Das geheime Spiel des Marquess

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Sein Ruf als sorgloser Lebemann bietet George Claremont, Marquess of Curran, die perfekte Tarnung für seine wahre Herzensangelegenheit: Seit Jahren kämpft er im Verborgenen gegen Kinderarbeit in den Fabriken – mit allen Mitteln! Um Zugang zu Londons größten Baumwollspinnereien zu erlangen, ist er jetzt sogar bereit, die Tochter des Besitzers zu heiraten. Doch als er auf einem Ball versehentlich den falschen Raum betritt und in eine kompromittierende Situation mit der gefährlich betörenden Debütantin Kitty Fitzroy gerät, droht sein Vorhaben jäh zu scheitern. Oder hat er in Kitty etwa die perfekte Verbündete gefunden?


  • Erscheinungstag 07.01.2025
  • Bandnummer 418
  • ISBN / Artikelnummer 9783751531542
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

15. Juni 1813

Meine sehr verehrten Ladies und Gentlemen des ton,

die Vermählung von Lady Harriet Fitzroy mit dem Earl of Beaufort hat zwar einen Sturm ausgelöst, doch hält sie uns nicht davon ab, den „Skandalösesten der Gesellschaft“ küren zu wollen.

Es scheint, dass George Claremont, der Marquess of Curran, wie üblich daran arbeitet, den heiligen Namen Claremont mit seinen vielen und verschiedenen kleineren und größeren Vergehen in Verbindung zu bringen! Dieser Schlawiner hat sich von fast jedem Ball, den er besucht hat, vor dem Ende des Abends davongeschlichen. Es hat den Anschein, dass er sich mit gewissen Frauen in den Straßen herumtreibt, während er auf den Festen nach einer Frau sucht!

Wird Lord Curran derjenige sein, der sich den Titel des „Skandalösesten der Gesellschaft“ holt? Nur die Zeit und weiteres Fehlverhalten werden es zeigen. Stets aufmerksam,

Die Times-Society-Redaktion

1. KAPITEL

Miss Katherine Fitzroy – die von den meisten Kitty genannt wurde – war inzwischen so etwas wie eine Fachfrau für gute Nischen geworden.

Eine gute Nische – so schätzte sie – war einigermaßen geräumig und doch gerade so beengt, dass niemand in Versuchung geraten konnte, sich zu ihr zu gesellen. Eine exzellente Nische würde diese Anforderungen erfüllen und vielleicht auch noch die Ausläufer eines kunstvoll gemalten Freskos aufweisen, das sie zum Nachdenken anregen würde, während sie dort stand und jeglichen Kontakt mit anderen Menschen vermied.

Ihre Bestürzung, als sie feststellte, dass der Ballsaal heute Abend ovalförmig wie ein Ei war, war grenzenlos gewesen.

Es gab keine Nische, in die sie sich hätte zurückziehen können. Im gesamten Ballsaal war kein einziger Vorsprung, keine Ecke zu entdecken. Es war zum Verrücktwerden.

Und ja, ein Plätzchen an der Wand würde sich wohl finden lassen, aber das war einfach nicht das Gleiche wie eine Nische.

Sie seufzte und sah sich um.

Sie wollte nichts weniger, als dass man sich ihr näherte.

Weder zum Tanzen noch zum Reden.

Die Londoner Saison stellte eine Herausforderung für sie dar. Sie war nach dem Tod ihres Vaters vor zwei Jahren nach London gezogen, aber sie hatte sich mehr oder weniger im Haus ihrer Tante und ihres Onkels – der Duchess und des Dukes of Avondale – versteckt gehalten, weil sie bislang zu jung gewesen war, um in der Gesellschaft zu debütieren. Das hatte ihr arg zugesetzt, allein und so weit entfernt von ihrem ruhigen Leben auf dem Lande, wo sie nichts anderes kannte als endlose Tage des Lesens, Reitens und Spazierengehens.

Und Kummer. Dort hatte es allerdings auch Kummer gegeben. Hier … war es trubelig.

London war voll von Sehenswürdigkeiten, Gerüchen und Geräuschen. Oberflächlich betrachtet war es lebendig und aufregend, und es hatte einen Moment gegeben, in dem sie sich davon hatte gefangen nehmen lassen. Aber je länger sie hier war, umso weniger faszinierend wirkte die glitzernde Welt der Aristokratie auf sie. Vielmehr fiel ihr inzwischen immer häufiger auf, welch ungeheuerliche Ungleichheiten in der Metropole herrschten. Hier in der Stadt war sie zum ersten Mal in ihrem Leben mit großer Armut konfrontiert worden – wahrer, hoffnungsloser Armut.

Es war ja nicht so, dass es in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, keine armen Menschen gegeben hätte. Sie selbst gehörte sicherlich nicht zu den Wohlhabenden. Aber die Menschen auf dem Land kümmerten sich um ihre Armen. Sie brachten ihnen Frühstück. Körbe voll mit Essen. Decken. Und obwohl das in der Stadt durchaus auch geschah, waren die Armen den Reichen zahlenmäßig weit überlegen. Und zum größten Teil blieben sie einfach sich selbst überlassen, was einen ganz trübsinnig machen konnte.

Abermals seufzte sie und griff in ihr Retikül. Darin befand sich ihr Strickzeug. Sie arbeitete gerade an einem Paar Socken.

Socken. Ausgerechnet Socken.

Sie wusste, dass die Duchess of Avondale, ihre Tante, Gönnerin und Beschützerin, es gut mit ihr meinte, indem sie sie stricken und Socken für die Kinder im Krankenhaus anfertigen ließ.

Es war eine Einführung in die Philanthropie, und Kitty nahm an, dass sie dankbar dafür sein sollte. Kittys Cousine Hattie – obwohl sie inzwischen verheiratet war und ihr neues Leben als Ehefrau genoss – war überaus engagiert für das Krankenhaus und hatte ihre Mutter dazu gebracht, sich ebenfalls dafür einzusetzen – bis zu einem gewissen Grad. Anne, ihre andere Cousine, Hatties Zwillingsschwester, lebte noch zu Hause, genau wie Kitty, und sie alle unterstützten Hattie in dieser Sache.

