Countdown der Lust

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Kurz vor Mitternacht trifft Ian im Silvestertrubel eine schöne Fremde. Noch 19, 18, 17 Sekunden … und sie gibt ihm den süßesten Kuss seines Lebens … 3, 2, 1 … er spürt das heiße Versprechen ihrer Kurven. Doch dann verschwindet sie in der Menge – und Ians Suche beginnt.


  • Erscheinungstag 13.07.2023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751522908
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Silvester am Times Square. Das Jahr war fast vorbei, und Ian Cumberland hatte sich fest vorgenommen, nicht mehr darüber nachzudenken, was in den letzten zwölf Monaten alles schiefgelaufen war. Heute Abend ging es um neue Vorsätze, neue Hoffnung, neue Chancen. Gut gelaunt schob er die Hände in die Manteltaschen und atmete die klare, geschätzte minus acht Grad kalte Luft ein. Es war kurz vor Mitternacht, und er war bereit, einen frischen Wind durch sein Leben wehen zu lassen. Er hatte den Times Square und dessen bunte Lichter für den idealen Ort dafür gehalten, aber leider dachte eine Masse von einer Million dicht gedrängter Menschen genauso. Zu allem Überfluss blies der von ihm erwartete frische Wind eisig und scharf aus Norden, sodass die Menge sich noch enger zusammendrängte.

Ihm bot sich eine Geräuschkulisse aus Böllerschüssen und lärmenden Tröten, begleitet von dem Sound der derzeit angesagtesten Boygroup – angesagt zumindest so lange, bis die Mitglieder in die Pubertät kamen oder in einen Sexskandal verwickelt wurden. Was immer zuerst kam … Aber halt, keine schlechte Stimmung. Nicht heute.

Entschlossen, den Abend dafür zu nutzen, wozu er hergekommen war, ließ Ian seinen Sinnen freien Lauf und staunte über all die Details, die ihm bislang nicht aufgefallen waren. Plötzlich war er umgeben von ohrenbetäubenden Geräuschen, einem Kaleidoskop greller Farben und einem ganzen Bouquet verschiedenster Gerüche. Er sog die New Yorker Nachtluft tief ein und nahm dabei den Duft von mindestens einer Million unterschiedlicher Parfüms, gerösteten Kastanien und, seltsamerweise, Rosen wahr.

Im Lauf des vergangenen Jahres hatte er sein Leben in zwei verschiedene Perioden eingeteilt: vor und nach seiner Entlassung. Die Periode „Vor der Entlassung“ endete am Nachmittag des siebzehnten Februars, Punkt halb fünf. Damals konnte Ian es sich noch nicht erlauben, zwölf Stunden zu vergeuden, indem er am Times Square herumstand, um auf eine bunte Kristallkugel zu warten, die um Mitternacht von der Spitze der Fahnenstange des ehemaligen New York Times – Gebäude heruntergelassen wurde. Nach der Entlassung hatte er zwar eigentlich noch immer nicht die Zeit dafür, aber zumindest den Willen.

Silvester auf dem Times Square zu verbringen und diesen mehr als einhundert Jahre alten Brauch mitzuerleben, stand schon seit seinem zehnten Lebensjahr auf seiner To-do-Liste. Vor der Entlassung hatte er geglaubt, dass sich das schon irgendwann ergeben würde. Nach der Entlassung wusste er, dass das Leben einem nicht den Gefallen tat, in geordneten Bahnen zu verlaufen. Deshalb musste man zugreifen, wenn sich einem die Gelegenheit zu einem einmaligen Erlebnis bot.

Die Menschenmenge stand Schulter an Schulter gedrängt, sodass es ihm kaum möglich war, sich zu bewegen. Zudem hatte er auch noch das Pech, sich inmitten einer größeren Gruppe ausgelassen feiernder Touristen zu befinden, die nicht einmal den einfachen englischen Satz „Sie stehen auf meinem Fuß“ kapierten.

