Das Geheimnis der schönen Winterlady

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Ein winterlicher Kutschenunfall beschert Guy, Viscount Chillings, einen geheimnisvollen Hausgast: Eine wunderschöne Fremde, die ihr Gedächtnis verloren hat, braucht seine Hilfe. Wer ist sie? Ist sie gar bereits vergeben? Das wäre fatal! Denn Guy ist bereits ihrem zarten Lächeln erlegen, das sein Herz berührt hat …


  • Erscheinungstag 06.11.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733728274
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Ah, ihr plaudert gerade bei trocken Brot“, spottete Dominic Mandrake Chillings, während er zwischen seiner Schwester und seinem Bruder Platz nahm.

Guy William Chillings, der siebte Viscount Chillings, hob eine seiner dunklen Augenbrauen. „Geistreich wie immer, Dominic.“ Genussvoll aß er ein Stück des köstlich zubereiteten Lamms mit französischer Sauce, die sein ebenfalls französischer Koch eigens kreiert hatte. „Ich freue mich, dass du hergefunden hast, obwohl die Saison noch in vollem Gange ist.“

Scherzhaft deutete Dominic eine Verbeugung an. „Die Wünsche des Familienoberhauptes sind mir Befehl.“

„Ach, was du nicht sagst!“, zog ihn Annabell Fenwick-Clyde, verwitwete Lady Fenwick-Clyde, auf. „Du bist doch nur gekommen, weil du neugierig bist, Dominic. Aus keinem anderen Grund.“

Dominic zuckte mit den Schultern und schnitt ein Stück vom Lammbraten ab, den der Butler ihm gerade serviert hatte.

„Genug“, unterbrach Guy die beiden, legte seine Gabel beiseite und erhob sich. „Ich bat euch beide herzukommen, um mit euch über meine Verlobung zu sprechen.“

„Habe ich richtig gehört?“ Dominic war vom Stuhl hochgefahren und hatte ihn dabei so eilig nach hinten geschoben, dass er beinahe umkippte. „Du willst dir also Ketten anlegen lassen? Das wird aber auch höchste Zeit.“

Annabell, eine hochgewachsene, elegante Frau Anfang dreißig mit hellblondem Haar, warf ihrem jüngeren Bruder einen argwöhnischen Blick zu. „Dominic, du hast wie immer eine maßlos dramatische Sicht auf die Dinge.“ Sie wandte sich an ihren Zwillingsbruder, den Viscount, und lächelte. „Wen beabsichtigst du denn zu heiraten, Guy? Ich hoffe, nicht eine dieser bemitleidenswerten Amüsierdamen, mit denen du und Dominic euch zu vergnügen pflegt.“

„Tststs, Sarkasmus steht dir gar nicht gut zu Gesicht, Bella“, antwortete Guy, wobei er ihr Lächeln erwiderte, um seinen Worten die Schärfe zu nehmen. Nur zu gut wusste er, wie wenig seine Schwester von Männern hielt, die Mätressen hatten.

Dominic grinste. „Die sind nicht zum Heiraten da.“

Geräuschvoll ließ Annabell Messer und Gabel fallen. „Ihr benutzt diese Frauen nur!“

„Und bezahlen sie gut dafür“, erwiderte Dominic gelassen.

„Genug“, sagte Guy, stand auf und entfernte sich vom Tisch. „Ich habe euch nicht eingeladen, um mit euch über meine Vorlieben zu diskutieren. Obwohl Dominic vollkommen recht hat. Die Damen werden großzügig bezahlt und sind mehr als gewillt, den Handel einzugehen. Sie kennen den Lauf der Dinge.“

Annabell schnaubte verächtlich. „Als ob ihnen eine andere Wahl bliebe.“ Sie erhob sich ebenfalls. „Ich nehme an, ihr zwei wollt noch hierbleiben, um euren heiß geliebten Whisky zu trinken.“

Dominic hielt inne, und seine tiefblauen, beinahe schwarzen Augen funkelten.