Die Duchess war mehrfach darauf hingewiesen worden, dass sie, anstatt ein üppiges Essen zu finanzieren, um die Damen des ton zum Sockenstricken zu bewegen, einfach eine Spende an das Krankenhaus entrichten könnte. Aber sie schien diesen Punkt nicht zu verstehen. Egal, wie oft sie darauf angesprochen wurde.

Und so strickte Kitty Socken. Sie strickte sie wie besessen. Sie strickte sie, während sie über die Gräueltaten dieser Welt nachdachte.

Sie strickte sie, während sie über die Abscheulichkeit nachdachte, ein Paar Socken für ein Kind zu stricken, das nur noch einen Fuß hatte, da es bei einem Fabrikunfall verstümmelt worden war. Ein Fabrikunfall. Kinder sollten nicht in Fabriken arbeiten.

Eine weitere ungeheuerliche Sache, die Kitty endlos beschäftigte und aufregte.

Ein weiteres Problem bei all diesen Feierlichkeiten war, dass die Leute über Mode sprechen wollten. Sie wollten über den Klatsch und Tratsch im ton reden. Sie spekulierten darüber, wer den Titel „Skandalösesten der Gesellschaft“ wohl erhalten würde, den George Claremont, Marquess of Curran, unbedingt für sich beanspruchen wollte.

Es war alles so oberflächlich. So sinnlos.

Und Lord Curran war vielleicht der Versnobteste von allen.

Er war ein Claremont. Er hatte Zugang zur Politik wie nur wenige andere. Ein allseits begehrter Heiratskandidat, Erbe eines Herzogtums, und was tat er? Er trieb sich in Ballsälen herum, trank und sah viel zu gut aus in seiner maßgefertigten Kleidung, die so viel gekostet hatte, dass sich eine ganze Familie ein Jahr lang davon ernähren könnte. Wenn man seine Stiefel verkaufte, könnte man mit dem Erlös ein Waisenhaus gründen.

Aber da war er und stolzierte herum. Mit viel Pomp und sehr wenig Zurückhaltung.

Sie schnaubte leise, und ließ ihre Nadeln fleißig klackern, während sie an der winzigen Socke arbeitete. Das Wollknäuel war sicher in ihrem Retikül verstaut, und sie beugte sich leicht vor, um zu sehen, was sie tat.

Aus Prinzip hatte sie darum gebeten, heute Abend eines von Hatties ausrangierten Kleidern auf dem Ball tragen zu dürfen. Die Duchess hatte sich darüber aufgeregt, aber Hattie hatte sich für Kitty stark gemacht, was Kitty sehr zu schätzen wusste.

Sie bemühte sich sehr, an ihren Prinzipien festzuhalten, auch wenn sie dazu gezwungen war, sich der Gesellschaft, in die sie hineingeboren worden war, zumindest ein Stück weit anzupassen.

Sie hatte keine andere Wahl. Und sie wusste es.

Sie musste heiraten, sonst hatte sie keine Ahnung, was aus ihr werden würde. Die Nächstenliebe des Dukes und der Duchess ihr gegenüber war gewiss nicht endlos. Sie war eine von diesen armen Verwandten. Ihr Vater hatte alles aufgegeben, um mit ihrer Mutter zusammen zu sein. Er hatte wenig Geld gehabt. Er hatte sich auch in der Wohltätigkeit engagiert, und Kitty war stolz darauf. Aber sie war ohne Mitgift zurückgelassen worden. Es waren der Duke und die Duchess of Avondale, die für sie sorgten. Es waren der Duke und die Duchess, die ihr die Chance gaben, sich ein eigenes Leben aufzubauen.

Kitty glaubte gern, dass sie praktisch veranlagt war. Es gab eine Art, wie die Welt sein sollte, und es gab eine Art, wie sie tatsächlich war. Dass eine Frau in ihrer Position heiraten musste, um zu überleben, war einfach der Lauf der Dinge, aber das bedeutete nicht, dass sie sich auch darauf freute, irgendwann eine Ehefrau zu sein. Darauf, nicht mehr unter der Obhut ihres Vaters zu stehen, sondern unter der ihrer Tante und ihres Onkels und schließlich unter der eines Mannes, der ein Fremder sein würde. Ein Mann, den sie ihren Ehemann nennen würde.

Allein der Gedanke daran ließ alles in ihr rebellieren. Sie war achtzehn. Es war ihre erste Saison. Sicherlich hatte sie noch ein bisschen Zeit. Hattie und Anne hatten ihr Debüt erst mit zwanzig gehabt, also schien es nur fair, dass Kitty noch eine Weile zumindest halbwegs in Freiheit verweilen durfte.

Diese Veranstaltungen waren einfach zu langweilig.

Sie würde anfangen müssen, sich heimlich Romane in ihr Retikül zu stecken.

Bei dem Gedanken musste sie lächeln.

Sie strickte eifrig weiter, als eine Welle weiblicher Erregung durch den Ballsaal schwappte, so wie eine Böe einen stillen See in Aufruhr versetzen konnte. Und sie wusste genau, warum. Es war der skandalumwitterte Marquess selbst.

Lord Curran war eingetroffen.

Verspätet und bereits angetrunken, wenn sie sich nicht täuschte.

Sie versuchte mit der Wand zu verschmelzen.

Und ließ die Nadeln mit noch mehr Entschlossenheit klappern.

Sie weigerte sich, aufzublicken. Sie war beschäftigt.

Aber sie konnte die Veränderung der Atmosphäre spüren, die Energie, die von diesem Hallodri ausging. Und es war eine Menge davon. Sie biss die Zähne zusammen und begann vor sich hin zu summen. „Soldiers of Christ, Arise.“

Ja, sie dachte an ihre christliche Pflicht.