Während er so dastand und alles um sich herum, die blinkenden Lichter, die wachsamen Polizisten und die feiernden Menschen, auf sich wirken ließ, wartete er geduldig darauf, dass sich etwas Wundervolles, Lebensveränderndes, Hoffnungsvolles ereignete. Aber alles, was es für ihn gab, waren Tritte auf den Fuß und das laute Tröten einer Hupe direkt in sein Ohr.

Trotzdem wartete er weiter, frierend, nüchtern und langsam zu der Einsicht gelangend, dass er womöglich früher klüger gewesen war, als er den Times Square noch gemieden hatte wie der Teufel das Weihwasser.

Wie hatte er dies bloß für eine gute Idee halten können? Silvester hin oder her, am Ende lief es nach wie vor darauf hinaus, dass er kein Investmentbanker mehr war, sondern Arbeitsvermittler, und noch dazu ein wahnsinniger – sonst wäre er nicht hier.

Beckett hatte ihm gesagt, dass dies ein idiotischer Plan war. Niemand fror sich freiwillig im Winter draußen den Hintern ab, wenn man auch gemütlich zu Hause feiern, Champagner schlürfen und sich das ganze Spektakel im Fernsehen anschauen konnte. Daraufhin hatte Ian seinem besten Freund fest in die Augen gesehen und von seinen Vorsätzen erzählt: neu anfangen, das Leben genießen – es richtig machen.

Aber hier, eingepfercht zwischen einer Million anderer verrückter Optimisten, den eisigen Wind bis auf die Knochen spürend, dämmerte ihm die unbequeme Wahrheit mit kalter Klarheit: Ich bin ein Trottel. Er sollte Silvester abhaken, seine Situation akzeptieren und einfach weitermachen. Das Leben war nun einmal so, wie es war, und nichts, nicht einmal ein paar überwältigende Stunden im Zentrum der Erde, würde dies ändern.

Übermannt von dem Gefühl, sich selbst zum Narren gehalten zu haben, wandte Ian sich in Richtung U-Bahn, um den feiernden Massen zu entkommen. Irgendwo dort draußen warteten sein Verstand und seine Freunde auf ihn. Aber noch ehe er einen weiteren Schritt machen konnte, zog ihn jemand am Arm, woraufhin er ins Stolpern geriet. Er wirbelte herum, bereit, seinem Ärger Luft zu machen – und hielt unvermittelt inne.

Er erstarrte.

Er konnte nichts anderes tun als dastehen und sie anzuschauen …

Wunderschön!

Sie hatte alles, was eine Rose haben musste: ihre Schönheit, ihren Duft, und Ian wollte sofort wissen, ob sie auch so schmeckte. Sein Körper erwachte blitzartig zum Leben, das Blut pulsierte heiß durch seine Adern.

Hallo, Neuanfang!

In ihren hellblauen Augen standen Panik und Besorgnis. Unter ihrer Strickmütze wallte hellbraunes, von goldenen Strähnen durchzogenes Haar hervor.

„Haben Sie mein Handy gesehen? Ich kann mein Handy nicht finden! Helfen Sie mir suchen! Oh Gott, ich habe mein Handy verloren!“

Ihre Stimme klang sanft, aber angespannt, und hob sich angenehm von der lärmenden Menge ab.

Hilf ihr!

„Wo haben Sie es denn verloren?“, fragte er und registrierte den bulligen Touristen, der sie interessiert beäugte.

„Hier auf dem Boden. Ich habe es fallen lassen und muss es unbedingt wiederfinden. Ich sollte gar nicht hier sein. Es ist das reinste Chaos. Warum bin ich bloß hergekommen?“

Um mir zu begegnen. Eine idiotischer romantischer Gedanke, passend zu dem Blödsinn über Neuanfänge. Trotzdem konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Wir werden es finden“, versprach er ihr und hockte sich hin, um besser suchen zu können. Sie zögerte, ihr Blick verriet Angst, doch dann ging sie ebenfalls in die Hocke.

Am Boden war es, als würde man unter Wasser gegen einen Schwarm orientierungsloser Fische anschwimmen. Zwischen all den Beinen, Schuhen und wirbelnden Mänteln konnte man kaum etwas sehen. Die Frau hielt seinen Ärmel gepackt.