„Was wir auch tun, du stellst uns als sündhaft dar, Bella. Offensichtlich willst du uns um jeden Preis schlechtmachen.“

„Ich bringe lediglich Tatsachen zur Sprache.“

Er grinste. „Du kannst uns nicht als unzivilisiert tadeln. Wir werden keinen Portwein trinken, bis wir unter den Tisch …“

„Nein“, unterbrach sie ihn, „ihr haltet euch an stillosen schottischen Whisky.“

„Du hingegen bereist ohne männliche Begleitung alle bekannten und unbekannten Erdteile. Oftmals ist nicht einmal eine Zofe dabei. Das ist natürlich ein tadelloses Betragen!“

Sie musterte ihn scharf. „Keiner meiner männlichen Verwandten ist gewillt, mich zu begleiten. Daher bleibt mir nichts anderes übrig, als allein zu reisen.“

„Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch an die Orte zu reisen, die du normalerweise aufsuchst, Bella. Ein Zelt bei glühender Hitze und jede Menge Sand ringsherum entsprechen nicht meinen Vorstellungen. Ich weiß ein gewisses Maß an Bequemlichkeit zu schätzen.“

„Dann darfst du dich auch nicht über mein Handeln beschweren.“

Sie wandte sich ab und schritt zielstrebig auf die Tür zu, bevor einer der Männer noch etwas erwidern konnte. Guy tauschte einen vielsagenden Blick mit seinem jüngeren Bruder aus. Beide schüttelten den Kopf.

„Sie ist ein verwitweter Blaustrumpf und froh darüber“, bemerkte Guy. „Ich vermute, wir können uns auf einen flammenden Vortrag über die Gleichberechtigung von Frauen einstellen. Und dabei hat die Tatsache, dass sie eine Frau ist, sie noch nie davon abgehalten, ausschließlich das zu tun, was ihr gefällt.“

„Zumindest nicht seit Fenwick-Clyde den Löffel abgegeben hat.“

Sie folgten ihrer Schwester in die Bibliothek, wo Guy auf einen Serviertisch aus Walnussholz zusteuerte und zwei Gläser mit schottischem Whisky füllte. Er reichte Dominic eines der Gläser, leerte das andere ohne abzusetzen und schenkte sich nach. Dann erhob er das Glas. „Auf die Zukunft!“ Er trank den Inhalt in einem Zug.

Dominic tat es ihm gleich. „Auf Wein, Weib und Gesang oder etwas in dieser Art!“

Annabell verzog das Gesicht.

Ein leises Klopfen an der Tür ging dem Eintreten des Butlers voraus, der ein Tablett mit Tee hereintrug, das er auf einem Tischchen in der Nähe der Fensterfront abstellte. Annabell schenkte Oswald ein Lächeln und dankte ihm. Der Butler, von kleiner und rundlicher, aber untadelig gepflegter Gestalt, lächelte freundlich zurück.

„Möchte einer von euch beiden vielleicht etwas Tee?“, erkundigte sie sich herausfordernd, obgleich sie die Antwort längst kannte. Es gehörte zu ihren wirksamsten Ritualen, um die beiden aufzuziehen.

Die Brüder schauten sie entsetzt an. Guy ergriff die Karaffe und schenkte Dominic und sich großzügig Whisky nach. Dann schlenderte er zu einem der Lehnstühle, die im Halbkreis vor dem großen Fenster gruppiert waren, das den Blick auf den Grosvenor Square freigab. Neben der Sitzgruppe stand das Tischchen mit dem Teetablett. Gerade fuhr ein modischer Phaeton vorbei, der von einem noch modischeren Dandy gelenkt wurde. Einige junge Damen, denen Diener mit Paketen folgten, flanierten auf dem Gehweg. Die Saison war in vollem Gange. Guy nahm Platz und streckte die Beine aus.

„Wie ich euch bereits mitzuteilen versuchte, bin ich verlobt.“

„Mit wem?“, unterbrach ihn Annabell. Sie saß hinter dem Tischchen mit Tee, ihrem Bruder schräg gegenüber.

