Das Biest aus den Highlands

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Elspeth MacClaren stockt der Atem: Nackt und muskulös steht der Mann vor ihr, die Hüften nur von einem nassen Kilt bedeckt, die Haut geschmückt mit Tätowierungen. Gefährlich sieht der Fremde aus, der sie aus dem reißenden Strom gerettet hat, furchteinflößend - und wunderschön. Ihr junges, unerfahrenes Herz klopft zum Zerspringen. Sie ahnt nicht, was ihren Retter in die Nähe der väterlichen Burg geführt hat: heißer Rachedurst! Denn ihr Clan hat einst seinen Clan getötet. Niall Braewick, der letzte Laird der Kincaids, ist gekommen, um sich zu holen, was ihm zusteht: das Blut der Feinde, die Burg, das Land, den Titel - und nun auch Elspeth …


  • Erscheinungstag 15.08.2017
  • Bandnummer 317
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768362
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

17 Jahre zuvor

Vor der Burg stiegen Flammen empor, wurden zurückgeworfen von den steinernen Mauern des Turmzimmers, spiegelten sich in den Gesichtern der Krieger, die sich dort versammelt hatten. Einige der Männer fluchten. Andere beteten. Die meisten blieben stumm. Das Klirren von Metall durchdrang die Nacht, zusammen mit den Lauten verstörter Tiere, darunter waren Schreie zu hören.

Der zwölfjährige Niall Braewick stand aufrecht da, umklammerte mit seiner Hand den Knauf seines Schwertes. Er war noch jung und hatte noch nie zuvor an einer Schlacht teilgenommen, aber er war groß und stark für sein Alter und hatte mit seinem Waffenmeister geübt. In dieser Nacht würde er tun, was notwendig war, um die niederzuschlagen, die das Vertrauen seines Vaters missbraucht hatten – und mit List und Betrug diesen unerwarteten Angriff gegen seinen Clan geplant hatten.

Raghnall, sein Vater, der Laird of Kincaid, wandte sich vom Fenster ab. Seine Miene war ernst. Wie seine skandinavischen Vorfahren war er größer als die meisten anderen Männer und hatte blondes Haar, in das sich jetzt silberne Strähnen mischten, das ihm bis auf die Schultern fiel. Er trug keine Rüstung, nur die Tunika und das brat, das er heute zum Fest getragen hatte, eine Zusammenkunft, die das Bündnis mit zwei anderen benachbarten Clans stärken sollte. Doch als die Nacht anbrach, war die gastfreundliche Einladung der Kincaids mit Verrat vergolten worden.

Ohne Vorwarnung hatten die Kriegsherren Alwyn und MacClaren – die Anführer zweier kleinerer, einst treuer Clans, die Vasallen der mächtigeren Kincaids waren – sie verraten, hatten den lange schon währenden Disput des Laird mit König David dem Zweiten ausgenutzt um ihr endgültiges Ziel zu verfolgen, nämlich das Land der Kincaids zu erobern.

Als der Laird sprach, klang seine Stimme fest.

„Ich habe keine Wahl“, sagte er. „Ich muss mich ergeben.“

Der Klang dieses Wortes genügte, und Nialls Herz drohte stillzustehen. Sein Vater und sein Clan waren bekannt für ihre Ausdauer im Kampf. Die Geschichte der Highlands war voll von Berichten über den Kampfgeist der Kincaids, und ihr alter und edler Stammbaum wurde oft als das königliche Blut des Nordens gefeiert.

Aufgeben? Sein Herz begann wieder lebendig zu werden, klopfte und hämmerte stolz und stark in seiner Brust.

Niemals!

Rufe erschollen um ihn herum.

„Nein, mein Laird!“, schrie der Mann neben ihm.

„Wir werden kämpfen!“, brüllte ein anderer.

„Zeigen wir Alwyn und MacClaren mitsamt ihren Clans den Weg in die Hölle!“

„Wir können sie schlagen!“, rief Niall und hob sein Schwert.

Doch Raghnall hob seine Hand – und alle Stimmen verstummten.

„Vielleicht ist das so“, sagte er, und in seinen Augen glühten Hass und Feuer. Er sah Niall lange an, ehe er sich zu seinen Männern umdrehte. „Vielleicht können wir sie schlagen. Aber nicht rechtzeitig genug, um die Menschen unseres Clans zu retten.“

Der Clan. Die vielen Menschen in den Dörfern, die gefangen und in einer großen Scheune eingesperrt worden waren, gerade in Sichtweite der Burg. Alte Leute. Kinder. Frauen und Babys. Alle, die nicht in der Lage gewesen waren, sicher aus Inverhaven, dem Dorf, in die Burganlage zu gelangen, ehe die Tore geschlossen wurden. Zum Glück war Lady Kincaid, Nialls Mutter, zusammen mit seinen Brüdern, dem achtjährigen Faelan und dem fünfjährigen Cull, sicher in den Burgmauern. Doch die Frauen und Kinder, die Mütter und Väter vieler Kincaid-Krieger sahen dem sicheren Tod entgegen, wenn der Laird die Forderungen seiner Feinde nicht erfüllte.

„Sie sind unsere Familien“, erklärte sein Vater und nickte ernst. „Es sind meine Leute.“

Sein Captain, Fionnlagh, ein Krieger mit breiter Brust, einem zottigen roten Bart und Zöpfen, trat vor und sagte ruhig: „Aber Ihr seid unser Laird.“

Kincaid antwortete leise, aber dennoch entschlossen. „Deswegen muss ich das tun.“

Fionnlagh schüttelte den Kopf und streckte die Arme aus, die Handflächen nach oben. „Aber Mylord …“

„Es ist entschieden!“, donnerte Raghnall plötzlich. Seine Stimme hallte von den Turmmauern wider.

Niemand sagte ein Wort. Niemand regte sich. Tatsächlich war Niall davon überzeugt, dass niemand auch nur zu atmen wagte. Er selbst eingeschlossen. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Sein Vater würde sich ergeben. Vor Nialls Augen verschwamm alles, Tränen brannten darin, aber er blinzelte sie weg, denn ein Krieger weinte nicht.

Der Laird schritt die Reihe seiner Männer ab, blieb zwischendurch stehen, um jedem Einzelnen ins Gesicht zu sehen. Die alte bronzene Fibel, die sein Plaid hielt, schimmerte im Schein der Lampe. Das smaragdgrüne Auge des Wolfes, der darauf abgebildet war, funkelte.

„Unser Clan hat diese Ländereien seit Jahrhunderten besessen“, sagte er. „Diese Nacht wird nicht das Ende des Clan Kincaid bedeuten.“

„Aye!“, antworteten mehrere Männer und nickten dabei. „Niemals.“

„Tha … sinn … Kincaid“, sagte Raghnall mit Nachdruck und machte kehrt, um noch einmal an ihnen allen vorbeizugehen.

Nialls Kehle war wie zugeschnürt, als er die Worte hörte. Wir sind Kincaid.

Der Laird reckte eine Faust und schlug sich damit auf die Brust. „Tha sinn bhràithrean.“

Wir sind Brüder.

„Tha sinn seo talamh …“

Wir sind dieses Land.

Sein Vater rezitierte den Lehnseid der Kincaids – und Niall sprach ihn mit, das Herz erfüllt von Stolz.

Die Männer stimmten ein. Ihre Stimmen vereinigten sich, wurden lauter, während sie die alten Worte wiederholten, die sie von ihren Vätern gelernt hatten, die sie wiederum von deren Vätern gelernt hatten.