„Alles in Ordnung?“, erkundigte Ian sich, da sie völlig verängstigt aussah. Sie nickte, aber er hatte Zweifel. „Wir werden es finden“, versprach er erneut und nahm ihre Hand fest in seine. Mit der freien Hand tastete er nach dem gefühlt wichtigsten Handy der Welt.

„Ich kann nicht fassen, dass ich es verloren habe“, sprudelte es in ihrer Panik nur so aus ihr heraus. „Ich kann nicht glauben, dass ich es vermasselt habe. Ich war nicht leichtsinnig und bin nicht leichtsinnig – ich kann es mir gar nicht leisten, leichtsinnig zu sein.“ Jemand stieß gegen sie, sodass sie zusammenzuckte und näher an ihn heranrückte.

„Machen Sie sich nicht verrückt, es muss ja hier irgendwo sein“, versuchte Ian sie zu beruhigen und zog sie näher an sich heran, damit sie nicht niedergetrampelt wurde. Gleichzeitig versuchte er, sich selbst zu beruhigen – dieses musste noch lange nicht der erhoffte Neubeginn sein, nur weil ihm eine wunderschöne Frau in die Arme gestolpert war.

Blind tastete er den rauen Asphalt ab, wobei ihm zweimal auf die Hand getreten wurde. Aber anscheinend schuldeten die Götter ihm in diesem Jahr doch noch einen Gefallen, und es gab noch Geschichten mit Happy End, denn in diesem Moment stießen seine Finger auf ihr Handy.

„Ich hab’s!“, rief er und zerrte die schöne Unbekannte rasch hoch, bevor sie beide zu Tode getrampelt wurden.

Die blinkenden Neonlichter am Times Square spiegelten sich in ihren Augen, mit denen sie ihn erschrocken ansah. Instinktiv drückte er sie an sich. „Schon gut, es ist hier“, sagte er und spürte ihr Zittern. „Es ist nur ein Telefon“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Bloß ein Telefon. Nicht weinen.“

„Ich mag die Menschenmenge nicht“, flüsterte sie, bevor sie ihr Gesicht an seine Schulter drückte.

„Um das herauszufinden, haben Sie sich den falschen Ort ausgesucht.“ Zu seiner Erleichterung merkte er, wie sie leise lachte. Er streichelte ihren Rücken durch den Wollmantel hindurch, und ihr Zittern ließ allmählich nach. Schließlich merkte er, wie Spannung in ihren Körper zurückkehrte. Sie hob ihren Kopf und sah ihm ins Gesicht; der ängstliche Ausdruck war weg.

„Ich weine nicht. Ich weine nie“, erklärte sie mit fester Stimme. „Danke. Es war dumm. Tut mir leid. Ich bin nicht gerne dumm.“

Sie schien zerbrechlich und völlig deplatziert in diesem Chaos aus Menschen, Lichtern und Lärm. Ihr Gesicht war schmal, zart, wie das einer Märchenfee. Doch um ihre Augen lagen Schatten, die nicht zu dieser Schönheit passten. Schatten, die nicht allein durch den Verlust eines Handys zustande gekommen sein konnten. Sanft streichelte er ihre Wange, als wollte er eine imaginäre Träne wegwischen, nur um ihre zart schimmernde Haut zu berühren.

„Sie sind nicht dumm. Und jetzt ist alles in Ordnung. Alles ist bestens“, sagte er und sah, wie sie ihre Beherrschung wiederfand.

„Danke, dass Sie mein Handy gefunden haben.“

„Keine Ursache. Geht es Ihnen jetzt wieder besser?“, fragte er, während er sich zu ihr hinunterbeugte – natürlich nur, damit sie ihn in dem Lärm besser verstand. Ja, genau …

„Entschuldigen Sie bitte. Ich gerate sonst nicht so leicht in Panik“, sagte sie. Ihr Gesicht war seinem jetzt so nah, dass er die sorgsam überschminkten Sommersprossen auf ihrer Nase erkennen konnte.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich gerate regelmäßig in Panik.“ Argwöhnisch sah sie ihn an. „Das war nur ein Scherz“, stellte er schnell klar und ärgerte sich über sich selbst. Etwas an ihrem Gesicht, in ihren leuchtenden Augen hielt ihn gefangen. Hinter ihrer Gefasstheit ahnte er kindliche Neugier.