„Mit Miss Emily Duckworth.“

„Nein, das ist nicht dein Ernst, Guy“, sagte Annabell. „Sie passt überhaupt nicht zu dir.“

„Niemals!“, ereiferte sich Dominic und begann aufgebracht im Zimmer herumzulaufen. „Mit ihr wirst du ganz sicher keine Freude haben.“

„Ihr irrt euch beide“, erwiderte Guy langsam. „Die Dame ist sich des Geschäfts, das wir eingehen, vollkommen bewusst und mehr als gewillt, ihre Pflicht zu erfüllen. Ich benötige einen Erben, und sie will einen Ehemann.“

„Das klingt kalt, Guy“, bemerkte Annabell. „Du bist eiskalt wie ein … wie ein …“

„Lass mich dir helfen“, fiel Dominic ihr ins Wort. „Kalt wie ein Fisch, der …“

„Herzlichen Dank“, unterbrach ihn Annabell, bevor er seinen Vergleich beenden konnte.

„Ihr seid beide im Irrtum“, erklärte Guy und schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit in seinem Kristallglas. „Ich handele pragmatisch. Ich brauche einen Erben. Miss Duckworth wird ihn mir geben. Sie benötigt einen Ehemann, der sie beschützt und der ihr den nötigen Wohlstand und Pomp bietet, um in der Gesellschaft Furore zu machen. Sie kann zwar auf einen tadellosen Stammbaum zurückblicken, aber ihr Bruder setzt das Werk seines Vater fleißig fort und verspielt das verbliebene Vermögen der Familie am Kartentisch.“ Er trank sein Glas aus. „Ich möchte nicht geschmacklos erscheinen, aber ich bin reich wie Krösus. Kurz und gut, wir passen hervorragend zueinander.“

Annabell murmelte etwas Undamenhaftes. „Kalt wie Sibirien.“

Dominic lachte auf, aber es klang eher bitter als belustigt. „Da sind wir wieder beim Thema. Frauen heiraten nur, wenn es zu ihrem Vorteil ist. Ich bevorzuge die Damen der Nacht. Die sind wenigstens ehrlich bei ihren Geschäften.“

„Du hörst dich abgestumpft an, Dominic“, sagte Guy und stellte sein leeres Glas ab.

„Und was bist du?“, wollte Annabell wissen. „Frohgemut und strahlend blickst du deiner Hochzeit entgegen?“

„Weder noch“, erwiderte Guy, dem das Gespräch allmählich auf die Nerven ging. „Wie ich bereits erwähnte, handelt es sich um ein pragmatisches Abkommen und um nichts mehr.“

„Es könnte schlimmer sein“, bemerkte Dominic. „Wenn es eine Liebesheirat wäre wie deine erste Ehe.“ Er ging quer durch das Zimmer zum Tisch mit dem Whisky und füllte erneut sein Glas, wodurch ihm der finstere Blick entging, den sein Bruder ihm zuwarf. „Möchtest du auch noch etwas?“, erkundigte er sich.

„Bring einfach die Karaffe her“, antwortete Guy.

„Aha“, sagte Annabell leise, der nicht entgangen war, dass Dominics Bemerkung ihrem Zwillingsbruder zusetzte. „Du tust es also, weil Suzanne bei der Geburt gestorben ist und mit ihr das Baby. Du willst nicht noch einmal riskieren, Gefühle mit ins Spiel zu bringen.“

„Das ist zehn Jahre her“, erwiderte Guy mit ausdrucksloser Stimme. „Darüber bin ich hinweg. Aber mittlerweile bin ich dreiunddreißig Jahre alt. Ich benötige einen Erben.“ Er sah seine Geschwister mit leicht zusammengekniffenen Augen an. „Außer einer von euch beiden beabsichtigt, mich mit einem Erben auszustatten, da der Titel auch auf Dominic und dann auf dich übergehen kann, Bella.“

„Mich brauchst du nicht anzuschauen“, sagte Dominic. „Ich benötige keinen Erben, also muss ich auch nicht heiraten – weder aus Zweckmäßigkeit noch aus Liebe.“

„Und ich kann nicht einspringen, solange ein männlicher Erbe existiert, also mach dich nicht lächerlich“, erklärte Annabell in scharfem Tonfall.