Als sie fertig waren, breitete sich Stille im Raum aus. Bis endlich sein Vater dem Captain zunickte. „Gebt das Zeichen.“

Am Fenster entrollte Fionnlagh ein weißes Leinentuch, sodass es an der Außenmauer hing, und sicherte es mit einem Stein.

Ein lauter Jubelschrei erhob sich in der Nacht – gefolgt von Stille. Dann ertönte das rhythmische Geräusch. Schwerter, die auf hölzerne Schilde geschlagen wurden.

Bumm, bumm, bumm.

Die unheimlichen Laute ließen Niall das Blut in den Adern gefrieren. Er fürchtete, mehr, als er jemals zuvor in seinem Leben etwas gefürchtet hatte, dass diese Nacht den Lauf seines Lebens für immer verändern würde.

Fionnlagh näherte sich dem Laird, zusammen mit mehreren anderen, und sie steckten die Köpfe zusammen. Niall hörte nur ein paar Worte von dem, was sie miteinander besprachen.

„Das Überleben sichern … der Clan …“

Bumm. Bumm. Bumm.

„… nicht viel Zeit …“

Sein Vater nickte und warf Niall einen nachdenklichen Blick zu.

Es kam Bewegung in den Raum, als einige der Männer seinem Vater halfen, die zeremoniellen Gewänder anzulegen, während andere Niall eine viel zu große gefütterte Lederrüstung anlegten und ihm einen Dolch um die Taille gürteten und einen weiteren an sein Bein. Sein Vater berührte das Schwert der Kincaids, das auf einem hölzernen Sockel ausgestellt war, und nickte dann, worauf es in ein dunkles Tuch gehüllt und fortgetragen wurde. Fionnlagh brachte drei Jungen herein – einer davon war Ian, der Sohn des Captains, ein Freund Nialls. Die anderen beiden waren jünger und in Alter und Größe Faelan und Cull näher.

„Niall“, sagte Fionnlagh, ohne Niall dabei in die Augen zu sehen. „Sei ein guter Junge und gib Ian deine Fibel.“

Ian grinste dabei. Natürlich tat er das. Er hatte keine Ahnung, was hier passierte. Auch Niall wusste es nicht genau, aber er wusste immerhin, dass es ihm nicht gefiel. Etwas fühlte sich falsch an. Hier ging etwas vor, das sogar schlimmer war, als sich zu ergeben.

„Warum?“ Er legte seine Hand auf die runde Fibel, eine harte Ausbuchtung unter der Jacke, die er trug.

Bumm. Bumm. Bumm.

„Weil es sein muss.“ Fionnlagh trat näher und runzelte dabei die Stirn. „Mach es einfach, Junge.“

„Nein“, erklärte Niall und trat zurück. „Das werde ich nicht tun.“

Seine Fibel war etwas Besonderes, weil sie den Smaragd im Auge des Wolfes hatte, genau wie die seines Vaters und die seiner Brüder. Sie kennzeichnete ihn als Sohn des Anführers und als einen Nachkommen der Anführer der letzten zwei Jahrhunderte, die vor ihm da gewesen waren. Diese Ehre gab man nicht einfach so weg.

In diesem Augenblick wurden seine Brüder hereingeführt, mit verschlafenen Augen und wirrem Haar, gefolgt von seiner Mutter, deren Gesicht bleich war vor Angst. Fionnlagh nahm Faelan und Cull ihre Fibeln ab. Faelan beklagte sich darüber bei seiner Mutter. Der kleine Cull interessierte sich mehr für die Krieger und ihre Waffen. Niall sah zu, wie ihre Fibeln an den Kleidern der beiden Jungen befestigt wurden, die vor ein paar Minuten hereingeführt worden waren. Beide Jungen waren seinen Brüdern sehr ähnlich.

Jetzt verstand er. Ian würde seinen Platz bei den bevorstehenden Ereignissen einnehmen. Ian würde so tun, als wäre er Niall.

Bumm. Bumm. Bumm.

„Komm, Niall“, sagte Fionnlagh schroff und sah ihn aufmerksam an. „Wir haben jetzt nicht viel Zeit.“

„Nein“, rief Niall und wich zurück. „Ich werde das nicht tun.“

„Du wirst“, sagte eine tiefere Stimme von hinten. Der Schatten seines Vaters fiel auf Niall. „Weil ich es dir befehle.“

Große, schwielige Hände drehten ihn an den Schultern herum und lösten die Fibel von seiner Kleidung.

„Ich will bei dir bleiben“, sagte Niall voller Herzeleid und fühlte sich schon jetzt beinahe weit entfernt von allem, was er liebte.

Sein Vater reichte Fionnlagh die Fibel. „Du kehrst zurück, wenn es sicher ist.“

„Am Morgen?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Hoffen wir es.“ Der Laird lachte leise, es war ein tiefes Lachen, dann sah er Fionnlagh an. „Aber wahrscheinlicher ist, dass ich für eine Weile in Alwyns Verlies sein werde. Aber nicht lange, das verspreche ich.“ Er nickte. „Die Gerichte werden sich einschalten, und es wird Gerechtigkeit geben. Alles wird so werden, wie es sein soll.“

Er fuhr Niall durchs Haar, zauste es. Die Furcht, die Nialls Herz umklammert hielt, löste sich ein wenig. Denn wenn sein Vater lächelte … Dann würde alles wieder gut werden. Oder etwa nicht? Er sehnte sich nach dieser Gewissheit mehr als nach allem anderen.

Raghnall klopfte ihm sacht auf die Schulter. „Jetzt musst du mit Deargh gehen und deine Brüder in Sicherheit bringen.“

Mit einer Kopfbewegung deutete er auf den großen, rothaarigen Krieger, der nahe bei ihnen stand – derselbe Mann, den er ausgewählt hatte, damit er Niall den Schwertkampf und das Kämpfen lehrte. Niall kannte Deargh schon sein ganzes Leben und hatte den größten Respekt vor ihm.

Trotzdem wehrte sich sein Herz heftig dagegen, von hier fortzugehen. Doch er konnte sich seinem Vater nicht widersetzen. Er musste seine Pflicht erfüllen und tapfer sein für den Mann, den er so sehr liebte.

„Ja, Laird“, antwortete er mit belegter Stimme.

„Dann geh.“ Der Kincaid schob ihn auf Deargh zu.

Alles geschah viel zu schnell. Deargh ergriff seinen Arm und führte Niall zur Tür.

„Mein Junge …“, hörte er eine Frauenstimme sagen. Aus dem Augenwinkel nahm er einen Hauch von Blau wahr, dann spürte er weiche Arme um sich, die ihn drückten. Der vertraute Duft von Rosenwasser stieg ihm in die Nase.

„Mutter!“, stöhnte er, verlegen, weil er vor den Männern wie ein Kind behandelt wurde.

Aber niemand scherzte. Im Gegenteil, als Niall sich umwandte, sah er, dass sein Vater nicht mehr lächelte und sein Blick traurig war. Deswegen riss er sich nicht los, als seine Mutter ihm einen Kuss auf die Stirn gab und ihn noch einen Moment festhielt, ehe Deargh ihn sanft von ihr wegzog und zur Tür brachte, während seine Wangen noch nass waren von ihren Tränen. Seine Brüder kamen ihm nach, nachdem auch sie umarmt und beweint worden waren, wurden vorwärtsgetrieben von drei weiteren Männern, die sich dicht hinter ihnen hielten.

Bumm. Bumm. Bumm …

Während sie sich immer weiter auf das Innere der Burg zu bewegten, erstickten die steinernen Mauern jeden Laut.

