Dakota Fortunes - 6-teilige Serie

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In der Serie über die Angehörigen einer Öldynastie dreht sich alles um Glamour, Intrigen und Leidenschaft. Begleiten Sie sechs Folgen lang die mächtigen Dakota Fortunes auf ihrem Weg ins Glück.

DIE FALSCHEN KÜSSE DES MILLIONÄRS

Diese erotische Anziehungskraft, dieses maskuline Charisma - bei Kinderbuchautorin Gina schrillen alle Alarmglocken! Ein Mann wie Case Fortune ist nichts für sie. Aber aus unerklärlichen Gründen scheint Case entschlossen, sie von seinen Märchenprinz-Qualitäten zu überzeugen …

DIE ZÄRTLICHE RACHE DES MILLIONÄRS

Um ihre Familie zu retten, ging Diana eine Vernunftehe ohne Liebe und Leidenschaft ein. Denn die empfand sie nur für Max. Zehn Jahre später ist Diana endlich wieder frei. Und Max Fortune zurück in ihrem Leben! Unversöhnlich - aber immer noch unwiderstehlich …

HÖCHSTGEBOT FÜR DEINE LIEBE

35.000 Dollar! Ein Raunen geht durch den Saal. Alle Blicke richten sich auf Eliza Fortune, die gegen das Höchstgebot der Wohltätigkeitsauktion ein Dinner für zwei kocht. Und auf Reese Parker, Selfmade-Millionär, der so hoch geboten hat. Aus einem Grund, den nur sie beide kennen ...

ALLES AUF LIEBE?

"Diesem Mistkerl kann man nicht über den Weg trauen", warnt ihr Chef die hübsche PR-Frau Sasha vor seinem Halbbruder, dem Casinobesitzer Blake Fortune. Aber mit dem einen ist sie nur befreundet, der andere macht ihr weiche Knie. Wird Sasha alles auf eine Karte setzen…

DIE HEIßE NACHT IN SEINEN ARMEN

Ich will dich heiraten. Was der erboste Zack zu Sky sagt, ergibt für die Fortune-Erbin keinen Sinn. Sie bekommt ein Baby von ihm – na und? Das gibt ihm nicht das Recht, über sie zu bestimmen. Würde er dagegen ihre erotische Anziehungskraft erwähnen, würde sie glatt Ja sagen …...

SAG MIR LEISE, WAS DU WILLST ...

Lange war Maya für Creed Fortune nur die unscheinbare Tochter seiner Stiefmutter. Doch eine erhitzte Auseinandersetzung führt zu einem Kuss, der Creeds Verlangen weckt - das er sich verbieten muss! Nichts können die mächtigen Fortunes weniger gebrauchen als einen Skandal …


  • Erscheinungstag 02.02.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776251
  • Seitenanzahl 768
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Peggy Moreland, Bronwyn Jameson, Charlene Sands, Kathie Denosky, Jan Colley, Heidi Betts

Dakota Fortunes - 6-teilige Serie

Peggy Moreland

Die falschen Küsse des Millionärs

IMPRESSUM

COLLECTION BACCARA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: 040/60 09 09-361
Fax: 040/60 09 09-469
E-Mail: info@cora.de

© 2007 by Harlequin Books S.A.
Originaltitel: „Merger of Fortunes“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
in der Reihe: DESIRE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe COLLECTION BACCARA
Band 336 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Silke Schuff

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 01/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733722739

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

„Hallo, wen haben wir denn da?“, murmelte Case Fortune überrascht. Er war davon ausgegangen, dass eine Kinderbuchautorin wie eine Bibliothekarin aussah. Hornbrille, flache Schuhe und ein Kleid, das mindestens bis zu den Knöcheln reichte.

Er warf einen Blick auf das Transparent, das von einem Ende der Kinderecke des Buchladens zum anderen gespannt war. Kein Zweifel, er war am richtigen Ort.

Heute Lesung und Signierstunde mit Gina Reynolds, der Autorin der „Geschichten aus Krötenhausen“!

Case unterdrückte ein abfälliges Lachen. Welche Art von Frau schrieb Erzählungen über Kröten? Da musste es sich um ein äußerst seltsames Exemplar handeln. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder der fraglichen Person zu.

Gina Reynolds wirkte allerdings überhaupt nicht verschroben. Anmutig saß sie auf einem Stuhl in Miniaturgröße und hielt ein Buch in die Höhe, damit die auf dem Boden kauernden Kinder die farbigen Illustrationen sehen konnten. Ihr kurzer schwarzer Rock enthüllte lange schlanke Beine, die in eleganten Lederstiefeln steckten.

Ihr Aussehen widersprach allen Vorstellungen, die er sich gemacht hatte. Eine seidige Mähne rotblonden Haars umspielte ihr hübsches Gesicht und fiel ihr über die schmalen Schultern. Ihre zierliche Nase war von Sommersprossen übersät und ihre großen Augen funkelten intensiv grün.

Case beobachtete, wie sie ihren kleinen Fans vorlas und dabei ihre Stimme verstellte, um den unterschiedlichen Figuren der Geschichte mehr Ausdruckskraft zu verleihen. Er hatte nicht erwartet, bei dieser Lesung eine hinreißende Schönheit vorzufinden, und das war Gina Reynolds auch nicht. Sie war jedoch auf jeden Fall einen zweiten Blick wert. Er konnte nicht genau sagen, was ihn an dieser Frau fesselte. Sie gehörte zu den weiblichen Wesen, deren Attraktivität erst bei näherer Betrachtung immer deutlicher zutage trat. Es war vor allem ihre Stimme, die ihn in ihren Bann zog. Er lehnte sich an ein Bücherregal, um zuzuhören, und war bald genauso in die Erzählung versunken wie die Kinder zu Ginas Füßen.

Als sie zum Ende kam und das Buch zuklappte, erhob sich einhelliges Stöhnen der Enttäuschung. Sofort begannen die kleinen Zuhörer, um eine weitere Geschichte zu betteln. Eine zweite Frau, vermutlich die Managerin des Geschäfts, trat in den Kreis der Rabauken, um zu vermitteln.

„Es tut mir leid, Kinder“, sagte sie bedauernd. „Aber Miss Reynolds muss jetzt aufhören. Stellt euch bitte in einer Reihe an der Wand auf, wenn sie euer Buchexemplar signieren soll.“ Sie warf Gina ein Lächeln zu. „Ich bin sicher, sie wird für jeden ein paar persönliche Worte finden.“

Erstaunlich graziös erhob die Autorin sich von dem niedrigen Stuhl und setzte sich hinter einen Tisch, auf dem sich mehrere Stapel ihrer Bücher befanden. Folgsam bildeten die Kinder eine Schlange, die in kurzer Zeit von einem Ende des Ladens bis zum anderen reichte.

Case war verärgert, weil es bedeutete, dass er nun noch länger warten musste, um mit Gina Reynolds ins Gespräch zu kommen, aber so leicht gab er nicht auf. Er brauchte ihre Unterstützung, um eine geplante Fusion in die Realität umzusetzen, deshalb war er fest entschlossen, nicht eher zu gehen, bis er die Gelegenheit bekommen hatte, mit ihr darüber zu reden. Er fasste sich in Geduld, drückte sich zwischen den Bücherregalen herum und gab vor, die Titel zu studieren. Irgendwann musste sich schließlich auch das letzte Kind in der Reihe mit einer Signatur der Autorin im Buch auf den Heimweg machen.

Als es endlich so weit war, trat er an den Tisch und nahm ein Buch vom Stapel. „Würden Sie das für mich signieren?“, bat er höflich.

Gina hatte sich gerade hinuntergebeugt, um ihre Handtasche aufzuheben. Sie schaute freundlich lächelnd auf. Als ihre Blicke sich trafen, blieb das Lächeln zwar auf ihrem Gesicht, aber es verlor deutlich an Wärme. Das versetzte ihn in Erstaunen. Er kannte Gina nicht und war sich sicher, dass auch sie ihn nicht kannte, dennoch glaubte er, so etwas wie Abneigung in ihren Augen zu sehen. Oder doch zumindest Missbilligung.

Sie richtete sich auf, nahm das Buch entgegen, schlug es auf und zückte den Füllfederhalter. „Für wen soll denn die Widmung sein?“

„Für mich“, antwortete er. „Case Fortune.“

„Für Sie?“, fragte sie überrascht.

„Ist das ein Problem?“

Sie errötete und schüttelte abwehrend den Kopf. „Nein, natürlich nicht, aber Sie sind das erste erwachsene männliche Wesen in meiner Laufbahn, dem ich eine Widmung in eins meiner Bücher schreiben soll.“

Er lächelte sie strahlend an. „Dann habe ich den anderen ja etwas voraus.“

Entgegen seiner Erwartung erwiderte sie sein Lächeln nicht. Stattdessen erntete er ein frostiges Stirnrunzeln.

Sie beugte sich über das Buch und schrieb eilig eine Widmung hinein. Ebenso eilig klappte sie den Buchdeckel zu und reichte ihm das signierte Exemplar. „Sie können an der Kasse zahlen“, erklärte sie kurz angebunden und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Handtasche.

Er nickte irritiert. „Danke.“

Ehe er auf den eigentlichen Grund seines Besuchs zu sprechen kommen konnte, wandte sich die Managerin des Geschäfts an Gina.

„Ich würde gern noch mit Ihnen reden, bevor Sie gehen, Miss Reynolds.“

Gina richtete den Blick auf die Frau, die hinter dem Verkaufstresen stand. „Ich bin sofort bei Ihnen.“ Sie erhob sich und nahm ihre Handtasche. „Bitte entschuldigen Sie mich“, sagte sie zu Case.

Verärgert über die Unterbrechung zückte er seine Brieftasche und folgte ihr zum Tresen. Er legte eine Kreditkarte bereit und lauschte der Unterhaltung zwischen den beiden Frauen. Die Managerin gratulierte Gina zum kürzlich erhaltenen Newbury-Buchpreis. Während er weiter zuhörte, fiel sein Blick auf eine Porträtaufnahme der Geschäftsführerin hinter dem Verkaufstresen. Ein kleines Schild darunter wies sie als Susan Meyer aus.

Nachdem er bezahlt hatte und das Buch von der Angestellten an der Kasse entgegengenommen hatte, näherte er sich den beiden Frauen.

„Miss Meyer?“, fragte er höflich.

Sie wandte ihm ihre Aufmerksamkeit zu. „Ja, kann ich Ihnen helfen?“

„Ich bin Case Fortune.“

Bei diesem Namen weiteten sich ihre Augen. „Oh, Mr Fortune!“ Sie kam auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. „Es ist eine Freude, Sie bei uns im Laden zu begrüßen.“

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite“, erwiderte er galant. „Es tut mir leid, Sie zu unterbrechen, doch ich bin nicht umhingekommen, Ihr Gespräch mit anzuhören. Sie sagten, Miss Reynolds hat den Newbury-Buchpreis gewonnen. Ich bin mit solchen Ehrungen nicht vertraut. Ist das eine wichtige Vergabe?“

Susan Meyer legte sich theatralisch eine Hand aufs Herz. „Aber ja! Dabei handelt es sich um eine hohe Auszeichnung der American Library Association. Sie wird an Autoren vergeben, die einen besonders wertvollen Beitrag zur Kinderliteratur geleistet haben. Dieses Jahr ist der Preis an Gina gegangen. Wir sind alle sehr stolz auf sie.“

„Das kann ich mir vorstellen“, sagte Case beeindruckt und wandte sich an Gina. „Ich vermute, Sie feiern eine Party nach der anderen wegen Ihres großen Erfolgs?“

Feine Röte überzog ihre Wangen. „Nein, eigentlich nicht.“

„Ich hoffe, Sie erlauben mir, dieses Versäumnis nachzuholen. Darf ich Sie zu ein paar Cocktails einladen?“

„Cocktails?“, wiederholte sie verblüfft.

„Das scheint mir angemessen.“

„Oh nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Ich kann Ihre Einladung unmöglich annehmen. Trotzdem vielen Dank. Ich muss hierbleiben und Susan beim Aufräumen helfen.“

„Das kommt überhaupt nicht infrage“, widersprach die Managerin. „Sie sind unser Gast. Ich werde mich zusammen mit meinem Team um alles kümmern.“ Sie deutete zum Ausgang. „Gehen Sie feiern. Man bekommt nicht jeden Tag die Gelegenheit, Cocktails mit einem attraktiven Mann zu trinken.“

Das Restaurant, das Case ausgewählt hatte, lag nicht nur in der Nähe der Buchhandlung, es zählte auch zu den besten in Sioux Falls, Dakota. Werktags saßen hier vor allem Geschäftsleute, die während des Essens doppelte Martinis tranken und Kontakte knüpften. Abends war das Geschäft genauso gut besucht. Dieselben Geschäftsleute hofierten nach Feierabend ihre Kunden bei Filetsteak in Pfefferkruste oder bei geräuchertem Lachs. Die Weine waren so exquisit wie die Gerichte. Am Wochenende herrschte allerdings eine andere Atmosphäre. Viele Paare nutzten den Freitag- oder Samstagabend für ein romantisches Dinner bei Kerzenlicht.

Gina wusste das, weil ihr Vater ihre Mutter oft hierher ausgeführt hatte. Nachdem er sie in der Regel die Woche über vollständig ignoriert hatte, versuchte er auf diese Weise, sie milde zu stimmen. Nicht wenige seiner Geschäftsfreunde verfuhren mit ihren Ehefrauen genauso.

Sie warf einen verstohlenen Blick auf Case und überlegte, ob er dieses Restaurant wohl jemals aus ähnlichen Gründen aufgesucht hatte. Er war nicht verheiratet, es gab also keine Ehefrau, die er umgarnen musste, aber vielleicht waren solche Maßnahmen ja auch bei einigen seiner zahlreichen Freundinnen nötig. Soweit sie das einschätzen konnte, verging kaum eine Woche, ohne dass sein Foto in irgendeinem Magazin auftauchte. Und jedes Mal hing eine andere Frau an seinem Arm. Eins hatten sie alle gemeinsam, sie wirkten immer jung und äußerst attraktiv.

An weiblicher Gesellschaft schien es ihm nicht zu mangeln, daher fragte sie sich, wieso er darauf bestanden hatte, mit ihr auszugehen. Unter gesenkten Augenlidern musterte sie ihn aufmerksam. Sie glaubte keine Sekunde daran, dass er nur ihren Erfolg feiern wollte. Männer wie Case Fortune taten nichts, ohne dabei an ihren eigenen Vorteil zu denken. Und davon, mit ihr auf ihren Buchpreis anzustoßen, hatte er nun wirklich nichts.

Während der Kellner routiniert die Champagnerflasche öffnete, beobachtete sie Case mit unverminderter Wachsamkeit. Sie gab es nicht gern zu, aber er sah leibhaftig noch besser aus als auf den Fotos in den Hochglanzmagazinen. Dichtes, dunkles, sehr kurzes Haar. Ein markantes, gut geschnittenes Gesicht. Die Lederjacke, die er lässig über die Stuhllehne gehängt hatte, stammte vermutlich aus dem Atelier eines italienischen Designers, genauso wie das maßgeschneiderte Hemd. Er hatte das Geld, sich jeden Luxus zu erlauben, und das Beste schien gerade gut genug für ihn zu sein. Auch in dieser Hinsicht fühlte sie sich an ihren Vater erinnert.

Der Gedanke an Curtis Reynolds hob ihre Stimmung nicht, im Gegenteil. Sie warf einen kurzen Blick auf die Uhr und fragte sich, wie lange sie wohl bleiben musste, um nicht unhöflich zu wirken. Fünf Minuten? Oder zehn?

„Ihr Champagner, gnädige Frau.“

Erschrocken blickte sie auf und sah sich dem Kellner gegenüber, der ihr eine Champagnerflöte reichte. Sie zwang sich zu einem Lächeln und nahm das Glas. Währenddessen verfluchte sie im Stillen die Managerin der Buchhandlung aufs Gröbste. Susan hatte sie förmlich zur Tür hinausgestoßen. Ihr war kaum etwas anderes übrig geblieben, als Case Fortunes Einladung anzunehmen. Eine Ablehnung wäre ebenso undankbar wie unhöflich gewesen.

„Auf viele weitere Auszeichnungen in der Zukunft.“

Gina schaute auf und sah, dass Case sein Glas erhoben hatte. „Danke“, murmelte sie, prostete ihm zu und nippte an ihrem Champagner.

Sie mochte dieses perlende Getränk nicht besonders. Ihr Vater war völlig versessen darauf. Das allein genügte ihr schon, um eine Abneigung dagegen zu hegen. Bei der erneuten Erinnerung an ihn erschauerte sie unwillkürlich und setzte unwillig das Glas ab. Zweifellos war Case dafür verantwortlich, dass sie heute andauernd an ihren Vater denken musste.

Besorgt blickte er sie an. „Wenn Sie Champagner nicht mögen, kann ich Ihnen auch etwas anderes bestellen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank. Ich trinke nur nicht besonders oft Alkohol.“

Er nickte verständnisvoll und sah sie interessiert an.

„Wissen Sie, ich bin erstaunt, dass wir uns noch nie begegnet sind. Immerhin leben wir in derselben Stadt. Unsere Wege hätten sich ja irgendwann einmal kreuzen können.“

„Eigentlich ist das kein Wunder“, sagte sie und zuckte mit den Schultern. „Ich war lange auf einem Internat und danach an der Universität. Ich bin erst vor einigen Jahren wieder nach Sioux Falls gezogen.“

„Ich schätze, das erklärt alles“, erwiderte er und lächelte. „Ich kenne Ihren Vater. Ehrlich gesagt, bin ich sein größter Fan. Er hat Reynolds Refining zu einem Unternehmen gemacht, das auf dem Weltmarkt eine bedeutende Rolle spielt. Die Firma wird hervorragend geführt und steht finanziell sehr gut da. Das ist bei der heutigen Wirtschaftslage keine Selbstverständlichkeit.“

Gina langweilte das Gespräch zu Tode. Sie wandte den Blick ab. „Ich habe kaum Ahnung von diesen Dingen.“

„Sie interessieren sich nicht für das Unternehmen Ihres Vaters?“

„Absolut nicht.“

„Und warum nicht?“

Sie schaute erneut auf die Uhr. „Ich sollte jetzt gehen.“

Erstaunt hob er die Augenbrauen. „Aber wir haben unseren Champagner noch gar nicht ausgetrunken.“

Sie griff nach ihrer Handtasche. „Wie ich schon sagte, ich mag Alkohol nicht besonders gern.“

Er verschränkte die Arme vor der Brust, beugte sich vor und musterte sie eindringlich. „Ich habe vielmehr den Eindruck, Sie mögen mich nicht besonders.“

Peinlich berührt senkte Gina den Blick. Sie ärgerte sich, weil sie ihre Gefühle nicht besser verborgen hatte. „Nicht Sie persönlich. Nur Männer wie Sie.“

„Und was für ein Mann bin ich Ihrer Meinung nach?“

Ungeduldig zuckte sie mit den Schultern. „Ich muss jetzt wirklich gehen. Vielen Dank für den Champagner.“

Er legte eine Hand auf ihre, um sie aufzuhalten. „Ich würde Sie gern wiedersehen.“

Seine Augen waren von einem unglaublichen Blau. Er fixierte sie mit einer Intensität, die es ihr schwer machte, den Blick abzuwenden. „Ich gehe kaum aus. Meine Arbeit nimmt mich sehr in Anspruch.“

„Aber Sie müssen doch dann und wann mal essen, oder?“

„Normalerweise tue ich das am Schreibtisch.“

„Darf ich Sie wenigstens anrufen?“

Panik durchzuckte sie für einen Moment. Ihr fiel absolut keine höfliche Ausrede ein. Hastig entzog sie ihm ihre Hand und stand auf. „Gern“, sagte sie und lächelte gezwungen. „Nochmals vielen Dank für den Champagner.“ Bevor er es schaffte, irgendetwas zu erwidern, drehte sie sich um und eilte zur Garderobe, um in ihren Mantel zu schlüpfen.