Stricken, stricken, stricken. Masche um Masche um Masche. Wie ein Soldat, der marschiert. Die Socke würde so akkurat sein wie jede andere Socke, und sie würde sich nicht nur wie ein Trostpflaster für das Unglück anfühlen, nur einen Fuß zu haben. Sie würde ein schönes Geschenk sein, weich und angenehm zu tragen. Stricken, stricken, stricken.

Sie konzentrierte sich so sehr, dass sie die nächste Unruhe im Raum um sie herum nicht wahrnahm.

Plötzlich lichteten sich die Reihen, als Lord Boreham sich seinen Weg durch die Menge bahnte.

Kitty sah auf. Sie hatte noch nie länger mit dem Mann gesprochen. Aber er hatte eine ziemlich ernste Ausstrahlung.

Kein Mann, den sie jemals als geeigneten Ehemann in Betracht ziehen würde, denn er war schon mittleren Alters …

Natürlich hatte man Kitty selbst mehr als einmal vorgeworfen, dass sie sich ziemlich mittelalterlich benahm. Eine Jungfer vor ihrer Zeit, hatte man ihr unterstellt – zumindest die Duchess, die nicht wollte, dass Kitty eine alte Jungfer wurde.

Wenn die Duchess nur wüsste, wie sehr sich Kitty nach dem Jungfernsein sehnte. Obwohl, wenn sie ganz ehrlich war, die Witwenschaft wahrscheinlich am besten zu ihr passen würde. Vielleicht sollte sie doch einem älteren Ehemann den Vorzug geben. Witwen hatten immer so viel Freiheit.

Sie konnte für eine kurze Zeit verheiratet und dann frei von gesellschaftlichem Ballast sein und sich so verhalten, wie sie es für richtig hielt. Noch besser wäre es, wenn sie einen Mann heiratete, der bereits einen Erben hatte, sodass sie nicht gezwungen wäre, ihm einen zu gebären.

All diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie Lord Boreham beobachtete. Er schien irgendetwas zu suchen und ließ den Blick immer wieder über sie schweifen, als wäre sie gar nicht da. Seltsamerweise stoben die Menschen geradezu davon, wenn sie ihn sahen.

Beinahe hätte sie sich selbst beglückwünscht, da es ihr wohl gelungen war, die Kunst des Sichunsichtbarmachens zu perfektionieren. Selbst ohne Nische war sie offenbar dazu in der Lage, vor den Augen eines Gentleman zu verschwinden.

Sie konnte den Moment sehen, in dem er aufgab. Er ließ den Blick auf ihr ruhen. „Oh“, sagte er, als hätte er sie vorher nicht bemerkt. „Miss Fitzroy.“

„Lord Boreham“, sagte sie, ohne ihre Strickarbeit zu unterbrechen. Das war vielleicht schlechter Stil. Die Etikette hätte eigentlich geboten, ihm die Hand zu reichen, aber das wollte sie nicht. Und so tat sie es auch nicht.

Sie bedauerte nur, dass sie sich schon einmal offiziell vorgestellt worden waren, sodass er das Gefühl hatte, er könnte sich ihr nähern.

Das war ein weiteres Problem, das sie mit London und der Gesellschaft im Allgemeinen hatte. Es gab sehr viele Konventionen, die sie nicht nachvollziehen konnte. Ganz gleich, wie oft die Duchess es ihr erklärte, mit Worten wie Pflicht, Respekt und Anstand. Sie bedeuteten ihr nichts.

Sie wünschte sich, frei davon zu sein.

Was sie sich manchmal auch herausnahm. Die Leute fanden das schockierend. Fast so schockierend, wie wenn sie die Arbeitsbedingungen in den Fabriken ansprach, besonders für Kinder. Aber sollten die Menschen nicht wissen, dass die verschiedenen Waren, mit denen sie ihre opulenten Haushalte ausstatteten, die Kleidung, die sie trugen, auf dem Rücken von Kindern hergestellt wurden? Und zwar unter großen Risiken. Und dabei ging es noch nicht einmal um die Beschaffung des Materials.

Die Welt war eine Quelle endloser, schrecklicher Ungerechtigkeiten.

Und Kitty wusste noch nicht genau, was sie dagegen tun sollte. Sie fühlte sich klein und unbedeutend, während sie sich gleichzeitig darüber bewusst war, dass die Welt so konstruiert worden war, dass sie sich so fühlte.

Also bot sie ihre Hand nicht an.

Es war eine Rebellion, wenn auch eine kleine, aber immerhin etwas, das sie tun konnte.

„Diese Art von Veranstaltungen sind im Allgemeinen nicht nach meinem Geschmack“, erklärte Lord Boreham.

Was war das? Vielleicht war er ein verwandter Geist. Vielleicht hatte sie ihn unterschätzt.

„Mir gefallen sie auch nicht, deshalb vertreibe ich mir die Zeit mit Stricken.“

„Ja“, sagte er. „Das tun Sie. Stricken.“

„Ja“, sagte sie und verspürte plötzlich einen Funken von Elan. „Ich stricke eine Socke für ein Kind, das nur noch einen Fuß hat. Und wissen Sie, warum es nur noch einen Fuß hat?“

„Ich weiß es nicht“, entgegnete er, und seine Miene war plötzlich leicht bedauernd.

„Der andere wurde ihm während der Arbeit in einer Fabrik abgerissen. Die Maschinen sind furchtbar unsicher, und Kinder werden eingesetzt, weil ihre Hände klein sind und sie sie leichter in die Maschinen stecken können, um sie zu bedienen oder zu reparieren. Oder darauf zu klettern. Sie verlieren ihre Hände. Die Finger. Die Beine … Oder eben die Füße.“

„Oh, mein Gott“, sagte er.

