Das Château der Träume

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Niemand wird hier nach Jo suchen, niemand wird sie hier jemals finden! Das einsam gelegene Schloss in Frankreich ist das perfekte Versteck. Bis der Besitzer, der attraktive Reporter Patrick Burns, überraschend aus dem Ausland zurückkehrt. Denn er bringt nicht nur Jos Geheimnis, sondern auch ihr Herz in Gefahr: Patrick scheint entschlossen, sie erobern zu wollen. Soll Jo, die noch nie einem Mann vertraut hat, ihrer Sehnsucht nachgeben? Oder ist Flucht vor diesem Märchenprinzen die sicherste Lösung?


  • Erscheinungstag 22.02.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787974
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Fernsehzuschauer auf drei Kontinenten erlebten mit, wie Patrick Burns während einer Liveübertragung seiner bis dahin so erfolgreichen Laufbahn ein jähes Ende bereitete.

Die Erste, die Schlimmes ahnte, war die Sendeleiterin im Londoner Studio. „Ich fasse es nicht!“, meinte sie entgeistert. „Er will ein persönliches Statement abgeben.“

Die Kollegen wollten ihr nicht glauben. Patrick Burns war gerade von einer internationalen Jury zum Reporter des Jahres gewählt worden. Wieso sollte er ausgerechnet bei diesem wichtigen Bericht seine Rolle als unparteiischer Berichterstatter aufgeben und dadurch seine Karriere aufs Spiel setzen?

„Das war jetzt schon das zweite Mal!“ Wie gebannt starrte Ed Lassells, Direktor des Nachrichtensenders und Patricks Boss, auf den Monitor.

Bei Reden und auf Konferenzen hatte Patrick eins stets betont. „Wir Journalisten müssen uns einer eigenen Meinung enthalten. Sind wir dazu nicht in der Lage, haben wir den falschen Beruf gewählt.“

Doch das hatte Patrick behauptet, bevor er zwanzig Minuten lang mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden gelegen und jede Sekunde mit dem Tod gerechnet hatte. Die Rebellen hatten ihn schließlich nur deshalb verschont, weil sich ein elfjähriger Dorfjunge unter Einsatz seines Lebens neben ihn setzte und ihm Feuerschutz gab. Seitdem war Patrick persönlich in den Aufstand verstrickt, ob er es nun wollte oder nicht.

Sein Kameramann ahnte, dass Patrick etwas Ungewöhnliches plante, als sie bei Einsetzen der Dunkelheit in die Berge aufbrachen, um dort auf Sendung zu gehen. Es herrschte Vollmond, und sie kamen ohne Lampe aus, so hell war es.

„Verdammter Mond“, knurrte Tim. „Wir könnten genauso gut im Scheinwerferlicht stehen.“ Stiche in der Seite zwangen ihn zum Stehenbleiben, die dünne Luft machte ihm das Atmen schwer, denn er besaß längst nicht Patricks Kondition.

„Vielleicht beobachtet der Feind ja den gegenüberliegenden Hang.“ Unbeeindruckt kletterte Patrick auf allen vieren über den nächsten Felsen.

„Schade, dass unsere Mädels im Büro dich jetzt nicht sehen können“, stichelte Tim.

Patrick musste lachen. „Spielst du auf das Poster im Frühstücksraum an? Das, auf dem ich ein grünes Samtjackett trage und wie ein Glücksspieler aus Las Vegas aussehe? Ich habe es nicht nur schon längst gesehen, sondern musste es auf der letzten Weihnachtsfeier sogar mit meinem Autogramm versehen.“

Tim schüttelte den Kopf. Die Einstellung der weiblichen Angestellten des Senders Patrick gegenüber war sehr zwiespältig. Einerseits hielten sie ihn für einen hoffnungslosen Fall, andererseits ließen sie nichts unversucht, um sich mit ihm zu verabreden.

Allein Corinna war ein Erfolg vergönnt gewesen, doch schon nach drei Wochen hatte sie das Verhältnis wieder beendet.