Case Fortune würde sie nicht anrufen. Während sie das Restaurant verließ, stahl sich ein triumphierendes Lächeln auf ihr Gesicht. Das konnte er gar nicht.

Ihre Telefonnummer war nicht im Telefonbuch.

„Hast du schon etwas erreicht bezüglich der Fusion mit Reynolds?“

Case lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und unterdrückte ein Seufzen, während sein Bruder Creed ihm gegenüber Platz nahm.

Obwohl es ihm lieber gewesen wäre, sein Bruder hätte dieses heikle Thema nicht angeschnitten, konnte er ihm wegen seiner Neugier keinen Vorwurf machen. Es hing viel davon ab für Dakota Fortune. Da er das Unternehmen gemeinsam mit Creed leitete, hatte der natürlich ein großes Interesse am Erfolg der Fusion. „Nein“, antwortete er widerwillig. „Ich arbeite jedoch an dem Problem.“

Creed fluchte verhalten. „Verdammt, Case. Muss ich dich wirklich daran erinnern, wie wichtig diese Sache für uns ist?“

„Nein, nicht nötig. Mir ist das ebenso klar wie dir, aber ich kann nichts dafür, wenn Reynolds einen Rückzieher macht.“

Creed stand auf, um unruhig auf und ab zu gehen. „Es gibt doch bestimmt eine Möglichkeit, ihn zu zwingen.“

„Ich habe Kontakt zu seiner Tochter geknüpft. Sie ist ein wichtiges Rädchen im Getriebe. Reynolds hat sich aus irgendwelchen Gründen entschlossen, ihr sein Unternehmen zu überlassen, anstatt es uns zu verkaufen, wie er ursprünglich vorhatte.“

Sein Bruder blieb stehen. „Tochter? Ich wusste gar nicht, dass Curtis Kinder hat.“

„Ich auch nicht, bis er mir sagte, dass er seine Meinung über die Fusion geändert hat.“

„Hat sie denn überhaupt Erfahrung in der Branche?“

Case stieß ein Schnauben aus. „Kaum. Sie ist Schriftstellerin, Kinderbücher, stell dir vor. Soweit ich das beurteilen kann, hat sie keinerlei Interesse an den Geschäften ihres Vaters.“

„Aber warum will Reynolds das Unternehmen dann ihr überlassen? Wir wissen schließlich beide, wie unbeständig die Energiebranche ist. Wenn jemand ohne Erfahrung die Raffinerie in die Hände bekommt, wird sie innerhalb eines Monats bankrottgehen.“

Case nickte nachdenklich. Daran hatte er auch schon gedacht. „Du erzählst mir nichts Neues, doch was kann ich dagegen tun? Reynolds hat entschieden, dass er sein Geschäft seiner Tochter hinterlassen möchte. Als eine Art Vermächtnis, nehme ich an.“

„Du musst einen Weg finden, ihn zu zwingen, sich an seine ursprüngliche Zusage zu halten. Wir brauchen diese Fusion.“

„Wie gesagt, ich arbeite daran. Die Tochter ist der Schlüssel, dabei will sie seine Firma gar nicht haben. Ich muss nur irgendwie erreichen, dass sie ihren alten Herrn davon überzeugt, mit uns zu fusionieren.“

„Und wie wirst du das bewerkstelligen?“

Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lächelte süffisant. „Mach dir keine Sorgen, kleiner Bruder. Ich weiß, wie man mit Frauen umgeht.“

Creed verdrehte die Augen und ging zur Tür. „Entschuldige. Für einen Moment hätte ich fast vergessen, mit wem ich rede.“

Nachdem sein Bruder die Tür geschlossen hatte, ließ Case die Hände sinken und runzelte die Stirn. Es war nicht länger nötig, unangebrachten Optimismus zu verströmen. In Wahrheit hatte er Creed etwas vorgemacht. Auch wenn er gewisse Erfahrungen mit Frauen für sich in Anspruch nehmen durfte, so war er doch in diesem speziellen Fall bisher nicht weit gekommen.

Wie sollte er Reynolds’ Tochter überzeugen, ihn zu unterstützen, wo er noch nicht einmal mit ihr sprechen konnte? Diese junge Frau hatte ihn einfach ausgetrickst. Einer Autorin von Kinderbüchern war es mühelos gelungen, Case Fortune hereinzulegen.

Er biss die Zähne zusammen, als er an Ginas unschuldiges Lächeln dachte, mit dem sie ihm erlaubt hatte, sie anzurufen. Natürlich wusste sie in dem Moment ganz genau, dass ihm das nicht möglich sein würde. Nicht, wenn ihre Telefonnummer nirgendwo verzeichnet war.

Es wäre nicht so schwer, ihre Anschlusskennung herausfinden zu lassen, nur ein paar Anrufe bei den richtigen Leuten, aber er konnte es nicht riskieren, es auf diese Art zu versuchen. Sobald Gina seine Stimme hören würde, wäre ihr klar, dass er ihre Nummer auf fragwürdige Weise bekommen hatte. Damit hätte sie nur einen Grund mehr, ihn nicht zu mögen.

Sie hegte schon jetzt nur wenig Sympathie für ihn, oder besser: für Männer wie ihn. Das hatte sie jedenfalls gesagt, wenn er sich recht erinnerte. Für welche Art von Typ mochte sie ihn wohl halten?

Frustriert ließ er die Schultern sinken, aber schließlich riss er sich zusammen. Letztendlich war es egal, was sie von ihm dachte. Sie lag ganz offensichtlich falsch, und er würde sie vom Gegenteil überzeugen.

Es war nur die Frage, wie er das anstellen sollte.

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht, als ihm die Lösung einfiel. Es war so einfach, dass er sich wunderte, wieso er nicht sofort darauf gekommen war. Er drückte einen Knopf der Sprechanlage.

„Ja, Mr Fortune?“, meldete sich seine Sekretärin augenblicklich.

„Marcia, bestellen Sie bitte bei unserem Floristen drei Dutzend gelbe Rosen. Sie sollen an Gina Reynolds geliefert werden.“

„Finde ich ihre Adresse in Ihrer privaten oder in der geschäftlichen Datei?“

„In keiner von beiden. Sie ist Curtis Reynolds’ Tochter. Vermutlich müssen Sie ein wenig forschen, um die Anschrift herauszufinden, aber sie ist eine bekannte Schriftstellerin. Es dürfte nicht allzu schwierig sein.“

„Wird erledigt. Was soll auf der Karte stehen?“

Case dachte einen Moment nach, dann grinste er breit. „Beste Grüße vom Krötenfan.“

„Wie bitte?“

„Krötenfan“, wiederholte er geduldig. „Sie wissen schon, Kröten. So ähnlich wie Frösche. Nur nicht grün.“

„Äh, ja, Sir. Natürlich. Ich kümmere mich sofort darum“, erwiderte Marcia hörbar irritiert.

„Und beauftragen Sie den Floristen, einen Behälter für die Blumen zu finden, der wie eine Kröte geformt ist. Kristall oder Silber wäre gut.“

„Was immer Sie wünschen“, erklärte die Sekretärin skeptisch. „Ist das eine Art von Scherz?“

„Nein. Eher eine Art von Krieg.“

Das erste Läuten an der Tür ignorierte Gina geflissentlich. Sie saß an ihrem Zeichentisch und fertigte eine Skizze nach der anderen an. Gerade befand sie sich mitten in einer kreativen Phase und die Bilder flossen ihr förmlich aus dem Stift. Wenn sie ihre Arbeit jetzt unterbrach, würde sich alles verflüchtigen, bevor sie eine Chance hatte, es zu Papier zu bringen.

Es klingelte zum zweiten Mal. Sie hob die Schultern und versuchte, das nervtötende Geräusch auszublenden. Beim dritten Mal fluchte sie leise, legte den Zeichenstift beiseite und marschierte übellaunig zur Eingangstür ihres Lofts. Sie war bereit, denjenigen, der sie störte, zu hängen und zu vierteilen.

Das Gesicht grimmig verzogen, spähte sie durch den Spion – und sah Rosen. Gelbe Rosen. Ein ganzes Meer davon. Neugierig öffnete sie die Tür, trat einen Schritt zurück und schlug die Hände vor den Mund. „Ach du meine Güte!“

„Eine Lieferung für Miss Gina Reynolds“, drang eine männliche Stimme hinter dem Wall aus Rosen hervor.

Sie schaffte es nicht, den Inhaber der Stimme zwischen der gelben Pracht zu erkennen. „Das bin ich.“

„Wo soll ich die Rosen abstellen?“

„Ich nehme sie“, bot Gina an und streckte die Arme aus. Vergeblich versuchte sie, die Blumenpracht in den Griff zu bekommen, und gab schließlich auf. „Vielleicht bringen doch besser Sie den Strauß herein. Ich zeige Ihnen den Weg.“ Sie trat hinter den Lieferanten, legte ihm die Hände auf die Schultern und schob ihn sachte vorwärts. „Immer geradeaus. Vorsicht, links von Ihnen ist ein Pfeiler. Ja, so ist es gut. Vor Ihnen befindet sich ein Tisch. Da können Sie die Rosen abstellen.“

Erleichtert seufzend entledigte sich der junge Mann seiner Last, zückte einen Lieferschein und hielt ihn ihr zusammen mit einem Stift entgegen. „Unterschreiben Sie bitte hier.“

„Von wem sind die denn?“, fragte sie, während sie ihren Namen auf das Papier kritzelte.

„Da bin ich überfragt“, antwortete der Lieferant, zuckte mit den Schultern und überreichte ihr den Durchschlag des Belegs. „Vermutlich steckt da irgendwo eine Karte. Wenn nicht, können Sie im Blumenladen anrufen. Die wissen es dort bestimmt. Die Telefonnummer steht auf Ihrem Kontrollzettel.“

Gina nickte, nahm fünf Dollar aus ihrer Brieftasche und reichte sie dem jungen Mann. „Vielen Dank.“

Nachdem sie den Lieferanten zur Tür gebracht hatte, kehrte sie an den Esstisch zurück und suchte im Blumenmeer nach einer Karte, vergeblich. Schließlich stellte sie fest, dass sie an der Vase befestigt war.

„Lieber Himmel“, entfuhr es ihr, als sie das Gefäß näher in Augenschein nahm. Es handelte sich um einen aufwendig gearbeiteten silbernen Behälter in der Form einer Kröte, und diese Kröte schien sie aus Strass-besetzten Augen anzufunkeln. In freudiger Erwartung griff Gina nach dem Umschlag und zog das Kärtchen heraus. Wahrscheinlich wollte ihr Agent ihr auf diesem Weg zur Preisverleihung gratulieren.

„Krötenfan?“ Sie runzelte die Stirn und las die säuberlich getippte Zeile auf der Rückseite der Karte: Rufen Sie mich an. Hinter dieser Aufforderung befand sich eine Telefonnummer.

Die Nummer war ihr gänzlich unbekannt. Sie ging zum Telefon und wählte. Nach dem zweiten Läuten hörte sie das Klicken eines Anrufbeantworters. „Dies ist der Anschluss von Case Fortune. Hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Signalton.“

Wie erstarrt stand sie da. Als ein Piepen ertönte, beendete sie hastig die Verbindung.

Case Fortune schickte ihr Blumen? Noch dazu gelbe Rosen, die sie besonders gern mochte? Wie konnte er das wissen? Dazu war die silberne Vase noch wunderschön, das perfekte Geschenk für sie. Sie sammelte Kröten in allen nur erdenklichen Ausführungen.

Wieso sollte dieser Mann ihr ein so wundervolles Arrangement schicken?

„Das spielt nicht die geringste Rolle“, ermahnte sie sich.

Was auch immer seine Gründe sein mochten, sie war nicht interessiert. Nicht an ihm und nicht an seinen Geschenken. Sie würde alles wegwerfen. Auf keinen Fall wollte sie etwas behalten, das von ihm kam.

Sie war schon dabei, die Rosen mit beiden Händen zu umfassen und sie zum Mülleimer zu tragen, als sie unvermittelt innehielt. Die Augen auf dem silbernen Gefäß blickten sie anklagend an. Niemals könnte sie einer Kröte so etwas antun. Das wäre so, als ließe sie einen Freund im Stich.

Also gut, dachte Gina, straffte die Schultern und riss die Karte in kleine Fetzen. Sie würde die Kröte samt Blumen behalten, doch sie würde sich nicht bei Case melden. Gleichgültig, wie sehr sie die gelben Rosen oder die Krötenvase mochte, sie würde nicht anrufen. Unter gar keinen Umständen. Nicht einmal, um sich zu bedanken. Das widersprach zwar allen Regeln der Höflichkeit, aber das war ihr in dem Fall egal.

Sie wollte mit diesem Mann nichts zu tun haben.

„Dein persönliches Taxi ist da!“

Gina war damit beschäftigt, ihre Aktentasche für eine Reise nach New York zu packen, und blickte auf, als Zoies fröhliche Stimme zu ihr drang. Zoie war ihre Nachbarin von gegenüber und die einzige Person, die außer ihr einen Schlüssel zu ihrem Loft besaß. Zoie nutzte diese Auszeichnung, um ständig unangemeldet hereinzuschneien. So auch in diesem Fall.

Heute trug ihre flippige Nachbarin eine pinkfarbene Igelfrisur und eine brandneue Tätowierung auf dem Handrücken.

Gina schüttelte resigniert den Kopf und schloss die Aktentasche. Es war erfahrungsgemäß zwecklos, Zoies fragwürdige Umgangsformen oder ihre bizarre Aufmachung zu kommentieren. „Gut. Ich hole nur noch meinen Trolley.“

Ungläubig starrte Zoie auf die zahlreichen Blumenarrangements im Raum. „Mädchen, hast du das Schreiben aufgegeben und eine Blumenhandlung eröffnet?“

Gina verzog das Gesicht und schlüpfte in ihren Mantel. „Nein. Obwohl es danach aussieht, das muss ich zugeben.“

Ihre Nachbarin strich mit einem Finger über einen Strauß Vergissmeinnicht. „Offenbar verschweigst du mir etwas. Wer ist der Kerl?“

„Es gibt keinen Kerl“, antwortete Gina ausweichend.

Zoie wies auf die Blumensträuße, die an jedem nur erdenklichen Platz im Wohnzimmer deponiert waren. „Und was soll das dann alles?“

Gina seufzte. „Ich wünschte, ich wüsste es. Es fing mit gelben Rosen an. Sie wurden am Montag geliefert. Am Dienstag bekam ich ein Bukett Gänseblümchen. Später am Tag kamen Orchideen. Am Mittwoch waren es Gladiolen und Pfingstrosen, gestern ein Strauß Vergissmeinnicht und die Palme dort in der Ecke.“

„Und heute?“, wollte Zoie wissen.

Gina deutete auf die Stellwand, die den Schlafbereich vom Rest des Lofts trennte. „Da drüben. Ich habe hier keinen Platz mehr.“

„Dieser Mann muss wahnsinnig in dich verliebt sein. Sieh dir doch nur mal die Orchideen an. Um diese Jahreszeit kosten die ein kleines Vermögen.“

Gina schnitt eine Grimasse. „Glaub mir, er kann es sich leisten. Und er ist ganz bestimmt nicht in mich verliebt. Er kennt mich eigentlich nicht einmal.“

Zoie quittierte diese Bemerkung mit einem skeptischen Blick.

„Das ist die reine Wahrheit. Wir sind uns letzten Samstag während meiner Lesung zum ersten Mal begegnet.“

In gespieltem Entsetzen schlug Zoie die Hände zusammen. „Bitte sag mir, dass er erwachsen ist und nicht einer von den kleinen Jungs, die dich anhimmeln.“

„Ja, natürlich ist er erwachsen.“

„Hat er auch einen Namen?“

„Case Fortune.“

„Doch nicht etwa der Case Fortune?“ Zoies Augen weiteten sich.

„Du hörst dich an, als wäre er eine Art Gott oder so.“ Gina schüttelte missbilligend den Kopf.

„Den Klatschspalten nach zu urteilen, ist er genau das.“

„Was für ein Unsinn. Er ist ganz bestimmt kein Übermensch.“

Zoie musterte sie aus leicht zusammengekniffenen Augen. „Ich dachte, du kennst ihn nicht.“

„Das tue ich auch nicht, aber ich kenne genug Männer wie ihn, um ihn einschätzen zu können.“

„Und? Was hältst du von ihm?“

„Er ist herzlos, egoistisch und ehrgeizig“, erwiderte Gina. „Soll ich fortfahren?“

„Wenn ich mich nicht irre, sind das die gleichen Eigenschaften, die du deinem Vater zuschreibst.“

„Du irrst dich nicht. Sie ähneln sich in ihrem Verhalten wie zwei Erbsen, die in einer Schüssel herumkullern.“

„Ach, komm schon, Gina. Gib dem Mann eine Chance. Nur weil dein Vater ein selbstsüchtiger Idiot ist, heißt das noch längst nicht, dass alle Männer so sind.“

Gina reckte das Kinn vor. „Das habe ich auch nie gesagt.“ Sie hob ihre Aktentasche hoch und signalisierte damit das Ende der Diskussion. „Wir sollten uns auf den Weg machen. Die Sicherheitskontrollen am Flughafen dauern ziemlich lange. Ich will auf keinen Fall meinen Flug verpassen.“ Sie holte ihren Trolley aus dem Schlafzimmerbereich und ging zur Tür.

„Du weißt doch hoffentlich noch, dass ich ein paar Tage bei Sulley bin und dich nicht abholen kann, wenn du zurückkommst?“, fragte Zoie, während sie ihr folgte.

„Ja, das habe ich nicht vergessen.“

„Und wie kommst du dann nach Hause?“

„Ich nehme mir ein Taxi.“

„Du könntest Case Fortune fragen, ob er dich abholt. Ich bin sicher, es wäre ihm ein Vergnügen“, erklärte Zoie, als sie in den Korridor trat, wobei sie breit grinste.

Gina gab ein abfälliges Schnauben von sich. „Da gehe ich doch lieber zu Fuß.“

2. KAPITEL

Die Taxifahrt vom Flughafen zu ihrem Loft nach der Rückkehr aus New York ging ziemlich langsam vonstatten, da es einige Stunden zuvor zu schneien begonnen hatte. Gina machte die Verzögerung nichts aus. Es wartete zu Hause ja niemand auf sie, nicht einmal Zoie. Außerdem mochte sie Schnee.

Sie drückte ihr Gesicht an das Seitenfenster und beobachtete, wie sich große weiße Flocken aus dem bleigrauen Himmel lösten und auf die Erde schwebten. Als kleines Mädchen hatte sie bei solchem Wetter oft draußen gestanden und versucht, die Schneeflocken mit offenem Mund einzufangen. Ihre Mutter hatte sie immer geneckt und behauptet, sie sähe dabei aus wie ein hungriges Vögelchen mit aufgesperrtem Schnabel.

Bei dieser Erinnerung trat ein trauriges Lächeln auf ihr Gesicht. Sie vermisste ihre Mutter. Ihr fehlten die Unterhaltungen spät am Abend mit ihr. Oder die Vormittage auf dem Sofa, wobei sie, während sie plauderten, den Kopf auf den Schoß ihrer Mutter legte. Sie schloss die Augen und glaubte für einen Moment zu spüren, wie die schlanken Finger ihrer Mom durch ihr Haar strichen, und meinte ihr leises Lachen zu hören, das sie oft von sich gab, wenn sie ihr eine von den Geschichtchen erzählte, die sie, Gina, sich als Kind ausgedacht hatte. Und sie hörte ihre freundliche Stimme: Du solltest sie aufschreiben, bevor du sie vergisst. Vielleicht willst du sie eines Tages veröffentlichen.