Die Brüder hielten sich dicht hinter ihm, als Niall Deargh aus dem Raum und die Stufen hinunter folgte, in die große Halle, in der sich die Mitglieder des Clans versammelt hatten, um die Ecken, durch eine schwere Tür und dann durch leere, schmalere Treppen in die dunklen Gänge unterhalb der Burg, wohin er bisher niemals hatte gehen dürfen. Die Luft war hier kälter, und er erschauerte, es roch nach nasser Erde. Er bemerkte ein dunkles Verlies und einen Vorratsraum, der voll war mit Fässern, Rüben und Reihen von irdenen Krügen.

Vielleicht – vielleicht hatte er alles missverstanden, und sie würden hier warten, bis sein Vater sie zu sich rief, wenn alles in Sicherheit war – hoffentlich, ja – hoffentlich morgen früh. Das wäre nicht so schlecht. Dann müssten sie nicht fort von hier.

Doch Deargh suchte etwas auf dem Boden, schob mit dem Fuß Erde und kleine Steinchen beiseite, bis eine kleine Vertiefung zu sehen war. Er griff dorthin und zog, und eine Holzplatte wurde sichtbar, die vorher versteckt gewesen war, und darunter erschien ein schwarzes Loch, das ins Nichts zu führen schien. Deargh hockte sich auf den Rand.

Er sah Niall an. „Folge mir hinunter.“

Damit stieß er sich ab und verschwand im Dunkel.

Niall folgte ihm. Sie alle folgten ihm und erlebten eine vollkommene Finsternis, als der Letzte der Krieger nicht mitkam, sondern stattdessen die Klappe wieder schloss. Sie hörten, wie oben Steine und Erde wieder zurückgeschoben wurden, um ihren Fluchtweg zu verbergen.

Nialls Herz schlug schneller. Er verließ tatsächlich sein Zuhause. Seine Mutter und seinen Vater. Er wollte das nicht.

„Ihr alle, folgt mir. Jetzt“, hörten sie aus der Dunkelheit Dearghs Stimme. „Ihr könnt nicht verloren gehen, denn dies ist der einzige Weg.“

„Ich habe Angst“, flüsterte Cull und drängte sich ganz nahe an Niall.

Zu jeder anderen Zeit hätte er den kleinen Jungen geneckt und ihm gesagt, er sollte sich wie ein Mann verhalten und dass wahre Krieger keine Angst haben. Doch auch er fürchtete sich, wie also sollte er dem Kleinen etwas anderes vermitteln können?

„Halt dich an mir fest“, sagte er und nahm die kleine Hand des Bruders.

Da er nichts sehen konnte, konnte Niall nur die Zähne gegen sein eigenes Unbehagen zusammenbeißen und eine gefühlte Ewigkeit durch den schmalen Tunnel im Felsen gehen, während Cull sein Gesicht an seine Seite presste, bis ihr Anführer endlich stehen blieb und sie mit einer energischen Bewegung ins Licht leitete. Aber es war nur wenig Licht, denn sie stiegen etwas außerhalb der Burg durch einen geheimen Ausgang, ähnlich dem ersten, durch den sie eingestiegen waren, und standen schließlich auf einem felsigen, unebenen Stück Boden, das von Nebel verschleiert war. Wenn Niall es richtig vermutete, so befanden sie sich außerhalb der Nordmauern.

„Was war das?“, fragte eine Stimme im Dunkeln.

Deargh hob eine Hand und legte einen Finger an seine Lippen. Niall hielt den Atem an, lauschte und drückte Cull fest an sich.

„Ich habe nichts gehört“, antwortete eine andere Stimme.

Bumm. Bumm. Bumm.

Das Geräusch hallte durch die Nacht, aber auf dieser Seite der Mauern war es leiser und weiter entfernt. Niall schloss die Augen und packte sein Schwert fester, bereit zu töten, wenn es sein musste, um seine Brüder zu schützen.

Plötzlich brach Lärm aus, Rufe ertönten. Der Krach konnte nur eines bedeuten: Sein Vater war aus dem Burgturm getreten. Der Laird of Kincaid hatte seine Absicht, sich zu ergeben, in die Tat umgesetzt.

Niall wurde übel.

Schritte waren zu vernehmen, Lederstiefel, knarrend auf Stein.

In der Dunkelheit rief eine Stimme: „Das wollen wir nicht verpassen, Jungs.“

„Der furchteinflößende Kincaid ist jetzt nicht mehr so furchteinflößend, was?“, rief ein anderer.

„Der MacClaren wird ihn in die Knie zwingen.“

Die Männer lachten, dann entfernten sich ihre Schritte.

Niall holte tief Luft. Er war wütend. Wie konnten es diese Männer wagen, über seinen Vater zu lachen, der immer ehrenhaft und gerecht gewesen war in allem, was die Clans betraf? Wie konnten sie es wagen, ihre dreckigen MacClaren-Füße auf das Land der Kincaids zu setzen? Hass loderte in ihm auf, und er machte einen Schritt nach vorn, das Schwert erhoben.

Nur um wieder zurückgerissen zu werden, als Deargh ihn am Kragen packte.

„Ich bringe sie um“, stieß Niall hervor und versuchte, sich loszureißen. „Alle!“

Faelan sprang nach vorn. „Gebt mir ein Schwert, ich helfe dir!“

„Ich auch!“, mischte Cull sich ein und tauchte unter Dearghs Arm hervor.

„Still, ihr alle“, sagte der Mann und zog Niall zurück an seinen Platz, während seine Kameraden seine Brüder festhielten. „Wir stellen uns ihnen entgegen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.“

Deargh zerrte ihn in die andere Richtung, den Abhang hinunter, bis sie alle zusammen den Wald betraten. Niall sah sich um, blickte den Hügel hinauf, wo fahles Mondlicht den steinernen Turm erhellte, darunter war Nebel. An Caisteal Niaul – die Burg in den Wolken. Sein Vater hatte gesagt, er werde bald nach Hause zurückkehren, warum also dieses Gefühl von Abschied? Seine Brüder drängten sich an ihn.

„Es ist kalt, ich will zurück nach Hause“, sagte Cull und zupfte ihn am Ärmel.

„Wir werden zurückkehren“, erwiderte Niall entschieden.

„Wann?“, fragte der kleine Junge.

„Bald“, antwortete er, aber er glaubte selbst nicht ganz daran.

„Ich glaube dir nicht“, platzte Faelan heraus, dessen Gesicht in der Nacht ganz bleich wirkte. „Wir gehen niemals zurück.“

„Niemals zurück?“, rief Cull aus und blieb stehen. Seine Augen waren vor Schreck riesengroß.

„Das stimmt nicht“, gab Niall zurück und zuckte zusammen, während die Angst mit Macht in ihm aufstieg, als er hörte, wie diese Worte laut ausgesprochen wurden.

„Das stimmt, und du weißt es.“ Faelan sah ihn an. „Warum sonst hätte Mutter geweint …?“

„Ruhig jetzt, ihr alle“, befahl Deargh, der plötzlich zwischen ihnen stand und ihre Schultern umfasste. „Ihr redet erst wieder, wenn ich es euch erlaube. Es ist jetzt an der Zeit, dass ihr Männer werdet und keine Jungen mehr seid. Der Laird, euer Vater, und die Lady, eure Mutter, sollen stolz sein auf euch. Versteht ihr das?“

Für eine sehr lange Zeit hatte Niall nichts lieber sein wollen als ein erwachsener Mann. Jetzt wollte er nur ein Junge sein, der nach Hause zurückkehrte, zu seiner Familie. Aber sie waren jetzt alle in Gefahr, und er musste seinen Brüdern ein Vorbild sein.