„Was Frauen betrifft, tickt Patrick nicht richtig“, vertraute sie ihrer besten Freundin, der Balkanexpertin, an, die es dann im ganzen Büro verbreitete. „Er kann dir nicht verzeihen, wenn du mit ihm ins Bett gehst.“

„Wie bitte?“ Die Balkanexpertin schüttelte den Kopf über derart altmodische Ansichten. „Er verachtet dich, weil du ihm gibst, was er von dir möchte?“

„Nein, eher verachtet er sich selbst – weil er es überhaupt verlangt hat.“

Corinnas kurze Affäre mit dem umwerfenden Patrick Burns sorgte natürlich für interessanten Gesprächsstoff bei den Frauen des Senders. Im Büro, neben der Weltzeituhr, wurde ein neues Bild von Patrick an die Wand gepinnt. Es zeigte ihn, wie er – korrekt mit einem schwarzen Smoking bekleidet – bei einer Preisverleihung ernst, beinahe tragisch, in die Kamera blickte.

Lisa, die Empfangssekretärin, gab ihm daraufhin einen neuen Spitznamen: Graf Dracula. Die Frauen nickten und seufzten sehnsüchtig, die männlichen Kollegen reagierten verärgert.

„Was ist an ihm schon dran? Er ist ein Mann wie jeder andere auch“, erklärte Ed Lassells von oben herab.

„Eben nicht, er besitzt nämlich das gewisse Etwas“, klärte die Balkanexpertin ihren Boss auf. „Ob Ihnen das nun gefällt oder nicht.“

„Aber du sagst doch selbst, dass er schwer zu verstehen und abweisend ist“, mischte sich Donald ein. „Davon träumen Frauen also?“

Sie lächelte nur. „Ich spreche nicht von Träumen, sondern von sexuellen Fantasien.“

Tim musste grinsen, als er sich an jenes Gespräch erinnerte – für die Balkanexpertin hatte er nämlich sehr viel übrig. Schade, dass sie ihr Idol jetzt nicht sehen kann, dachte er schadenfroh, als männliche Sexbombe würde sie Patrick in seiner jetzigen Aufmachung nämlich bestimmt nicht bezeichnen.

Wie er selbst steckte Patrick in einem unförmigen, dick gefütterten Parka, dessen Kapuze fast bis auf die Augen fiel. Mit den riesigen Fausthandschuhen und den klobigen Fellstiefeln erinnerte Patrick eher an einen Neandertaler als an den geheimnisvollen Verführer Graf Dracula.

Patrick setzte die Kameraausrüstung ab und betrachtete aufmerksam das von kahlen Bergen umgebene Dorf im Talkessel. Von seiner Warte aus wirkte es winzig und verlassen. Entlang der Straße, auf der er am Morgen gekommen war, wehten dünne Rauchfahnen. Dort lagerten die traumatisierten Flüchtlinge, die Tim und er begleitet hatten, Menschen, die hofften, dass ihnen das Dorf wenigstens für einige Tage Schutz vor dem Grauen des Krieges bieten könnte.

Während er noch angespannt lauschte, detonierten die ersten Bomben im Tal.

„Die armen Kerle.“ Auch Tim blickte jetzt zum Dorf.

Patrick ließ sich von seinen Gedanken nichts anmerken. Bis auf einen kleinen Muskel am Kinn, der deutlich zuckte, blieb sein seit zwei Tagen unrasiertes Gesicht ausdruckslos. „Ja“, antwortete er lediglich.

Tim stellte die Satellitenverbindung zum Londoner Studio her. Da sie schon seit zehn Tagen im Krisengebiet weilten, bereitete ihm die Peilung keine Schwierigkeiten mehr. Ruhig und konzentriert wartete er auf die Anweisungen aus dem Studio.

Patrick stellte sich auf den Platz, den Tim ihm zugewiesen hatte, schob die Kapuze zurück und setzte seinen Kopfhörer auf.

„Du siehst überhaupt nicht wie ein Journalist aus – eher wie ein Brigadegeneral“, bemerkte Tim.