„In der Tat“, meinte sie. „Und es fällt mir sehr schwer, das zu vergessen, vor allem, wenn ich die ganzen schönen Kleider und edlen Jacken sehe, die von ebendiesen Kindern gemacht wurden.“

„Ich glaube, dass die meiste Kleidung von einer Modistin gemacht wird.“

„Der Stoff“, sagte sie etwas ungeduldig.

„Es kommt nicht oft vor, dass man einer jungen Dame begegnet, die zu solchen Gesprächen bereit ist. Ich frage mich allerdings, ob Sie sich auch schon einmal Gedanken über das Wanderverhalten von Schwalben gemacht haben.“

„Ich kann mit Sicherheit sagen, dass ich das noch nicht getan habe“, erwiderte sie.

„Das ist eine faszinierende Sache“, fuhr er fort. „Ich habe die wissenschaftlichen Journale dazu studiert und …“

Damit hatte sie die Antwort auf die Frage, ob er vielleicht ein verwandter Geist wäre, bekommen. Und es spielte keine Rolle, was sie über Kinder und fehlende Gliedmaßen gesagt hatte, denn er sprach über Flugrouten von Schwalben. In der Tat mochte Kitty Vögel sehr. Wenn man sie gefragt hätte, würde sie sagen, dass sie sich wahrscheinlich für deren Wanderungsmuster interessierte. Der Rhythmus der Natur war schließlich ein wichtiger Indikator dafür, ob sich die Welt im Takt bewegte oder nicht.

Und doch schien es vollkommen egal zu sein, ob sie da war oder nicht – Lord Boreham dozierte und dozierte, und zwar passend zu seinem Namen zum Einschlafen langweilig.

Kitty verschmolz fast mit der Wand und tat ihr Bestes, um sich aufrecht zu halten. Jetzt war ihr klar, warum alle weggelaufen waren, als er auftauchte, und was hatte sie getan? Sie hatte sich dem Mann widerstandslos ausgeliefert. Sie hatte gehofft, in ihm einen Verbündeten zu finden. Aber nein.

Hier gab es keinen Verbündeten.

Nur eitle Gecken und desinteressierte Reiche.

„Wenn Sie mich entschuldigen würden“, sagte sie und stieß sich von der Wand ab. „Ich habe gerade erst gesehen … Es ist Lady … Ich muss gehen.“

Selten konnte sie sich rühmen, ein anständiges Verhalten an den Tag zu legen, und das war auch jetzt wohl nicht der Fall. Ihr Bedürfnis zu fliehen war wahrscheinlich durchschaubar. Dennoch konnte sie sich zu nichts anderem durchringen.

Kitty huschte durch den Ballsaal und hielt Ausschau nach einem freundlichen Gesicht.

Ganz besonders sehnte sie sich Hattie herbei.

Warum hatte Hattie nur heiraten müssen? Nun, sie wusste, warum. Es war derselbe Grund, aus dem auch Kitty irgendwann einen Mann finden musste. Wenn nicht, würde sie ein toter Ast am Stammbaum werden und für immer bei dem Duke und der Duchess of Avondale leben. Oder würde sie vielleicht eine Anstellung als Gouvernante finden können? Das würde auch schwer werden, dafür war sie zu hochgestellt.

Die Welt war nicht darauf ausgerichtet, Frauen in Freiheit schalten und walten zu lassen. Im Gegenteil, sie war darauf ausgelegt, Frauen zu bevormunden, einzuschränken und zu überhören. Kitty wollte nicht unbedingt heiraten, es war nur so, dass es für eine Frau in ihrer Situation zweifellos der einfachste Weg war.

Hattie schien von ihrer Ehe ganz eingenommen zu sein. Es war nicht einfach eine Pflicht, die zu erfüllen sie sich auferlegt hatte. Nein, sie war ganz und gar vernarrt in ihren Mann.

Kitty konnte das einfach nicht verstehen.

Sie suchte sich ein anderes ruhiges Plätzchen und griff in ihr Retikül, wo sie die Socke ertastete, aber nicht das Wollknäuel.

Vor Schreck weiteten sich ihre Augen, und sie blickte sich hektisch in dem überfüllten Ballsaal um, bis sie schließlich entdeckte, dass sie das sich in Auflösung befindliche Knäuel in einem karmesinroten Faden hinter sich her zog.

Sie schlug sich eine Hand vor den Mund und überlegte fieberhaft, was sie tun sollte, als sie sah, wie eine männliche Hand nach dem Faden griff.

Ihr Herz tat etwas furchtbar Unangenehmes, als sich der Mann langsam, ganz langsam umdrehte und aus einigen Schritten Entfernung Blickkontakt zu ihr aufnahm.

Das Grinsen, das über sein Gesicht ging, war träge und anrüchig.

Er war der letzte Mensch auf Erden, von dem sie gewollt hätte, dass er ihr behilflich wäre.

Lord Curran hatte das Wollknäuel.

Sie wich einen Schritt zurück, und langsam, ganz langsam, begann er das Knäuel aufzuwickeln, während er auf sie zuging. Sie erstarrte wie ein Kaninchen, das von einem Fuchs in seinem Bau in die Enge getrieben wurde. Ihr Herz schlug wie wild, und sie spürte, wie es sich in ihrer Kehle zusammenzog. Sie verabscheute die Lage, in der sie sich befand. Alles an dieser Sache. Alles an ihm.

Und während er unaufhaltsam auf sie zukam, zählte sie die Gründe dafür auf. Diese Stiefel. Butterweiches Leder, wahrscheinlich handgefertigt, eigens an seine Waden angepasst. Kosten: der Jahreslohn eines Arbeiters. Das Geld, das die Hirschlederhosen, die seine langen, muskulösen Beine betonten, gekostet hatte, würde ausreichen, um die Armut in Cheapside für jeden dort für mindestens einen Monat zu lindern. Vielleicht war das eine Übertreibung. Vielleicht aber auch nicht.