Ihr Lächeln berührte sein Herz. Sie hatte einen Mund, der zum Küssen einlud.

Genau in diesem Augenblick stieß einer der Touristen sie an, sodass sie erneut in seinen Armen landete. Er hielt sie fest. Allmählich gewöhnte er sich an das Kribbeln, das ihre Nähe bei ihm auslöste.

„Ich hätte heute Abend nicht herkommen sollen. Ich dachte, es würde mir nichts ausmachen.“

„Ich weiß, was Sie meinen. Ein Haufen Idioten glaubt, Silvester sei die Nacht für neue Träume. Was für ein Quatsch. Ich hätte zu Hause bleiben und Champagner trinken sollen; stattdessen friere ich mir hier den A… Ach, vergessen sie’s.“ Er spürte erneut, dass sie lachte, und genoss es, wie sich ihr weicher, wohlgeformter Körper an seinen schmiegte und ihr duftendes Haar sein Gesicht streifte.

Nach einer Weile hob sie den Kopf und betrachtete ihn eingehend. „Haben Sie das schon mal gemacht?“

„Nö, Sie?“

„Nein, und das werde ich auch nie wieder“, antwortete sie bestimmt.

Offensichtlich stand er immer noch in der Gunst der Götter, und diese sahen ein noch größeres Happy End für ihn vor, denn plötzlich fing die Menge an zu zählen, und somit war er auf dem besten Weg, gemäß der Tradition um Mitternacht einen Kuss von seiner neuen Bekanntschaft zu bekommen.

Dreiunddreißig, zweiunddreißig, einunddreißig …

Das Leuchten ihrer hellblauen Augen faszinierte ihn und hielt seinen Blick gefangen. Sie packte sein Revers, als wollte sie nie wieder loslassen. Die Spannung, die zwischen ihnen herrschte, war nahezu greifbar.

Neuanfang. Neue Liebe. Neues Jahr.

Neunzehn, achtzehn, siebzehn …

Vollkommen verzaubert, legte Ian seine rechte Hand in ihren Nacken, stieß einen verlangenden Seufzer aus und schob die Finger in ihr Haar.

Ihre Lippen berührten seine, noch ehe er darum bitten konnte. Sanft, süß, einen wahren Neuanfang verheißend.

Als sie durch die Menschenmenge noch enger an ihn gedrängt wurde, beklagte Ian sich nicht, sondern schob seine linke Hand unter ihren Mantel und ihren Pulli, wo er die zarte Haut ihres Rückens fand und, tiefer gleitend, die einladende Rundung ihrer Hüfte. Um sie herum tobte das Leben weiter, mit Konfettiregen, kaltem Wind und dem Jubel von einer Million nicht mehr ganz nüchterner Feiernder. Ian ignorierte all das, denn für ihn gab es in diesen Sekunden nur diese Frau und den Rest ihres gemeinsamen Lebens.

Sie öffnete ihre sinnlichen Lippen, ihre Zungen fanden sich, umspielten einander auf verführerische Weise. Heißes Verlangen stieg in ihm auf und stachelte seine Fantasie an. Sie würden zu ihm nach Hause gehen, sie würden sich dort lieben … Dann würden sie heiraten. So gehörte sich das für ein Happy End.

Sie schlang die Arme um seinen Nacken und fuhr mit den Fingern durch sein Haar – und stöhnte. Musik und Glockengeläut waren nun alles, was er hörte. Vielleicht bin ich ja auch gestorben und küsse nun einen Engel.

Er ließ die Hand weiter nach unten gleiten und drückte die schöne Unbekannte fester an sich. Sie drückte ihren Schoß gegen ihn und schob ihm lustvoll einen Oberschenkel zwischen die Beine. Ian hatte Mühe, sich zusammenzureißen.

Nein, ein Engel war sie nicht. So was lernte man nicht im Himmel.