Das war nicht gelogen. Mit seinen langen Locken, den dunklen Bartstoppeln und dem Parka ähnelte er in der Tat den verwegenen Männern, die sie auf den Schlachtfeldern gesehen hatten.

„Danke, ich werte das als Kompliment.“ Patrick lächelte grimmig.

Schlagartig wandelte sich das dumpfe Unbehagen, das Tim schon die ganze Zeit fühlte, in konkrete Befürchtungen. Plötzlich gab alles einen Sinn, Patricks ungekämmtes Haar, der Bart, seine hitzigen Diskussionen mit dem Übersetzer. Außerdem hatte Patrick am vergangenen Tag nichts gegessen, sondern seine Ration an die von Hunger gequälten Dorfbewohner verschenkt. Patrick schien fieberhaft zu überlegen, so, als würde er vor einer wichtigen Entscheidung stehen.

„Du willst dich doch wohl nicht den Partisanen anschließen?“, fragte Tim langsam.

„Und warum nicht? Es ist einen Versuch wert.“

„Du bist verrückt, Mann“, konnte Tim gerade noch antworten, bevor der Countdown für die Liveübertragung begann.

Am Nachthimmel zuckten helle Blitze, gefolgt von dumpf klingenden Detonationen. Über ihre Kopfhörer verfolgten sie die einleitenden Worte des Moderators im Studio. „… und direkt dabei unser Korrespondent Patrick Burns. Dürfen wir hoffen, Patrick? Lassen die Kämpfe nach?“

„Drei, zwei, eins – los“, hörte Patrick die Sendeleiterin.

Ohne das geringste Zögern begann Patrick mit der Berichterstattung, die im Londoner Studio für größte Aufregung sorgen sollte.

„Hier herrschen schreckliche Zustände“, erklärte er.

„Was soll der Unsinn?“, zischte die Sendeleiterin. „Halt dich gefälligst an unsere Abmachungen, Patrick!“

Patrick ignorierte die Stimme in seinem Ohr. „Die Nacht ist schrecklich kalt und noch schwerer zu ertragen als der Tag. Die Dürreperiode dauert jetzt schon zwei Jahre, und der staubfeine Sand ist überall, in den Schuhen, der Kleidung, in unserer technischen Ausrüstung und im Essen. Mein Kameramann und ich binden uns einen Schal um Mund und Nase, um nicht ständig husten zu müssen.“

„Die Schlacht, Patrick!“ Die Stimme der Sendeleiterin überschlug sich jetzt. „Berichte endlich von den Kämpfen!“

Patrick ging darauf ein, nannte die Siege, die die Parteien für sich beanspruchten, und die genannten Verluste. Auf sein Zeichen hin schwenkte Tim die Kamera und richtete sie auf ihn.

Er ist telegen, das muss man ihm lassen, dachte Tim. Patrick wirkte hellwach und zuverlässig wie der Kapitän eines Schiffes. Er war eine Autorität, der die Fernsehzuschauer der englischsprachigen Welt Vertrauen schenkten. Dem letzten Firmenbericht zufolge war Patrick Burns das unumstrittene Zugpferd von Mercury News International.

Patrick hatte eine unnachahmliche Art, so in die Kamera zu blicken, dass sich die Zuschauer persönlich angesprochen fühlten. Das tat er auch jetzt, nachdem er mit dem offiziellen Bericht fertig war.

„Die Bomben, die unsere Regierung der einen Seite verkauft“, begann er in gemessenem und sachlichem Ton, „zerstören die Arsenale mit den Waffen, die unsere Regierung der anderen Seite verkaufte. Das verursacht die Detonationen, die Sie im Hintergrund sehen und hören.“

Auf sein Kopfnicken hin machte Tim einen Kameraschwenk und zeigte den rauchverhangenen Nachthimmel.

„Und während die Bombardierung kein Ende nimmt“, redete Patrick ruhig weiter, „versuchen die Menschen über die wenigen Straßen, die es hier gibt, dem Grauen zu entkommen. Sie haben alles verloren, sie haben keine Heimat mehr. Und sie haben nichts zu essen – jetzt nicht und das nächste Jahr auch nicht.“

Mittlerweile beschimpfte ihn die Sendeleiterin aufs Gröbste, doch Patrick sprach gelassen weiter, als würde er die Stimme im Ohr überhaupt nicht wahrnehmen.