„Aye“, erwiderte er. „Das tun wir.“

Er ging an Deargh vorbei. Seine Brüder gingen ihm stumm hinterher.

Sie schienen eine Ewigkeit lang zu laufen, immer tiefer und tiefer in den Wald, über Steine und umgestürzte, von Flechten bewachsene Bäume. Die Luft wurde kälter, und Niall zog sich das Wollplaid fester um Arme und Schultern, und er half Cull, dasselbe zu tun, während Faelan eine finstere Miene aufsetzte und die brüderliche Hilfe abwehrte. Endlich gab ihnen Deargh ein Zeichen stehen zu bleiben. In der Dunkelheit konnte Niall eine halbhohe Steinmauer ausmachen, die Überreste eines antiken Gemäuers.

„Ruht euch aus“, sagte Deargh, der sich wachsam umsah und in den Wald blickte, genau wie die anderen Männer. Sie alle hielten die Hände an den Waffen.

Niall konnte nicht länger stehen. Ach! Wie sehr seine Beine schmerzten und seine Lungen brannten. Er glitt zu Boden, mit dem Rücken an der Wand entlang. Cull sank neben ihm zusammen, und gleich darauf schnarchte er leise an seiner Schulter. Faelen hielt auf der anderen Seite ein Stück Abstand, aber mit der Zeit rückte er näher, bis Niall ihn endlich am Ärmel seiner Tunika packte und ihn in den Arm nahm.

„So wird es uns wärmer sein“, erklärte er schroff.

Faelan nickte. Gleich darauf war auch er eingeschlafen.

Niall schlief nicht. Er vermisste seinen Vater und seine Mutter. Er vermisste seinen Hund und das warme, weiche Bett. Er starrte hinaus in den Nebel, und das Herz war ihm schwer, und er fragte sich, was wohl aus seinen Eltern und der Familie geworden war.

Zwischen den Bäumen war ein Geräusch zu hören. Ein Rascheln. Holz knackte.

Nialls Nackenhaare sträubten sich. Die Krieger zückten lautlos ihre Waffen. Niall löste sich von seinen Brüdern und stand auf, zog sein Schwert.

Eine Gestalt hastete zwischen den Bäumen hervor, blieb schwankend vor Deargh stehen.

Niall erkannte Angus, einen der Männer seines Vaters. Schwarze Flecke waren auf seinem Haar, seinem Gesicht, seinem Hals und auch auf seiner gelben Tunika. Niall erkannte, dass das Blut war. Angus trug keine Waffe.

„Lauft“, sagte er und rang nach Atem. „Jetzt. Sie kommen. Sie dürfen euch nicht finden.“

„Was ist mit unserem Laird?“, fragte Deargh.

„Unser Laird – wurde getötet.“ Angus legte eine Hand auf Dearghs Schulter, schob sich an ihm vorbei, taumelte und fiel vor Niall auf die Knie.

„Nimm – das.“ Er drückte ihm etwas Rundes, Hartes in die Hand. „Es gehört jetzt dir.“

Niall musste den Gegenstand nicht ansehen, um zu wissen, dass er die Fibel seines Vaters in der Hand hielt. Er war wie betäubt. Erstarrt. Wie durch einen Nebel hörte er den Mann weitersprechen.

„Du musst überleben. Wenn du erwachsen bist, dann komm zurück. Rache – für den Verrat an deinem Vater. Deiner Mutter. Den Männern deines Clans. Räche sie alle.“

Diese Worte. Er wollte sie nicht hören. Sein Vater, tot? Seine – Mutter? Es konnte nicht wahr sein. Seine Gedanken waren wirr, sein Verstand weigerte sich zu verstehen.

Geräusche drangen auf die kleine Lichtung. Der Klang von Kriegstrommeln und Stimmen.

Deargh sah die anderen Krieger an. „Ihr wisst, was zu tun ist.“

„Aye.“

„Beeilen wir uns.“

„Gott schütze euch alle.“

Deargh kam auf Niall zu. Er packte ihn am Arm und zog ihn auf die Bäume zu. Über die Schulter hinweg sah Niall, wie einer ihrer Beschützer Cull davontrug, der noch immer schlief, in die entgegengesetzte Richtung. Der dritte nahm Faelan mit sich in die Dunkelheit, auf die Berge zu …

Faelan rief: „Niall!“

Der Ruf wurde von einer vorgehaltenen Hand erstickt.

„Antworte nicht“, befahl Deargh ihm. „Sie würden es hören.“

„Meine Brüder!“, stieß Niall hervor.

„Getrennt sind wir sicherer.“ Deargh packte ihn an den Schultern, sein Blick brannte vor Zorn. „Auf diese Weise wird wenigstens einer von euch überleben, so Gott will. Sag mir Junge, willst du leben oder sterben?“

Die Trommeln kamen näher. Vor seinem geistigen Auge sah Niall das Gesicht seines Vaters, aufmerksam und weise, so sah er ihn an, und er wusste, was er tun musste.

„Ich will leben“, antwortete er.

Stunden später, als sich das erste Tageslicht fahl über den Horizont streckte, saß Niall an dem schmalen Vorsprung an einem Hügel, nass und erschöpft, den wollenen Umhang wie eine Schale schützend um sich gelegt. Endlich hatte der Regen nachgelassen. Deargh war in der Nähe auf der Jagd und hatte es ihm überlassen, ein kleines Feuer zu entzünden.

Aber er tat es nicht. Noch nicht. Stattdessen starrte Niall auf die Fibel in seiner Hand, und auf das Blut seines Vaters an der Unterseite. Den größten Teil der Nacht hatte Trauer seine Gedanken bestimmt, während sie zu Fuß immer weiter geflohen waren, und die Angst um das Schicksal seiner Brüder. Hatte er sie verloren, wie er seine Eltern verloren hatte?

Jetzt saß er da, ruhig und still. Ein kalter Nordwind umwehte ihn, zerrte an seiner Kapuze. Der Geruch von nasser Erde stieg ihm in die Nase. Endlich schlug sein Herz langsamer, und seine Gedanken waren klar wie Kristall.

Er hob den Kopf und blickte über das Tal. Dort, in der Ferne, ragte ein steinerner Turm aus dem Nebel.

Eines Tages würde er zurückkehren. Eines Tages würde er seine Rache bekommen.

Er öffnete die Lippen. „Tha … sinn … Kincaids.“

2. KAPITEL

Herbst 1387, siebzehn Jahre später …

Niall stand bis zu den Knien im eiskalten Wasser, bekleidet nur mit seinem Plaid, das er um die Hüften trug. Er bückte sich, bildete mit seinen Händen eine Schale, schöpfte Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Dann richtete er sich auf und blickte über den Fluss mit seiner schnellen Strömung, den viele Regentage hatten anschwellen lassen. Auf dem steinernen Hügel über ihm sah er ein Schloss, das durch die Bäume und den Frühnebel kaum zu erkennen war.

An Caisteal Niaul. Die Burg in den Wolken.

Eine Vision aus seinen Träumen – beinahe hätte er sich selbst erfolgreich eingeredet, dass die Bilder darin nicht existierten. Nun aber waren sie Wirklichkeit geworden.

Siebzehn Jahre lang war er gereist, war älter, stärker und weiser geworden.

Jetzt war er zurückgekehrt, um sein Schicksal zu erfüllen.