Irgendetwas vibrierte irritierend an seinem Bein, und das waren, soweit er es beurteilen konnte, weder sein Schwanz noch sein Puls, auch wenn er beides gerade nicht unter Kontrolle hatte. Sie löste sich schwer atmend von ihm und hielt sich ihr Handy ans Ohr. Genau das Handy, das er nur Augenblicke zuvor für sie wiedergefunden hatte. Hätte er es nicht gefunden, würde sie jetzt nicht telefonieren, sondern sie würden sich stattdessen immer noch küssen. Er war wirklich ein Idiot.

Einer der Touristen neben ihm warf ihm einen anerkennenden Blick zu, doch Ian ignorierte ihn und versuchte lieber, seinen Verstand wieder in Gang zu bringen. Hier war die Inspiration, nach der er gesucht hatte.

Während sie am Telefon sprach, musterte sie seinen Kaschmirmantel, und er bemerkte in ihrem Blick, dass sie in ihm einen Mann sah, der möglicherweise auch finanziell keine schlechte Partie war.

Der Lärm der Menge trat in den Hintergrund. Nur die Worte der Frau drangen jetzt an sein Ohr. Offenbar versuchte sie, ihr Date wiederzufinden. Date? Verdammt, nein!

Am liebsten hätte er sie gedrängt, sofort aufzulegen, weil diese Begegnung Kismet war, Schicksal, und sein weiteres Leben von diesem einen Moment abhing. Aber er hielt den Mund und lächelte selbstbewusst, als hätte dies alles für ihn keine Bedeutung.

Als sie ihn wieder ansah, verrieten ihre Augen Trauer und Einsamkeit. Er fragte sich, ob sie diese Anziehung auch gespürt hatte. So etwas hatte er noch nie empfunden, und es war ihm auch noch nie passiert, dass eine Frau direkt aus seinen Träumen in seine Arme gestolpert war. Das musste Schicksal sein.

„Ich bin hier drüben“, sagte sie ins Telefon und winkte anmutig jemandem zu.

Jemand anderem. Er wollte sie aufhalten, denn sie konnte doch nicht einfach mit jemand anderem zusammen sein.

Neuanfang. Neue Liebe. Neues Jahr …

„Ich muss gehen. Es ist mein Date“, entschuldigte sie sich und verwandelte damit seinen letzten Rest Hoffnung in Konfetti.

„Oh, das wundert mich nicht“, erwiderte Ian mit gespielter Unbeschwertheit. „Frohes Neues.“ Und ein schönes Leben noch.

Höflich bat sie den bulligen Nebenmann, sie vorbeizulassen, und dann verschwand sie aus seinem Leben.

Noch bevor er überhaupt ihren Namen wusste.

Ian trat dem Touristen so fest er konnte auf den Fuß und registrierte zufrieden, wie der Fleischberg Flüche in einer fremden Sprache ausstieß, die vermutlich irgendetwas mit Müttern und Kopulation zu tun hatten.

Auf dem Weg nach Hause drehte Ian sich noch einmal um und sah die glitzernde Kugel vom Himmel steigen, Versprechungen verheißend, die das junge Jahr eh nicht halten konnte.

Frohes Neues …

Ian hatte sich noch nie so einsam gefühlt wie jetzt unter einer Million Menschen.

Verdammt.

2. KAPITEL

0 Uhr 41

Rose hätte die Uhr am liebsten ins vergangene Jahr zurückgedreht. Zu dem Zeitpunkt, bevor sie neben Remy saß, der, zwischendurch Champagner schlürfend, seine letzte Darbietung im Operationssaal bis ins kleinste Detail schilderte.

Sie wollte zu diesem unvergesslichen Moment zurückkehren, als der Fremde sie mit einer solch leidenschaftlichen Verzweiflung geküsst hatte, als könne er nicht genug von ihr bekommen. Als hätte er während dieses einen Kusses etwas Wundervolles in ihr entdeckt.