„Der Boden in diesem Land ist durch die lange Trockenperiode ausgedörrt und hart wie Stein. Zusätzlich ist er jetzt durch Waffen verseucht. Waffen, die in den Industrienationen entwickelt und produziert wurden, Waffen, die unter anderem auch unsere Regierung in dieses Land verkauft hat.“

Tim richtete die Kamera wieder auf Patrick, der jetzt am ganzen Körper bebte. Das musste an der grimmigen Kälte liegen, denn trotz des eisigen Windes hatte Patrick die Kapuze noch nicht wieder aufgesetzt.

„Zwischen Schrott und Panzerwracks liegen Minen und Blindgänger. Niemand weiß, wo der Boden sicher ist und wo nicht. Das wird erst der Bauer merken, der seinen Acker bestellen will – oder das Kind, dessen Ball auf eine Mine trifft.“

Patrick ist ein Zyniker, trotzdem zieht er jeden in seinen Bann, dachte Tim bewundernd.

„Und das Schlimmste ist, dass niemand dem Wahnsinn ein Ende macht, weil zu viele Menschen zu gut daran verdienen“, fuhr Patrick unbeirrt fort.

Die Sendeleiterin war verstummt. Dafür vernahm Patrick jetzt die Drohungen des Chefs persönlich.

„Schluss mit dem Unsinn, Patrick! Berichte endlich über Siege und Verluste!“

Ed Lassells, der selbst einmal als Auslandskorrespondent begonnen hatte, führte ein strenges Regiment. Entweder man tat, was er wollte, oder man bekam die Kündigung.

Als hätte er Ed nicht gehört, redete Patrick weiter, während er am ganzen Körper zitterte. „Die letzten acht Tage haben mein Kameramann und ich acht Leute begleitet, die aus einem Dorf stammen, das nicht mehr existiert.“

„Die Statistik, Patrick“, verlangte Ed Lassells ein letztes Mal.

Erst jetzt merkte Tim, dass Patrick nicht vor Kälte, sondern vor innerer Anspannung bebte. Kein Wunder, denn eine eigene Meinung zu äußern, war für einen Mann in seiner Position eine Ungeheuerlichkeit.

„Die Menschen hier sind wie gelähmt.“ Unbeeindruckt von Eds Aufforderung, redete Patrick weiter. „Ihr Anführer ist ein elfjähriger Knabe. Warum, werden Sie fragen. Die Antwort darauf stammt von einer alten Frau: Er ist zu jung, um die Hoffnungslosigkeit der Situation zu erkennen.“

Patrick blickte fest in die Kamera. „Und diesem Knaben verdanke ich mein Leben. Er hat mich vor dem sicheren Tod gerettet.“

„Das war es dann, ich kappe deine Verbindung“, kündigte Ed an.

Über ihre Kopfhörer vernahmen Tim und Patrick jetzt die Stimme des Moderators im Studio. „Aufgrund technischer Schwierigkeiten ist die Verbindung zu Patrick Burns abgebrochen. Wir werden uns bemühen, den Kontakt wiederherzustellen, um Sie, liebe Zuschauer, noch im Laufe des Abends über die neueste Entwicklung zu informieren.“

Patrick schwieg und atmete tief aus, als sei eine große Last von seinen Schultern gefallen. Dann streckte er sich, kümmerte sich um seine Ausrüstung und setzte die Kapuze seines Parkas wieder auf. Er wirkte zufrieden und gelöst.

Ed Lassells, der plötzlich müde und verbittert klang, verabschiedete sich von dem Mann, auf den er so große Hoffnungen gesetzt hatte. „Gut gemacht, Patrick. Das war deine letzte Sendung.“

„Manchmal hat eben die Wahrheit Vorrang vor den Sponsoren“, antwortete Patrick lediglich.

Diese Feststellung war Ed keinen Kommentar wert, und er schaltete sich aus.

