Erschrocken brach sie ab, als er die Tür zu Jaceys Zimmer aufriss. Ihr Herz raste, als würde es gleich aus der Brust springen, doch Beth war entschieden, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen, wenn er seine Wut an dem Jungen auslassen würde. Die Szene aber, die sie vor sich sah, ließ sie erstarren.

Jaime stand am Fußende des Bettes. Sein Gesicht war aschfahl, und die Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest presste er die Hände um die eisernen Stäbe.

In diesem Augenblick erkannte Beth ohne jeden Zweifel, dass Jaime seinen Sohn anerkannt hatte. Es brachte sie vollkommen durcheinander, wie spontan er die Wahrheit akzeptiert hatte, obwohl ihm die Neuigkeit einen gehörigen Schock versetzt haben musste. Er atmete heftig ein und aus, als habe er ein langes Rennen hinter sich.

„Jaime.“ Sie sprach seinen Namen sanft aus, um ihn aus diesem Traumzustand zu reißen. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er nicht den geringsten Zweifel daran gehabt, wer Jaceys Vater war. Und jetzt dies! Beth verstand einfach nicht, was vor sich ging. „Jaime“, wiederholte sie, wobei ihre Stimme einen flehenden Unterton angenommen hatte.

Catalina unterbrach das gespannte Schweigen, als sie das Zimmer betrat.

„Nicht jetzt, Schwester“, sagte Jaime mit heiserer Stimme.

„Ist alles in Ordnung, Doktor?“

„Ja, es steht alles bestens“, antwortete Beth hastig, da Jaime nichts sagte. „Wir rufen Sie später.“ Mit diesen Worten ging sie um das Bett herum.

„Jaime, geht es dir nicht gut?“

Er hob den Blick von dem schlafenden Kind und strich sich durch die Haare, bevor er zu Beth ging. Auf seinem Gesicht lag ein merkwürdiger Ausdruck von Staunen und Schmerz. Als er sich zu seinem Sohn aufs Bett setzte, stiegen ihm Tränen in die Augen. Lange schaute er ihn an, als wollte er sich jeden Millimeter der Gesichtszüge, die so sehr seinen eigenen ähnelten, einprägen. Langsam beugte er sich nieder und küsste den Jungen leicht auf die Stirn. Eine Strähne fiel dabei hinab, und es war unmöglich, seine und Jaceys Haare zu unterscheiden.

In diesem Augenblick öffnete er die Augen und schaute seinen Vater an.

„Hola“, begrüßte er ihn freundlich.

Hola, Jaime Carlos“, murmelte Jaime. „Tut dein Bauch dir immer noch weh?“

Das Kind nickte mit dem Kopf. „Woher weißt du das?“

„Weil ich ein Arzt bin“, erklärte Jaime sanft. „Dein Bauch tut dir weh, denn dein Körper hat das Schmerzmittel, das wir dir mit der Spritze gegeben haben, schon verbraucht.“

Jacey warf seiner Mutter einen schnellen Blick zu. „Mama, ich habe nicht geweint, als ich die Spritze gekriegt habe. Catalina hat das doch erzählt, oder?“ Dann wandte er sich wieder an seinen Vater. „Aber meinem Bauch geht es schon viel besser, deshalb kriege ich doch keine neue Spritze, oder?“

„Nein, du bekommst keine mehr“, beruhigte Jaime ihn. „Ich kenne eine andere Möglichkeit, dir das Mittel zu geben, und das tut gar nicht weh.“ Er drückte auf die Klingel über dem Bett. Dann strich er dem Jungen eine Haarsträhne aus der Stirn und ließ die Hand auf seinem Kopf liegen, als Catalina eintrat, der er kurze Anweisungen erteilte. „Aber eines musst du mir versprechen“, sagte Jaime zu seinem Sohn, als die Krankenschwester gegangen war. „Du solltest nicht flunkern und behaupten, dass dein Bauch nicht mehr wehtut … Wenn du das versprichst, erkläre ich dir genau, warum du krank bist und wie wir das reparieren werden.“

Jacey hatte schon Vertrauen zu Jaime gefasst. Er gab das feierliche Versprechen ab, niemals mehr zu flunkern. Danach löste sein Vater den anderen Teil der Abmachung ein. Er begann damit, dem Jungen zu erklären, was ein Zäpfchen war. Jacey reagierte alles andere als begeistert.