„Das habe ich, Mama“, flüsterte Gina ihrem Spiegelbild in der Fensterscheibe zu.

„Was haben Sie gesagt?“, fragte der Fahrer.

Gina schrak aus ihren Gedanken auf und wandte sich verlegen dem Mann am Steuer zu. „Schon gut. Es war nichts. Ich habe nur laut gedacht. Entschuldigen Sie.“

„Wir sind gleich da“, erwiderte er freundlich. „Wird auch Zeit. Der Wetterbericht sagt, dass wir noch mehr Schnee kriegen bis morgen früh, mindestens dreißig Zentimeter.“

Gina sah aus dem Fenster und lächelte. „Die Kinder werden begeistert sein. Schneeballschlachten, Schneemänner bauen und Schlitten fahren. Das wird ein Fest für sie.“

Der Fahrer blickte sie im Rückspiegel an. „Haben Sie Kinder?“

„Ich? Oh nein. Ich bin nicht verheiratet.“

Er wiegte nachdenklich den Kopf. „Man braucht keinen Trauschein, um Kinder in die Welt zu setzen. Heutzutage ist das nichts Besonderes mehr. Viele Leute denken, es sei leicht, Kinder alleine großzuziehen. Das ist verrückt, wenn Sie mich fragen. Ich glaube, dazu gehören immer noch zwei. Eine Mutter und ein Vater.“

Gina lehnte sich wieder an die Scheibe und erinnerte sich an ihre eigene Familie. Ein Vater, der nie da war, und eine Mutter, die verzweifelt versuchte, es ihm recht zu machen.

Manchmal sind selbst zwei Personen nicht genug, dachte sie traurig.

„So, da sind wir“, meinte der Mann. „Soll ich vor der Eingangstür halten oder in die Tiefgarage fahren?“

„Vor die Haustür bitte.“

Während er ihren Trolley aus dem Kofferraum lud, holte Gina das nötige Kleingeld aus der Brieftasche, um den Fahrpreis nebst Trinkgeld bezahlen zu können. Dann hängte sie sich die Handtasche über die Schulter, nahm ihre Aktentasche und stieg aus dem Wagen. Eine Schneeflocke landete genau auf ihrer Nasenspitze und brachte sie zum Lachen.

„Vielen Dank“, sagte sie und reichte ihrem Chauffeur das Geld. „Fahren Sie heute Nacht vorsichtig.“

Er tippte sich an die Mütze. „Das werde ich. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

„Danke gleichfalls“, erwiderte Gina, fasste den Trolley am Griff und zog ihn hinter sich her zur Treppe. Durch die Scheiben der Doppeltür flutete gedämpftes Licht über die schneebedeckten Stufen zum Eingang.

„Willkommen zu Hause.“

Gina stolperte, ließ erschrocken den Koffergriff los und wirbelte herum. Ein Mann trat aus dem Schatten neben dem Treppenaufgang. Die Hände in den Manteltaschen, eine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, sah er aus wie ein Straßenräuber. Auch wenn es in dieser Gegend kaum je zu einem Überfall kam, war es doch nicht ausgeschlossen. Gina befürchtete, sie würde Opfer eines der hier seltenen Verbrechen werden, und schaute sich hektisch nach dem Taxi um, doch es war schon zu weit entfernt, als dass sie sich dem Fahrer hätte bemerkbar machen können.

„Wie war Ihre Reise?“

Sie erkannte die Stimme des mutmaßlichen Straßenräubers und atmete erleichtert, aber fassungslos auf. „Case?“, fragte sie und presste sich eine Hand auf ihr hämmerndes Herz. „Lieber Himmel, Sie haben mich zu Tode erschreckt.“

Er trat näher und nahm die Kappe ab. „Tut mir leid. Das war nicht meine Absicht.“

Gina kam sich plötzlich ziemlich dumm vor, weil sie einen Überfall befürchtet hatte. Verlegen zog sie den Riemen ihrer Handtasche höher über die Schulter. „Was tun Sie denn hier?“

„Ich wollte Sie nach Ihrer Reise willkommen heißen.“

Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Woher wussten Sie, dass ich verreist war?“

„Eine von Ihren Nachbarinnen hat es mir gesagt. Ich glaube, ihr Name ist Zoie. Als der Blumenhändler mir telefonisch mitteilte, dass er keine Lieferungen mehr zustellen konnte, habe ich mir Sorgen gemacht. Ich dachte, ich schaue besser mal nach, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist. Zoie kam zufällig gerade aus dem Haus, als ich eintraf, und erzählte mir, dass Sie auf Geschäftsreise in New York sind.“

Gina nahm sich vor, Zoie dringend ans Herz zu legen, sich in Zukunft um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern. „Wie Sie sehen, ist mit mir alles in Ordnung.“

Er musterte sie eindringlich vom Kopf bis zu den Zehen. Ein laszives Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

„Oh ja. Das sehe ich. In bester Ordnung.“

Unbehaglich trat sie von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte nicht die Absicht, auf sein merkwürdiges Kompliment einzugehen. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, es war ein anstrengender Tag.“ Sie wollte den Koffer nehmen, aber Case war schneller.

Er umfasste den Griff und machte mit der freien Hand eine einladende Bewegung. „Zeigen Sie mir den Weg.“

Sie straffte die Schultern. „Ich bin durchaus in der Lage, meine Taschen selbst zu transportieren.“

„Das bezweifle ich nicht“, sagte er freundlich. „Doch meine Mutter würde sich im Grabe umdrehen, wenn ich tatenlos danebenstünde, während eine Frau schwer an ihrem Gepäck trägt.“

Gina zögerte. Sie wollte seine Hilfe nicht, aber da es vermutlich keinen Sinn hatte, sich weiter zu sträuben, drehte sie sich schließlich um und ging zur Tür. Sie hörte seine Schritte dicht hinter sich. Nachdem sie aufgeschlossen hatte, wandte sie sich um und streckte die Hand nach ihrem Koffer aus.

Case verstellte ihr den Weg und nickte in Richtung Eingang. „Ladies first.“

Da ihr kaum etwas anderes übrig blieb, betrat sie die Eingangshalle und marschierte zum Lift. „Das ist wirklich nicht nötig“, sagte sie kühl.

„Aber es ist mir ein Vergnügen.“

Sie runzelte die Stirn und verdrehte die Augen, um ihr Missfallen kundzutun. Als sie Lifttür aufging, folgte er ihr in den Aufzug.

„Sie haben mich nicht angerufen“, bemerkte er in sachlichem Ton.

„Stimmt“, erwiderte sie, den Blick auf das Display mit den Stockwerksanzeigen gerichtet. Ihr Loft lag direkt gegenüber dem Lift. Sie stieg aus und drehte sich vor ihrer Tür zu Case um. „Vielen Dank für Ihre Hilfe. Jetzt komme ich ganz bestimmt allein zurecht.“

Er nickte. „Ich würde Sie gern wiedersehen.“

„Warum?“, fragte sie kurz angebunden.

„Warum nicht?“, erwiderte er und zuckte mit den Schultern.

„Ich sagte Ihnen bereits, dass ich mir aus Männern wie Ihnen nichts mache.“

„Wie können Sie da so sicher sein? Sie kennen mich doch gar nicht.“

„Ich kenne Sie gut genug, um zu wissen, dass ich nicht interessiert bin.“

Als sie sich abwandte, umfasste er einen ihrer Arme und hielt sie fest, sodass sie sich zu ihm umdrehte. Sie wollte schon entrüstet protestieren, aber ein Blick in seine unglaublich blauen Augen ließ sie verstummen.

„Geben Sie mir eine Chance“, bat er. „Gehen Sie mit mir aus. Vergessen Sie, was Sie über mich gehört haben, und bilden Sie sich selbst ein Urteil.“

Gina schluckte trocken. Sie musste ihn zurückweisen, denn sie hatte keine Lust, mit ihm auszugehen. Das würde doch nur mit einer Enttäuschung enden. Sie wusste, was für eine Art von Mann er war. Er war ganz genau wie ihr Vater.

Bis jetzt hatte er sich allerdings offenbar von seiner besten Seite gezeigt. Liebenswürdig, höflich und hilfsbereit. Und er sah unverschämt gut aus. Außerdem kam es nicht besonders oft vor, dass jemand sie um eine Verabredung bat. Ihr war nicht klar, woran es lag, aber sie hatte nicht viele Freunde.

„Also gut“, lenkte sie schließlich widerwillig ein. „Ich werde mit Ihnen ausgehen, aber nur …“

Bevor sie den Satz beenden konnte, spürte sie seine Lippen auf ihren. Sie war so verblüfft, dass sie sich an ihm festhalten musste, um nicht zu straucheln.

Eigentlich hätte sie beleidigt sein sollen. Oder zumindest empört. Dieses Verhalten war genau das, was sie von ihm erwartet hatte. Egoistisch, rücksichtslos und ignorant gegenüber den Gefühlen anderer. Sie hätte ihn zurückstoßen müssen, doch der Kuss war einfach atemberaubend. Zärtlich, behutsam und trotzdem verführerisch. Sie konnte gar nicht anders, als stillzuhalten und den Augenblick zu genießen.

Sein Mantel war kalt von den winterlichen Temperaturen draußen. Sie spürte es an ihren Handflächen, genauso wie die Feuchtigkeit der mittlerweile geschmolzenen Schneeflocken. Unter dem Wollstoff jedoch fühlte sie seinen Herzschlag und die Wärme, die sein Körper ausstrahlte.

Als er sich sanft von ihr löste, waren ihre Knie weich, ihr Hirn war seltsam benebelt und ihre Atmung war vorübergehend zum Stillstand gekommen. Case strich ihr zärtlich über die Wange und lächelte.

„Ich hole dich morgen Mittag ab. Zieh dich warm an.“

„In Ordnung“, murmelte sie mit brüchiger Stimme und betrat ihr Loft.

Auf ihren Lippen spürte sie immer noch seinen Kuss.

Am Mittag des folgenden Tages hatte Gina sich selbst davon überzeugt, dass sie viel zu viel in die Sache hineininterpretiert hatte. Sie war von Case kalt erwischt worden, denn sie hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass er sie küssen würde. Deshalb hatte sie anfangs mehr darin gesehen, als es eigentlich zu bedeuten hatte. Außerdem galt es zu bedenken, dass Männer wie er ausgezeichnete Schauspieler waren. Wenn es die Situation verlangte, einer Frau mit einem atemberaubenden Zungenspiel zu weichen Knien zu verhelfen, dann konnte er eine solche Vorstellung mit Sicherheit überzeugend abgeben. Vermutlich hatte er hinterher auch keine Gewissensbisse wegen der Täuschung.

Obwohl sie ihre Meinung über den Kuss geändert hatte, war sie bei ihrer Entscheidung, mit Case auszugehen, geblieben. Jetzt noch einen Rückzieher zu machen und sich herauszuwinden, würde garantiert mehr Ärger verursachen, als die ganze Sache wert war. Vor allem, wenn sie die Sturheit dieses Mannes in Betracht zog. Sie fand es schon anstrengend, nur darüber nachzudenken.

Deshalb saß sie nun neben ihm im Bus und trug, seinem Vorschlag folgend, die wärmste Kleidung, die sie besaß. Sie war ziemlich erstaunt gewesen, als er sie zur Bushaltestelle in der Nähe ihrer Wohnung geführt hatte, denn sie hatte angenommen, es sei unter seiner Würde, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, zumal er seinen Cadillac direkt vor ihrem Haus geparkt hatte.

Nun warf sie ihm einen Seitenblick zu und fragte sich, ob sie sich bei der Einschätzung seiner Persönlichkeit wohl auch in anderen Punkten geirrt hatte. Als ob er ihren Blick gespürt hätte, wandte er ihr das Gesicht zu und lächelte.

„Ist dir warm genug?“

Sie waren ohne große Diskussion dabei geblieben, sich zu duzen. Es fiel ihr nicht schwer, sein Lächeln zu erwidern. „Ja, alles bestens. Wohin fahren wir denn?“

„Zu den Wasserfällen.“

Verblüfft schnappte sie nach Luft. „Zu den Wasserfällen?“

„Ja. Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Im Sommer sind sie wohl am schönsten, aber ich persönlich mag die Fälle im Winter am liebsten, wenn Schnee liegt und das Wasser zu gefrieren beginnt.“

„Die Wasserfälle“, wiederholte Gina immer noch fassungslos. Sie hätte nie gedacht, dass Case Spaß daran haben könnte, eine Touristenattraktion zu besuchen.

„Wir können auch woanders hinfahren“, sagte er unsicher.

Sie schüttelte den Kopf. „Oh nein. Ich mag die Wasserfälle. Ich bin nur überrascht, das ist alles.“

Wieder lächelte er und verschränkte seine Finger mit ihren. „Ich fahre mindestens einmal im Monat hin. Wenn ich Zeit habe, sogar öfter.“

Gina schluckte. Die Selbstverständlichkeit, mit der er ihre Hand genommen hatte und sie nun festhielt, machte sie nervös. Sie hoffte nur, dass sie vor lauter Aufregung nicht schwitzte, und wünschte, sie hätte Handschuhe an.

„Warst du mal dort auf dem Aussichtsturm?“

„Ja, aber das liegt Jahre zurück.“

„Dann sollten wir den Turm auf jeden Fall mit ins Programm nehmen. Ich dachte, wir gehen noch ins Horse Barn Arts Center. Da haben sie gerade eine interessante Kunstausstellung.“

Das Horse Barn Arts Center war ein Kulturzentrum, das neben ständigen Exponaten auch Wanderausstellungen beherbergte. Außerdem wurden in den Räumlichkeiten kulturelle Veranstaltungen organisiert. Gina wusste alles über die Einrichtung, denn sie war aktives Mitglied im Kulturausschuss. Sie besuchte jede Ausstellung, die dort zu sehen war. Tatsächlich hatte sie vorgehabt, am kommenden Wochenende dorthin zu gehen. Die aktuelle Präsentation war interaktiv und die eigentliche Zielgruppe waren Kinder, denen durch spielerisches Lernen Kunst nahegebracht werden sollte. Sie fand das höchst spannend und interessant, aber sie konnte sich kaum vorstellen, dass Case für so etwas Begeisterung aufbrachte.

„Was möchtest du zuerst machen? Aussichtsturm oder Ausstellung?“

Sie überlegte einen Moment. „Den Turm. Dann können wir uns hinterher im Horse Barn Center aufwärmen.“

Nach einer Weile erreichte der Bus seine Endstation, das Besucherzentrum der Sioux-Wasserfälle. Von dort aus gingen Case und sie zu Fuß. Wie der Wetterbericht vorausgesagt hatte, hatte es in der Nacht reichlich geschneit, mehr als dreißig Zentimeter. Trotz des Schnees und der Kälte fand Gina den Spaziergang erfrischend und wohltuend.

Noch bevor die Fälle in Sichtweite kamen, hörte sie schon das Rauschen des auf die Felsen donnernden Wassers. Am Flussufer hatten sich hohe Schneeverwehungen gebildet, die kahlen Bäume waren mit einer weißen Schicht bedeckt. Gewaltige Eiszapfen hingen von den massiven Felsüberhängen bei den Wasserfällen herunter.

„Komm“, sagte Case und reichte ihr eine Hand. „Lass uns ein wenig näher herangehen.“

Gina gestattete ihm, sie zu führen, und als sie stehen blieben, legte er ihr einen Arm um die Taille und zog sie an sich.

Während sie dastand und den Anblick und die Geräusche in sich aufnahm, kam ihr unvermittelt eine Erinnerung in den Sinn. Genauso hatte sie schon einmal hier gestanden. Damals war sie vielleicht zehn Jahre alt gewesen und hatte zusammen mit ihrer Mutter beobachtet, wie das Wasser die Felsen hinunterbrandete. Ihre Mutter machte eine Bemerkung, der sie zu diesem Zeitpunkt keine besondere Bedeutung beigemessen hatte.

Ich frage mich, ob Ertrinken ein sehr qualvoller Tod ist.

Damals hatte Gina nicht weiter über die Worte ihrer Mutter nachgedacht, fand es nur seltsam und makaber, so etwas zu sagen. Ein Schauer war ihr den Rücken hinuntergelaufen. Erst nach dem Selbstmord ihrer Mutter war ihr aufgegangen, dass sie diesen Schritt offenbar schon längere Zeit erwogen hatte.

Sie erschauerte und verdrängte diese Gedanken aus ihrem Kopf.

„Ist dir kalt?“, fragte Case mit erhobener Stimme, um das Donnern des Wassers zu übertönen.

„Ein bisschen“, log sie. Auf keinen Fall würde sie ihm den wahren Grund für ihr Erschauern verraten.

Er knöpfte seinen Mantel auf, zog sie an sich, sodass sie mit dem Rücken an seine Brust gedrückt dastand, und schlug die Mantelschöße um sie. Zusätzlich hielt er sie in den Armen.

„Besser?“, wollte er wissen.

Sie war sich seiner unmittelbaren Nähe sehr bewusst und nickte nur stumm. Er schmiegte eine Wange an ihre, damit sie ihn trotz der Geräuschkulisse verstehen konnte, und fragte: „Erinnerst du dich noch, wie es hier früher aussah? Voller Müll, schmutzig und verwahrlost? Es war viel Arbeit nötig, um diesen Ort so attraktiv zu machen, wie er heute ist.“

Sie blickte ihn von der Seite her an. „Das hört sich an, als wärst du daran beteiligt gewesen.“

„Nicht so sehr, wie ich eigentlich wollte. Dakota Fortune hat für die Säuberungsaktionen Gerätschaften und Personal bereitgestellt. Ich habe selbst mitgeholfen, so oft sich die Möglichkeit ergab. Es war viel Zeit und Arbeitskraft erforderlich, um hier Ordnung zu schaffen.“

Es überraschte sie, dass er ehrenamtlich bei einem solchen Projekt mitgearbeitet hatte, doch sie beschloss, das Nachdenken über seinen Charakter auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.

„Eure Firma, Reynolds Refining, hat ebenfalls einen Beitrag geleistet“, fuhr er fort. „Geld und Treibstoff für die Fahrzeuge. Aber das ist dir ja bestimmt bekannt.“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur sehr wenig vom Unternehmen meines Vaters.“

Halb befürchtete sie, er würde neugierige Fragen zu Curtis Reynolds und seinem Geschäft stellen, daher war sie erleichtert, als er das Thema fallen ließ und stattdessen von den Aufräum- und Sanierungsarbeiten an den Wasserfällen erzählte.

Gina genoss den Tag mit Case in vollen Zügen. Erstaunlicherweise war es wirklich schön mit ihm, aber nun neigte ihre gemeinsame Zeit sich dem Ende zu. Da sie hinsichtlich Männern und Verabredungen sehr unerfahren war, fragte sie sich, wie ein solcher Tag angemessen zum Abschluss zu bringen war. Sollte sie ihn noch zu sich einladen? Sollte sie ihn küssen? Oder doch besser nicht?

Nervös schloss sie die Tür zu ihrem Loft auf und drehte sich zu Case um. Vielleicht war es am besten, ihm den Verlauf des Abschieds zu überlassen.

„Vielen Dank für den schönen Tag. Es hat mir wirklich Spaß gemacht.“

Verführerisch lächelnd nahm er sie beim Ellenbogen und zog sie dichter an sich heran. „Heißt das etwa, du hast deine Meinung geändert, was mich betrifft?“

Verlegen senkte sie den Blick. „Zumindest habe ich neue Aspekte entdeckt, über die ich nachdenken werde.“

Er lachte leise und küsste sie flüchtig auf die Wange. „Damit muss ich mich wohl erst mal zufriedengeben.“

„So ist es.“

„Wann darf ich dich wiedersehen?“

„Nun, ich weiß nicht so genau“, erwiderte sie zögernd. Sie war erstaunt, dass er noch einmal mit ihr ausgehen wollte. „Mein Verleger in New York verlangt einige Änderungen an den Illustrationen für mein nächstes Buch, und zwar so schnell wie möglich.“

„Über welchen Zeitraum sprechen wir hier? Tage, Wochen oder Monate?“

Angesichts seines enttäuschten Tonfalls musste sie lachen. „Das kann ich leider nicht genau sagen. Es hängt von meiner kreativen Stimmung ab, aber wenigstens ein paar Tage.“

„Ich könnte dir helfen“, bot er eifrig an.