Seine Jacke. Schwarz und eng anliegend, wie alles, was er trug, als ob er der Meinung wäre, die beste Figur im Ballsaal abzugeben und dies auch allen zeigen zu müssen. Und dann war da noch sein Gesicht. Sein Gesicht war viel zu markant. Zu kantig, mit einer Spalte im Kinn, die wie hineingemeißelt zu sein schien. Seine Augen waren verblüffend blau, sein Haar so dunkel, dass es fast schwarz war, ein wenig gelockt.

Er wirkte nicht wie ein echter Mann. Vielmehr wirkte er wie ein zum Leben erwachtes Bild eines Künstlers.

George Claremont. Das war er. Zu viel Geld, zu viel Arroganz, zu viel von allem.

Sie konnte ihn nicht ausstehen.

Und er hatte ihre Wolle.

Er kam näher, und sein Grinsen wurde immer breiter.

Sie verzog missbilligend den Mund und reckte kampflustig das Kinn.

„Miss Kitty Fitzroy“, sagte er, und ihr Name aus seinem Mund zu hören, traf sie so hart, als hätte er einen abscheulichen Fluch ausgesprochen. „Sie scheinen etwas verloren zu haben.“ Sie straffte die Schultern und versuchte, indigniert dreinzublicken.

Als ob sie sich um Etikette und dergleichen scheren würde. „Ich glaube nicht, dass wir einander formell vorgestellt wurden, Sir.“

Sie hatte den Eindruck, das interessierte ihn kein bisschen.

Sie hatte den Eindruck, er schwelgte nahezu darin, etwas Ungehöriges zu tun.

Sir. Ich mag den Klang dieses Wortes auf Ihren Lippen. Aber meinen Sie nicht, dass wir auf solche Förmlichkeiten verzichten könnten? Sie wissen genauso gut, wer ich bin, wie ich weiß, wer Sie sind.“

„Ich bitte um Verzeihung, aber das ist keineswegs der Fall.“

Seine Miene wurde ungläubig. Gut so. Sollte er sich doch ärgern.

„Der Marquess of Curran.“

„Angenehm.“ Sie streckte eine Hand aus, aber nicht um sie ihm darzubieten, sondern um nach dem Wollknäuel zu greifen. Aber er schaffte es, ihre behandschuhte Hand in seine zu nehmen und ihre Fingerspitzen zwischen Daumen und Zeigefinger leicht einzuklemmen. Das verursachte einen quälenden Aufruhr in ihrer Seele.

Und es waren Qualen. Denn diese Art von Veranstaltungen fanden aus den dümmsten Gründen statt, und er war der dümmste Mann, der hier zu finden war. Und sie war gezwungen, sich mit ihm zu unterhalten, als ob sie ihn genauso ernst nehmen würde wie alle anderen hier auch.

Dabei wusste sie ganz genau, dass viele der Anwesenden ihn nicht im Geringsten ernst nahmen; sie konnten nur nichts Gegenteiliges sagen, weil er eines Tages ein Duke sein würde, und wenn man eines Tages ein Duke sein würde, war es egal, was man in der Gegenwart tat. In Wahrheit war es vollkommen egal, was man jemals tat, denn der Titel schützte einen vor den Gefahren und Konsequenzen des eigenen Verhaltens.

Sie konnte sich nur vorstellen, wie bequem das Leben so sein musste.

Sie entzog ihm ihre Hand. „Meine Wolle. Bitte.“

„Was machen Sie denn damit?“

„Eine Schlinge, um mich damit aufzuhängen. Da dieser Abend so unglaublich öde ist.“

„Das klingt ein bisschen dramatisch, meinen Sie nicht?“

„Keine Ahnung. Kommt darauf an, wie lange die Tortur noch dauert.“

„Genial. Sich einen Fluchtweg zu erschaffen, wie düster der auch immer sein mag. Aber ich möchte wirklich wissen, was Sie da stricken.“

„Socken“, antwortete sie. „Für Kinder.“

„Oh. Kinder. Eine gute Sache, ganz gleich, wer die Kinder sind oder wo sie sich aufhalten mögen. Eine gute Betätigung für eine Dame jeder Herkunft. Für die Kinder …“

Und es war sein Spott, den sie nicht ertragen konnte. Er hätte die Möglichkeit gehabt, das Leid vieler Menschen zu lindern, und doch verspottete er sie. Sie mochte die Bemühungen der Duchess für unzureichend halten, aber sie versuchte es wenigstens. Wenigstens tat sie so, als läge ihr etwas an den Kindern. Er machte sich über den geringsten Anflug von Nächstenliebe lustig, während er selbst nichts dergleichen vorzuweisen hatte.

„Jemand muss sich um sie kümmern, meinen Sie nicht, Lord Curran?“, fragte sie.

„Solange ich es nicht bin.“

„Nun, nein. Warum sollte sich jemand in solchen Dingen auf Sie verlassen?“

Er verzog den Mund. „Wie sprechen Sie denn mit mir?“

„Warum sollte ich nicht so mit Ihnen sprechen? Sie haben in ähnlicher Weise mit mir gesprochen. Sie behandeln mich, Lord Curran, als wäre ich eine Witzfigur. Daher sehe ich keinen Grund, Ihnen mit Ehrerbietung zu begegnen. Ihr Titel bedeutet mir gar nichts. Ich will nichts von Ihnen. Ich will Sie nicht heiraten und bitte Sie auch nicht um Unterstützung.“

„Aber Sie müssen doch jemanden heiraten“, sagte er. „Und glauben Sie nicht, dass meine Fürsprache Ihnen bei der Suche nach einem geeigneten Partner helfen könnte?“

„Sollte ein Mann Wert auf Ihre Meinung legen, bin ich mir nicht sicher, ob ich den Mann überhaupt kennenlernen will.“

„Aber die meisten Leute tun zumindest so, als ob sie meine Meinung schätzen.