„Du wirst es kaum spüren“, erklärte Jaime. „Und es ist viel besser als eine Spritze.“

Es reichte, den schmerzhaften Stich zu erwähnen, und schon war Jacey überzeugt. „Wird es mir danach besser gehen?“, fragte er mit naivem Optimismus, der Beth die Tränen in die Augen trieb.

Jaime schüttelte den Kopf. „Um ehrlich zu sein, ich fürchte, das wird nicht der Fall sein“, antwortete er offen und begann, mit sanfter, doch eindringlicher Stimme zu erklären, wie der Blinddarm funktionierte und warum er sich manchmal entzündete.

Je genauer er die Einzelheiten erklärte, desto sorgenvoller schaute Beth ihren Sohn an. Doch der Junge schien voller Vertrauen und ohne Angst zu sein. Catalina kehrte zurück und reichte Jaime das Zäpfchen. Jacey ließ alles über sich ergehen, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Es hat gar nicht wehgetan, Mama“, beruhigte er sie und streckte ihr eine Hand entgegen. Als Jaime aber erklärte, dass der Junge operiert werden müsse, stieß sie einen heftigen Seufzer aus.

„Mach dir keine Sorgen, Mama“, murmelte Jacey schläfrig und drückte ihr die Hand. „Jorge ist auch der Blinddarm herausgenommen worden, und er konnte ihn in einem Glas mit nach Hause nehmen.“ Er schaute wieder zu Jaime. „Darf ich meinen auch mitnehmen?“

„Ich denke, das wird sich machen lassen“, lächelte Jaime. „Aber jetzt ist es an der Zeit, dass deine Mama und ich dich allein lassen, damit du ein bisschen schläfst.“

„Werden du und Mama hier sein, wenn ich aufwache?“, fragte er, und schon fielen ihm die Augen zu.

„Ja“, flüsterte Jaime zärtlich. „Wir werden hier sein, kleiner Junge.“

Er zog sich leicht zurück und strich die Handschuhe ab, die er angezogen hatte, um seinem Sohn das Zäpfchen zu geben. Seine Hände zitterten leicht, als er der Krankenschwester die Handschuhe reichte. Dann nahm er den Krankenbericht, der auf dem Bett lag, und warf einen schnellen Blick hinein. „Ich lese ihn später durch“, sagte er zu Catalina. „Bringen Sie ihn bitte in mein Büro.“ Einen Augenblick noch saß er gedankenverloren auf dem Bett und schaute seinen Sohn an, bis er sicher war, dass dieser tief und fest schlief. Dann stand er auf und schaute Beth entschieden an:

„Ich denke, wir sollten miteinander reden. Aber nicht hier.“

Ohne ein weiteres Wort packte er sie beim Arm und führte sie aus dem Krankenhaus. Dann lenkte er die Schritte über die Straße, bis sie zu einer kleinen Bar kamen. Noch immer herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen. Jaime bestellte Kaffee und schob Beth zu einem Tisch in einer kleinen Nische. Er musterte sie lange, während in seinem Blick die unterschiedlichsten Gefühle lagen.

„Wie konntest du mir das nur antun?“, fragte er mit heiserer Stimme. „All die Jahre über hatte ich nicht die geringste Ahnung, dass ich einen Sohn habe.“

Meint er es wirklich ernst? überlegte Beth ungläubig.