Sie musterte ihn skeptisch. „Du hast wohl vergessen, dass ich deine Zeichnungen im Horse Barn Art Center bei der Mitmachaktion gesehen habe.“

„Ich bin kein Künstler, das gebe ich zu, dennoch wäre ich ein gutes Modell. Besonders für Aktstudien“, sagte er und grinste breit.

Sie wurde rot und ärgerte sich darüber. „Für Aktmodelle gibt es in meinen Büchern keine Verwendung.“

„Spielverderberin.“ Er tat beleidigt. „Ruf mich an, wenn du fertig bist, dann können wir zusammen feiern. Du hast doch meine Nummer, oder?“

Wieder senkte sie den Blick. Es war ihr unangenehm, dass sie auf all seine Blumen, Vasen und Karten nicht angemessen reagiert hatte. „Ja, ich habe sie.“

Er küsste sie erneut, diesmal auf die Lippen und wesentlich feuriger als zuvor. Dann gab er ihr einen kleinen Schubs in Richtung Tür. „An die Arbeit. Je länger du hier herumstehst, desto länger muss ich auf ein Date mit dir warten.“

Sie winkte ihm zum Abschied zu, betrat ihr Loft und schloss die Tür hinter sich. Drinnen lehnte sie sich an die Wand und lauschte der sich schließenden Fahrstuhltür und dem Surren des hinunterfahrenden Lifts. Ihr war noch etwas schwummrig von dem Kuss.

Case hatte sie geküsst, wirklich geküsst. Und er wollte sie wiedersehen.

Aufseufzend stieß sie sich ab und ging in Richtung ihres Zeichentisches. Sie hatte kaum drei Schritte getan, als sie das Geräusch eines sich drehenden Schlüssels im Schloss der Eingangstür hörte. Als sie sich umwandte, erblicke sie Zoie, die hereinstürmte.

„Spuck es aus, Mädchen“, befahl ihre Nachbarin. „Und lass nichts aus.“

Obwohl Gina genau wusste, dass Zoie sich auf die Verabredung mit Case bezog, spielte sie die Ahnungslose. „Was soll ich ausspucken?“

Zoie streckte die Arme in die Luft. „Alles über ihn natürlich, Case Fortune! Ich habe seinen Cadillac draußen gesehen, als ich von Sulley nach Hause kam. Er lässt dich übrigens herzlich grüßen.“

„Danke. Grüße bei Gelegenheit bitte zurück“, erwiderte Gina. „Woher weißt du, welches Auto Case fährt? Hast du es aufgebrochen und im Handschuhfach nach dem Führerschein gesucht?“

„Das war nicht nötig. Er hat einen Dakota-Fortune-Parkausweis am Rückspiegel hängen. Kaum zu übersehen.“

„Oh.“

„Keine Entschuldigung? Nur oh?“ Zoie fuchtelte in der Luft herum. „Ach, vergiss es. Und jetzt erzähl mir, wo ihr heute überall gewesen seid. Ich bin fast die Wände hochgegangen, während ich auf dich gewartet habe.“

Gina trat an ihren Zeichentisch und nahm eine Sammelmappe zur Hand. „Da und dort“, antwortete sie vage.

„Das reicht mir nicht!“, erklärte Zoie empört und ließ sich auf das Sofa plumpsen. „Ich will alles wissen. Jedes Detail. Bis hin zu dem Kuss im Flur, den ich gesehen habe. Vorher gehe ich nicht.“

Gina war klar, dass sie nicht gewinnen konnte. Resigniert seufzend setzte sie sich neben Zoie. „Er hat auf mich gewartet, als ich gestern Abend nach Hause kam.“ Sie bedachte ihre Freundin mit einem bösen Blick. „Dank einer neugierigen Nachbarin, die nicht den Mund halten kann.“

„Aha“, erwiderte Zoie unbeeindruckt. „Und? Hat er die Nacht hier verbracht?“

„Du lieber Himmel, natürlich nicht!“, sagte Gina empört. „Er hat mir den Koffer hereingebracht und mich um eine Verabredung gebeten. Das war’s.“

Zoie verzog enttäuscht das Gesicht. „Schade. Also, was habt ihr heute gemacht?“

„Wir waren im Park bei den Wasserfällen, dann im Horse Barn Art Center und haben in dem neuen italienischen Restaurant in der Phillips Street zu Abend gegessen.“

„Ach, komm. Das ist doch langweiliges Zeug für Reiseleiter. Ich will die saftigen Einzelheiten. Körperkontakt. Geflüsterte Komplimente. Du weißt schon.“

„Er hat meine Hand gehalten. Zählt das?“

„Höflich oder erotisch?“

„Was soll das denn bedeuten?“, fragte Gina irritiert.

„Höflich heißt steif ohne Bewegung. Erotisch bedeutet sinnlich und verspielt. Hat er mit dem Daumen deine Handfläche gestreichelt? Oder deine Finger gedrückt?“

Gina dachte einen Moment nach. „Erotisch.“

„Oh, toll. Das ist gut. Wirklich gut. Was noch?“

„Während unseres Spaziergangs hat er mir mehrere Male den Arm um die Schultern gelegt. Und er hat mich mit in seinen Mantel genommen, als wir bei den Fällen waren.“

„Standest du mit dem Rücken zu ihm?“

„Ja.“

„Hast du gemerkt, ob er erregt war?“

„Zoie!“, rief Gina entsetzt.

Ihre Freundin hob entschuldigend die Hände. „Schon gut. Ich habe nur herauszufinden versucht, ob er sich zu dir hingezogen fühlt.“

„Es war die erste Verabredung“, erklärte Gina kühl. „Ein bisschen früh, um an Sex zu denken.“

„Für Sex gibt es so etwas wie Fristen nicht. Wenn es funkt, dann funkt es. Du musst lernen, dich zu öffnen. Lass die Gefühle einfach fließen.“

Gina schnitt eine Grimasse. „Ich habe keine Ahnung, wie das geht.“

„Sich zu entspannen meinst du?“

Gina nickte.

„Cocktails“, erklärte Zoie ohne Zögern. „Nichts macht dich lockerer als ein ordentlicher Drink oder zwei.“

„Ich habe noch nie viel Alkohol getrunken. Das ist nicht mein Ding.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Umso besser. Dann brauchst du nur ein Glas, um betrunken zu werden.“

Gina lachte und stemmte die Hände in die Hüften. „Du bist schon eine Nummer, weißt du. Sitzt hier und sagst mir, ich soll mich betrinken und mit einem Mann schlafen, den ich kaum kenne.“

„Willst du für den Rest deines Lebens Jungfrau bleiben?“

„Nein. Eigentlich nicht“, antwortete sie verlegen.

„Gefällt Case dir?“

„Ja, ich denke schon.“

„Na, da hast du es. Case Fortune ist dein Märchenprinz. Einer, der dir die wilde Seite des Lebens zeigt und dich in die Welt der Erotik einführt.“

Gina drückte sich die Hände an ihre geröteten Wangen. „Ich kann nicht glauben, dass wir wirklich diese Unterhaltung führen.“

Zoie legte einen Arm um ihre Schultern und schüttelte sie ein wenig. „Schwester, es ist Zeit. Höchste Zeit sogar, wenn du mich fragst. Du hast den Keuschheitsgürtel lange genug getragen.“

3. KAPITEL

Im Moment kam Gina sich vor wie eine Voodoopriesterin und nicht wie eine Kinderbuchautorin.

Um ihren Zeichentisch herum standen überall Kerzen und erfüllten den Raum mit flackerndem Licht und dem beruhigenden Duft von Lavendel. Aus der Musikanlage erklang das Rauschen anbrandender Wellen. Sie hatte die CD wegen ihrer entspannenden Wirkung eigens für diesen Anlass ausgewählt. Eine Schüssel Cracker mit Käsegeschmack vermischt mit Schokoladenbonbons befand sich in greifbarer Nähe. Sowohl die Cracker als auch die Bonbons hatten ihren stärkenden Effekt in der Vergangenheit schon oft unter Beweis gestellt. Ihre Glückskröte thronte auf dem Arm der Arbeitslampe und überwachte ihr Schaffen.

Gina trug ihren ältesten, bequemsten und ziemlich verschlissenen Jogginganzug, den mit dem Loch im linken Ärmel und dem rosa Nagellackfleck auf der Hose. Diesen Anzug hatte sie angehabt, als ihr Verleger anrief, um ihr zu sagen, dass man ihr erstes Buch veröffentlichen würde.

Sie hatte alle Register gezogen, um ihre Kreativität in Wallung zu bringen, aber bisher waren die Maßnahmen wirkungslos geblieben.

Und wer war schuld daran? Case.

Oder möglicherweise auch Zoie, korrigierte sie sich in Gedanken.

Zoie hatte ihr die Idee, mit Case zu schlafen, in den Kopf gesetzt, daher konnte sie jetzt kaum an etwas anderes denken. Neben der ganzen Grübelei, ob sie wirklich sollte, wollte oder durfte, versuchte sie sich vorzustellen, was für eine Art von Liebhaber Case wohl war.

Über alldem kreiste die Frage, was das für ein Mann sein sollte, dem sie ihre Jungfräulichkeit schenken wollte.

Vor dem Sonntag, den sie mit ihm verbrachte, hatte sie Case kaum gekannt. Und das, was sie von ihm wusste, hatte ihn nicht gerade sympathisch wirken lassen. Er schien vom gleichen Schlag zu sein wie ihr Vater. Das allein genügte, um ihn nicht zu mögen, zumindest, um ihm zu misstrauen. Geschäftsmänner wie Case oder ihr Vater waren nicht in der Lage, Beziehungen zu anderen Menschen zu unterhalten. Jedenfalls nicht die Art von Beziehung, die sie sich wünschte. Solche Männer verwendeten ihre ganze Zeit, Energie und jegliche Gefühle auf das Geschäftliche. Das Unternehmen stand immer an vorderster Stelle, dann erst kam die Familie. Das schien das Motto zu sein, nach dem sie lebten.

Gina war unmittelbare Zeugin der Enttäuschung und Verzweiflung ihrer Mutter gewesen. Ihre Mum hatte sich nie damit abfinden können, dass sie eine Ehe mit einem Mann führte, der von seinem Beruf besessen war.

So ein Leben wollte sie für sich selbst auf keinen Fall. Deshalb hatte sie eine Tätigkeit gewählt, die das genaue Gegenteil von der ihres Vaters darstellte. Und ebenfalls aus diesem Grund hatte sie mit Curtis Reynolds gebrochen und ihn gänzlich aus ihrem Leben ausgeschlossen. Dazu hatte sie sich weder leichtfertig noch unmotiviert entschlossen.

Es war eine Frage des Überlebens gewesen.

Ihre Kindheit war überschattet von den Spannungen und dem Unglück in ihrem Elternhaus. Als kleines Mädchen schon hatte sie begonnen, sich eine Märchenwelt zu erschaffen. Einen sicheren und unbeschwerten Ort, an den sie fliehen konnte. Sie bevölkerte diese Welt mit immer mehr Figuren aus ihrer Fantasie.

Nach dem Selbstmord ihrer Mutter hatte ihr Vater sie in ein Internat gegeben. Sie hatte ihre Fantasiewelt mit all ihren Bewohnern mitgenommen. Es war die einzige Möglichkeit gewesen, Trost und Hilfe zu erhalten, denn ihr Vater war unfähig, seiner Tochter wenigstens eins davon zu geben. Als erwachsene Frau hatte sie einen Teil ihrer Märchenfantasien künstlerisch umgesetzt und zu ihrem Beruf gemacht. Ein Beruf, der es ihr ermöglichte, finanziell von Curtis Reynolds unabhängig zu sein. In gewisser Weise zeigte sie ihm damit auch, wie wenig sie von ihm und seiner Art zu leben hielt.

Jetzt trug sie sich mit dem Gedanken, mit einem Mann zu schlafen, der der Welt ihres Vaters entstammte, einer Welt, die sie aus vollem Herzen hasste. Gina stützte die Ellenbogen auf die Tischplatte und barg das Gesicht in den Händen. „Lieber Himmel.“ Sie stöhnte verzweifelt. „Was denke ich mir nur dabei?“

Sie musste sich Case Fortune aus dem Kopf schlagen und sich auf ihre Kröten konzentrieren. Besonders auf Konrad Kröte. Er war ihr bester Freund und ihr Retter, das einzige männliche Wesen, auf das sie sich hundertprozentig verlassen konnte, das sie nie enttäuschte. Er hatte keine Fehler, keine Hintergedanken und keine fragwürdigen Absichten. Er war perfekt in jeder Hinsicht.

Es gab nur ein Problem. Eigentlich zwei, wenn sie bedachte, dass Konrad Kröte nur in ihrer Fantasie existierte.

Konrad war zwar ein männliches Wesen, aber er war nun mal kein Mann.

Gähnend rieb Gina sich die Augen. Sie war todmüde. Es ging auf Mitternacht des achten Tages ihrer Abgabefrist zu. Eigentlich wollte sie nur noch ins Bett, doch das kam leider nicht infrage, solange sie die geforderten Änderungen in ihren Illustrationen nicht fertiggestellt hatte.

Entnervt bohrte sie einen Zeh in den Haufen zerknüllter Blätter zu ihren Füßen. Jedes Knäuel stand für einen vergeblichen Versuch, ihrem Verleger zu geben, was er verlangte. Seit einer Woche arbeitete sie fast ununterbrochen und war dem Konzept ihres Auftraggebers trotzdem kein Stück näher gekommen.

Sie biss die Zähne zusammen und setzte den Bleistift auf einem neuen Bogen Skizzenpapier an.

„Das liegt daran, dass du dich nicht genug konzentrierst“, schimpfte sie. „Du kennst die Geschichte. Verdammt, du hast sie selbst geschrieben. Du musst nur die Bilder und Emotionen aus deinem Kopf zu Papier bringen.“

In dem Versuch, Kreativität zu erzwingen, zeichnete sie einen Kreis, lehnte sich zurück und wartete auf eine Eingebung, da sah sie aus dem Augenwinkel etwas Weißes am Fenster aufblitzen und blickte irritiert hoch.

In der Glasscheibe sah sie nur ihr eigenes Spiegelbild.

„Jetzt fängst du schon an, Dinge zu sehen“, murmelte sie missvergnügt. „Als Nächstes redest du noch mit dir selbst.“ Erschrocken schlug sie die Hände vor den Mund und stöhnte auf. Es war längst zu spät, fiel ihr auf. Das tat sie bereits.

Etwas prallte leicht von außen gegen die Scheibe. Sie sah eindeutig einen hellen Fleck dort draußen entlangsegeln und verschwinden. Ihr Herz hämmerte heftig, während sie dastand und hinausspähte. Der Zeichentisch war ihr im Weg. Kurz entschlossen rückte sie ihn beiseite.

Wieder sah sie einen weißen Blitz in der Dunkelheit. Eilig öffnete sie die Fensterflügel und lehnte sich hinaus. Was mochte das sein? Papier vielleicht? Das sanfte Ploppen beim Aufprall auf die Scheibe sprach jedenfalls dafür.

Auf dem Gehweg direkt unter ihrem Fenster stand jemand im Licht einer Straßenlaterne. Irgendein Flegel, der sich einen dummen Streich erlaubt, dachte sie erbost.

„Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier tun? Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei“, rief sie der Gestalt ärgerlich zu.

Der Mann legte den Kopf zurück und schaute nach oben.

Gina schnappte nach Luft. „Case?“

„Bleib genau da, wo du bist!“ Er bückte sich, um das Papier vom Boden aufzuheben.

„Was machst du da?“, fragte sie fassungslos.

„Ich schicke dir eine Luftpost.“ Er holte aus und schleuderte das weiße Objekt in die Höhe.

Als Gina sah, dass der Papierflieger es bis zu ihr hinauf schaffen würde, beugte sie sich vor, um ihn zu fassen zu bekommen. Sie erwischte ihn an einem Flügel, nahm ihn herein und las die Botschaft, die darauf stand.

Bereits eine ganze Woche. Keine Anrufe. Krötenfans brauchen auch Zuwendung.

Sie musste lachen und lehnte sich wieder aus dem Fenster. „Du bist verrückt.“

„Nein, das bin ich nicht. Nur einsam. Kann ich nicht raufkommen? Es ist ziemlich frisch hier draußen.“

Sie zögerte, eigentlich wollte sie Case Fortune ja vergessen. „Es ist schon spät“, erwiderte sie ausweichend.

„Du schläfst doch noch nicht“, wandte er ein. „Ach komm, Gina. Gib mir wenigstens die Gelegenheit, mich aufzuwärmen.“

Es war tatsächlich recht kalt, musste sie zugeben. „Also gut. Aber nur für eine Minute.“

Sie schloss das Fenster und bückte sich nach den zerknüllten Skizzenblättern, um sie in den Papierkorb zu werfen. Sie wollte nicht, dass ihre kreative Blockade für Case allzu offensichtlich war.

Als sie das gedämpfte Rumpeln des Aufzugs hörte, strich sie sich mit den Fingern durch die ziemlich strähnige Frisur und eilte zur Tür.

Kaum hatte sie geöffnet, da trat Case auch schon aus dem Lift. Er war lässig gekleidet. Jeans, Stiefel und ein schwarzer Pullover unter einer Lederjacke. Sein dunkles Haar war zerzaust. Vermutlich von der Baseballkappe, die er gerade abgenommen hatte und in die Jackentasche steckte. Seine Wangen waren von der Kälte gerötet. Falls das überhaupt möglich war, sah er noch besser aus als in Anzug, Hemd und Krawatte.

Gina dachte an ihren schlabbrigen Jogginganzug und die fusseligen giftgrünen Socken an ihren Füßen und unterdrückte ein Stöhnen. Nichtsdestotrotz lächelte Case sie strahlend an.

„Hallo, schöne Frau.“

Verlegen strich sie sich eine Haarsträhne zurück. „Ich sehe furchtbar aus.“

„Für mich bist du wunderhübsch.“

Noch bevor sie ihm vorwerfen konnte, was für ein elender Lügner er war, legte er ihr die Hände auf die Schultern und schob sie sanft in die Wohnung.

„Sieben Tage, drei Stunden und zweiunddreißig Minuten“, sagte er, während er die Tür hinter sich schloss.

Sie blinzelte ihn verwirrt an. „Wie bitte?“

„So lange wollte ich das schon tun.“

Ehe sie seine Absicht erkannte, spürte sie seine warmen Lippen auf ihren. Dabei hatte sie sich vorgenommen, ihn nicht mehr zu küssen.

Oder doch?

Das mochte vielleicht tatsächlich einmal ihre Entscheidung gewesen sein, jedenfalls hatte ihr Verstand das beschlossen, aber ihr Körper hatte diese Botschaft offenbar nie erhalten. Ohne weiter darüber nachzudenken, schmiegte sie sich an Case und hob ihm das Gesicht entgegen. Sie spürte, wie seine Hände über ihren Rücken glitten, und legte ihm die Arme um den Nacken.

Ungeduldig. Besitzergreifend. Fordernd. Sein Kuss entsprach genau seinem Charakter. Oder zumindest dem, was sie für seinen Charakter hielt, dennoch fand sie ihn überhaupt nicht abstoßend. Im Gegenteil, was Case mit seiner Zunge tat, war atemberaubend und aufregend.