Und wenn es nur vorgetäuscht ist, wird es keinen Einfluss auf seine endgültige Entscheidung haben, meinen Sie nicht?“

„Ganz richtig, wenn er Sie insgeheim verachtet, wird er sich Ihren Bericht über meinen Charakter anhören und anschließend machen, was er für richtig hält.“

„Ja, vielleicht“, sagte er. Und dann ließ er das Knäuel in ihre umgedrehte Hand fallen. „Sie sollten sich besser wieder an die Arbeit machen.“ Er musterte sie mit einem so eindringlichen Blick, dass sie das Gefühl hatte, nackt zu sein. „Für die Kinder.“

Sie reckte das Kinn noch höher. „Was anderes hatte ich auch nicht im Sinn. Sie sollten besser … Mir ist nicht klar, womit sich jemand wie Sie am sinnvollsten beschäftigen könnte.“

Er grinste, und ihr stockte der Atem. „Aber Miss Fitzroy, das wissen Sie doch sicher? Meine einzige Aufgabe in diesem Leben ist es, Skandale zu verursachen.“

2. KAPITEL

Was für ein stacheliges Geschöpf Kitty Fitzroy doch war. Er hätte lügen müssen, wenn er behaupten würde, dass er nicht von dem Moment an, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, von ihr fasziniert gewesen wäre. Das war eine Nebenwirkung der Londoner Saison. Langeweile. Jeder, der sich nicht in das althergebrachte und offensichtliche Schema der Gesellschaft fügte, amüsierte ihn. Nicht, dass er das jemals jemandem verraten würde. Er hatte kein Interesse an dem Titel des diesjährigen Wettbewerbs um den „Skandalösesten der Gesellschaft“. Dieses Jahr würde er sich eine Frau nehmen. Nicht aus Pflichtgefühl gegenüber dem König, dem Land oder dem Titel. Nein. Es ging um Gerechtigkeit.

Seine Wahl war auf Lady Helene Parks gefallen, die Tochter des Marquess of Stanton.

Sie war als Duchess geeignet, obwohl das nicht sein primäres Ziel war. Ihr Vater besaß mehr Baumwollspinnereien in London als jeder andere Mann.

Die betreffende Frau wusste nicht, dass sie im Mittelpunkt seiner Pläne stand, aber sie würde es bald erfahren, und wenn er seine Forderungen deutlich machte, hatte er keinen Zweifel, dass sie einwilligen würde.

Schließlich sollte er ein Duke werden. Und die Menschen reagierten mit erschreckender Vorhersehbarkeit auf ihn.

Nicht Kitty Fitzroy.

Nein. Aber bei Kitty Fitzroy war auch nichts vorhersehbar.

Socken für Kinder.

Es waren keine Socken, die die Kinder brauchten.

Er schob den Gedanken beiseite und achtete darauf, einen gleichmütigen Gesichtsausdruck zu wahren. Die wenigsten Menschen wussten, dass er eine Fassade besaß. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, stets gut gelaunt, feierfreudig und aalglatt zu sein. Es funktionierte. Die Menschen sahen sich in ihm selbst. Sie verziehen ihm seine Schwächen, weil er nicht verbarg, was sie geheim hielten.

Folglich fürchteten sie alle, er könnte sie sehen.

Als ob er sich für ihre niederen moralischen Verfehlungen interessierte. Mätressen, exzessiver Alkoholgenuss, Glücksspiel. Ihm war es egal, welche Sünden sie begingen, die ihnen selbst schadeten. Es war die Sorglosigkeit, mit der sie mit dem Leben anderer umgingen, die ihn die Aristokratie verachten ließ. Und da er ein prominentes Mitglied des ton war, war es vielleicht nicht ganz abwegig zu sagen, dass er sich selbst verachtete. Dramatisch, vielleicht, aber George konnte gut mit Theatralik umgehen. Sogar, wenn es um ihn selbst ging.

Kitty Fitzroy war auch nicht untheatralisch.

Eine Schlinge.

Er ertappte sich dabei, wie er wieder zu ihr hinübersah und die Fingerspitzen aneinanderrieb, während er sich daran erinnerte, wie sich die weiche, karmesinrote Wolle anfühlte, aus denen sie die Socken strickte.

An den Moment, als er ihre Hand in seine genommen hatte. Sie hatte sich nichts sehnlicher gewünscht, als ihn zu ohrfeigen, das hatte er ihr deutlich angesehen. Und wie lange war es her, dass eine Frau auf ihn mit irgendeiner Art von Ablehnung reagiert hatte? Das taten sie nie. Außer sie. Sie beachtete die Regeln der Gesellschaft nicht und schien sie geradezu mit Füßen treten zu wollen.

Das arme Ding.

Sie würde schnell genug herausfinden, dass es nicht die beste Art war, sich zu benehmen. Es würde sie nicht weiterbringen. Es würde ihr ganz sicher nicht das bringen, was sie sich erhoffte. Und das war schließlich der Sinn und Zweck eines jeden dieser Spiele.

„George.“ Sein Freund Jasper, Earl of Beaufort, kam auf ihn zu und klopfte ihm auf die Schulter.

Seine Freunde machten sich Sorgen um ihn, das wusste er. Sie kannten ihn zwar gut genug, um zu wissen, dass er nicht ganz so lächerlich war, wie der Rest der Gesellschaft glaubte, aber sie sorgten sich auch um seine Exzesse.

In der Tat gab es in seinem Leben eine ganze Menge Exzesse. Aber es war mehr als das. Er konnte es einfach nicht riskieren, sich zu offenbaren. Nicht einmal Jasper und Marcus gegenüber.

Aber das machte ihm nichts aus.

Für alle Welt war er der nichtsnutzige George Claremont, ein Lebemann, der vom Geldbeutel seiner Eltern abhängig war, um seinen verschwenderischen Lebensstil zu finanzieren. Verdammt, das dachte sogar sein Vater von ihm. Und George gab das Geld seines Vaters fröhlich aus, obwohl der Mann nie erfahren würde, wofür.