„Welch eine Glückssträhne“, sagte Deargh ruhig hinter ihm, wo er am Ufer stand. „Eine Einladung, den Herd des Mannes zu besuchen, den du umbringen willst.“

„Glück?“, erwiderte Niall und schüttelte langsam den Kopf. Ein Feuer brannte in seiner Brust, genährt vom Hass, aber er hatte mit den Jahren gelernt, die Flammen unter Kontrolle zu halten. Hatte gelernt, Kraft und Entschlossenheit aus der Glut zu stärken, anstatt sich davon auffressen zu lassen. „Nein, wohl mehr Schicksal, denke ich. Und vergiss nicht, das ist mein verdammter Herd.“

Deargh warf den Kopf zurück und lachte.

Wochenlang hatten sie Inverhaven umkreist, waren von einem Dorf zum anderen gezogen, hatten ihr Bestes getan, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, während Niall – vergebens – versucht hatte, das Schicksal von Faelan und Cull zu klären, von denen er schon lange annahm, dass sie beide tot waren. Weder sie noch die Männer, die gelobt hatten, sie zu beschützen, waren in dem Franziskanerkloster bei Elgin aufgetaucht, fünf Winter nach dem Mord an ihren Eltern, wie es vereinbart worden war in der Nacht, in der sie voneinander getrennt worden waren.

Seine früheren Versuche, sie in der Nähe des Ortes zu finden, der einst ihr Zuhause gewesen war, waren ebenso gescheitert. Er hatte nur einige alte Balladen gehört über den Mord an dem Laird of Kincaid und seinen drei Söhnen und einige Gespenstergeschichten darüber, dass sie noch immer in den Highlands umherwanderten. Welche andere Erklärung für ihr vollständiges Verschwinden konnte es geben außer dem Tod? Vielleicht lenkten sie jetzt seine Wege vom Himmel aus – denn zwei Nächte zuvor hatte eine Bande Gesetzloser beschlossen, genau das Gasthaus zu überfallen, in dem er und Deargh sich ausruhten, nachdem sie zwei Wochen unter freiem Himmel geschlafen hatten. Es hatte ihnen gar nicht gefallen, in ihrem schönen Schlaf gestört zu werden, und sie hatten die Diebe im Nu hinkend und blutend wieder in die Nacht hinausgeschickt.

Und in diesem Augenblick hatte das Schicksal ihm zugelächelt, denn ein Mann war aus der Finsternis getreten und hatte sich als Conall vorgestellt, der kriegerische Anführer des MacClaren. Er hatte ihnen berichtet, dass MacClaren Männer mit besonderen Fähigkeiten brauchte, und er hatte sie eingeladen, die Burg in Inverhaven zu besuchen.

So hatten er und Deargh die ganze Zeit über gelebt – als Söldner. Ceathearne. Gallóglaigh.

Als Junge war Niall Dearghs Schildträger gewesen, aber es hatte nicht lange gedauert und er hatte genauso gut gekämpft wie sein Beschützer, war selbst ein furchteinflößender Krieger geworden. An irgendeinem Punkt hatten sie die Rollen vertauscht. Jetzt agierte der alternde Deargh mehr als sein Begleiter und Berater denn als Beschützer.

Mit der Zeit war Niall sehr begehrt geworden bei vielen mächtigen Anführern. Und so waren sie gereist und hatten die Welt gesehen. Zuweilen hatten sie wie die Bettler gelebt. Zuweilen wie die Könige. Es war immer Nialls Entscheidung gewesen, wann sie zurückkehren wollten, und jetzt, da er seine Entscheidung getroffen hatte, nach Jahren der Vorbereitung und nachdem er sich der notwendigen Verbündeten versichert hatte, würde er es sich nicht anders überlegen.

Nach Conalls Einladung hatten sie sich hierher begeben, hatten mit den Pferden die Nacht zuvor im Wald gelagert, am gegenüberliegenden Ufer des Flusses. Am Vormittag würden sie einen Jungen im Dorf anweisen, die Nachricht von ihrer Ankunft an Conall zu übermitteln, und dann darauf warten, dass sie sich dem Laird MacClaren vorstellen durften – einem der beiden Männer, von denen Niall wusste, dass sie für den Mord an seinem Vater verantwortlich waren.

Und so würde es endlich beginnen.

Nialls Herz schlug ruhig, der bevorstehende Konflikt beunruhigte ihn nicht. Sein ganzes Leben lang hatte er diesen Moment erwartet und sich bereit gemacht dafür. Auf die eine oder andere Weise würde er siegen.

„Wie fühlt es sich an, hier zu sein?“, fragte Deargh.

In seinen Augenwinkeln erschienen Fältchen, und es waren nur noch wenige Jahre, bis er sein dünnes Haar komplett scheren würde. Dadurch würde er nur noch gefährlicher aussehen – was immer eine wünschenswerte Eigenschaft war bei einem Söldner.

Niall nahm noch zwei Hände voll Wasser und wusch sich die Brust mit einem Stück wohlriechender Seife, die er im Gasthaus von einem hübschen Schankmädchen bekommen hatte.

„Es ist nicht mein Zuhause“, sagte er. „Nicht richtig, noch nicht. Aber das wird es bald sein. Was ist mit dir?“

In jener Nacht vor siebzehn Jahren war Deargh ein junger Mann von neunundzwanzig Jahren gewesen – dasselbe Alter hatte Niall jetzt erreicht. Er war durch und durch ein Krieger und hatte weder Weib noch Kinder zurückgelassen, aber seine Treue zu seinem Clan und seinem Dorf war stark und nach all der Zeit noch immer ungebrochen.

„Es fühlt sich gut an.“ Deargh nickte und lächelte, und mit klarem Blick betrachtete er die Landschaft, die sie umgab. „Sehr gut. Ich kann es nicht abwarten anzufangen. Unseren Clan zu versammeln. Unser Zuhause zurückzuerobern. Ich hoffe nur, dass niemand mich erkennt. Das heißt, außer, ich wünsche es mir.“

Er deutete auf sein Gesicht und zwinkerte. Sein Grinsen war übermütig.

Niall lachte leise. „Ich glaube nicht, dass diese Gefahr besteht.“

Es war nicht so, dass die Zeit nicht gnädig mit seinem Aufpasser umgegangen wäre. Deargh bezog sich auf die dunklen Muster, die die Hälfte seines Gesichts bedeckten, Tätowierungen, die über die Jahre von schottischen und anderen Händen gestochen worden waren. Wenn man die Zeichen aus der Nähe betrachtete, dann fand man die gesamte Geschichte ihrer Reisen, seitdem sie Inverhaven verlassen hatten.

„Hast du Hunger?“, fragte Deargh. „Ich habe zwei Kaninchen erwischt.“

Niall nickte. „Gleich.“

„Aye“, erwiderte Deargh. „Genieß die Einsamkeit. Es wird nicht lange anhalten.“

Er verschwand zwischen den Bäumen. Allein stand Niall einfach nur da, lauschte, aber ja, er war tatsächlich allein. Jahrelang war er nicht in der Lage gewesen, sich an die Stimme seines Vaters zu erinnern, aber jetzt hörte er überall einen vertrauten tiefen Klang. Er lag über dem Rauschen des Flusses und in dem Wind in den Bäumen, war voller Stolz, hieß ihn willkommen. Er gehörte hierher, und jetzt, da er zurückgekehrt war, würde er nie mehr von hier fortgehen.

Es gab so viele Fragen, die beantwortet werden mussten. Was geschah in jener Nacht, in der sein Vater und seine Mutter, die Mitglieder seines Clans – auch Ian und die anderen Jungen – ermordet worden waren? Und auch seine Brüder? Wer hatte sie gefunden und wann? Was war vom Clan der Kincaid noch übrig? Würde er ihre Überreste im Dorf finden, oder waren sie irgendwo in den Hügeln oder noch woanders verteilt worden?