Anschließend umfasste er ihr Gesicht mit beiden Händen und küsste sie auf die Stirn, wobei er zufrieden seufzte. „Ich konnte die ganze Woche an nichts anderes denken.“

Seine Stimme klang heiser. Sie hatte auch daran gedacht, ihn zu küssen, aber sie hätte es nicht zugeben können, selbst wenn ihr Leben davon abhinge.

„Warum hast du nicht angerufen?“, wollte er wissen.

„Ich … ich hatte viel zu tun. Die Zeichnungen müssen fertig werden.“

Er warf einen Blick auf ihren Zeichentisch. „Hast du gerade gearbeitet?“

Sie nickte.

„Und ich habe dich gestört“, sagte er in reuevollem Ton.

„Das ist nicht so schlimm. Ich bin sowieso nicht besonders gut vorangekommen.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Ich könnte mir vorstellen, dass es etwas mit mir zu tun hat.“

Gina verzog den Mund. „Bilde dir bloß nichts ein.“

Er schob seine Hände unter den Bund ihres Sweatshirts und zog sie an sich. „Ich jedenfalls habe immer nur an dich gedacht. Ich konnte kaum arbeiten.“

Sie schluckte. „Das sagst du nur so.“

Er beugte sich herunter und küsste sie auf die Ohrläppchen.

„Warum sollte ich dich anlügen?“

Noch vor wenigen Minuten wären ihr hundert Gründe dafür eingefallen, doch im Moment konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. „Case …“

Er verschloss ihr die Lippen mit einem weiteren Kuss. Sie spürte, wie er seine Hände langsam nach oben schob, und hielt den Atem an, als er ihre Brüste erreichte.

Sie hörte ein leises Stöhnen und registrierte verlegen, dass es aus ihrer eigenen Kehle kam. Auf keinen Fall wollte sie ihm gestehen, wie unerfahren sie war oder wie sehr sie ihn begehrte. Andererseits hätte er sie vermutlich auch gar nicht gehört. Er war viel zu intensiv damit beschäftigt, sie zu küssen und ihre Brüste zu streicheln.

So ist das also, dachte sie verwirrt, als eine heftige Welle der Erregung durch ihren Körper brandete, so fühlt sich Verlangen an. Sie hatte angenommen, diese Erfahrung schon früher gemacht zu haben, aber da hatte sie sich gründlich geirrt. Was sie in diesem Moment empfand, war pure Lust. Eine Leidenschaft, die alles überlagerte und eine Frau dazu verleitete, sich die Kleidung vom Leib zu reißen und sich einem Mann an den Hals zu werfen.

Sie wusste, dass sie kurz davor war, die Kontrolle zu verlieren, doch das durfte sie nicht zulassen. Sie würde sich Case nicht hingeben. Auf keinen Fall. Mit einem Mann wie ihm konnte das nur in Enttäuschung und Schmerz enden.

„Nein“, sagte sie und drückte gegen seine muskulöse Brust.

„Komm schon, Baby“, murmelte er und rieb sich an ihr. „Du willst das doch genauso wie ich.“

Sie ergriff seine Unterarme und zog seine Hände von ihrem Körper. „Das spielt keine Rolle. Ich spare mich für den Mann auf, den ich heirate.“

„Bist du etwa noch Jungfrau?“, fragte er fassungslos.

Ihre Wangen röteten sich vor Verlegenheit, aber sie nickte tapfer.

Case strich sich durchs Haar. „Nun, das ändert die Dinge natürlich grundlegend.“

„Was soll das heißen?“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts.“

„Sieh mal“, begann sie vorsichtig. „Wenn du nur auf Sex aus bist, kannst du gleich wieder gehen. Ich habe noch viel Arbeit vor mir.“

Er zögerte einen Moment und schlüpfte dann aus seiner Lederjacke. „Ich würde gern bleiben.“

Verblüfft beobachtete sie, wie er an ihren Zeichentisch trat und die Skizze an der Pinnwand dahinter betrachtete.

„Ist das eine von den Illustrationen, die du ändern sollst?“

Sie zog die Nase kraus. „Eine von vieren.“

Er setzte sich auf ihren Stuhl und studierte den Entwurf. „Dein Verleger muss blind sein. Das ist wirklich gut.“

Gina schüttelte den Kopf und trat neben ihn. „Nein, er hat recht. Der Gesichtsausdruck ist falsch.“ Sie deutete auf Konrad Kröte. „Er soll eigentlich traurig aussehen, aber er wirkt … Ich weiß nicht. Gelangweilt vielleicht.“

Case nahm einen Stift und reichte ihn ihr. „Zeig es mir.“

Gina versteckte ihre Hände hinter dem Rücken. Ihre Kunst war eine sehr private Angelegenheit. Etwas, das sie allein tun musste. Niemals vor Zuschauern. „Ich mag es nicht besonders, wenn mir jemand bei der Arbeit zusieht.“

Er zog sie zu sich und schob sie zwischen seine Knie. „Ich verspreche dir, dass ich nicht hinschauen werde.“

Entnervt von seiner Hartnäckigkeit nahm sie ihm den Stift ab. In der Hoffnung, dass sie Case auf diese Art loswerden würde, fertigte sie eine grobe Skizze von Konrads Gesicht an. Die Mundwinkel waren nach unten gezogen. Sie hielt einen Moment inne und betrachtete den Entwurf mit vor Konzentration zusammengekniffenen Augen. Dabei entdeckte sie nicht nur den Unterschied zur Originalzeichnung, sondern auch, dass sie auf dem richtigen Weg war. Sie fügte eine große Träne auf Konrads Wange hinzu und zeichnete eine Reflexion in seine Glupschaugen, die sie feucht schimmern ließ.

„Das ist es!“, rief sie aufgeregt und umarmte Case. „Das ist genau die Emotion, nach der ich die ganze Zeit gesucht habe.“

Im nächsten Augenblick vergaß sie seine Anwesenheit und die Tatsache, dass sie einen Zuschauer hatte. Voller Tatendrang trat sie näher an den Tisch, nahm einen neuen Bogen und begann, ernsthaft zu skizzieren. Ihr Stift flog nur so über das Papier.

Gina schlug die Augen auf und streckte sich. Sonnenschein flutete durch die Fenster in den Raum. Es kam so gut wie nie vor, dass sie bei Sonnenlicht erwachte, denn ihr Schlafzimmer lag auf der westlichen Seite des Gebäudes, nicht auf der östlichen.

Allerdings konnte sie nicht erwarten, dass die Sonne ihren Lauf änderte, nur weil sie den Tag verschlief.

Angetrieben von einem Schub kreativer Energie hatte sie die Nacht durchgearbeitet. Alle vier Zeichnungen waren vollendet, die letzte hatte sie kurz vor Sonnenaufgang fertiggestellt, dann war sie in voller Bekleidung erschöpft ins Bett gesunken. Case war wenig später gegangen. Sie erinnerte sich nicht an den genauen Zeitpunkt, denn sie war zu müde gewesen, um auf die Uhr zu schauen. Sie wusste nur noch, dass er sie zugedeckt und sie geküsst hatte.

Unwillkürlich musste sie lächeln. Seine Bartstoppeln hatten dabei an ihrer Wange gekratzt. Es war fast unglaublich, dass er tatsächlich die ganze Nacht geblieben war. Er war Zeuge ihres kreativen Ausbruchs geworden, ohne je gelangweilt zu wirken. Während der ersten beiden Zeichnungen stand sie zwischen seinen Knien, und er schaute ihr über die Schulter. Und als sie nicht mehr stehen konnte, hatte er sie auf seinen Schoß gezogen und die Arme um ihre Taille gelegt.

Was für ein Mann tat so etwas? Sicherlich nicht die Art Mann, für die sie Case gehalten hatte. Sein Verhalten war weder egoistisch noch rücksichtslos, seine Kommentare waren aufmunternd und konstruktiv gewesen. Ohne ihn hätte sie vermutlich weiter tagelang erfolglos und frustriert am Zeichentisch gesessen. Seine Fragen und seine Unterstützung hatten ihr geholfen, die Blockade zu überwinden und so lange durchzuhalten, bis sie die Aufgabe erledigt hatte.

Das Telefon klingelte. Sie ahnte schon, dass der Anrufer Case war, und nahm das Mobilteil von der Station auf ihrem Nachttisch. „Hallo?“, meldete sie sich.

„Guten Morgen“, erwiderte er gut gelaunt.

Beim Klang seiner Stimme durchrieselte sie ein Schauer. „Es ist bereits Nachmittag.“

„Habe ich dich aufgeweckt?“, erkundigte er sich besorgt.

„Nein, ich war schon wach.“

„Hast du gut geschlafen?“

„Wie eine Tote. Und du?“

„Auch. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Zeichnen so anstrengend ist.“

Sie musste lachen. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du gezeichnet hättest.“

„Dann erklär mir mal, warum ich einen Krampf in den Fingern habe.“

„Vielleicht deshalb, weil du mich die ganze Nacht auf dem Schoß gehalten hast“, schlug sie vor.

„Ach ja.“ Er seufzte erinnerungsselig. „Das wird es sein. Hast du schon Pläne für heute Abend?“

„Eigentlich nicht.“

„Dann lass uns gemeinsam essen. Meine Eltern sind gerade aus Australien zurückgekommen. Die ganze Familie versammelt sich bei uns, um sie willkommen zu heißen.“

„Ich möchte auf keinen Fall eine Familienfeier stören“, sagte sie in einem Anflug von Panik.

„Du störst überhaupt nicht. Es ist nur ein kleines privates Abendessen im Familienkreis. Alle werden sich freuen, wenn du uns Gesellschaft leistest.“

„Ich weiß nicht, Case. Ich habe nicht besonders viel Erfahrung mit Familientreffen. Ich bin ein Einzelkind“, wandte sie unbehaglich ein.

„Das macht doch nichts. Weißt du was? Das Essen ist für sieben Uhr geplant. Ich hole dich um sechs ab und mache eine kleine Führung durch das Haus mit dir. Dann kannst du vorher schon ein paar Familienmitglieder kennenlernen und kommst dir nicht gar so überrumpelt vor.“

Trotz seiner Versicherung kam Gina sich überrumpelt vor. Und überwältigt. Von dem Moment an, als Case den gewundenen Zufahrtsweg des gigantischen Anwesens der Fortunes entlangfuhr, bis er vor dem mächtigen Wohnsitz der Familie anhielt, fühlte sie sich von der majestätischen Ausstrahlung der Anlage geradezu erschlagen. Das felsengraue Gebäude im gotischen Stil hatte drei Stockwerke und wirkte vor dem bleiernen Himmel wie eine Festung. Rechts und links vom Haupthaus erstreckten sich ausgedehnte einstöckige Flügelanbauten. Gina hörte beim vierten Schornstein auf zu zählen und schaute nur noch.

Fürsorglich nahm Case ihre Hand. „Keine Angst. Es sieht vielleicht etwas gruselig aus, aber ich kann dir versichern, dass hinter diesen Mauern keine Gespenster ihr Unwesen treiben.“

„Gut zu wissen.“ Sie stieß den angehaltenen Atem aus.

Er stieg aus und umrundete den Wagen, um ihr galant die Beifahrertür zu öffnen. „Den Außenbereich sparen wir uns für einen wärmeren Tag auf“, sagte er und führte sie zum gewaltigen Eingangsportal.

Als sie das Haus erst einmal betreten hatte, ließ sie erleichtert die Schultern sinken. Mochte es von außen auch wie eine abweisende Burganlage wirken, so war das Innere doch warm, freundlich und farbenfroh. Bevor sie die Einzelheiten der Eingangshalle registrieren konnte, zog Case sie zur rechten von zwei Freitreppen.

„Der erste Halt auf der Besichtigungstour ist mein Zimmer.“

Abrupt blieb sie stehen. „Du wohnst hier?“, fragte sie verblüfft.

Er nickte. „Mit meinen Eltern, meinem Bruder Creed, meinem Halbbruder Blake und meiner Schwester Eliza. Dann ist da noch meine Halbschwester Skylar. Sie wohnt in einem Cottage auf dem Anwesen.“

„Ist das nicht etwas überfüllt? Ich meine, es ist wirklich ein großes Haus, aber man braucht doch manchmal auch ein wenig Privatsphäre, oder?“

„Für diesen Fall habe ich mein Penthouse in der obersten Etage des Dakota-Fortunes-Gebäudes. Creed hat dort ebenfalls eins, es sind jedoch zwei völlig eigenständige Wohneinheiten. Selbst wenn wir beide da sind, laufen wir uns nicht über den Weg. Es sei denn, wir verabreden uns.“ Er zog sie sanft an der Hand. „Komm jetzt. Es gibt so viel, das ich dir zeigen will.“

Als sie im zweiten Stock angelangt waren, öffnete er eine Tür und machte eine kleine Verbeugung. „Mein bescheidenes Schlafzimmer, Madame.“

Sie musste lachen und trat ein, sofort weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen. „Du meine Güte. Hier passt ja mein ganzes Loft hinein. Und es bleibt noch Platz übrig.“

Er zog seinen Mantel aus und legte ihn auf einen Stuhl, dann half er ihr aus ihrem. „Es erfüllt seinen Zweck“, sagte er, wobei er die Achseln zuckte, und ging zu einer Bar in einer Ecke des großen Raumes. „Möchtest du etwas trinken?“

„Wasser, bitte.“

Während er zwei Gläser vollschenkte, blickte sie sich neugierig um. Obwohl das Zimmer geschmackvoll eingerichtet war, gehörte es ganz offensichtlich einem Junggesellen. Ein breites Bett mit einer marineblauen Tagesdecke dominierte eine Hälfte des Raumes. Auf der gegenüberliegenden Seite stand eine burgunderrote Sitzgruppe vor einem großen Flachbildschirm. Dort hingen auch einige gerahmte Gemälde. Gina trat näher, um sie zu betrachten.

„Bitte sehr“, sagte er und reichte ihr ein Glas.

Sie nahm es und trank einen Schluck. Dann wandte sie sich wieder den Porträts an der Wand zu. „Wer ist das?“, erkundigte sie sich und deutete auf das Ölgemälde einer schönen Frau im Abendkleid, die in einem Garten posierte.

„Meine Mutter.“

„Sie ist wunderschön.“

„Oh, ja. Das war sie.“

„War?“, fragte sie irritiert.

„Sie starb, als ich sechs Jahre alt war.“

„Aber sagtest du nicht, deine Eltern wären gerade aus Australien zurückgekehrt?“

„Mein Vater und meine Stiefmutter.“

„Stört dich das?“, erkundigte sie sich vorsichtig. „Ich meine, du hast deine Mutter ganz offensichtlich sehr geliebt. Ich könnte mir vorstellen, dass es dir nicht leichtgefallen ist, die zweite Frau deines Vaters zu akzeptieren.“

„Ja und nein“, erwiderte er. „Tatsächlich hat mein Vater nach dem Tod meiner Mutter zweimal geheiratet. Meine erste Stiefmutter habe ich gehasst und tue es noch. Trina Watters ist eine hinterhältige Hexe. Als mein Vater das erkannte, hat er sich von ihr scheiden lassen. Sie haben zwei Kinder in die Welt gesetzt. Blake und Skylar. Nach der Scheidung hat er Patricia als Erzieherin engagiert. Später hat er sie dann geheiratet. Sie ist also meine zweite Stiefmutter.“ Er hielt kurz inne und hob eine Hand. „Ich weiß, was du jetzt vermutlich denkst, doch du liegst falsch. Patricia war nicht hinter dem Geld meines Vaters her. Ganz im Gegensatz zu Trina. Es hat ziemlich lange gedauert, bis mein Vater sie davon überzeugt hatte, ihn zu heiraten.“

Gina war einigermaßen erschlagen vom Umfang seines verzweigten Familienstammbaums. „Wie kannst du eine solche Anzahl von Familienmitgliedern nur auseinanderhalten?“

„Oh, abgesehen von den entfernteren Verwandten gibt es sogar noch jemanden. Maya Blackstone. Sie ist Patricias Tochter und damit meine Stiefschwester.“ Er deutete auf ihr Glas. „Bist du fertig? Dann zeige ich dir den Wintergarten.“

Nachdem er die Gläser weggeräumt hatte, nahm er sie bei der Hand und ging zur Tür. „Dort befindet sich ein Teich mit Springbrunnenanlage. Wenn du genau hinschaust, entdeckst du möglicherweise ein bis zwei Kröten im Farn.“

Lachend folgte sie ihm die Treppe hinunter. Auf halber Strecke sah Gina eine Frau, die in der Halle an einem Tisch stand und einen Stapel Post durchsah. Sie war schlank und zierlich und wirkte, als könnte ein heftiger Windstoß sie wegblasen. Während sie die Frau beobachtete, erstarrte diese plötzlich und blickte ungläubig auf einen Umschlag in ihrer Hand. Sie schwankte leicht, als wäre sie kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.

Case musste die Reaktion der Frau ebenfalls bemerkt haben, denn er legte den Rest des Weges im Laufschritt zurück und legte einen Arm um sie, um sie zu stützen.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Patricia?“, fragte er besorgt.

Patricia drückte sich eine zitternde Hand an die Stirn. „Ich glaube, der Jetlag macht mir noch zu schaffen.“ Sie lächelte ein wenig gezwungen und tätschelte ihm beruhigend den Arm. „Es geht mir gut. Mach dir keine Gedanken.“ Dann fiel ihr Blick auf sie. „Case Fortune“, sagte Patricia vorwurfsvoll. „Wo bleiben deine Manieren? Stell mich doch bitte deiner Freundin vor.“

„Patricia, das ist Gina Reynolds. Gina, meine Stiefmutter Patricia Blackstone Fortune“, folgte Case gehorsam ihrer Aufforderung.

Gina nahm die ihr dargebotene Hand und lächelte schüchtern. „Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Mrs Fortune.“

„Patricia“, korrigierte die zierliche Frau sie, dann wandte sie sich wieder Case zu. „Ihr beide bleibt doch hoffentlich zum Abendessen?“

„Das haben wir vor“, erwiderte er. „Wir wollen nur kurz in den Wintergarten gehen. Ich will Gina den Teich zeigen.“

„Vielleicht wartet ihr damit lieber bis nach dem Essen“, bemerkte Patricia. „Die anderen sind schon alle im Esszimmer.“ Sie klemmte sich die Briefumschläge unter den Arm. „Ich komme zu euch, sobald ich die Post weggeräumt habe.“

Case beobachtete, wie seine Stiefmutter wegging, und runzelte die Stirn.

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte Gina leise.

„Kam sie dir auch so nervös vor?“

„Ich weiß nicht, ob ich es nervös nennen würde“, erwiderte sie. „Aber sie schien ein wenig wackelig auf den Beinen zu sein. Vielleicht ist es tatsächlich nur der Jetlag, wie sie gesagt hat.“

„Ja, vielleicht“, meinte Case nachdenklich. Dann zuckte er die Achseln. „Wir werden sehen. Bist du bereit, meine Familie kennenzulernen?“

„Habe ich eine Wahl?“

Er lachte und legte ihr einen Arm um die Schultern. „Nein. Aber keine Angst. Ich weiche den ganzen Abend lang nicht von deiner Seite.“

4. KAPITEL

Gina hatte das Gefühl, in ein Nest voller Elstern geraten zu sein. Oder schlimmer noch, in das Auge eines Tornados. Ihr Kopf tat weh, die Ohren klingelten ihr, und obwohl das Essen verlockend aussah und lecker duftete, brachte sie kaum einen Bissen herunter. Angestrengt versuchte sie, den vielfältigen und äußerst lebhaften Unterhaltungen zu folgen.

Es sind so viele, dachte sie und blickte verzagt den langen Esstisch entlang. Geschwister, Halbgeschwister, Stiefgeschwister. Der Einzige, den sie mit einiger Sicherheit identifizieren konnte, war Creed, weil er Case so ähnlich sah. Die beiden gingen mit etwas gutem Willen als Zwillinge durch.