„Ich dachte mir schon, dass ihr so reagiert. Und eben deshalb bleibt mir nichts anderes übrig, als bald zu heiraten“, murmelte Guy.

„Auf deine Hochzeit!“ Dominic hob sein Glas und begann wieder, auf und ab zu schreiten.

Genervt schaute Guy zur Decke. „Könntest du bitte endlich aufhören, herumzurennen und eine solche Unruhe zu verursachen?“

Annabell lächelte. „Er konnte noch nie gut still sitzen, nicht einmal als kleines Kind, als man ihm Kuchen zur Belohnung versprochen hat. Du kannst nicht von ihm erwarten, dass er sich inzwischen geändert hat, Guy.“ Und sie fügte hinzu: „Insbesondere, wenn man in Betracht zieht, was du uns gerade erzählt hast.“

Dominic blieb für einen Moment stehen und lächelte. „Ausnahmsweise hat sie recht.“

Guy zuckte mit den Schultern und wandte seine Aufmerksamkeit dem Gemälde zu, das über dem Kamin hing und die drei Geschwister zeigte. Es war gemalt worden, als er und Bella zwanzig Jahre alt waren und Dominic sechzehn. Das war noch vor der Ehe mit Suzanne gewesen.

Suzanne war nach wie vor ein Thema, über das er nur schwer reden konnte. Es war eine Kinderfreundschaft gewesen, die schließlich in eine Ehe gemündet hatte. Er war glücklich mit ihr gewesen und hatte gedacht, dass er sie liebte. Dann war sie bei der Geburt seines Erben gestorben, und auch das Baby hatte nicht überlebt. Erst in den letzten Jahren war er allmählich mit seinen Schuldgefühlen zurechtgekommen. Wenn er sie nicht geschwängert hätte, würde sie noch leben. Aber so war nun einmal der Lauf der Welt.

Erneut füllte er sein Glas, ohne Dominic etwas anzubieten. Rasch leerte er es und schenkte sich wieder nach.

„Es ist sinnlos, sich zu betrinken, bis man alles vergisst“, bemerkte Annabell und nippte an ihrem Tee. „Magst du Miss Duckworth denn wenigstens?“

Guy lächelte. „Du warst schon immer eine Meisterin darin, das Thema zu wechseln. Was Miss Duckworth anbelangt, kenne ich sie nicht gut genug, um sie zu mögen oder nicht zu mögen.“ Für ihn war das so in Ordnung. Sie sollte ihm einen Sohn gebären, nichts weiter.

„Du gehst ein bisschen zu weit“, tadelte ihn Dominic. Er blieb endlich stehen und stellte sich neben seine Geschwister. „Ich würde auf keinen Fall eine Frau heiraten, die ich nicht wenigstens gern habe.“

„Einen Punkt für ihn, Guy“, pflichtete Annabell ihm leise bei.

„Für ihn mag das gelten“, erwiderte Guy. „Aber er ist ja auch nicht gezwungen zu heiraten. Er kann tun und lassen, was er will.“

Mit spöttischem Tonfall sagte Dominic: „Es ist wirklich hart, der Älteste zu sein. All der Reichtum, ganz zu schweigen vom Titel.“ Er hob eine Hand, um weitere Kommentare zu unterbinden, weil Annabell bereits den Mund öffnete. „Nicht dass ich den Titel haben möchte. Nein, wahrhaftig nicht. Ich habe genug Spaß an meiner Rolle als schwarzes Schaf der Familie.“

„Ist das der Grund, weshalb du nicht verheiratet bist?“, wollte Annabell wissen.