Tim wusste nicht, ob er Patrick bewundern oder bedauern sollte. „Deinen Job bist du los. Was hast du jetzt vor?“

Patrick lachte unbekümmert. „Endlich etwas tun, das meine Existenz auf dieser Welt rechtfertigt.“

1. KAPITEL

Schon als Vierzehnjährige hatte Jo Almond erkennen müssen, dass sie zu unattraktiv war, um Zuneigung und Bewunderung zu erregen.

Das war bitter gewesen. Nach dem ersten Schock hatte sie jedoch nicht mehr gegen ihr Schicksal rebelliert, sondern sich auf ihre positiven Eigenschaften besonnen. Sie war praktisch veranlagt, sie war mutig und gab nicht so leicht auf. Sie konnte sich behaupten, besaß einen klaren Verstand und bewahrte stets die Übersicht. Obwohl sie leider nicht zu den Frauen gehörte, nach denen die Männer sich den Hals verrenkten, war sie durchaus lebenstüchtig.

Der Mann, der ihr die Augen öffnete, war ein dreiundzwanzigjähriger Student aus Frankreich. Jacques Sauveterre war als Gastlehrer an ihrer Schule tätig und darauf bedacht, während seines Aufenthalts möglichst viel über die englische Lebensweise zu erfahren. Daher suchte er ihre Gesellschaft und unterhielt sich gern mit ihr. Nicht lange, natürlich, aber für einige Zeit durfte sie das Glück genießen, jemanden zu haben, der sie mochte und mit dem sie sich unterhalten konnte.

Zu Hause dagegen wurden die Zustände immer schlimmer, und sie riss zum wiederholten Male aus. Diesmal schaffte sie es bis Dover, wurde aber von einem Polizisten erkannt, als sie die Fähre betreten wollte. Er war freundlich zu ihr und sorgte dafür, dass sie wohlbehalten zu ihrer Tante zurückkehrte. Er hatte nicht wissen können, wie man sie dort behandelte.

Gleich am ersten Tag, an, dem sie die Schule wieder besuchte, bestellte Jacques sie nach dem Unterricht zu sich.

„Warum hast du das getan, Jo? Erklär es mir, denn ich möchte dich so gern verstehen.“

„Ich wollte nach Frankreich.“ Beschämt blickte sie zu Boden und wartete auf seine Strafpredigt.

Jacques jedoch reagierte amüsiert und lachte. „Natürlich, jeder vernünftige Mensch will nach Frankreich, denn es ist das Paradies auf Erden. Du hättest jedoch besser mit deiner Reise bis zu den Ferien warten sollen.“

Jo hob den Kopf und betrachtete ungläubig ihren Lehrer. Er schrie sie nicht an, er beschimpfte sie nicht – er neckte sie lediglich auf eine brüderliche Art. Vorsichtig lächelte sie ihm zu, immer noch nicht sicher, ob sie vielleicht nur träumte.

Jacques, der auf der Ecke seines Schreibtischs saß, wurde ernst. „Mir ist berichtet worden, du seist eine notorische Ausreißerin, du könntest dich nicht einordnen und würdest jegliche Leistung verweigern. Bei mir im Unterricht habe ich dich ganz anders kennengelernt.“

„Oh.“ Mehr brachte Jo nicht über die Lippen, denn sie war wie benommen. Noch nie hatte jemand so einfühlsam mit ihr geredet.

„Warum nennst du mir nicht die wahren Gründe, weshalb du von zu Hause weggelaufen bist?“

Das war natürlich unmöglich. Sie konnte ihm nicht sagen, dass ihre sogenannte Tante sie hasste und deren Mann ein Trinker war, der sie schlug. Carol und Brian Grey galten als achtbare Leute, und niemand würde ihr die Wahrheit glauben. Und aufgrund ihrer Ausreißversuche hielten sie alle für unzuverlässig und verantwortungslos.

Nur etwas verriet sie. „Meine Tante verbietet mir, am Lateinkursus teilzunehmen“, gestand sie.

„Wie bitte?“ Betroffen blickte Jacques sie an.