„Aber wie hätte ich dir die Wahrheit sagen sollen?“, bemerkte sie kühl. „Als du erfahren hast, dass ich einen fünf Jahre alten Sohn habe, warst du doch nur zu froh, davon auszugehen, dass Cisco der Vater sei. Du hast nicht einmal …“

„Froh?“, unterbrach er sie ärgerlich. „Verdammt, Beth, du hast mir gesagt, dass seine Großmutter bei ihm war. Dazu das Alter des Jungen. Welche Schlussfolgerung hätte ich denn sonst ziehen können? Ich wusste doch, dass du deine Eltern verloren hast, also …“

„Aber du hast Rosita erkannt, als du sie getroffen hast“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Es musste dir klar sein, dass es keine familiären Bindungen mit ihr gibt.“

„Ich bitte dich, Beth, du hattest so viele Gelegenheiten, mir die Wahrheit zu sagen, da ist es mir nicht einmal in den Sinn gekommen, dass Jacey mein Sohn sein könnte.“ Er warf ihr einen bösen Blick zu. „Wer weiß? Wenn ich nur sein Alter erfahren hätte, aber nichts von einer angeblichen Großmutter, hätte ich vielleicht Verdacht geschöpft … Wir sind niemals ein Risiko eingegangen.“ Der Ärger machte einem nachdenklichen Gesichtsausdruck Platz. „Warum hast du deine Meinung geändert? Vielleicht, weil ich es sowieso herausgefunden hätte?“

„Ich wollte es dir von Anfang an erzählen!“, rief sie aus. Sie verstand nicht recht, warum sie so unruhig war, da sie über seine positive Reaktion doch eigentlich erleichtert sein sollte. „Ich wollte es dir gestern Abend sagen, aber du bist in die Klinik gerufen worden.“ Beth rutschte auf dem Stuhl hin und her. „Du musst wissen“, stieß sie hervor, „dass es mir nicht leichtfällt, mit dir darüber zu sprechen, da ich ja nicht ahnen konnte, wie du reagieren würdest.“

„Hattest du Angst, dass ich meinen Sohn zurückweisen könnte?“

„‚Zurückweisen‘ ist eine sehr milde Beschreibung für das, was du mir angetan hast“, gab sie zornig zurück. „Wie sollte ich da sicher sein, dass du dich meinem Sohn gegenüber nicht genauso verhalten würdest?“

„Weil es auch mein Sohn ist, verdammt noch mal!“, rief Jaime aus und machte nicht einmal den Versuch, seine Gefühle ihr gegenüber zu verstecken.

„Ich bin wirklich erstaunt, dass du mir glaubst“, stieß Beth aus. „Willst du gar keinen Bluttest verlangen?“

„Was würdest du gewinnen, wenn du gelogen hättest?“, fragte er mit rauer Stimme, bevor er eine wegwerfende Handbewegung machte. „Beth, kannst du dir denn gar nicht vorstellen, wie es in mir aussieht? Ich entdecke erst jetzt, dass ich einen Sohn habe! Aber das ist doch auch ein Teil von mir. Und ich habe gar nicht gewusst, dass es ihn gibt!“

Beth fühlte Bitterkeit in sich aufsteigen. „Jaime, sag mir, was fühlst du wirklich?“, fragte sie gnadenlos. „Liebe? Du kennst meinen Sohn doch gar nicht. Bedauern? Doch warum solltest du Bedauern empfinden? Die Natur hat einfach ihr Recht eingefordert. Der Mann hat sich amüsiert, und die Frau kann hinterher sehen, wie sie klarkommt.“ Sie schaute auf ihre Finger und war erstaunt, dass sie zitterte. Dabei kam sie sich besonders ruhig vor. Sie rieb die Hände aneinander und fuhr fort: „Oder ist es etwa ein Problem für dich, dass mein Sohn zu der berühmten Caballerosfamilie gehört?“ Beth brach ab. Am liebsten hätte sie ihm voller Bitterkeit die Wahrheit um die Ohren geschlagen, doch stiegen ihr Tränen in die Augen.

„Du tust ja gerade so, als hätte ich eine Wahl gehabt und Jacey zurückgestoßen“, erklärte Jaime benommen. „Aber du hast mir niemals diese Möglichkeit gelassen, Beth, da du mir die Wahrheit verheimlicht hast.“

Beth zögerte. In seinen Worten schien ehrlicher Schmerz zu liegen.