Die Menschen, die Menge, die Angst, alles verschwamm, bis auf den starken Mann, der sie festhielt. Nicht um sie zu strafen, sondern um sie zu beschützen. Ihr Herzklopfen und der Schwindel hätten sie normalerweise beunruhigt. Aber da war auch etwas Neues … ein beinah warmes Gefühl.

Hastig schüttelte sie die Schwäche ab. Kontrolle. Sie hatte stets alles unter Kontrolle.

Hier in der Lobby des Hotels Four Seasons, in der sich die Crème de la crème New Yorks aufhielt, kehrte langsam wieder ihre übliche Reserviertheit zurück. Ihr Date für den heutigen Abend, der weltbekannte Kinderherzchirurg Dr. Remy Sinclair, schilderte gut gelaunt seinen Tag. Der Rest der Welt wollte feiern, aber Remy schuftete am OP-Tisch und rettete das Leben kleiner Kinder. Er war couragiert, attraktiv, charmant und reich. Der Mann hatte nicht den kleinsten Makel.

Warum also nickte sie nur von Zeit zu Zeit höflich, während sie sich ständig an das sinnliche Kribbeln erinnerte, das der Mund dieses Fremden auf ihrem ausgelöst hatte? Das musste wirklich aufhören!

Langsam senkte sie die Lider und tat weiter so, als würde sie Remys Worten lauschen. Diesen Blick hatte sie schon im Alter von sechs Jahren perfektioniert, als man sie geschminkt, gepudert und frisiert in Benimmkurse geschickt hatte, wo sie Haltung und ein strahlendes Lächeln erwarb. Ihre Eltern hatten große Pläne mit ihr – Schönheitswettbewerbe, Bräuteschule, einen reichen Ehemann. Ihr hübsches Gesicht war ihr Ticket in ein besseres Leben, und Rose hatte schnell gelernt, nicht aus der Reihe zu tanzen. Es hatte kein kleines Mädchen mit einem größeren Willen zur Vollkommenheit gegeben, nur um der Hölle zu entrinnen.

Die erstickende Schwärze drohte sie zu überwältigen, und sie musste tief durchatmen. Sie war in Sicherheit. Remy verkörperte genau das, was sie sich stets erträumt hatte. Er war ein Sinclair der vierten Generation und Erbe des Familienvermögens, falls das Einkommen eines Herzchirurgen als Sicherheit nicht ausreichte. Er hatte die Ausstrahlung eines Prinzen, was nicht zuletzt auf sein wie gemeißelt wirkendes Profil zurückzuführen war. Sein dunkles Haar war achtlos zurückgekämmt. Der taubengraue maßgeschneiderte Anzug betonte die breiten Schultern und die schmalen Hüften.

Das Beste an dem Mann aber war, dass er schon jenseits der dreißig und dringend auf der Suche nach einer hübschen Ehefrau war, die er seiner Sammlung an Trophäen hinzufügen konnte.

„Hast du über die Auktion nachgedacht?“, erkundigte sie sich, um das Gespräch vom Operationssaal auf etwas Appetitlicheres zu lenken. Sie hatte der Gräfin versprochen, sich darum zu kümmern, und gedachte dieses Versprechen zu halten. Sylvia war ihre Chefin und Freundin; Rose schuldete ihr mehr als eine Versteigerung zu wohltätigen Zwecken.

„Ja, ich habe darüber nachgedacht. Die Antwort lautet: nein.“

„Bitte“, sagte sie, obwohl sie es ihm nicht verübeln konnte. Dennoch wollte sie seine Meinung ändern. Ja, es war erniedrigend und peinlich, aber dummerweise gab es in ganz New York und Umgebung keinen besser geeigneten Junggesellen.

„Nein.“ Obwohl sein Blick Entschlossenheit verriet, ließ sie sich nicht beirren.