Dominics gebräuntes Gesicht verfinsterte sich. „Spotte nur, Bella. Ich habe nicht vor zu heiraten. Überdies würde mich auch keine anständige Frau haben wollen.“

Dominic war als Junge wild und ungestüm gewesen. Als Mann verhielt er sich lasterhaft und galt als überzeugter Freigeist.

„Ich denke, wir haben über alles gesprochen“, unterbrach Guy seine Geschwister. „Sollen wir uns jetzt nach Covent Garden aufmachen? Der Prinzregent lädt zu einem rauschenden Fest ein.“

Annabell schüttelte vehement den Kopf. „Nein, danke, ich komme ganz sicher nicht mit. Ich muss noch ein paar Dinge recherchieren, bevor wir die vollständige Ausgrabung der römischen Villa in Angriff nehmen können, die wir auf Sir Hugo Fitzsimmons Anwesen in Kent entdeckt haben.“

„Fitzsimmon?“, fragte Guy nach, und Besorgnis schwang in seiner Stimme mit. „Er ist ein noch schlimmerer Lebemann als Dominic. Gegen den bin ich ein Waisenknabe.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Er ist gerade mit Wellington in Paris. Ich werde ihn gar nicht zu Gesicht bekommen.“

„Das ist zu hoffen, Bella“, sagte Dominic. „Vor dem kann sich eine Frau nicht gut genug in Acht nehmen.“

„Ich werde ihm ja gar nicht begegnen“, erwiderte sie spitz. „Außerdem habe ich durch Fenwick-Clyde mehr als jede andere Frau über Ausschweifungen gelernt.“

Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ihre Ehe war arrangiert und unglücklich gewesen.

Guy bedauerte, was Bella widerfahren war. Doch zu diesem Zeitpunkt war er noch nicht Viscount gewesen, und ihre Eltern hatten an den Sinn von Vernunftehen geglaubt. Die ihre war ebenso zustande gekommen und ausgesprochen glücklich verlaufen. Beide waren kurz nach Annabells Hochzeit bei einem Bootsunfall ums Leben gekommen, weshalb sie das Unglück ihrer Tochter nicht mehr miterlebt hatten.

„Nun, ich habe jedenfalls vor, die Festivität zu besuchen“, erklärte Guy. „Euch beiden steht natürlich frei zu tun, was euch beliebt.“

„Versuchst du, das Leben noch so gut wie möglich auszukosten, bevor du vor den Traualtar trittst?“, zog Dominic ihn auf.

„Lass ihn in Ruhe“, sagte Annabell.

„Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss, Dominic“, erwiderte Guy. „Eines Tages wirst auch du das lernen.“ Er drehte sich wieder zu seinen Geschwistern um und lächelte grimmig. „Wünscht mir Glück.“

1. KAPITEL

Sechs Monate später …

Guy spornte seinen Wallach an. Der Wind blähte seinen Wintermantel auf, und eine Frostschicht legte sich auf seinen Bart, der wie ein modischer Fauxpas wirkte. Ihm war das gleichgültig. Schon vor langer Zeit hatte er beschlossen, zu tun, was ihm beliebte. Ob er sich einen Bart wachsen ließ, war allein seine Sache.

Das Wetter hatte ihn in der letzten Woche in The Folly festgehalten, ein Umstand, der ihn reizbar gemacht hatte. An diesem Morgen wollte er in die nächste Kleinstadt reiten, wo seine derzeitige Mätresse, eine hübsche Witwe, wohnte. Er gab ihr Geld, und sie gewährte ihm Befriedigung. Diese Übereinkunft kam ihm gelegen, und er beabsichtigte, ihre Begegnungen noch so ausgiebig wie möglich zu genießen. Sobald er im nächsten Frühling Miss Duckworth heiratete, würde er sich verpflichtet fühlen, die Affäre zu beenden. Er freute sich nicht auf diese Zeit. Die Witwe war in vielen Dingen sehr erfahren.