„Ich habe sie vergeblich um Erlaubnis gebeten.“

Carol verbot oder verhinderte alles, worüber Jo sich hätte freuen können. Wenn Jo ohne Hausaufgaben zum Unterricht erschien, hatte das nur einen Grund: Carol bestand darauf, dass Jo nach der Schule den Haushalt erledigte. So musste sie für Mark, das zweite Pflegekind der Greys, kochen, waschen und bügeln.

Für Mark tat Jo das gern, denn sie hingen wie Bruder und Schwester aneinander, was sie sich gegenüber den Greys natürlich nicht anmerken ließen. Waren Brian oder Carol in Hörweite, stritten und zankten sie sich stets.

Wäre Carol dahintergekommen, wie sehr Jo ihren kleinen Pflegebruder liebte, hätte sie es mit Sicherheit gegen Jo verwendet. So hatte Carol es auch verstanden, Jos Begeisterung für Autos und Technik als Trick eines raffinierten Teenagers auszulegen.

Kurz nach seinem Gespräch mit Jo besuchte Jacques die Greys, um Carol dazu zu bewegen, Jo am Lateinkurs teilnehmen zu lassen.

„Jo hat eine außergewöhnliche sprachliche Begabung, Mrs Grey“, erklärte er ernsthaft in seinem tadellosen Englisch mit dem charmanten französischen Akzent. „Es wäre ein Verbrechen, ihr den Lateinunterricht zu verbieten.“

Carols braune Augen, die so unschuldig wirkten, weiteten sich vor Staunen. „Natürlich muss Jo sich selbst entscheiden, wir reden ihr da nicht hinein. Uns hat sie erzählt, sie wolle den Kurs in Automechanik belegen.“ Sie lachte girrend und warf Jacques einen koketten Seitenblick zu. „Anscheinend haben Sie, Monsieur Sauveterre, dem armen Geoff Rawlings den Rang abgelaufen.“

Deutlicher brauchte sie nicht zu werden, um Jacques davon zu überzeugen, dass sich die reizlose, hoch aufgeschossene Jo in ihn verguckt hatte. Jeder wusste, wie gern Jo vor seinem Kommen in der Schulwerkstatt gearbeitet hatte, und genau das hatte sich Carol zunutze gemacht.

Es war Jacques’ erste Anstellung, und schon im Seminar hatte man ihn vor überspannten Teenagern gewarnt. Carol Grey war eine kleine, aparte und sehr feminine Frau, die es verstand, ihm zu schmeicheln. Er glaubte ihr.

Jo stand daneben und musste sich alles hilflos mit anhören. Vor Scham wäre sie am liebsten im Erdboden versunken.

„Sie ist eindeutig in der Pubertät“, vertraute Carol Jacques an und musterte Jo spöttisch. „Das arme Kind ist so groß und unbeholfen und hat Schultern wie ein Möbelpacker. Kein Mann kann ermessen, was das für eine Frau bedeutet, Monsieur Sauveterre.“

Jacques errötete. Für die raffinierte Carol war er ein leichtes Opfer, und im Nu hatte er seine ursprünglichen Absichten vergessen.

„Sie müssen es am besten wissen, Mrs Grey“, antwortete er lediglich und floh aus dem Haus, ohne sich von Jo zu verabschieden.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, ließ Carol die Maske fallen. „So bist du also durchgebrannt, weil du dir Hoffnungen auf diesen kleinen französischen Charmeur gemacht hast!“ Sie lachte leise. „Unglaublich! Was soll ein Mann wie er mit einem Trampeltier wie dir?“

Statt zu antworten, blickte Jo ins Leere, eine Angewohnheit, die Carol stets zur Raserei brachte.

„Wenn du Zeit für Latein hast, hast du auch Zeit, mir im Büro zu helfen. Gleich heute Abend zeige ich dir die Ablage, für die du von heute an allein verantwortlich bist.“

Jo biss sich auf die Lippe. Dann würde sie überhaupt keine Zeit mehr für Schulaufgaben haben!