Wieder warf er einen Blick auf die Burg.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung, nahe beim Fuß des Turms. Aus dem Nebel trat eine Frau, die rasch über den Pfad schritt, jung und beweglich, das dunkle Haar wehte ihr über die Schultern. Trotz der Kälte trug sie keinen Umhang, nur ein einfaches blaues Kleid. Sein Interesse erwachte. Selbst aus der Entfernung konnte er ausmachen, wie reizvoll sie aussah. Ein blasses, rundes Gesicht über einem langen Hals und zarten Schultern.

Abe sie war nicht allein. Ein kleines Kind sprang an ihr vorbei – ein Junge in einer Tunika, der einem Welpen nachlief, der über das Gras rannte. Eine weitere Frau folgte ihnen, in königlicher Haltung, groß und blond. Sie trug einen langen Umhang, der mit Pelz gefüttert war.

Nialls Muskeln spannten sich an, als er wachsam wurde, denn weitere Gestalten tauchten hinter der zweiten Frau im Nebel auf – bewaffnete Männer, acht oder neun an der Zahl, alle gleich gekleidet, die Plaids in ockerfarbenem Karo über die Schultern gelegt. So gut er es aus der Ferne vermochte, versuchte Niall die Waffen zu erkennen, die jeder von ihnen trug. Zweifellos dienten diese Männer dem Anführer der MacClarens – obwohl Conall keine dieser Farben getragen hatte, als er ihm im Dorfgasthaus begegnet war.

Die größere blonde Frau rief der jüngeren in Blau etwas zu, doch durch die Entfernung und das laute Rauschen des Wassers konnte er nicht verstehen, was sie sagte. Die jüngere Frau blieb stehen, ihre Haltung erstarrte. Er nahm an, dass sie eine Bedienstete war, die irgendwie das Missfallen ihrer Herrin erregt hatte. Was immer auch passiert war, es ging ihn nichts an, vor allem nicht, wenn ihn die Morgenmahlzeit erwartete.

Er sah zu, wie das Mädchen sich umdrehte, um die Anweisung ihrer Herrin entgegenzunehmen, und einen Moment lang bewunderte er die Art, wie ihr das Haar über den Rücken fiel, schimmernd und üppig. Wenn er erst in der Burg war, würde er nach ihr Ausschau halten und sehen, ob sie tatsächlich so hübsch war, wie es aus der Ferne den Eindruck machte.

Er machte kehrt, watete aus dem Wasser, nahm seine Tunika hoch und schüttelte die Blätter ab. Dann drehte er sich um, weil er einen letzten Blick auf die Schönheit in Blau werfen wollte.

Und sah, wie die blonde Frau sie schlug.

Elspeth stockte der Atem, und sie hob eine Hand an ihre brennende Wange. Noch nie – nie in ihrem ganzen Leben – war sie so geschlagen worden. Nicht von ihren Eltern. Nicht von ihren beiden früheren Stiefmüttern. Von niemandem.

Bis jetzt.

Bridget, die seit zwei Wochen ihre neue Stiefmutter war – und fast auf den Tag genau gleich alt war wie sie –, sah sie von oben herab an, und auf ihren Wangen leuchteten zwei rote Flecke.

„Lass mich nicht einfach stehen, wenn ich mit dir rede“, fuhr Bridget sie an. „Tu nicht so, als würdest du mich nicht hören. Solche Respektlosigkeiten dulde ich nicht, verstehst du?“

Elspeth stand wie erstarrt auf dem Pfad. Sie hatte genau das getan, war vor Bridget weggelaufen, so schnell ihre Beine sie nur trugen und hatte so getan, als hätte sie sie nicht rufen hören. Sie hatte gehofft, wenn sie sich nur weit genug von Bridget entfernte, dann könnten sie es vermeiden, miteinander zu reden, weil sie noch nicht bereit dafür war. Sie war nicht bereit, über das zu reden, was sie gesehen hatte.

Tagelang hatten schwere Regenfälle sie in der Burg festgehalten, und während dieser Zeit war Elspeth Bridgets Jammern und Klagen ausgesetzt gewesen. Elspeth war bewusst, dass ihre neue Stiefmutter jung war und vermutlich auch einsam und krank vor Heimweh, so wie es ihr bald ergehen würde, wenn sie heiratete. Aber so wahr ihr Gott helfe – die junge Frau beschwerte sich ständig!

Zuerst warf Bridget Elspeth vor, ihre Autorität bei den Bediensteten zu untergraben, die sie beständig kritisierte, dann behauptete sie, Elspeth versuche, sich auf ihre – Bridgets – Kosten bei ihrem Vater beliebt zu machen. Und so ging es pausenlos weiter. Und jetzt war der MacClaren krank und nicht in der Lage, zwischen ihnen beiden zu vermitteln.

Alles, was Elspeth wollte, war, den Burgmauern, in denen sie eingesperrt war, zu entfliehen, atmen zu können und vor allem – allein zu sein, abgesehen von Catrins Gesellschaft. Das Geplapper und das ständige In-Bewegung-Sein des kleinen Mädchens störte Bridget nur. Elspeths kleine Halbschwester war erst sechs Jahre alt und betrauerte noch den Tod ihrer Mutter – der zweiten von Elspeths drei Stiefmüttern – und hatte vor Kurzem begonnen, sich wie ein Junge zu kleiden, ein Versuch, wie Elspeth vermutete, die Aufmerksamkeit und die Zuwendung ihres Vaters zu gewinnen. Zwar liebte der MacClaren seine vier Töchter auf seine Weise, doch er hatte nie geleugnet, wie enttäuscht er war, dass er nie einen Sohn gezeugt hatte. Sie konnte Cat die Mutter nicht ersetzen, aber sie und das Kind waren einander immer zugetan gewesen, und es war offensichtlich, dass das kleine Mädchen es brauchte, draußen herumzulaufen und zu spielen.

Elspeth blickte um sich und wollte sich überzeugen, dass das Kind nicht gesehen hatte, wie Bridget sie geschlagen hatte.

Aber sie konnte Cat nirgends entdecken, was sie beunruhigte, denn durch den Regen führte der Fluss ungewöhnlich viel Wasser, und die Strömung war sehr stark …

„Antworte mir.“ Bridget beugte sich vor und forderte Elspeths Aufmerksamkeit ein.

Bridgets persönliches Gefolge, eine kleine Gruppe von Kriegern, die als Teil ihrer Aussteuer mit ihr nach Inverhaven gekommen war, hielt Abstand. Die meisten von ihnen blickten hinüber zum Wald, und ihren Gesichtern war anzusehen, wie unbehaglich ihnen zumute war.

Alle, abgesehen von einem rothaarigen Krieger – Duncan –, der direkt hinter Bridget stand. Er sah Elspeth kühl an, und sein Verhalten war jetzt auffallend anders als vorher, als er freundlich und umgänglich gewesen war.

Natürlich hatten die Dinge sich geändert seitdem, denn Elspeth hatte am Morgen etwas in den Schatten eines Alkoven gesehen, als sie in dem kleinen Lustgarten des Anwesens nach Catrin gesucht hatte.

„Bitte, ich muss Catrin finden“, stieß Elspeth zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ihr Atem bildete kleine Dampfwolken in der kalten Luft.

„Nicht, ehe wir hier fertig sind“, erklärte Bridget, trat näher und hielt ihren Umhang am Hals fest zu. An ihrer Hand schimmerten mehrere edelsteingeschmückte Ringe. Sie war hübsch, das ja, aber ihr Unmut verzerrte ihre Züge zu einer hässlichen Maske.