Allerdings verbrachte er zu viel Zeit mit seinen Freunden, um die Rolle des ausschweifenden Lebemanns wirklich überzeugend zu spielen, irgendwann würde er auffliegen. Nicht, dass das nicht auch ein Teil von ihm gewesen wäre. Die Arbeit, die er tat, entsprach auch einem Teil seines Wesens.

Zumindest war es einmal so gewesen. Aber er hatte sich verändert. Die Spannung, die er zwischen dem empfand, was er für richtig hielt, und der Rolle, die er zu spielen gezwungen war, drohte ihn manchmal zu erdrücken.

Zum Glück gab sein vermeintliches Streben nach dem Titel des „Skandalösesten der Gesellschaft“ etwas, womit sie sich beschäftigen konnte, und es hielt die Leute davon ab, die Wahrheit über ihn herauszufinden, was ihm sehr gelegen kam.

„Ich wollte mich gerade verabschieden“, sagte George.

„Wirklich? Und wo willst du hin?“

„Zu meiner Geliebten. Du weißt doch gewiss, dass ich eine Frau in meinem Stadthaus untergebracht habe.“ Jaspers Brauen schossen in die Höhe.

„Ich weiß nichts dergleichen.“

„Nein? Nun, dann muss die Nachricht besser verbreitet werden.“

Jasper verengte die Augen. „Was hast du vor, George?“

„Ich gratuliere dir übrigens zu deiner Hochzeit.“

„Du warst dabei. Du hast mir bereits gratuliert. Du brauchst nicht so förmlich zu sein. Was ist denn los mit dir?“

George nahm einen Schluck aus dem Glas Ratafia, das er in einer Hand hielt, und wünschte, es wäre etwas Stärkeres. „Es ist nur schwer vorstellbar. Du. Ein verheirateter Mann.“

„Noch schwieriger ist es, sich dich in einem solchen Zustand vorzustellen“, gab Jasper zurück.

„Und doch wirst du dich daran gewöhnen müssen“, sagte er und blickte sich in dem Ballsaal um, wo er die Gestalt von Lady Helene Parks entdeckte. „Am Ende der Saison wird es so weit sein.“

„Und was ist mit der Mätresse?“

George hob lässig eine Braue. „Was soll mit ihr sein?“

„Findest du nicht, dass das im Widerspruch zu deiner Absicht steht, sich eine Frau zu nehmen?“

„Seit wann ist es ein Widerspruch, eine Mätresse und eine Frau zu haben?“ Er rückte seine Manschetten zurecht. „Ich verstehe das moralische Dilemma nicht, das du hier zu stricken versuchst.“

Stricken.

Es war ihm sofort klar, warum ihm ausgerechnet dieses Wort durch den Kopf ging.

„Ich denke, ich will dich vor Schwierigkeiten bewahren“, sagte Jasper. „Wenn das …“

„Ich glaube, der Fehler, den du machst, ist, dass du versuchst zu entschlüsseln, ob in mir noch etwas anderes steckt, eine Art geheimes Ich. Aber ich bin das, was du siehst“, sagte er.

Die Kluft zwischen ihm und seinem Freund wurde immer größer. Jasper war jetzt ein verheirateter Mann und führte ein Leben, wie George es nie haben würde. Jasper würde Georges Absichten gegenüber Helene Parks nicht gutheißen. Auch nicht, wie er sich in dieser Ehe zu verhalten gedachte.

„Du willst also, dass alle Wind davon bekommen, dass du den Ball vorzeitig verlässt, um deine Geliebte aufzusuchen?“, fragte Jasper einigermaßen ungläubig.

„Ich hätte nichts dagegen.“

Jasper entgegnete nichts, sondern sah ihn nur mit einer vagen Schärfe an, die George mit einem Lächeln abwehrte, von dem er hoffte, dass es so wirkte, als wäre er betrunken.

Er brauchte nicht zu hoffen, er wusste, wie es aussah. Er war viel zu geübt in diesem Spiel, um darin zu versagen.

„Also gut, George“, meinte Jasper. „Dann wünsche ich dir noch einen schönen Abend.“

George lächelte, wandte sich ab und ging in die Halle, wo man ihm seinen Mantel und seinen Hut reichte. Seine Kutsche stand schon bereit, als er auf den Bürgersteig trat.

Die Kutschfahrt war schnell zu Ende. „Fahren Sie nach Hause!“, befahl George seinem Kutscher, als er aus der Kutsche stieg.

Er richtete Hut und Mantel und ging zur Tür. Es war Lily Bell selbst, die ihm öffnete. Sie sah wie immer wunderschön aus, das blonde Haar fiel ihr wallend über die Schultern, und ihr Körper wurde kaum von dem Seidenmantel bedeckt, den sie trug.

„George“, sagte sie und ließ den Blick erst an ihm vorbei und dann über seinen Körper gleiten. „Du bist spät dran.“

„Ich bitte um Entschuldigung. Heißt das, ich bin nicht willkommen?“

„Du bist immer willkommen.“

Er schob sich an ihr vorbei in den Empfangsbereich des Stadthauses. Seines Stadthauses. Allerdings hatte er es unter falschem Namen gekauft, um seine Angelegenheiten geheim zu halten.

George zeigte stets für jeden und alle offen, was er in der Hand hatte.

Und niemand ahnte, dass er noch ganz andere Karten unter dem Tisch versteckt hatte.

„Sollen wir weitermachen?“, fragte er.

Er konnte nicht lange bleiben.

Er hatte noch etwas zu erledigen. Ein überaus wichtiges Geschäft sogar.

3. KAPITEL

George Claremonts frühzeitiges Verschwinden vom Weatherly-Ball hatte Aufsehen erregt und eine Flut von Klatsch und Tratsch in den Skandalblättern ausgelöst, deren reißerische Artikel in den feinsten Bezirken Londons an den Frühstückstischen nahezu verschlungen wurden.

„Zu seiner Mätresse abgehauen.“ Die Duchess las glucksend die Zeitung in ihrer Hand und wurde aber abrupt ernst, als sie sah, dass Kitty das Zimmer betreten hatte.