„Anscheinend hast du nur Flausen im Kopf“, wütete Carol weiter. „Als Nächstes willst du noch studieren! Daraus wird nichts, meine Dame, du bleibst hier und tust, was wir dir sagen. Zu mehr bist du sowieso nicht zu gebrauchen.“

Nach diesem Vorfall sprach Jacques Sauveterre mit Jo Almond kein einziges privates Wort mehr und ging ihr aus dem Weg, wo er nur konnte. Wenn sie Mark, dessen Fußballmannschaft er trainierte, zum Platz brachte, behandelte er sie wie Luft. Zu Mark jedoch war er immer nett, und Jo bemühte sich, das anzuerkennen.

Der Werklehrer verhielt sich klüger als Jacques und bestellte Carol in die Schule. „Jo passt einfach nicht in die Klassengemeinschaft“, teilte er ihr mit. „Sie zeigt keinerlei Ehrgeiz – dennoch wird sie die anderen Mädchen bald in den Schatten stellen, wenn Sie wissen, was ich meine.“

Die Nacht darauf verschwanden alle Kleidungsstücke aus Jos Schrank, nur zwei alte Militärjeans und einige übergroße T-Shirts in gedeckten Farben blieben zurück.

„Jetzt wirst du ja sehen, ob sich Monsieur Frankreich noch den Hals nach dir verdreht“, spottete Carol beim Frühstück.

Geoff Rawlings war wiederum Herr der Situation. „Ich hoffe, ich habe nicht alles noch schlimmer für dich gemacht, Jo“, meinte er beiläufig. „Auf alle Fälle kann ich dich in die Geheimnisse des Verbrennungsmotors einführen.“

Er lieh ihr Bücher über Oldtimer, die sie in den Pausen las, und bald konnte ihr im Fach Automechanik niemand mehr etwas vormachen.

Davon erfuhr Carol nie etwas. Sie bildete sich ein, Büroarbeit und die Verantwortung für Mark würden Jos gesamte Zeit in Anspruch nehmen. Carol genoss es, Jo völlig in der Hand zu haben. Sie lachte nur darüber, als Brian eines Abends betrunken nach Hause kam und Jo gegenüber tätlich wurde.

„Stell dich nicht so an“, meinte sie nur und zuckte die Schultern. „Die Welt besteht nicht nur aus charmanten und wohlerzogenen Franzosen, je eher du das begreifst, desto besser.“

An ihrem sechzehnten Geburtstag riss Jo wieder aus – diesmal gelang es ihr, ihre Spuren erfolgreich zu verwischen.

Die Greys suchten lange und intensiv nach ihr, schließlich bekamen sie für Jos Unterhalt gutes Geld, auf das sie nicht verzichten wollten. Ihre Nachforschungen blieben jedoch erfolglos, denn Jo war darauf vorbereitet gewesen.

So hatte sie auch all ihre Papiere mitgenommen. Carol hatte ihr das Versteck selbst verraten, als sie Jo wieder einmal quälen wollte.

„Hier.“ Sie lächelte hämisch, als sie ihrem Pflegekind die Geburtsurkunde unter die Nase hielt. „Lies es selbst! Vater unbekannt! Du bist das Produkt einer außerehelichen Beziehung, und niemand wollte dich. Man hat uns viel Geld gezahlt, damit wir dich bei uns aufnahmen.“

Jo verzog keine Miene. Den Triumph, sie zum Weinen zu bringen, wollte sie Carol nicht gönnen. So konzentrierte sie sich darauf, genau zu beobachten, wo Carol ihre Dokumente aufbewahrte.

Als Jo sich dann in der Nacht vor der Flucht ihre Geburtsurkunde und ihren Pass holte, fand sie daneben auch einen an sie adressierten großen Umschlag, den sie ebenfalls mitnahm. Wenn ihr die Schrift auch unbekannt war, nahm sie ihn mit, schließlich war er an sie gerichtet.

Der Umschlag enthielt ein altes Buch mit billigen Pappdeckeln. Sein Geruch erinnerte Jo an Pfefferminzdrops und Lakritzschnecken, und es war mit Federzeichnungen illustriert. Der kuschelige, wuschelige Bär lautete der Titel. Offensichtlich war es als Geschenk für ein Kind gedacht.