„Und du hättest natürlich sofort deine Verlobte fallen gelassen, auch wenn das nicht sehr ehrenvoll gewesen wäre, um mich zu heiraten“, bemerkte sie bissig.

„Beth, wir hätten bestimmt eine Lösung gefunden …“

„Ich bin sicher, du hättest dich wie ein Ehrenmann benommen.“ Sie unterbrach ihn mit einem schrillen Lachen, da sie beinahe die Selbstbeherrschung verlor. Einen Augenblick lang sah sie in seinem Gesicht die weichen Züge, die sie einstmals zu lieben geglaubt hatte, und die Bitterkeit brach durch. Er hatte sie damals äußerst gemein behandelt, und das konnte sie einfach nicht vergessen. „Es stimmt, Jaime, dass du keine Wahl hattest. Und du hast sie auch heute nicht, denn Jacey gehört zu mir. Was auch immer du für den Jungen empfindest, vergiss es, denn du spielst keine Rolle in seinem Leben. Das hast du nicht getan und wirst es auch niemals tun!“

„Warum hast du ihm meinen Namen gegeben?“, fragte er und war ganz bleich im Gesicht geworden. „Und warum hast du ihn wie einen Spanier erzogen, wenn sein Vater doch nichts bedeutet in seinem Leben.“

„Das muss ja nichts mit dir zu tun haben“, protestierte sie heftig, da sie sich auf einmal in einer Falle gefangen fühlte. „Vielleicht kannst du dir vorstellen, was Rosita für mich bedeutet. Sie ist wie eine Mutter für mich. Meine Entscheidung, auf Mallorca zu wohnen, hängt damit zusammen!“

Sie hatte den Jungen einerseits wie einen Spanier erzogen, andererseits war aber nicht zu leugnen, dass seine Mutter aus England stammte. Für sie war es immer wichtig gewesen, dass er beide Kulturen kannte. Auch wenn sie dem Jungen niemals gesagt hatte, wer sein Vater war, hatte sie nicht abgestritten, dass er spanischer Herkunft war … Schließlich wollte sie nicht, dass er wie ein Fremder im eigenen Land aufwachsen würde.

„Ich verstehe und respektiere, dass du eine besondere Beziehung zu dem Jungen hast“, bemerkte Jaime ruhig. „Doch das erklärt nicht, warum du ihm meinen Namen gegeben hast und hier in Spanien mit ihm lebst. Ich glaube, dass die Gründe dafür woanders liegen.“

Sie machte eine resignierte Handbewegung.

„Es stimmt, dass die Erinnerung daran, wie hart meine eigene Kindheit war, einer der Gründe dafür ist, dass ich für Jacey nur das Beste wollte“, gab sie mit tonloser Stimme zu. „Und da mir bewusst ist, dass ich selbst nicht ausleben konnte, was in mir steckte, wollte ich auf keinen Fall Jaceys spanische Herkunft leugnen. Das wäre ja so gewesen, als wenn ich ihm die Hälfte von ihm genommen hätte.“

„Ich hatte ganz vergessen, wie unglücklich deine Kindheit war, und ich danke dir dafür, was du für … Jacey getan hast“. Er hatte deutlich gezögert, den Namen seines Sohnes auszusprechen. „Mein Gott, Beth, du hattest doch nicht viel Geld“, platzte er auf einmal heraus. „Warum hast du es mich nicht wissen lassen? Und wie um alles in der Welt hast du überlebt?“

„Spielt das jetzt noch eine Rolle, Jaime?“ gab sie schwach zurück. Die Anspielung auf ihre Armut ließ sie wieder an die Überlegungen denken, die sie über den Klassenunterschied, der sie und Jaime trennte, angestellt hatte. Damals mit neunzehn hatte sie nichts davon geahnt. War das denn wirklich alles? Nur ein Klassenunterschied? Sie war felsenfest davon überzeugt gewesen, dass er sie liebte, als er für einige Tage mit seinem Vater nach Barcelona gefahren war. Später erst hatte sie verstanden, dass er dort die andere Frau getroffen hatte, von der er nie zuvor erzählt hatte. Und danach hatte er um ihre Hand angehalten. Hatten ihm diese wenigen Tage in seiner Familie die Augen geöffnet? Beth war da wohl nichts weiter als ein Urlaubsflirt gewesen. Oder er hatte einfach nur körperliche Lust auf sie verspürt, und die Frau, die er wirklich liebte, betrogen.