„Denk an die Welpen, diese flauschigen kleinen Fellknäuel, die ein gutes Zuhause brauchen. So herzlos kannst du doch nicht sein.“

„Ich bin Herzchirurg und transplantiere täglich Herzen. Im Gegensatz zu gewöhnlichen Sterblichen ohne Götterkomplex fürchte ich die Herzlosigkeit nicht.“

Sie waren sich ähnlicher, als er je ahnen würde. Er sah in ihr das Ideal, die vollkommene Frau, und sie ließ ihn nie hinter ihre makellose Fassade blicken, hinter der sie ein versteinertes Herz verbarg. Nur selten bedauerte sie diese Unfähigkeit zu tiefer Empfindung, außer in einer Nacht wie dieser. In der sie einem sexy Fremden begegnet war, der sie, einem Märchenprinzen gleich, an einen wundervollen Ort der Geborgenheit entführen wollte. Klar … und ehe du dichs versiehst, trägst du beim Zähneputzen ein Diamantdiadem auf dem Kopf. Unwillkürlich hob sie die Hand ans Haar, nur sicherheitshalber. Nichts da. Wenn sie ein Happy End wollte, würde sie dafür arbeiten müssen.

„Würdest du es für mich tun?“, fragte sie mit ernster Stimme. Dies war erst ihr viertes Date, deshalb war es eigentlich zu früh, ihn um etwas zu bitten. Dennoch … Die Entwicklung dieser Beziehung folgte einem exakten Schlachtplan, der bisher, zur Freude der Gräfin, genau wie geplant verlaufen war. Nur sehr wenige Menschen erkannten die Ähnlichkeiten zwischen einer Beziehung und einer Schlacht, doch Rose hatte Sun Tsus „Die Kunst des Krieges“ gelesen und beinah auswendig gelernt.

„Du wirst mich dazu bringen, nicht wahr?“, sagte er mit liebevoller Resignation in der Stimme. Deshalb mochte sie ihn so. Er bat sie nie um etwas, schrieb ihr nie vor, was sie zu sagen oder anzuziehen hatte. Sie musste nur hübsch an seiner Seite sitzen und zuhören. Kleinigkeit.

„Dich dazu bringen? Ich?“ Sie lachte und klimperte mit den Wimpern.

„Bekommst du immer, was du willst?“

„Allerdings. Das solltest du inzwischen wissen.“

Sie wartete, die Finger unter dem Tisch gekreuzt, bis er endlich nickte und sie aufatmen konnte.

„Na schön, ich werde es tun.“

Rose war so aufgeregt, dass sie ihn beinah geküsst hätte. Wäre da nicht die süße Erinnerung an den aufregenden Kuss dieses faszinierenden Fremden gewesen, die sie sich noch eine Weile bewahren wollte.

„Wirklich? Ich meine, wenn du es absolut nicht willst …“

„Du würdest mich so leicht davonkommen lassen?“

„Auf keinen Fall, aber ich lasse dich in dem Glauben, du hättest eine Wahl.“ Und weil sie es ihm schuldig war, ließ sie noch drei weitere detaillierte Schilderungen von Operationen über sich ergehen, ohne sich auch nur den leisesten Anflug von Übelkeit anmerken zu lassen.

Ehe er mit Schilderung Nummer vier begann, schaute er auf seine Uhr. „Es ist spät, du siehst müde aus.“

Ein verstohlener Blick auf ihre eigene Armbanduhr verriet ihr, dass es inzwischen eins war. Sie wollte nur noch nach Hause und ins Bett. Allein.

Sie hatte exakt null Liebhaber. Wenn man dazu erzogen worden war, dass die Ehe das einzige Lebensziel ist, stellte die Jungfräulichkeit etwas äußerst Kostbares dar – ebenso wie ein makelloser Teint und ein Debütantinnenkleid. Ihre Eltern hatten kein Geld für weiße Seide und Richelieu-Spitze, sodass sie dies mit endlosen Lektionen zum Thema Tugendhaftigkeit kompensiert hatten. Und da Rose ein braves Mädchen war und keine Rebellin, hatte sie sich diese Lektionen zu eigen gemacht.

Jetzt gähnte sie, was nicht einmal gespielt war. „Ich bin erschöpft und begreife gar nicht, wie du nach deinem Tag noch durchhältst.“

„Mit guten Drogen“, erwiderte er entspannt lächelnd.

Und der Ausdauer eines Kamels.