„Es ist einfach nur ungehörig“, sagte sie und warf Kitty einen entschuldigenden Blick zu. „Du willst doch nicht mit solchen Dingen konfrontiert werden.“

„Es wird in den Skandalblättern gedruckt, sodass es jeder lesen kann“, sagte Kitty. „Es ist wohl kaum möglich, mich davor zu schützen.“

„In der Tat nicht“, sagte die Duchess und faltete das Skandalblättchen schuldbewusst zusammen und legte es beiseite. „Wie fandest du den gestrigen Ball?“

Kitty wusste, dass es nicht die feine Art wäre, ihrem so gütigen Vormund zu sagen, dass sie alles an der Londoner Saison hasste. Das wäre undankbar. Sie hatten ihr ein Debüt ermöglicht, als wäre sie eine der ihren. Und darüber sollte sie sich freuen. Nach dem Tod ihres Vaters …

Der Gedanke daran bereitete ihr immer noch große Schmerzen. Trauern war eine seltsame Sache.

Man musste eine Zeit lang Schwarz tragen, und dann durfte man wieder Farbe tragen. Als ob die Trauer auf einer Zeitachse verliefe, die man mit Mode markieren könnte.

Und doch hatte sie festgestellt, dass das gar nicht die Realität des Todes war.

Es war einfach, ein Kleidungsstück abzulegen und in ein anderes zu schlüpfen. Die Traurigkeit aber war eine allgegenwärtige Begleiterscheinung, derer man sich nicht einfach entledigten konnte. Und sie fand keinen Weg, sie zu vertreiben. Ihr Vater war ein so umsichtiger, genialer Mann gewesen, und in vielerlei Hinsicht hatte sie das Gefühl, dass die beste Art, sein Andenken zu ehren, darin bestand, ihre Sache voranzutreiben. 

Zielgerichtet. Unerbittlich.

Denn wie könnte man sein Andenken besser ehren? Er hätte gesagt, dass es sinnlos sei, seine Trauer zum Ausdruck zu bringen, indem man eine bestimmte Farbe trug. Obwohl er seine schwarze Kleidung nach dem Tod ihrer Mutter nie abgelegt hatte.

Sie hatte nicht viele Erinnerungen an ihre Mutter.

Es war ihr Vater gewesen, der sie aufgezogen hatte, der ihr die Werte eingeflößt hatte, die ihr noch heute Orientierung boten. Er hatte sie dazu gebracht, sich für die Welt zu interessieren. Und dann war sie in eine Welt geschickt worden, die noch gefühlloser war, als sie es sich je vorgestellt hatte, und die Auseinandersetzung mit all dem und die Zerrissenheit ihrer Seele infolge des Verlusts ihres Vaters fühlten sich oft zu groß an, um es zu ertragen.

Zu allem Überfluss wollten sie, dass sie auf Partys ging. Sie wollten, dass sie einen Ehemann fand.

Das war zu viel.

„Es war schön“, sagte sie, und sie hörte nur zu gut, wie wenig überzeugend sie klang.

„Du wirst einen Mann kennenlernen, der die gefällt“, sagte die Duchess und lächelte. „Und wenn du ihn gefunden hast, wirst du feststellen, dass diese Festivitäten sehr wohl nach deinem Geschmack sind.“

Unwillkürlich kehrten Kittys Gedanken zu ihrer Begegnung mit dem Marquess of Curran zurück. „Die Frage ist, ob ich überhaupt jemals jemanden finden werde. Ich bin zu anders.“

Das dachte sie wirklich. Sie wollte nicht undankbar erscheinen, aber die Wahrheit war, dass sie einfach nicht so war wie die anderen Ladies, die in diesem Jahr ihr Debüt in der Gesellschaft gaben. Oder in jedem Jahr.

Sie stammte vom Land, war bis vor zwei Jahren noch nie in London gewesen und hatte nur wenig Ahnung von den Spielregeln, die den ton beherrschten. Der Versuch, jetzt in dieses Spiel einzusteigen, konnte nicht von Erfolg gekrönt sein. Mehr als einmal hatte sie sich gefragt, ob man diese Dinge einfach von der Wiege an über sich ergehen lassen musste, um einen Sinn darin zu finden.

Das würde ihr nie gelingen.

Und doch war es die Welt, in der sie sich bewegen musste. Die Welt, in der sie versuchen musste, zu überleben. Sie scherte sich nicht um die Meinung des ton, und doch konnte diese Meinung über ihren Erfolg oder Misserfolg entscheiden.

„Das wirst du“, sagte die Duchess, aber Kitty konnte sehen, dass die ältere Frau ihre Zweifel hatte. Denn natürlich fand sie Kitty genauso seltsam wie alle anderen auch. „Trotz ihres Unfalls hat Hattie jemanden gefunden.“

Trotz ihres Unfalls. Die Formulierung ließ Kitty innerlich zusammenzucken. Hattie lebte aufgrund eines Unfalls mit einem gewissen Handicap. Nicht unähnlich dem Handicap, das Kittys Persönlichkeit darstellte.

Sie war ja schließlich nicht dumm. Das war es, was die Duchess meinte. Und sie meinte es gewiss nicht böse. Aber es war trotzdem wahr.

Die Haushälterin betrat das Zimmer. „Euer Gnaden“, sagte sie an die Duchess gewandt, „Ihre Tochter ist zu Besuch gekommen.“

Die Duchess stand auf und lächelte. „Oh, wie schön. Bitte bringen Sie uns Tee, ja?“ Die Haushälterin nickte und verließ den Raum. Die Duchess eilte ihr hinterher, offensichtlich viel zu ungeduldig, darauf zu warten, dass Hattie den ganzen Weg von der Halle bis in den Salon zurückgelegt hatte.

Kitty nutzte die Gelegenheit, um sich das Skandalblatt zu schnappen. Sie überflog es mit gespannter Aufmerksamkeit.

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