Die Eltern stellten ebenfalls kein Problem dar, denn sie waren die ältesten Personen in der Gruppe. Nash, der Vater, hätte allerdings auch ein Bruder von Case und Creed sein können, so jugendlich wirkte er. Aber der Rest der Gesellschaft? Sie hatte keine Ahnung, wie sie jemals Gesichter und Namen einander zuordnen sollte. Die Stimme von Case riss sie aus ihren Gedanken.

„Hat die Mafia schon versucht, dein Casino zu übernehmen, Blake?“, fragte er den Mann gegenüber am Tisch.

Alle anderen brachen in Gelächter aus, mit Ausnahme von Blake. Er kniff die Augen leicht zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Gina befürchtete einen Moment, er würde aufstehen und Case an die Kehle gehen.

„Stellst du meine Fähigkeiten als Geschäftsmann infrage?“, sagte er mit schneidender Stimme.

„Komm schon, Blake“, mischte sich Creed ein. „Wo ist dein Sinn für Humor geblieben? Case hat nur einen Scherz gemacht.“

„Genau“, bekräftigte Case. „Kannst du keinen Spaß mehr vertragen, Blake?“

Eine Frau am anderen Ende der Tafel hob angriffslustig das Kinn. „Ich glaube, Blake hat diese Fähigkeit verloren, als Dad Dakota Fortune dir und Creed überließ und er selbst leer ausging.“

„Jetzt ist es genug“, intervenierte Nash und machte eine strenge Miene. Er lächelte sie entschuldigend an. „Ich muss Sie für meine Kinder um Verzeihung bitten. Geschwisterliche Rivalität scheint niemals zu enden. Egal, in welchem Alter sie sind.“

Plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, wurde Gina rot. „Ich kenne mich damit leider überhaupt nicht aus. Ich bin ein Einzelkind.“

„Ein Einzelkind?“, wiederholte Eliza und seufzte sehnsüchtig. „Was würde ich darum geben, ein Einzelkind zu sein.“

„Dann hättest du aber keinen älteren Bruder wie mich“, neckte Case sie.

„Genau. Das wäre ja das Schöne daran“, erwiderte Eliza trocken, lächelte und warf ihm eine Kusshand zu.

Damit war die beginnende Auseinandersetzung zwischen Case und Blake vergessen, und die Atmosphäre im Raum entspannte sich merklich. Alle redeten wieder durcheinander. Gina kam sich vor wie bei einem Tennismatch, als sie hierhin und dorthin blickte, um den Gesprächen zu folgen.

Als Case die Tür zu ihrem Loft aufschloss, ließ Gina den Abend Revue passieren. Während des Essens hatte sie sich ziemlich unwohl gefühlt. Alle anderen waren vertraut miteinander, sie dagegen kannte nur Case, und das nicht einmal gut. Sie konnte sich nicht helfen, aber sie hatte trotz der drohenden Auseinandersetzung zwischen Case und Blake so etwas wie Neid empfunden.

Ihr fiel die Frau ein, die Blake verteidigt hatte, sie erinnerte sich jedoch nicht an ihren Namen. „Sag mir doch noch, wie deine Halbschwester heißt“, bat sie, während sie ihre Wohnung betrat.

„Skylar Fortune.“

Ziemlich erschöpft von diesem Abend ließ sie achtlos ihren Mantel auf den Boden fallen. „All diese Geschwister. Wie kannst du dir nur die ganzen Namen merken?“ Die Augen halb geschlossen, sank sie auf das Sofa.

Case setzte sich neben sie, legte ihr eine Hand in den Nacken und lachte. „Jahrelange Übung.“

Gina seufzte vor Behagen, als er begann, ihre verspannte Nackenmuskulatur zu massieren. „Oh, bitte nicht aufhören.“

Das Telefon klingelte, aber sie ignorierte es.

„Willst du nicht rangehen?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin so müde. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Wer auch immer das sein mag, wird bestimmt eine Nachricht hinterlassen.“

In diesem Moment sprang klickend der Anrufbeantworter an. Eine Männerstimme ertönte. „Gina, hier ist dein Vater. Bitte ruf mich an, sobald es dir möglich ist.“

Beim Klang dieser Stimme gefror ihr das Blut in den Adern.

„Wirst du ihn zurückrufen?“, wollte Case wissen.

Sie wandte das Gesicht ab. „Nein.“

„Aber es hörte sich wichtig an.“

„Was immer er zu sagen hat, es interessiert mich nicht.“

„Gina“, begann er vorsichtig. „Ist das nicht ziemlich hart?“

„Eigentlich nicht. Wenn man bedenkt, welche Gefühle ich für ihn habe.“

„Er ist immerhin dein Vater“, gab er zu bedenken.

„Meine Familie ist nicht wie deine. Ich habe meinem Vater nie nahegestanden. Und das war seine Entscheidung, nicht meine.“

Case blickte sie fragend an. „Was meinst du damit? Seine Entscheidung?“

„Er hatte nie Zeit für mich, ebenso wenig wie für meine Mutter“, antwortete sie bitter. „Sein einziges Interesse galt immer schon Reynolds Refining.“

Angesichts seiner erstaunten Miene fand sie, dass sie ihm eine nähere Erklärung schuldete, doch das fiel ihr sehr schwer. Insbesondere, nachdem sie seine Familie kennengelernt hatte, in der alle so eng miteinander verbunden waren. Sie stand auf und trat ans Fenster, um hinauszublicken. Sie brauchte einen gewissen Abstand, während sie ihm von ihrer alles andere als perfekten Vergangenheit erzählte.

„Meine Mutter hat Selbstmord begangen“, sagte sie nach einer Weile. „Es war ihr allerletzter Versuch, die Aufmerksamkeit meines Vaters zu erlangen.“ Traurig schüttelte sie den Kopf.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ihr das gelungen ist. Ich habe es jedenfalls nie geschafft. Nach ihrem Tod hat er mich in ein Internat verfrachtet. Er hat so gut wie nie angerufen, geschweige denn, dass er mich besucht hätte. Die spärliche Verbindung zu ihm lief über seine Sekretärin. Sie ließ mir mein Taschengeld zukommen, besorgte die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke und schickte sie mir. Nach dem Internat bin ich aufs College gegangen. Das Verhaltensmuster meines Vaters blieb dasselbe.“

Sie hörte, wie Case aufstand, dann spürte sie das Gewicht seiner Hände auf ihren Schultern.

„Das tut mir so leid“, sagte er weich und drückte sein Gesicht in ihr Haar.

Sie drängte die aufsteigenden Tränen zurück. „Das muss es nicht. Es tut schon lange nicht mehr weh.“

Blicklos schaute sie aus dem Fenster. Die Jahre der Vernachlässigung und Nichtachtung zogen in der Erinnerung an ihr vorbei. Wieder einmal erschien es ihr sinnvoll und richtig, dass sie alle Bande zu Curtis Reynolds gekappt hatte. „Die einzige Verpflichtung, die er mir gegenüber jemals empfand, war rein finanzieller Natur“, fuhr sie fort. „Schon sehr früh habe ich eine Möglichkeit gefunden, ihn sogar von dieser Verantwortung zu befreien.“

„Wie denn?“, fragte er gespannt.

„Durch das Schreiben. Ich war noch auf dem College, als mein erstes Buch veröffentlicht wurde.“ Es stellte sich auch jetzt die gleiche Zufriedenheit wie damals bei ihr ein, als sie den Anruf des Verlags entgegengenommen hatte. „Der Vorschuss ermöglichte mir finanzielle Unabhängigkeit. So konnte ich Curtis Reynolds endgültig aus meinem Leben entfernen.“

„Aber du bist wieder nach Sioux Falls gezogen“, wandte Case mit einiger Verwunderung ein. „Geschah das in der Hoffnung auf eine Versöhnung mit ihm?“

„Kaum“, sagte sie trocken. „Sioux Falls ist die einzige Heimat, die ich je hatte. Und auch die hat er mir genommen, als er mich auf das Internat schickte. Es hat eine Weile gedauert, bis ich erkannte, dass ich genauso wie er das Recht habe, hier zu leben. Da habe ich meine Sachen gepackt und bin hierher gezogen.“

„Hast du ihn nach deiner Rückkehr gesehen?“

„Nein. Dieser Anruf eben war der einzige Versuch einer Kontaktaufnahme seit Jahren.“

Gina hatte nicht die Absicht, in Depression zu versinken, und beschloss, dass es Zeit für einen Themenwechsel war, daher drehte sie sich um und zwang sich zu einem Lächeln. „Nun weißt du alles über meine Familie. Wie wäre es jetzt mit einem Glas Wein?“

Er strich ihr zärtlich das Haar aus dem Gesicht, zeichnete mit einer Fingerspitze die Konturen ihres Mundes nach und sie erschauerte.

„Ich habe eine bessere Idee.“

„Was denn?“

„Das“, sagte er, beugte sich herunter und drückte seine Lippen auf ihre.

Unter der sanften Berührung entspannte sie sich. Ohne darüber nachzudenken, legte sie ihm die Arme um den Nacken und erwiderte den Kuss voller Hingabe.

Ein leises Stöhnen entrang sich seiner Kehle. Case umfasste sie und zog sie fest an sich. Während er sie immer leidenschaftlicher und fordernder küsste, schienen sich ihre Beine in Gummi zu verwandeln. Sie schmiegte sich an ihn, denn sie verspürte ein bisher unbekanntes, heftiges Verlangen.

Seine Hände schienen überall gleichzeitig zu sein. Er legte sie auf ihren Po und drückte ihn, strich ihren Rücken hinauf, streichelte ihre Wangen. Ihr Körper antwortete auf jede Berührung, drängte sich ihm entgegen und wollte mehr. Als Case ihre Brüste umfasste, keuchte sie auf. Ihre Brustwarzen wurden hart. Nicht in der Lage, zu sprechen oder zu denken, löste sie ihre Lippen von seinen. „Case, bitte.“

„Was ist?“, fragte er und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

Es war unmöglich, diesem Verlangen nachzugeben. So stark es auch sein mochte und obwohl sie genau wusste, was sie sich von ihm wünschte, wonach ihr Körper sich sehnte, diese Bedürfnisse durfte sie nicht ausleben. Sie schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht.“

„Warum nicht?“

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich mich für die Ehe aufsparen will“, sagte sie ungeduldig.

„Kein Sex bis zur Hochzeit?“, fragte er ungläubig. „Findest du das nicht etwas extrem?“

„Zumindest nicht bis zur Verlobung“, lenkte sie ein. „Aber es muss sowohl eine Verbindlichkeit als auch eine Zukunftsperspektive geben. Das ist sehr wichtig für mich.“

Er musterte sie für einen Moment nachdenklich. „Ja, das ist es wohl.“

„Vielleicht solltest du jetzt gehen“, sagte sie, sie fühlte sich ziemlich elend.

Er nickte nur und nahm seinen Mantel vom Stuhl, wo er ihn abgelegt hatte. An der Tür hielt er inne und blickte zurück. „Gina?“

„Ja?“

„Welche Art möchtest du?“

„Welche Art von was?“, fragte sie verständnislos.

„Verlobungsring.“

„Er hat nur einen Scherz gemacht“, berichtete Gina Zoie am nächsten Morgen bei einer Tasse Kaffee. „Ich meine, er ist nicht auf die Knie gefallen und hat mir einen Antrag gemacht. Er hat nur gefragt, was für einen Ring ich möchte.“

Zoie verdrehte die Augen. „Mädchen, du bist so dumm wie Toastbrot. Ich an deiner Stelle hätte ihm gesagt, dass ich nichts unter vier Karat akzeptiere, in Platin gefasst.“

„Ich bin nicht du“, erinnerte Gina sie trocken.

„Was ist so verkehrt daran, Case Fortune als Ehemann zu nehmen? Er sieht gut aus und hat Geld wie Heu. Du könntest es viel schlechter treffen, weißt du.“

„Ich werde keinen Mann heiraten, den ich nicht liebe“, erklärte Gina mit fester Stimme.

„Warum denn nicht? Frauen tun das immerzu. Wer weiß? Vielleicht lernst du mit der Zeit, ihn zu lieben.“

„Aber vielleicht auch nicht“, wandte Gina ein. „Ich habe keine Ahnung, wieso wir dieses Gespräch überhaupt führen. Er hat es nicht ernst gemeint. Es war nur Spaß.“

„Woher willst du das wissen? Hat er gelacht? Breit gegrinst? Oder so etwas wie ‚reingelegt‘ gesagt?“

„Nein.“

„Was hat er denn getan?“

„Nichts. Er ist gegangen.“

„Einfach so?“ Zoie schnippte mit den Fingern. „Er hat dir einen Antrag gemacht und ist verschwunden, ohne die Antwort abzuwarten?“

Gina rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Sie wünschte, sie hätte Zoie nie von dem Vorfall am vergangenen Abend erzählt. „Nun ja, er hat ungefähr eine Minute gezögert. Als ob er darauf warten würde, dass ich etwas sage. Dann ist er gegangen.“

Zoie schlug sich mit einer Hand an ihre Stirn. „Mädchen, du bist zweifellos die begriffsstutzigste und naivste Frau, die je auf dieser Erde wandelte. Wenn ein Mann wie Case Fortune ein Wort wie Hochzeit oder Verlobung auch nur in den Mund nimmt, muss man ihn in Ketten legen und ihm ein Heiratsversprechen abpressen, bevor er es sich anders überlegt.“

Missmutig stand Gina auf und schüttete den Rest ihres mittlerweile erkalteten Kaffees in den Ausguss der Spüle. „Ich wünschte, ich hätte dieses Thema nie angeschnitten.“

„Wer außer mir sollte dich sonst davon abhalten, dir selbst das Leben zu versauen?“

„Ich versaue mir nicht das Leben. Ich bin bloß vorsichtig.“

„Das läuft auf dasselbe hinaus. Du musst endlich lernen, Risiken einzugehen. Überschreite dann und wann mal eine Grenze. Die Seifenblase, in der du lebst, mag dir sicher vorkommen, aber es ist auch ziemlich einsam darin.“

„Ich lebe nicht in einer Seifenblase“, protestierte Gina. „Und ich bin nicht einsam. Ich gehe aus. Ich habe Freunde.“

„Nenne mir mindestens zwei“, forderte Zoie.

Gina öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Außer Zoie fiel ihr niemand ein.

„Siehst du?“, sagte die triumphierend. „Wenn ich eine schöne lange Hutnadel hätte, würde ich in deine Seifenblase piksen und dich zwingen, die wirkliche Welt zu betreten. Es ist nicht gut, dass du dich immer vor allem versteckst.“

Gina ging mit dem Staubsauger durch ihr Loft und beseitigte die Wollmäuse, die sich während ihrer kreativen Blockade ausgebreitet hatten. Die fertigen Illustrationen waren längst per Kurier auf dem Weg nach New York.

Sie wünschte, sie könnte Zoie genauso leicht loswerden. Bei der Erinnerung an ihr Gespräch schürzte sie die Lippen und saugte mit heftigen Bewegungen unter dem Sofa. „Ich lebe nicht in einer Seifenblase“, murmelte sie vor sich hin.

Ihr Lebensstil war eben anders als der ihrer Freundin. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Zoie war ein freier Geist und liebte das Abenteuer, sie hingegen mochte es gern ruhig und überschaubar. Und außerdem war sie nicht einsam. Auch in dieser Hinsicht hatte sie keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Nachbarin, die nur glücklich war, wenn Menschen um sie herumwuselten. Sie war mit ihrem Dasein absolut zufrieden.

Jedenfalls war sie es gewesen, bis Case auftauchte.

Sie gab dem Staubsauger wütend einen Schubs und stemmte die Hände in die Hüften. Das nützliche Haushaltsgerät krachte gegen den Esstisch. Case Fortune war das eigentliche Problem. Er war wie ein exotischer Märchenprinz plötzlich in ihr Leben getreten und veranlasste sie, alles infrage zu stellen, was ihr etwas bedeutete.

Vor allem ihre Jungfräulichkeit.

Stöhnend warf sie sich auf das Sofa und drückte ihr Gesicht in eine Plüschkröte. Sie hatte Sex nie als Sport betrachtet, im Gegensatz zu vielen anderen aus ihrem Bekanntenkreis. Für sie war Sex eine sehr spezielle und fast erhabene Angelegenheit, die zwei sich liebende Menschen miteinander teilten.

Dennoch musste sie andauernd darüber nachdenken, ob sie mit Case schlafen sollte. Obwohl sie ihn nicht liebte. Sie kannte ihn doch kaum. Trotzdem hatte sie jedes Mal das Gefühl dahinzuschmelzen, wenn er sie küsste. Außerdem sah er auch noch unverschämt gut aus und tat so süße und romantische Dinge.

Das dürfte bei ihren Überlegungen aber eigentlich keine Rolle spielen, es gab Legionen von attraktiven Männern. Jeder, der einen Finger hatte, konnte die Nummer eines Floristen wählen und Schiffsladungen voller Blumen bestellen. Und man musste kein Genie sein, um ein Papierflugzeug zu falten und es an ein Fenster zu werfen.

Es gab allerdings nicht viele Männer, die sich so verhielten. Dazu war jemand nötig, der die richtigen Einfälle hatte. Jemand, der nachdachte und ebenso liebevoll wie großzügig war. Jemand, der ein Herz hatte.

Nachdenklich ließ sie das Plüschtier sinken. War Case wirklich die Art von Mann, die sie gerade in Gedanken beschrieben hatte? Sie strengte ihr Hirn an und versuchte sich zu erinnern, wann er jemals die Eigenschaften gezeigt hatte, die sie ihm eigentlich zuschrieb. Eiskalt, ehrgeizig, herzlos.

Er musste doch all diese Charakterzüge aufweisen. Kein Geschäftsmann wie Case stieg die Erfolgsleiter so weit hinauf, ohne seinen Mitmenschen dabei auf die Füße zu treten. Ihr eigener Vater hatte seine Familie der Karriere geopfert. Sicher hatte Case etwas Vergleichbares getan.

Ungebeten erschienen jedoch ganz andere Bilder in ihrem Kopf und sie erinnerte sich an seine liebevollen Bemerkungen über seine verstorbene Mutter, an seine Sorge wegen seiner Stiefmutter, als sie kurz davor war, in Ohnmacht zu fallen, an die enge Verbundenheit mit seinen Geschwistern.

Vielleicht hatte sie ihn falsch beurteilt und womöglich eine Zukunft mit ihm aufs Spiel gesetzt, als sie sich weigerte, mit ihm zu schlafen.

Sie schob energisch das Kinn vor. Selbst wenn das so war, es spielte keine Rolle. Ihre Unberührtheit war ihr sehr wichtig. Ein Geschenk, das sie dem Mann zudachte, den sie liebte und heiraten würde. Falls Case sie fallen ließ, weil sie ihm Sex verweigerte, war er nicht der Richtige für sie.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Sie nahm an, es war Zoie, die sich für die gemeinen Dinge entschuldigen wollte, die sie am Morgen von sich gegeben hatte. Gina beschloss, ihre Freundin eine Weile zappeln zu lassen, bevor sie ihr vergab. Schließlich hatte sie ziemlich grausame und obendrein auch noch falsche Behauptungen aufgestellt.

Als sie die Tür öffnete, stand nicht Zoie, sondern Case davor.

„Case“, sagte Gina überrascht.

„Drehst du gerade einen Werbefilm für Putzmittel?“, fragte er lächelnd.