Elspeth wich nicht zurück. „Wir sind fertig.“

Sie nahm die Hand von ihrer Wange, die noch immer brannte, machte kehrt, ging ein paar Schritte und öffnete dann den Mund, um nach Cat zu rufen.

Da stand Bridget plötzlich vor ihr und versperrte ihr den Weg. Die Brust der größeren Frau hob und senkte sich rasch, ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Nasenflügel bebten.

„Bitte versteh doch, dass das, was du gesehen hast …“ Bridget räusperte sich. „Was du zwischen Duncan und mir beobachtet hast, bedeutete nichts. Unsere Umarmung war – unschuldig. Er hat mich nur getröstet, weil ich mir Sorgen machte um die Gesundheit deines Vaters. Duncan ist ein lieber Freund, und das schon seit vielen Jahren. Er ist mein Berater, das ist alles. Das verstehst du doch, oder?“

Das stimmte nicht, und Elspeth wusste es. Die Umarmung, die sie gesehen hatte, war unverkennbar leidenschaftlich gewesen. Unverkennbar. Zum einen hatte Duncan mit beiden Händen Bridgets Schenkel umklammert gehalten, während er sie hochgehoben und an sich gepresst hatte. Und dann war da all das Stöhnen und Keuchen gewesen, das sie überhaupt erst hatte in die Richtung dieser entlegenen Ecke des Gartens blicken lassen.

Etwas sagte ihr, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um das zu erwähnen.

Sie brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, was jetzt zu tun war. Sollte sie ihren Vater über das informieren, was sie gesehen hatte? Das wollte sie nicht. Sie wollte ihm nicht wehtun oder – schlimmer noch – ihn demütigen. Aber wie sollte sie schweigen? Die beiden Frauen sahen einander an. Das Rauschen des Wassers dröhnte in Elspeths Ohren.

Cat, wo bist du?

„Ja, ich verstehe“, sagte sie und wollte Bridget nur loswerden, um nach ihrer kleinen Schwester zu schauen. „Darf ich gehen?“

„Du lügst“, warf Bridget ihr vor, und Tränen traten ihr in die Augen. „Du begreifst das nicht. Du weißt nicht einmal, wie es ist, das Zuhause zu verlassen und alles, was du jemals gekannt hast …“ Schluchzend brach sie ab.

Und so kam es, dass Elspeths Stimmung sich wandelte und sie Mitleid empfand. Sie begriff sehr wohl. Das hatten sie und Bridget gemeinsam. Auch sie würde bald heiraten und ihren Vater und ihre Schwestern verlassen und alles, was ihr lieb und teuer war.

Bridget verzog das Gesicht zu einer grausamen Maske. „… und gezwungen zu werden, einen kranken alten Mann zu heiraten.“

Elspeth zuckte zurück, und ihr Mitleid verflog so schnell, wie es gekommen war. Ein kranker alter Mann? Ihr Vater?

Zorn stieg in ihr auf. Eheversprechen waren heilig, und wenn sie einmal gegeben waren, dann mussten sie geschützt und bewahrt und nicht wie Abfall weggeworfen werden, nur für ein hübsches Gesicht. Laird MacClaren hatte Bridget wie eine Königin in seinem Clan aufgenommen. Sie alle hatten das getan. Ja, er war in der letzten Zeit krank gewesen, aber bald würde er sich erholen und weiterleben als der großartige Krieger und große Anführer des Clans, der er seit ihrer Geburt gewesen war.

Elspeth platzte heraus: „Ich kann mir kaum vorstellen, wie es dem Laird ergehen muss, wenn er feststellt, dass er ein verwöhntes Kind geheiratet hat, das nur versucht, seine oberflächlichen Gelüste zu stillen.“ Bis zu diesem Augenblick hatte sie Bridget noch nie eine unfreundliche Antwort gegeben, weil sie mit der neuen Frau ihres Vaters auskommen wollte, aber jetzt sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. „Ich weiß, was ich gesehen habe, und du kannst mir nichts anderes einreden.“

Ihr Herz schlug so schnell, dass es wehtat. Es widerstrebte ihr, zornig zu werden und die Beherrschung zu verlieren, mehr als alles andere aber verabscheute sie die Untreue, deren Zeugin sie geworden war, in welchem Ausmaß auch immer sie sich abgespielt haben mochte. Sie wünschte, sie hätte das nicht gesehen. Sie liebte ihren Vater, und sie wollte, dass er glücklich war. Nur würde er das nicht sein. Nicht mit dieser dummen jungen Frau. Niemals, und das stimmte sie traurig.

„Wenn du es ihm sagst“, herrschte Bridget sie an, „sage ich, dass du lügst.“

„Mein Vater wird mir glauben“, gab Elspeth zurück.

„Er will, dass du bald heiratest.“ Bridget trat näher. Ihre Augen blitzten. „Das hat er mir gesagt. Ich bin nicht ohne Einfluss. Ich werde dafür sorgen, dass dein Ehemann noch älter und kranker und hässlicher ist als meiner.“

„Er kann keine hässlichere Seele haben als du!“, rief Elspeth.

„Oh, du kleine …“ Wieder hob Bridget ihre Hand und wollte nach ihr schlagen …

Nur packte Elspeth diesmal ihr Handgelenk und stieß Bridget mit einer solchen Kraft zurück, dass ihre Stiefmutter gegen Duncan taumelte, der in der Nähe geblieben war, um, wie sie vermutete, sich einzumischen, wenn es erforderlich sein sollte. Die umstehenden Krieger sahen zu ihnen, aber sie rührten sich nicht.

Elspeth blickte Bridget drohend an. „Schlage mich nie wieder. Hast du verstanden?“

Wieder betete Elspeth, dass Cat sie nicht gesehen hatte. Ihre erste Sorge galt noch immer dem Kind, daher drehte sie sich um und setzte sich in Bewegung.

„Elspeth, warte!“, sagte Duncan.

„Komm zurück“, befahl Bridget.

Aber das tat sie nicht. Elspeth lief über das Gras und hielt überall nach Cat Ausschau. Sie überquerte die leere Wiese, eilte hinunter zum Fluss, und als sie ihre Halbschwester auch dort nicht entdeckte, wurde sie langsamer und suchte zwischen den Bäumen, die am Flussufer standen.

„Cat!“, rief sie und ging weiter, blickte dabei hierhin und dorthin.

Endlich erspähte Elspeth sie ganz nahe am Ufer. Sie balancierte auf den Steinen, die Arme ausgestreckt, und das Wasser umspielte ihre kleinen Füße in den Stiefeln. Das Mädchen ging weiter, streckte die Arme nach dem Hündchen aus, das ganz außen auf einem Stein stand, rutschend und zappelnd, mitten in einem Strudel von treibenden Blättern.

„Cat, nein!“, schrie Elspeth und sprang über eine große Baumwurzel, voller Angst wegen der starken Strömung und den schlüpfrigen Steinen. Cat konnte schwimmen, aber nicht gut. Wenn sie ins Wasser fiel, würde die Strömung sie mit sich reißen und sie lebendig verschlingen. „Beweg dich nicht, ich hole ihn.“

Ein Stück Holz trieb vorbei und stieß gegen den Stein, auf dem Cat stand.

Das Hündchen duckte sich und hopste darauf, versuchte, sich mit den Pfoten festzuhalten, doch der Baumstamm drehte sich. Mit einem platschenden Geräusch verschwand das Tier, dann erschien es wieder an der Oberfläche, nur, um von der Strömung fortgetragen zu werden.