Er zügelte sein Pferd beim Überqueren einer kleinen Brücke, die über einen heftig rauschenden Bach führte.

Die Hufe des Pferdes gerieten auf dem Eis ins Rutschen. Pferd und Reiter schwankten. Schließlich gelangten sie heil über die Brücke und befanden sich auf erdigem Grund, der nur noch halb gefroren war und sich zunehmend in Matsch verwandelte.

Guy lehnte sich vor und tätschelte seinen Wallach am Hals. „Du bist ein guter Junge, Dante.“

Das prachtvolle Pferd wieherte und warf zustimmend den Kopf empor. Guy lachte.

In leichtem Galopp ritt er den Hügel hinab. Schneefall setzte ein. Unter ihm lag das weite Tal mit seiner Moorlandschaft. So weit das Auge reichte, ragte graugrüner Ginster aus der dünnen Schneedecke. Der Wind wehte ihm den warmen Schal vom Hals, den er um das Gesicht gewickelt hatte. Im letzten Moment bekam er das Wolltuch zu fassen.

Er hielt sein Pferd an und nahm den Schal fest in seine rechte Hand. Unterhalb des Hügels führte eine Straße entlang, auf der eine umgestürzte Kutsche lag. Aus dieser Entfernung sah es nicht so aus, als ob die Pferde sich verletzt hätten. Ein Mann, den Guy für den Kutscher hielt, ging mit den Pferden auf und ab, um zu verhindern, dass sie zu rasch auskühlten. Der Unfall musste eben erst passiert sein.

Guy trieb Dante an, bis sie auf gleicher Höhe mit der verunglückten Kutsche waren. Er sprang aus dem Sattel, und die Sohlen seiner Lederstiefel knirschten auf dem vereisten Boden. „Ist jemand verletzt?“

Der Kutscher warf Guy nur einen flüchtigen Blick zu und wies mit dem Kopf in Richtung eines vorstehenden Felsens. „Sie.“

Dort auf dem kalten Untergrund lag eine Frau. Ein schwarzer Umhang hüllte den ausgestreckten Körper ein. Sie hatte die Augen geschlossen und war leichenblass. Strähnen kastanienbraunen Haars fielen in ihr Gesicht. Ihre Lippen waren blau angelaufen.

Sofort eilte Guy zu ihr und hockte sich neben sie. Ihre Brust hob und senkte sich unter schnellen, wenn auch flachen Atemzügen, wie er erleichtert feststellte.

„Madam?“, fragte er besorgt.

Als sie nicht antwortete, ergriff er ihre rechte Hand. Ihre Finger fühlten sich selbst durch das schwarze Ziegenleder ihrer Handschuhe wie Eis an. Sie musste unbedingt an einen warmen Ort gebracht werden. Und zwar so rasch wie möglich.

„Wie lange liegt sie schon auf dem kalten Boden?“, erkundigte er sich, ohne ein Auge von ihr abzuwenden.

„Seit ich sie aus der Kutsche herausgezogen habe“, lautete die knappe Antwort.

Guy ärgerte sich über diese nichtssagende Auskunft. „Wie lange ist das her?“, fragte er in scharfem Tonfall.

„Dreißig, vielleicht auch sechzig Minuten. Das kann ich nicht so genau sagen.“

Guy schluckte eine vernichtende Erwiderung hinunter. Der Frau würde es nichts nützen, wenn er den Mann beschimpfte.

Er ließ die Hand der Frau los, fasste sie unter Rücken und Oberschenkeln und hob sie hoch. Sie sank gegen seine Brust. Die Kapuze ihres Umhangs rutschte nach hinten, und ihr gelöstes Haar fiel herab. Es war so lang, dass es beinahe den Boden berührte. Guy hielt sofort an, weil er nicht auf die seidigen Strähnen treten wollte.