Ihr wurde bewusst, dass sie sich ein Tuch um den Kopf gebunden hatte. Rasch nahm sie es ab und lachte nervös. „Tut mir leid. Ich bin tatsächlich beim Saubermachen.“

Er hob die Augenbrauen. „Hast du vor, mich hereinzubitten?“

Verlegen trat sie beiseite und ließ ihn eintreten. „Tut mir leid.“

„Das ist das zweite Mal innerhalb einer Minute, dass du dich entschuldigst. Normalerweise ist das ein Hinweis auf ein schlechtes Gewissen.“

Sie senkte den Blick und errötete. „In diesem Fall eher ein Zeichen für Verlegenheit. Ich hatte keinen Besuch erwartet. Was tust du hier um diese Tageszeit? Solltest du nicht in deinem Büro sein und arbeiten?“

„Ich schwänze“, erwiderte er und grinste breit.

„Wirklich? Du scheinst mir gar nicht der Typ dafür zu sein.“

„Schon wieder diese Typsache“, sagte er und verdrehte die Augen.

„Tut mir leid.“

„Damit wären es drei Mal.“ Er lächelte. „Aber du hast recht. Eigentlich mache ich so früh am Tag nicht Feierabend. Da ich jedoch heute nichts Vernünftiges zustande bringe, dachte ich, ich könnte ausnahmsweise mal rechtzeitiger gehen. Ich habe gehofft, dass du mir beim Schwänzen Gesellschaft leistet.“

Sie blickte an sich hinunter und zog angesichts ihres fadenscheinigen Jogginganzugs die Nase kraus. „In diesem Aufzug kann ich unmöglich das Haus verlassen.“

„Ich hatte an einen Filmmarathon gedacht“, erklärte er und hob ihr seinen Aktenkoffer entgegen. „Dafür bin ich bestens vorbereitet. Ein halbes Dutzend Filme, eine Packung Popcorn für die Mikrowelle und ein Sechserpack Bier. Alles da.“

Sie musste lachen. „Ist das dein Ernst?“

Er stellte den Aktenkoffer auf den Esstisch, öffnete ihn und präsentierte ihr einen Stapel DVDs, das angekündigte Popcorn und auch das Bier.

„Es ist dein Ernst“, murmelte sie fassungslos.

Case schlüpfte aus dem Mantel und lockerte seine Krawatte. „Also, was sagst du? Bist du dabei?“

Wieder musste sie lachen. Sie schnappte sich das Popcorn und ging in Richtung Küche. „Ich mache das Popcorn, während du eine DVD einlegst.“

Als der Abspann des letzten Films über den Bildschirm lief, saßen Case und sie aneinandergekuschelt auf dem Sofa.

Gina nahm ein Papiertaschentuch aus der bereitgestellten Box und wischte sich die Tränen von den Wangen. „Bei diesem Film muss ich immer heulen.“

„Ich auch.“

Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu und stieß ihm den Ellenbogen in die Rippen. „Lügner. Du weinst bestimmt nie.“

„Doch. Ich habe geweint. Du hast es nur nicht gemerkt“, protestierte er.

„Männer.“ Gina nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus.

„Nur weil wir unsere Gefühle nicht ständig der ganzen Welt offen zeigen, heißt das noch lange nicht, dass wir keine haben.“

„Soll das heißen, Frauen tun das?“, hakte sie angriffslustig nach.

Mit einem Finger wischte er eine Träne von ihrer Wange und zeigte sie ihr. „Da ist der Beweis.“

„Also gut, ich bin eine Heulsuse und weine bei traurigen Filmen“, lenkte sie ein und lachte, und er küsste sie zärtlich auf die Stirn.

„Streite dich bloß nie mit mir. Ich habe nämlich immer recht.“

„Dein übergroßes Ego kommt schon wieder zum Vorschein.“

Er beugte sich über sie. „Lass uns ein bisschen herumknutschen“, wisperte er dicht an ihrem Mund.

Sie wusste genau, dass das keine gute Idee war, denn ihr war klar, wohin das führen würde. Aber bevor sie ihre Bedenken aussprechen konnte, umfasste er ihre Brüste und ihr Widerstand verflüchtigte sich. Sie legte beide Arme um ihn und zog ihn näher an sich.

Sein Kuss schien niemals enden zu wollen. Zarte Bisse in ihre Unterlippe, tiefe gierige Stöße seiner Zunge. Geflüsterte Worte, die keinen Sinn ergaben und immer wieder ihr Name. Hände, die ihre Brüste streichelten und kneteten. Das Gewicht seiner Beine auf ihren. Der Druck seiner Erektion an ihrem Schoß.

Schließlich stöhnte er auf und drückte das Gesicht an ihren Hals. Sein Atem strich warm und feucht über ihre Haut. Mindestens für eine Minute verharrte er in dieser Position, dann richtete er sich auf.

„Ich mache mich besser auf den Weg, solange ich noch laufen kann.“ Nach einem letzten Kuss stand er auf und lächelte sie an. „Ich rufe dich morgen an“, versprach er.

Dann verließ er ihr Loft.

Gina hatte schon von sexueller Frustration gehört, aber keine Ahnung gehabt, wie sich das anfühlte. Bis jetzt. Noch Stunden nachdem er gegangen war, brannte ihr Körper vor Verlangen, und sie war rastlos und angespannt. Sie fand es unglaublich, dass Case sie in einen solchen Erregungszustand versetzen konnte und es dann schaffte, einfach zu gehen, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, ihr Erleichterung zu verschaffen, oder sich selbst. Er war ebenfalls erregt gewesen, das hatte sie deutlich gespürt.

Sie fragte sich, warum er nicht darauf gedrungen hatte, mit ihr zu schlafen. Hatte er nicht bemerkt, wie es um sie bestellt war? Sie hätte es nicht fertiggebracht, ihn aufzuhalten. Nur noch ein paar Minuten dieser köstlichen erotischen Folter und sie hätte sich die Sachen vom Leib gerissen und wäre über ihn hergefallen.

Ich spare mich für den Mann auf, den ich heirate.

Dieser Satz klang ihr auf einmal seltsam hohl in den Ohren. Sie rollte sich auf die Seite und wühlte das Gesicht in ein Kissen. Das hatte sie ihm das letzte Mal gesagt, als er versucht hatte, sie zu verführen.

Das ist alles meine Schuld, dachte sie verzweifelt. Indem Case gegangen war, hatte er seine Bereitschaft bewiesen, sich an ihre Regeln zu halten. Das war ein nobler Zug und nötigte ihr Bewunderung ab. Diese Erkenntnis konnte sie aber nicht von ihrem vor Verlangen schmerzenden Körper ablenken.

Am anderen Ende der Stadt kniete Ginas Vater Curtis Reynolds auf dem Küchenboden und hielt den Kopf zwischen den Händen. Ihm war furchtbar schwindelig und Schmerzattacken quälten ihn. Der Schmerz lähmte ihn, machte ihn schwach und wurde mit jedem Tag stärker. Weil er nicht schlafen konnte, hatte er sich ein Glas Saft holen wollen, wobei eine heftige Attacke ihn überwältigte.

„Mr Reynolds! Brauchen Sie Hilfe?“

Es dauerte einen Moment, bis die Stimme seiner langjährigen Haushälterin den Nebel in seinem Hirn durchdrang.

Er nahm einen tiefen Atemzug. Dann noch einen, ehe er sich langsam aufrichtete und in das besorgte Gesicht der Haushälterin blickte. „Alles in Ordnung. Es geht mir gut, Mary.“

„Sind Sie sicher? Soll ich Ihnen nicht doch lieber eine Schmerztablette holen?“

Er schüttelte den Kopf, um den Nebel zu vertreiben und Marys Frage zu beantworten. „Keine Tabletten. Davon werde ich so schrecklich benommen.“

„Aber der Arzt hat gesagt …“

„Ich weiß, was der Arzt gesagt hat“, unterbrach er sie mit schneidender Stimme, um dann ihre Hand zu nehmen und sie entschuldigend zu tätscheln. „Wenn einem nicht mehr viel Zeit bleibt, möchte man sie bei klarem Verstand erleben und nicht in einem verdammten Nebel.“

„Erlauben Sie mir, Gina anzurufen. Falls sie wüsste …“

Wieder schüttelte er den Kopf. „Kommt nicht infrage. Ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen und sie gebeten zurückzurufen. Das hat sie nicht getan. Würde sie auf Ihre Bitte hin kommen, geschähe das aus Mitleid, nicht, weil ich ihr etwas bedeute.“

„Aber sie ist Ihre Tochter“, wandte Mary ein. „Sie sollte hier bei Ihnen sein.“

„Nein“, sagte er traurig. „Ich war nie für sie da, wenn sie mich brauchte. Ich kann nicht von ihr verlangen, dass sie sich jetzt um mich kümmert.“

Case hatte sein Versprechen gehalten und sie um die Mittagszeit angerufen. Nachdem sie ein paar Minuten geplaudert hatten, lud er sie zu einer Dinnerparty im Haus seiner Eltern ein. Gina litt immer noch an ihrer unerfüllten Leidenschaft und hatte schlecht geschlafen. Es fehlte nicht viel und sie hätte ihm erklärt, er solle die Party vergessen und stattdessen zu ihr kommen, weil sie für die Nacht andere Pläne mit ihm habe.

Da sie aber nun einmal keine besonders wagemutige Natur war, schreckte sie im letzten Moment davor zurück und nahm die Einladung an. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich nicht in eine peinliche Situation bringen würde, indem sie vor den Augen der versammelten Familie über Case herfiel. Neuerdings wusste sie kaum, wie sie die Finger von ihm lassen sollte.

Zum Glück dauerte es fast den ganzen Nachmittag, die geeignete Garderobe auszuwählen. Das lenkte sie ab. Case hatte zwar fürsorglich erwähnt, dass Abendkleidung erforderlich war, doch das machte ihr die Sache nicht leichter. Es konnte vom Cocktailkleid bis hin zur langen Robe für einen Ball alles Mögliche bedeuten. Gina entschied sich nach reiflicher Überlegung für einen eleganten cremeweißen Hosenanzug mit perlenbesticktem Abendmantel. Darin fühlte sie sich wohl, und es war vermutlich besser, underdressed zu sein als das Gegenteil.

Sie verbrachte eine geschlagene Stunde mit ihrer Frisur. Anfangs schwebte ihr etwas vor, das sie glamourös erscheinen ließ. Als sie schließlich erkannte, dass dieses Ziel unerreichbar war, steckte sie die Haare zu einem losen Knoten am Hinterkopf zusammen. Sie nahm dafür mit Perlen besetzte Haarnadeln, die zu ihrem Abendmantel passten.

Es war Punkt sieben Uhr, als Case an die Tür klopfte. Gina schlüpfte in weiße Pumps und öffnete ihm ein wenig atemlos. Sie war ziemlich nervös.

Bei seinem Anblick wäre sie fast auf die Knie gegangen. Zu einer dunklen Hose trug er ein dunkelbraunes Dinnerjackett mit einem cremeweißen Hemd. Er sah anbetungswürdig aus.

Er musterte sie von Kopf bis Fuß. „Wow! Du hast dich in eine hinreißende Schneekönigin verwandelt.“

Sein Kompliment trieb ihr die Röte in die Wangen. „Und wie genau sieht eine Schneekönigin aus?“

Er umfasste ihre Taille und zog sie an sich. „Wie ein Zauberwesen, das in meinem Mund schmilzt, wenn ich es wage, davon zu kosten.“ Er hob die Augenbrauen. „Besteht irgendeine Gefahr, dass das geschieht?“

Gina versuchte ein kokettes Lächeln. „Ich weiß es nicht. Du musst es selbst herausfinden.“

Er nahm die Herausforderung an und küsste sie auf eine Art, die ihr einen Schauer bis hinunter zu den Zehen verursachte. Als er sich schließlich von ihr löste, atmete sie tief durch und bedachte ihn mit einem gewagten Augenaufschlag. „Und? Bin ich geschmolzen?“

„Ich kann es nicht sagen. Vielleicht sollten wir es noch einmal probieren.“

Schnell presste sie die Hände auf seine Brust, um ihn von einem weiteren Kuss abzuhalten, denn wenn es dazu käme, würden sie es niemals zur Dinnerparty schaffen.

„Lieber nicht“, sagte sie bedauernd. „Wir wollen doch nicht zu spät kommen.“

5. KAPITEL

Gina zupfte Case nervös am Arm, bevor er die Tür zu seinem Elternhaus öffnen konnte.

„Skylar ist die mit dem langen hellbraunen Haar, nicht wahr?“, fragte sie. „Die so wirkt wie ein Wildfang?“

„Das kannst du laut sagen. Früher hatte ich manchmal den Eindruck, sie wäre lieber ein Junge“, antwortete er.

„Und Eliza ist blond und hat blaue Augen?“

Er lachte und küsste sie auf die Wange. „Hör auf, dir Sorgen zu machen. Niemand wird beleidigt sein, wenn du einen Namen vergessen hast.“

Seine Zuversicht beruhigte sie ein wenig und sie folgte ihm ins Haus.

„Hört sich an, als ob sie alle im Wohnzimmer wären“, sagte er und führte sie in diese Richtung.

Ginas Unbehagen verstärkte sich um ein Vielfaches, als sie sah, wie viele Menschen sich in dem großen Raum versammelt hatten. Neben den Familienmitgliedern entdeckte sie etliche neue Gesichter. Sie drückte seinen Arm und deutete diskret auf den offenen Kamin. „Wer ist das dort bei Maya?“

„Brad, ihr Freund.“

Gina beobachtete Maya und Brad eine Weile. „Wenn Brad ihr Freund ist, warum schaut sie dann immer Creed an?“

Case lachte und schüttelte den Kopf. „Frauen! Ihr seid ständig darauf aus, Unruhe zu stiften.“

„Das ist überhaupt nicht wahr“, widersprach sie empört und stieß ihm einen Ellenbogen in die Rippen. „Sieh sie dir doch an. Sie unterhält sich zwar mit Brad, kann die Augen jedoch nicht von Creed abwenden.“

Case folgte ihrem Blick und runzelte nachdenklich die Stirn. „Es scheint tatsächlich so zu sein, hat aber bestimmt gar nichts zu bedeuten. Komm, wir besorgen uns etwas zu trinken.“

Obwohl sie nicht seiner Ansicht war, behielt Gina ihre Meinung für sich und ließ sich widerstandslos zur Bar führen. Gerade als Case ihr ein Glas Champagner reichte, gesellte sich Eliza zu ihnen und schob einen Arm unter ihren.

„Pass auf“, sagte Eliza mit Blick auf Case. „Er hat die Angewohnheit, Frauen betrunken zu machen, damit er leichtes Spiel mit ihnen hat.“

Gina lachte. „Keine Sorge. Ich kenne seine hinterhältige Art.“

Eliza lächelte, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Case auf die Wange. „Schön, dich zu sehen, großer Bruder.“

Er tat so, als würde er ihren Kuss wegwischen. „Jetzt ist es zu spät, um mir Honig um den Bart zu schmieren.“

Eliza kicherte und ergriff eine vorbeigehende Frau beim Arm, um sie zu ihrer kleinen Gruppe zu ziehen. „Gina, ich möchte dir meine Freundin Diana Young vorstellen. Diana, das ist Gina Reynolds, die derzeitige Flamme meines Bruders.“

„Würdest du bitte damit aufhören?“, bat Case und zeigte einen gequälten Gesichtsausdruck. „Du machst aus mir eine Art Playboy.“ Er wandte sich an Diana und schüttelte ihr die Hand. „Es ist immer eine Freude, dich zu sehen.“ Dann warf er einen bitterbösen Blick in Richtung Eliza. „Ganz im Gegensatz zu der Gesellschaft, mit der du dich umgibst.“

Eliza lachte fröhlich und schaute sich im Raum um. „Ziemlich voll, nicht wahr?“

„Und wie!“, bekräftige Gina und unterdrückte ein Schaudern angesichts der vielen fremden Menschen.

„Oh, seht mal“, sagte Eliza aufgeregt. „Die Australier sind angekommen.“ Sie winkte zwei junge Männer zu sich, die gerade eingetreten waren.

„Ihr werdet sie lieben“, sagte sie enthusiastisch zu ihr und Diana. „Max ist ein Cousin von uns. Mom und Dad haben ihn in Australien getroffen und ihn und seinen Freund und Geschäftspartner Zack Manning eingeladen, uns zu besuchen. Sie interessieren sich für Pferdezucht und wollen sich Skylars Betrieb anschauen.“

Während sich die beiden Männer ihrer Gruppe näherten, bemerkte Gina, wie Diana nach Luft schnappte, als hätte sie einen gehörigen Schreck bekommen.

Eliza nahm Max an die Hand und übernahm die allgemeine Vorstellung. „Und das“, sagte sie zum Schluss und zog Diana an ihre Seite, „ist meine Freundin Diana Young.“

Diana neigte leicht den Kopf. „Hallo, Max.“

Max murmelte etwas, das Gina nicht verstand, und wandte sich darauf an die ganze Gruppe: „Bitte entschuldigt mich. Ich muss dringend mit Patricia und Nash sprechen.“

Gina beobachtete, wie er sich in Begleitung seines Freundes Zack entfernte, und wunderte sich über den seltsamen Vorfall.

„Dann wollen wir uns mal ein wenig unters Volk mischen“, sagte Eliza und zog mit ihrer Freundin Diana im Schlepptau ab.

„Das war merkwürdig“, sagte Gina leise.

„Was war merkwürdig?“, erkundigte sich Case.

„Dianas Reaktion nach zu urteilen, als sie Max hereinkommen sah, kannte sie ihn bereits. Das könnte ich schwören. Dennoch haben sie beide so getan, als hätten sie sich noch nie gesehen. Und hast du seinen Gesichtsausdruck bemerkt? Er wirkte fast wütend.“

„Du hättest Krimiautorin werden sollen, anstatt Kinderbücher zu schreiben. Du hast eindeutig deinen Beruf verfehlt. Seit wir angekommen sind, bist du schon zwei seltsamen Begebenheiten auf die Spur gekommen.“

Gina zuckte mit den Schultern. „Ich kann nichts dafür, dass ich eine gute Beobachtungsgabe habe und mehr wahrnehme als die meisten anderen. Mit Maya habe ich ganz sicher recht. Irgendwas geht zwischen ihr und Creed vor.“

„Also wirklich.“ Case schnaubte leise.

„Wenn du mir nicht glaubst, dann schau doch mal genau hin. Creed sieht aus, als würde er Mayas Freund jeden Augenblick an die Kehle springen.“

Case folgte ihrer Aufforderung, beobachtete seinen Bruder für einen Moment und schüttelte eigensinnig den Kopf. „Er denkt vermutlich gerade über etwas nach und ist sich seines Gesichtsausdrucks überhaupt nicht bewusst.“

„Ich bin nicht deiner Meinung.“

„Da du so entschlossen bist, verborgene Romanzen aufzuspüren, solltest du dir Zack Manning und Skylar genauer ansehen.“ Er lächelte sie an und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Gina suchte den Raum nach den beiden ab und entdeckte sie in der Nähe der Tür, wo sie ganz offen miteinander flirteten. „Aber sie haben sich doch gerade erst kennengelernt“, stellte sie erstaunt fest.

Case legte ihr einen Arm um die Schultern. „Komm mit, du Meisterdetektivin. Ich habe eine Überraschung, die ich dir zeigen möchte.“ Als sie die Mitte des Raumes erreicht hatten, zog Case sie an seine Seite. „Darf ich für einen Moment um Aufmerksamkeit bitten?“, sagte er laut.

Nach und nach verstummten die Gäste und alle Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Gina war es äußerst unangenehm, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses zu stehen. „Was hast du vor?“, flüsterte sie panisch. „Alle starren uns an.“

„Natürlich tun sie das“, erwiderte er und lächelte zufrieden.