Ganz der Gentleman, half er ihr in ihren Mantel, ehe sie mit den letzten Gästen die Lobby verließ. Alles war so elegant hier. Genau wie in der Bräuteschule, die sie sechs Jahre lang besucht hatte. Jeden Tag hatte sie dort für ein paar Stunden eine friedliche, luxuriöse, von sanftem Lichtschein erhellte Zuflucht von zu Hause gefunden. Dort war sie aufgeblüht und gleichzeitig hart und stark geworden.

Erhobenen Hauptes und in tadelloser Haltung vollführte sie eine anmutige Drehung, sodass sämtliche Anwesenden ihren Abgang verfolgten. Draußen blieb sie mit dem Absatz an einer Stufe hängen, und Remy – der glückliche, lächelnde, unvorstellbar reiche Remy – hob den Schuh mit einer schwungvollen Bewegung auf und präsentierte ihn ihr mit großer Geste.

„Hast du das absichtlich gemacht?“, fragte er, als könnte sie so clever sein.

Er bückte sich und schob ihr den Schuh wieder auf den Fuß. Eigentlich hätte sie das bezaubernd finden sollen.

„Glaubst du an Märchen, Remy?“

„Glaubst du, dass dies eine magische Nacht ist?“, konterte er und richtete sich wieder auf. In seinen Augen flackerte etwas auf, das sie auch in den Augen des Fremden gesehen hatte, als sie ihn küsste: Hoffnung. In der Silvesternacht wollte jeder hoffen.

„Ich finde, die Menschen verdienen eine magische Nacht“, antwortete sie, was beinah der Wahrheit entsprach.

Das war sein Stichwort, sein Augenblick, und Remy war nicht dumm. Er kam näher und küsste sie. Rose war viel zu entschlossen, um zurückzuweichen. Remy war weitaus greifbarer als irgendein Märchen. Er stellte alles dar, wofür sie gearbeitet hatte, und sein Kuss war formvollendet. Also, wo blieb das Triumphgefühl? Es stellte sich nicht ein. Stattdessen blieb diese brennende Sehnsucht, die auch ein Sinclair der vierten Generation nicht stillen konnte.

Geduldig wartete sie auf das Gefühl des Sieges, der absoluten Kontrolle. Sie hatte vielleicht den Krieg noch nicht gewonnen, diese Schlacht schon. Warum fühlte sie sich dann noch genauso wie vorher, wie gestern, wie ihr ganzes Leben schon – taub?

Sie legte ihre Hand auf seine und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln, das sie stets einsetzte, um die Menschen glauben zu lassen, dass sie ein Herz habe.

„Ich kann nicht.“

„Zu schnell?“, wollte er wissen.

„Ja“, antwortete sie, Bedauern in der Stimme. „Es tut mir leid, Remy.“ Und das entsprach der Wahrheit, denn sie war enttäuscht von sich selbst. Manchmal sah sie Ungeheuer, wo es keine gab, und manchmal empfand sie nichts, obwohl sie vor Freude hüpfen sollte. „Bald“, versprach sie. „Ich bin einfach noch nicht so weit.“

Er glaubte, sie sei mit ihren Gefühlen noch woanders und verzehre sich nach einem Mann, der ihrer nicht wert war. Die tragische Liebesaffäre war Sylvias Idee gewesen. Rose hatte sich einverstanden erklärt, da sie mehr Probleme löste, als sie schaffte.

„Ich kann warten“, sagte er galant, da er sich anscheinend nicht vorzustellen vermochte, dass eine Frau töricht genug sein konnte, ihm endgültig einen Korb zu geben. Eines Tages würde Rose ihn nicht mehr abweisen. Nur war dieser Zeitpunkt heute Nacht noch nicht gekommen.

Autor

Kathleen Oreilly
<p>Kathleen schrieb ihren ersten Liebesroman im Alter von 11, welcher, zu ihrem ungebrochenen Erstaunen, laut in ihrer Klasse in der Schule vorgelesen wurde. Nach 20 Jahren ist sie jetzt stolz Karriere als Romanautorin gemacht zu haben. Kathleen lebt mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern in Texas.</p>
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