„Es ist alles schon so lange her“, sagte sie halb zu sich. „Das Einzige, was jetzt noch zählt, ist Jacey und seine Gesundheit.“

„Da sind wir uns hundertprozentig einig“, entgegnete er hastig. „Nur das ist wichtig.“

Als sie zurück zum Krankenhaus gingen, war Beth klar, dass es noch viele unbeantwortete Fragen gab, doch war jetzt wenigstens die Wahrheit ausgesprochen. Es beruhigte sie, dass er ganz offenbar seinen Sohn liebte. Und doch blieb ihre Beziehung zu Jaime unklar.

„Ich bin heute Nachmittag im Operationssaal“, sagte er. Sein Gesicht hatte einen sanften Ausdruck angenommen, als er sich vor Jaceys Zimmer zu Beth drehte.

„Wir sehen uns dann, wenn ich fertig bin … Würde es dich stören, wenn ich schnell nach ihm schaue? Schließlich habe ich ihm versprochen da zu sein, wenn er aufwacht.“

„Du brauchst doch nicht zu fragen!“ Seine Bitte hatte etwas in ihr angerührt, das sie seit Langem vergessen geglaubt hatte.

Als Rosita eine halbe Stunde später ankam, war Beth mit den Nerven fertig und den Tränen nahe.

Jacey hatte noch etwa zwanzig Minuten geschlafen, nachdem Jaime gegangen war. Dann aber war er ängstlich aufgewacht und wollte einfach nicht auf die Fragen antworten, die Beth und die Krankenschwester ihm stellten. Immer wieder verlangte er danach, Jaime zu sehen.

Beth warf sich der älteren Frau in die Arme und gab ihr eine kurze Zusammenfassung dessen, was geschehen war. Zum Glück war Jacey wieder eingeschlafen.

„Jaime hätte ihm nicht die ganzen Einzelheiten erzählen sollen“, beschwerte sie sich bei Rosita, die ihr einen aufmunternden Klaps gab, bevor sie sich auf den Stuhl setzte, den Catalina herbeigeschafft hatte. „Er hat ihm genau erklärt, wie die Operation vor sich gehen wird, und jetzt hört Jacey gar nicht wieder auf, Tausende von Fragen zu stellen … Aber es interessiert ihn gar nicht, was Catalina oder ich sagen. Das Einzige, was für ihn zählt, ist, was Jaime sagt.“

„Fragt er dabei nach dem Arzt oder nach dem Vater?“, wollte Rosita wissen.

Beth schüttelte heftig den Kopf. „Er weiß doch gar nichts davon“, gab sie gespannt zurück. „Er glaubt, dass Jaime nur der behandelnde Arzt ist.“

„Du scheinst dich unwohl in deiner Haut zu fühlen, Liebes.“

„Ich … ich weiß, dass es dumm klingt, aber …“ Sie schloss die Augen und stellte sich vor, welchen tiefen Eindruck der gut aussehende Arzt auf den fünf Jahre alten Jungen gemacht haben musste. „Er möchte sogar den Blinddarm mit nach Hause nehmen, so wie sein Freund Jorge.“

„Yaya“, murmelte Jacey und schlug die Augen auf. „Warst du gestern Abend sehr einsam ohne Mama und mich?“

„Ein bisschen“, lächelte Rosita, lehnte sich über den Jungen und gab ihm einen dicken Kuss.

„Sei nicht traurig, du musst nicht lange allein bleiben, da ich schon morgen Abend operiert werde. Der Arzt hat mir alles genau erklärt, und dann kann ich bald wieder nach Hause.“ Er beobachtete Rosita aufmerksam, um zu sehen, wie sie auf die Neuigkeiten reagierte.

Autor

Kate Proctor
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