„Case, was soll das?“

Er ignorierte ihre Frage und wandte sich an die anderen Gäste. „Wie ihr wisst, ist die Familie sehr wichtig für mich. Die Fortune-Familie ist groß und sogar über mehrere Kontinente verteilt. Im Laufe der Jahre hatten wir oft Pech, aber auch Erfolg. Wir haben alles gemeinsam durchgestanden und uns gegenseitig unterstützt und ermuntert. Wir haben zusammen gelacht, geweint und gefeiert. In diesem Haus, in dem wir uns heute Abend versammelt haben, bin ich aufgewachsen. Hier wurde ich Zeuge von Geburten, von Todesfällen und allem, was dazwischen liegt. Ich bitte meine Familie und meine Freunde jetzt, einen ganz besonderen Moment mit mir zu teilen.“

Gina lief ein Schauer ängstlicher Vorahnung über den Rücken, als Case sie anblickte. Er nahm ihre Hand, sank vor ihr auf die Knie, fasste in seine Brusttasche und holte etwas daraus hervor.

Ihr blieb die Luft weg. Sie brachte keinen Ton heraus.

Während er sie unverwandt ansah, steckte er ihr einen Ring an den Finger. „Gina Reynolds, willst du mir die Ehre erweisen und mich heiraten?“

Im Raum war es so still, dass man das Feuer im Kamin knistern hören konnte. Die Anwesenden waren anscheinend genauso schockiert über diesen Heiratsantrag wie sie selbst. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was sie erwidern sollte. Ja? Nein? Bist du verrückt?

Case schien keine Antwort zu brauchen.

Er stand auf und nahm sie in die Arme. Während alle Umstehenden sie schweigend beobachteten, küsste er sie so leidenschaftlich, dass ihr schon wieder die Luft wegblieb.

Vereinzeltes Händeklatschen setzte ein, dann mehr und mehr, bis schließlich donnernder Applaus den Raum erfüllte.

Die Heimfahrt verbrachte Case damit, am Handy mit jemandem ein Gespräch über einen Geschäftsabschluss zu führen, den Creed und er in die Wege geleitet hatten. Das war nicht exakt das Verhalten eines Mannes, der die Frau an seiner Seite gerade um ihre Hand gebeten hatte. Gina fand es dennoch ganz in Ordnung so, denn sie wäre nicht in der Lage gewesen, sich vernünftig zu unterhalten, selbst wenn ihr Leben davon abhinge.

Während Case seine Geschäfte abwickelte, saß sie stumm neben ihm, drehte ihren Verlobungsring hin und her und versuchte zu begreifen, was da vorhin in seinem Elternhaus passiert war.

Warum hat er mir einen Antrag gemacht? fragte sie sich wohl zum hundertsten Mal. Er hatte die Möglichkeit einer Ehe vorher nie erwähnt und hatte nie gesagt, dass er sie liebte. Sie waren kein Paar. Oder zumindest hatte sie sich und Case nie als ein solches betrachtet. Auch die Dauer ihrer Beziehung, falls man das überhaupt so nennen konnte, hätte keine Frau dazu veranlasst, einen Antrag zu erwarten. Zwei Wochen waren kaum Zeit genug, um sich kennenzulernen, geschweige denn, um sich zu verloben.

Sie warf einen Blick auf den kostbaren Stein, der an ihrem linken Ringfinger funkelte. Er war atemberaubend. Mehrere Reihen von kleinen Brillanten umgaben einen großen Smaragd in der Mitte. Angesichts dieses wundervollen Rings hätte sie eigentlich außer sich vor Freude und Enthusiasmus sein müssen, verspürte aber nur vage Übelkeit.

Sie brauchte Antworten und Erklärungen auf ihre Fragen, hatte jedoch nicht die Nerven, Case darauf anzusprechen. Und selbst wenn, hätte es keine Gelegenheit gegeben, da er ja telefonierte.

Er beendete das Gespräch erst, als sie ihr Loft betraten.

Gina nahm ihren ganzen Mut zusammen, trat vor ihn, sah ihm in die Augen und stellte die Frage, die ihr am meisten auf der Seele brannte. „Warum hast du mir einen Heiratsantrag gemacht?“

„Ich dachte, das wäre offensichtlich“, erwiderte er irritiert.

„Vielleicht für dich. Für mich jedoch nicht. Lieber Himmel, Case, wir kennen uns erst seit zwei Wochen!“

„Ich wusste nicht, dass es für Heiratsanträge Fristen gibt“, bemerkte er trocken.

„Das ist keine Antwort auf meine Frage“, sagte sie ungeduldig. „Und warum hast du es vor diesen vielen Leuten getan? Alle haben mich angestarrt. Es war mir furchtbar peinlich.“

Er lächelte, trat zu ihr und nahm ihre Hände. „Gina, dafür gab es keinen Grund. Die vielen Leute, wie du es ausdrückst, sind meine Familie und meine Freunde. Eine Verlobung ist ein großer Schritt. Ein Meilenstein in meinem Leben. In unserem Leben. Ich teile so etwas eben mit den Menschen, die mir nahestehen.“ Er zog sie an sich und umarmte sie. „Sei nicht ärgerlich deswegen, Liebling. Ich wollte doch nur, dass es ein ganz besonderer Moment für dich wird. Ein Ereignis, an das du dich gern erinnerst.“

Als sie nichts erwiderte, umfasste er ihr Gesicht und küsste sie zärtlich auf den Mund. „Bitte sag mir, dass du mir nicht böse bist.“

Aller Widerstand in ihr löste sich auf. „Ich bin nicht böse. Es kam nur so unerwartet.“

Er nahm ihre Hand und drückte einen Kuss auf die Stelle, an der der Ring saß. „Gefällt dir dein Verlobungsring überhaupt?“

„Er ist wunderschön.“ Sie erschauerte, als Case mit einer Fingerspitze über ihre Handfläche strich.

„Als ich ihn sah, wusste ich, dass er für dich bestimmt ist“, sagte er und lächelte zufrieden. „Habe ich dir schon gesagt, dass du heute Abend hinreißend aussiehst?“

Er beugte sich herunter und bedeckte ihren Hals mit zarten Küssen. Gina schloss die Augen und lehnte sich zurück, um ihm den Zugang zu erleichtern. „Ich … ich kann mich nicht erinnern“, wisperte sie atemlos.

„Dann sage ich es dir jetzt. Du siehst atemberaubend aus.“ Er streifte ihr den Abendmantel von den Schultern. „Zum Anbeißen. Oder zum Niederknien. Strahlend wie eine Braut in ihrer Hochzeitsnacht.“

Sie bekam eine Gänsehaut, als sie seine Hände auf ihren Armen spürte. Ihr Mantel fiel zu Boden und bildete einen cremeweißen perlenbestickten Halbkreis zu ihren Füßen. Ihre Atmung ging schneller und ihre Haut schien zu glühen. Sie wollte die Augen aufschlagen, um sich an irgendeinem Gegenstand aus der Wirklichkeit zu orientieren, aber ihre Lider waren einfach zu schwer.

Sie fühlte seine Fingerspitzen in ihrem Nacken und hörte kurz darauf das Geräusch eines sich öffnenden Reißverschlusses, als Case sich an ihrem Oberteil zu schaffen machte. Behutsam streifte er es ihr von den Schultern. Dann rutschte der weiche Stoff von allein abwärts und blieb ebenfalls zu ihren Füßen liegen.

„Case“, sagte sie atemlos. „Hör auf. Bitte.“

Er verschloss ihre Lippen mit einem Kuss und ließ seine Hände über ihren Rücken gleiten. „Es gibt keinen Grund aufzuhören. Ich habe dir einen Antrag gemacht, erinnerst du dich?“

Gina schluckte. Sie hatte ihm selbst gesagt, dass sie nicht mit einem Mann schlafen würde, mit dem sie nicht verheiratet oder zumindest verlobt war.

Nun war sie seit drei Stunden mit Case verlobt.

„Spürst du das?“, fragte er heiser, während er sein Becken an ihr rieb. „Das, mein Liebling, richtest du bei mir an.“

In ihrem Magen bildete sich ein Knoten, der zweifellos mit der Angst vor dem Unbekannten zu tun hatte. Sie war in Bezug auf Sex gänzlich unerfahren, dennoch reagierte sie heftig auf seine zärtlichen Liebkosungen, ihre Haut schien vor Verlangen zu glühen. Sie wünschte sich nichts mehr, als Case auf die gleiche Art zu berühren und seinen Körper zu erkunden, wie er es bei ihr tat. Sie wollte seine Hände auf ihren Brüsten spüren, ihr Mund brannte vor Sehnsucht nach einem Kuss. Sie begehrte Case, sehnte sich nach der Lust, die er ihr bot, und der Enthüllung der Geheimnisse, die er versprach. Ihre Reaktion ließ keinen Zweifel daran.

Mit zitternden Fingern zog sie ihm das Hemd aus dem Hosenbund. Als sie seine nackte Haut berührte, hörte sie ihn aufstöhnen und spürte, wie seine Atmung sich beschleunigte.

„Ich will mit dir ins Bett“, flüsterte er.

Sein heißer Atem streifte ihren Mund. Während er sich das Jackett abstreifte und es achtlos zu Boden fallen ließ, schob er sie behutsam in Richtung Schlafbereich.

„Ich will dich nackt unter mir spüren, die Beine gespreizt und deine Arme um mich geschlungen.“

Bei seinen Worten begann ihr Herz heftig zu hämmern. Der Knoten der Angst löste sich auf und sie wurde von einer Welle der Erregung und ungeduldiger Vorfreude durchflutet. Als sie mit den Waden gegen die Bettkante stieß, war sein Jackett verschwunden, ebenso wie das Hemd. Sie konnte den Blick kaum von seiner glatten muskulösen Brust lösen und beobachtete mit angehaltenem Atem, wie Case sich seiner Hosen entledigte. Seine Erregung zeichnete sich deutlich unter den Boxershorts ab.

Wieder schluckte sie und sah ihm in die Augen. „Ich habe das noch nie getan“, sagte sie nervös.

Er lächelte und legte ihr sanft eine Hand auf die Wange. „Mach dir keine Sorgen. Ich bringe dir alles bei, was es zu wissen gibt.“

Gina nickte stumm, streifte ihre Pumps ab und schlüpfte aus der Anzughose. Als sie nur noch mit Slip und BH bekleidet vor ihm stand, musste sie gegen das Bedürfnis ankämpfen, ihre Blöße zu bedecken. Schweigend schaute sie zu, wie Case sich die Boxershorts auszog und die Bettdecke zurückschlug.

Er drehte sich zu ihr um und ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus. Seine unglaublich blauen Augen schienen eine Schattierung dunkler geworden zu sein, sein Blick brannte auf ihrer Haut und Case streckte eine Hand nach ihr aus.

„Schlaf mit mir, Gina.“

Seine Stimme klang beruhigend und seine Hände umfassten ihre Wangen zärtlich. Sie konnte nicht anders, als einen Schritt nach vorn zu treten. In seine Arme. Ohne ihn direkt anzusehen, hob sie ihm das Gesicht entgegen.

Anfangs waren seine Lippen sanft und weich, doch während er sie behutsam aufs Bett drückte, wurde sein Kuss fordernder. Ihr war, als würde jeder Nerv in ihrem Körper vibrieren, um die Flut unbekannter Empfindungen zu verarbeiten. Es war befriedigend und berauschend, sein Gewicht zu spüren, als er sich auf sie schob, die Wärme seiner nackten Haut, den leichten Druck seiner Zähne, als er ihr spielerisch in die Unterlippe biss. All das erregte sie.

Case legte eine Hand auf ihre Brüste und massierte zärtlich die Rundungen, bis ihre Brustwarzen nach seiner Berührung zu lechzen schienen. Innerhalb kürzester Zeit wand sie sich unter ihm. Ihr Körper forderte Befriedigung, doch sie hatte keine Ahnung, wie sie Case das deutlich machen sollte.

„Case“, flüsterte sie tonlos. „Bitte.“

„Gib mir eine Minute“, sagte er leise, richtete sich auf, beugte sich vor und nahm etwas aus der Tasche seiner Hose, die auf dem Boden lag.

Ein Kondom, dachte sie nervös und hielt den Atem an, während er die Packung aufriss und sich den Schutz überstreifte.

Er legte sich neben sie, eine Hand unter ihrem Rücken, und drehte sie auf die Seite. Sie blickte ihm unverwandt in die Augen, als er ihr Slip und BH abstreifte und die andere Hand zwischen ihre Beine schob.

Sofort verkrampfte sie sich und keuchte erschrocken auf.

„Keine Angst“, sagte er leise. „Ich werde dir nicht wehtun. Ich will nur sicher sein, dass du bereit bist.“

Sie nickte, schloss die Augen und stöhnte auf, als er sie nun streichelte. Ungeheure Hitze stieg in ihr auf und sie fühlte, wie sich ihr Körper ganz von selbst entspannte. Hinter ihren geschlossenen Lidern tanzten glühende Punkte und zerbarsten wie ein Silvesterfeuerwerk. Ihr war, als stünde sie in Flammen.

Das ist Folter, war alles, was sie denken konnte, unglaubliche, lustvolle und atemberaubende Qual. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas empfunden. Und sie wollte mehr, doch als sie spürte, wie Case mit einem Finger behutsam in sie eindrang, verkrampfte sie sich unwillkürlich.

„Lass dich gehen. Entspann dich“, flüsterte Case beschwichtigend.

Seine leise geäußerten Liebkosungen waren beides, tröstend und bezaubernd, milderten ihre Furcht genauso, wie sie die Glut anfachten. Ihr Atem ging schwerer, ihr Körper sehnte sich nach Erlösung.

Als würde Case ihre brennende Begierde spüren, legte er eine Hand hinter ihr Knie und zog das Bein auf seines.

„Ich tue dir nicht weh“, wiederholte er und drückte sein Becken an ihre Hüften.

Unfähig, auch nur ein Wort zu sagen, nickte sie und konzentrierte sich auf das, was ihr Körper von ihr forderte. Sie fühlte Cases Erektion an ihrem Schoß und sog scharf die Luft ein.

„Du darfst das Atmen nicht vergessen. Lass dich einfach gehen.“ Behutsam drang er in sie ein. In dem verzweifelten Versuch, ihrem drängenden Verlangen zu entkommen, schnappte Gina nach Luft, bog den Rücken durch und drängte sich Case entgegen. Ermutigt von ihrer Reaktion, wagte er sich ein kleines Stück weiter vor. Mit einer Hand umfasste er ihren Po, um sie an sich zu ziehen, die andere legte er ihr auf die Wange. Sie spürte seinen Atem an ihren Lippen, hörte die Heiserkeit in seiner Stimme, als er ihr zärtliche Worte zuflüsterte.

Dabei drang er tiefer in sie ein. „Vertrau mir, Liebling“, flüsterte er ihr zu, umklammerte ihren Po mit beiden Händen, drückte sie an sich.

Ein kurzer Schmerz durchzuckte sie und Gina keuchte auf. Den Bruchteil einer Sekunde später war er bereits vergessen, denn eine Flut unglaublicher Empfindungen überrollte sie.

So ist das also, wenn es hieß, man wurde eins, dachte sie, während sie versuchte zu begreifen, was mit ihr geschah. Eine intimere Verbindung zwischen zwei Menschen konnte es kaum geben. Hingerissen von dieser wundervollen neuen Erfahrung sah sie ihn an, um neben der körperlichen Vereinigung auch eine seelische zu Case aufzubauen, und stellte fest, dass er sie anschaute. Seine Gesichtszüge waren angespannt und seine Augen dunkel vor Begierde. Schweißperlen standen auf seiner Oberlippe und bedeckten seine Brust. Sie ahnte, was es ihn kosten musste, sich zurückzuhalten.

Er war so zärtlich und rücksichtsvoll, dass sie dahinschmolz. Sie legte ihm die Arme um den Nacken und küsste ihn leidenschaftlich. „Halt dich nicht zurück“, wisperte sie ihm zu. „Gib mir alles.“

Aufstöhnend rollte er sie auf den Rücken, sodass er auf ihr lag, und stieß härter zu. Seine Hüften pressten sich in einem rhythmischen Tanz an ihre, es fiel ihr nicht schwer, diesem Rhythmus zu folgen. Wellen der Lust brandeten durch ihren Körper, verengten ihr die Kehle und raubten ihr den Atem. Hinter ihren geschlossenen Lidern explodierte ein Funkenregen, als ein köstliches Beben sie davonzutragen schien. Sie spürte, wie Case sich anspannte und seine Muskeln hart wurden wie Stahl. Seine Beine zitterten ebenso wie seine Arme, mit denen er sie umfasst hielt.

Sie öffnete die Augen, um ihn anzuschauen, und sah pure Lust in seinem Gesicht, während er heftig erschauerte und ein Stöhnen der Erleichterung ausstieß.

Wie ein Segel, das keinen Wind mehr hat, ließ er sich danach langsam auf sie sinken und schmiegte sein Gesicht an ihren Hals.

„Geht es dir gut?“, fragte atemlos.

Gina brauchte einen Moment, um ihre Stimme wiederzufinden. „Ja“, flüsterte sie und hielt ihn mit beiden Armen fest umschlungen. Seine Sorge rührte sie. Sie wusste, dass dies keine angemessene Antwort war, aber ihr fehlten die Worte, um ihre Gefühle zu beschreiben.

Während sie seinem Herzschlag lauschte, fielen ihr die Augen zu und sie schlief ein.

Gina stellte fest, dass sie viel lieber von einem Mann geweckt wurde als vom Schrillen eines Weckers. Sie genoss die federleichten Küsse auf ihren Augenlidern, die sanften Berührungen auf ihrer nackten Haut und die leise geflüsterten, zärtlichen Worte. Seufzend schmiegte sie sich an Case. Liebend gern würde sie den Rest des Tages auf diese Weise verbringen.

„Das hätte ich mir ja denken können.“

Sie war so entspannt und glücklich, dass sie einen Moment brauchte, um die dritte Person im Raum zu bemerken. Als die Erkenntnis, dass sie nicht mehr allein mit Case war, zu ihr durchdrang, fuhr sie hoch und erblickte Zoie. Entsetzt zog sie sich die Decke bis ans Kinn hinauf. Es war ihr peinlich, nackt mit einem Mann im Bett ertappt worden zu sein.

Case hingegen schien keinerlei Verlegenheit zu empfinden. Er richtete sich langsam auf und streckte sich wie ein zufriedener Kater. „Guten Morgen, Zoie.“

„Es ist allerdings ein guter Morgen“, erwiderte Zoie und ließ ihren Blick ungeniert über seine muskulöse Brust bis zu seinen Hüften gleiten, wo ihr die Aussicht auf nackte Haut von der Bettdecke verwehrt wurde. „Und er wird mit jeder Sekunde besser.“

Gina schürzte ärgerlich die Lippen und zerrte an der Decke, um die Blöße ihres Verlobten zu verhüllen. „Du hättest anklopfen können.“

„Das habe ich“, erwiderte ihre Freundin und zuckte mit den Schultern. „Aber du hast es wohl überhört. Wegen der heftigen Atmung“, fügte sie grinsend hinzu.

„Was willst du denn?“ Gina merkte, dass sie unhöflich klang, doch sie war empört, da Zoie diese peinliche Situation offenbar aus vollen Zügen genoss.

„Ich wollte nur hereinschauen und feststellen, ob es wahr ist. Wie ich sehe, stimmt es tatsächlich.“

„Was?“, fragte sie ungeduldig.

Zoie warf die Zeitung, die sie in der Hand gehalten hatte, auf das Bett. „Lies selbst.“ Sie wandte sich zum Gehen. „Ruf mich nachher an“, sagte sie über die Schulter und verschwand.

Autor

Peggy Moreland
Peggy Moreland hat die Stephen F. Austin State Universität in Nacogdoches, Texas, mit einem BBA (Bachelor of Business Administration) abgeschlossen. Sie veröffentlichte 1989 ihren ersten Roman bei Silhouette Books. Sie war Gewinnerin des „National Readers‘ Choice Award“, war für den „Romantic Times Reviewers Choice Award“ nominiert und zweimal Finalistin beim...
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