Vielleicht hat mich ja doch jemand gewollt oder wenigstens liebevoll an mich gedacht, überlegte Jo und strich andächtig über die vergilbten Seiten. Zu große Hoffnungen allerdings machte sie sich nicht, der Kampf ums Überleben ließ ihr keine Zeit dazu.

Drei Jahre lang war sie praktisch ständig auf der Flucht. Sie nahm nur Gelegenheitsarbeiten an und blieb nie länger als einen Monat. Dennoch gelang es ihr, wöchentlich mit Mark zu telefonieren, ohne dass Carol und Brian davon erfuhren. Jo hatte ihr Ziel fest vor Augen: auch Mark aus den Klauen der Greys zu befreien und mit ihm nach Frankreich zu fliehen, wo sie sich ein besseres Leben versprach.

Und noch etwas war ihr gelungen: den Kontakt zu Jacques zu halten. Weshalb er darauf eingegangen war, wusste sie nicht, vielleicht, weil er ein weiches Herz hatte, vielleicht, weil er ihr durch Brians Faust verunstaltetes Gesicht gesehen hatte. Möglicherweise hatte es auch gar nichts mit ihr zu tun, und Jacques ging es allein um Mark, den er von Anfang an ins Herz geschlossen hatte. Aus welchen Gründen auch immer, jedenfalls drückte er Jo einen Zettel mit seiner Adresse in die Hand, als seine Zeit als Gastlehrer abgelaufen war und er wieder nach Frankreich zurückkehrte.

„Wenn ihr, Mark und du, nach Frankreich kommt, müsst ihr mich unbedingt besuchen. Ihr seid mir stets willkommen, darauf kannst du dich verlassen.“

Damit er sein Versprechen auch ja nicht vergaß, teilte Jo ihm jede Adressenänderung mit. Ab und an schrieb ihr Jacques auch und lud Mark und sie sogar zu seiner Hochzeit ein.

Eines Tages dann war es so weit. Jo musste Mark von den Greys befreien und zu sich holen, obwohl er erst fünfzehn war, denn Brian, wieder einmal betrunken und nicht mehr Herr seiner Sinne, hatte ihn zusammengeschlagen.

Vom Handy eines Klassenkameraden aus hatte Mark es ihr berichtet.

Gegen sie, Jo, war Brian nur einmal tätlich geworden. Als er sich ihr in der Nacht zu ihrem sechzehnten Geburtstag wieder in eindeutiger Absicht näherte, hatte sie ihn in den Schwitzkasten genommen, in die Besenkammer bugsiert und die Tür hinter ihm abgeschlossen. Dann hatte sie ihre Papiere aus dem Versteck geholt, sich das Geld eingesteckt, das sie sich heimlich durch Gelegenheitsarbeiten verdient hatte, und war in der Nacht verschwunden.

Jetzt war es an Mark, ihrem Beispiel zu folgen.

Glücklicherweise hatte er beobachtet, wie Brian Papiere in eine alte Keksdose stopfte. Als Mark später nachschaute, entdeckte er, dass es sich um seine Geburtsurkunde und seinen Pass handelte.

Obwohl einer Flucht also nichts mehr im Wege stand, zögerte er. „Ich bin nicht so vorausschauend wie du gewesen, Jo“, gestand er kleinlaut. „Ich habe nicht einen einzigen Penny gespart.“

„Mach dir darüber keine Sorgen“, beruhigte Jo ihn. „Ich bin auf diese Situation bestens vorbereitet. Ich warte an der Bushaltestelle auf dich.“

Autor

Sophie Weston
Sophie Weston reist leidenschaftlich gern, kehrt aber danach immer wieder in ihre Geburtsstadt London zurück. Ihr erstes Buch schrieb und bastelte sie mit vier Jahren. Ihre erste Romance veröffentlichte sie jedoch erst Mitte 20. Es fiel ihr sehr schwer, sich für eine Karriere zu entscheiden, denn es gab so viele...
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