„Nein, tu es nicht!“ Elspeths Furcht verwandelte sich in Entsetzen, denn sie wusste, was Cat tun würde. Und sie tat es. Das Mädchen sprang …

Und Elspeth sprang auch, knietief in das eiskalte Wasser, wollte sie packen und verfehlte nur knapp das Mädchen, das sich ihrer Reichweite entzog, weggerissen wurde, während es heftig mit den Armen ruderte.

„Elspeth!“, rief Cat mit vor Angst geweiteten Augen. „Mein Hündchen …“

Ihr kleiner Rotschopf tauchte unter.

Elspeth hechtete ihr nach. Erschrocken von der Kälte, blieb ihr fast das Herz stehen. Nach den ersten Zügen hätte sie nicht einmal mehr sagen können, ob ihre Arme und Beine sich noch so bewegten, wie sie es wünschte. Sie sah Cats kleine erhobene Hand – und streckte sich, um die Finger zu berühren …

Nur um wieder fortgeschleudert zu werden.

Das Wasser. Es zog sie – in welche Richtung, das wusste sie nicht – so schnell, es toste, presste ihr das Kleid an den Körper, stieß sie nach oben.

Dann zog es sie nach unten. Tiefer. Immer tiefer in die Dunkelheit und in eine Angst hinein, die weitaus größer war als alles, was sie bis dahin empfunden hatte.

Ein betäubendes Rauschen umfing sie. Sie wehrte sich dagegen. Versuchte, sich zu befreien, aber der Fluss wollte sie nicht loslassen.

Oh, Cat – nein …

Dann wurde sie von einer plötzlichen Kraft nach oben gerissen, ins Licht.

3. KAPITEL

Elspeth hustete, Wasser strömte ihr aus Mund und Nase, und sie rang nach Atem. Ein Mann – ja, zweifellos ein sehr starker Mann – zog sie ans Ufer, hielt das Rückenteil ihres Kleides gepackt, aber sie konnte ihn nicht sehen, denn das Haar hing ihr ins Gesicht, und Wasser floss ihr über die Augen.

Ihre Füße fanden Grund, und sie versuchte zu stehen, aber ihre Stiefel liefen voll Wasser, sie verlor den Halt und ging wieder unter. Ihr Retter – wer immer er sein mochte – packte sie fester und näher an seinen Körper, der nur aus Muskeln und Kraft zu bestehen schien, und trug sie aus dem Fluss, legte sie endlich nieder, mit ausgestreckten Armen, auf ein paar flache Steine.

Aus der Nähe hörte sie Stimmen, laut und beunruhigt, und Schritte. Bridget und ihr Gefolge.

Elspeth kauerte sich zusammen, vermochte noch immer kaum zu atmen, war lebendig und halb erfroren. Ihre Gedanken überschlugen sich, ihr Puls raste, denn Cat war noch im Fluss. Wenn es eine Chance geben sollte, dass das Mädchen noch lebte, dann musste sie jetzt gehen und sie suchen, sie retten …

Sie öffnete den Mund, aber es kam nur ein unverständlicher Laut heraus. Sie wünschte sich, sich jemandem verständlich zu machen, und sah auf zu dem Mann, der sie gerettet hatte.

Ein dunkelhaariger Fremder erwiderte ihren Blick. Wasser lief aus seinem Bart.

Und es tropfte auf Cat, die er in den Armen hielt.

„Mein Hündchen!“, schluchzte das Mädchen und reckte sich über seine Schulter, zeigte zum Fluss.

Elspeths Herz schlug vor Freude und Erleichterung schneller.

„Cat“, brachte sie heiser hervor, kam auf die Füße und streckte die Arme nach ihrer Schwester aus.

Einen langen und beunruhigenden Moment lang sah er sie aus seinen blauen Augen an, es war ein erschreckender Moment, ehe er das Mädchen in ihre Arme legte. Wohl wissend, dass die anderen sich näherten, wandte sie sich von ihm ab, drückte Cat fest an sich, wollte den anderen zeigen, dass sie überlebt hatten. Doch ihre Beine, die noch zitterten und von dem durchweichten Kleid umschlungen waren, trugen sie nicht.

Der Fremde fing sie von hinten auf. Zog sie rasch an seine Brust, hielt sie so, dass sie nicht fallen und auch das Kind nicht loslassen konnte. Er kniete nieder und setzte sie beide sanft auf den Boden.

„Danke.“ Elspeth flüsterte das Wort, hauchte es beinahe nur, sah Cat durch einen Tränenschleier an, gab dem Mädchen einen Kuss auf das nasse Haar. Es war nichts weniger als ein Wunder, dass sie beide überlebt hatten. Fast konnte sie nicht glauben, dass er sie tatsächlich beide gerettet hatte. Vor Freude und Dankbarkeit glaubte sie, das Herz müsste ihr zerspringen. „Vielen Dank.“

Cat weinte an ihrer Schulter. „Das Hündchen ist weg.“

„Ich weiß, meine Süße“, versuchte Elspeth sie zu beruhigen. „Es tut mir so leid.“

„Tretet zurück“, befahl eine Stimme in scharfem Ton.

Sie fühlte an ihrer Schulter, wie die Muskeln des Mannes sich anspannten, wie er sie fester hielt.

Ruckartig hob Elspeth den Kopf. Duncan stürmte auf sie zu, mit wildem Gesichtsausdruck, mit dem Schwert dorthin zielend, wo sie standen.

Sie blinzelte ungläubig.

Bridget kam langsamer heran, umringt von ihren Kriegern, die alle ihre Schwerter gezogen hatten und den Mann hinter ihr misstrauisch anstarrten.

„Los!“, schrie Duncan, hielt das Schwert höher, richtete die Spitze auf den Fremden.

Langsam ließ der Mann Elspeth los und stand auf. Sie hörte, wie seine Schritte auf dem Stein knirschten, als er zurückwich – einen Schritt, dann noch einen.

Als sie seinen warmen Körper nicht mehr spürte, begann sie zu frösteln.

Elspeth begriff nicht, was sie da sah. Verstanden die anderen denn nicht, was geschehen war?

„Dieser Mann hat uns das Leben gerettet!“, rief sie. „Und ihr bedroht ihn?“

Duncan beachtete nicht, was sie sagte. Stattdessen kam er näher, die Zähne zusammengebissen, in kampfbereiter Haltung.

Bridget beobachtete ihn stumm, ihr Blick war hellwach und aufmerksam.

Natürlich. Duncan demonstrierte seine Tapferkeit – seine Männlichkeit – für Lady MacClaren. Elspeth empfand Abscheu. Ohne diese beiden und das Theater, das sie verursacht hatten, wäre all dies hier gar nicht passiert. Sie hätte Catrin und ihr Hündchen früher gefunden, ehe sie in den Fluss gefallen wären.

Duncan runzelte die Stirn. „Ja, er hat euer Leben gerettet, aber warum? Seht ihn doch an!“ Er kniff die Augen zusammen und betrachtete einen Punkt oberhalb ihres Kopfes. „Ganz offensichtlich ist er keiner von uns, sondern ein allmharach …“

„Ein Barbar?“, wiederholte sie ungläubig. Ihr Herz schlug schneller, als sie Catrin von ihrem Schoß schob, aufstand und sich zwischen die beiden Männer stellte. Wasser lief aus ihrem Haar und ihrem Kleid, tropfte auf die Steine.

Autor

Lily Blackwood
Lily Blackwood lebt mit ihrem Ehemann, ihren beiden Kindern, einem anhänglichen Golden Retriever und zwei frechen Katzen in Texas. In ihrer Freizeit geht sie gerne auf Flohmärkte und kocht, erst kürzlich hat sie außerdem gelernt zu stricken. Sie liebt alles Historische und findet es spannend, sich in eine Zeit zu...
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