Ihr Haar war prachtvoll. Das matte Wintersonnenlicht ließ die üppigen Locken aufleuchten wie Diamanten, die man gegen eine Scheibe aus Kupfer hielt. Das Gewicht der langen Haare zog ihren Kopf nach unten und gab den Blick auf ihren schlanken Hals frei. Ihr Puls ging schwach und rasch wie das Flügelschlagen eines kleinen Vogels. Sie wirkte zart und sinnlich zugleich.

Und sie war verletzt.

Guy holte tief Luft und blickte sich um. Nur The Folly lag in der Nähe. Seine Haushälterin würde sich besser um die Frau kümmern als der Apotheker in der Kleinstadt. Und der nächste Arzt befand sich mehrere Reitstunden entfernt in Newcastle.

Er pfiff, und sofort trabte Dante auf ihn zu. „Sie da!“, rief Guy den Kutscher, der endlich mit den Pferden zum Stillstand gekommen war. „Helfen Sie mir.“

Widerwillig näherte sich der Mann.

Guy legte ihm die Frau in die Arme. „Heben Sie sie zu mir hoch, sobald ich im Sattel sitze.“

Der Kutscher zögerte. „Wer sind Sie denn?“

Für Guy war es vollkommen ungewohnt, dass ihn jemand nach seiner Identität fragte. Während er schon ein Bein über den Sattel schwang, antwortete er: „Viscount Chillings.“

„Und woher soll ich wissen, ob das stimmt?“

Guy lächelte grimmig. „Ich sage es, also stimmt es. Außerdem bleibt Ihnen keine andere Wahl, als mir zu glauben. Sie kann hier unmöglich auf dem eisigen Boden liegen bleiben. Ich nehme sie mit zu mir nach Hause und schicke Ihnen einen Stallknecht zu Hilfe.“ Noch immer hob der Kutscher die Frau nicht hoch. „Sie können sich darauf verlassen“, versprach Guy leise und sah den Mann eindringlich an.

Der entschiedene Blick veranlasste den Kutscher endlich zu tun, wie ihm geheißen. Guy ergriff die Frau unter den Armen, wobei ihr Umhang ihn daran hinderte, sie gut zu fassen zu bekommen. Nach einigem Geschiebe lag sie schließlich sicher vor ihm, ihr Rücken lehnte gegen seine Brust, und er hielt sie mit den Armen umschlossen. Ihr prächtiges Haar hatte er mühsam unter ihrer Kapuze verstaut.

Er hielt Dante dazu an, nur langsam loszutraben. Das Letzte, was er oder die Frau brauchen konnten, war ein Sturz. Zum Glück lag The Folly nicht allzu weit entfernt. Jane – die Witwe – würde warten müssen, bis er die Verletzte gut untergebracht hatte.

Guy schaute zu der Frau hinunter. Nah an seiner Brust, sodass sein Körper sie vom Wind abschirmte, hatte ihr Gesicht wieder etwas Farbe angenommen. Ihre Wangen schimmerten in einem zarten Pfirsichton, was in einem auffälligen Kontrast zum kräftigen Kastanienbraun ihrer langen Wimpern stand, die ihre geschlossenen Augen umrahmten. Ihre vollen Lippen waren leicht geöffnet, was ihr ein entspanntes Aussehen verlieh.

Voller Unbehagen stellte er fest, dass er sie begehrenswert fand. Diese Empfindung ließ sich nicht logisch erklären. Die Fremde löste einfach pures Verlangen in ihm aus. Auf diese Weise hatte er noch nie auf eine Frau reagiert – auf keine, der er je begegnet war.

Es muss daran liegen, dass ich dem Besuch bei Jane entgegengesehen habe, sagte er sich. Er hatte seine Mätresse lange nicht aufsuchen können, weshalb sein Körper vermutlich ungewöhnlich heftig reagierte. Normalerweise legte er Wert darauf, sich nicht von seinen Begierden mitreißen zu lassen. Eine Frau erregend zu finden, die er nicht einmal kannte und die schlaff in seinen Armen lag, war gewiss eine vorübergehende Anwandlung.

Und dennoch hatte ihr Lavendelduft, der ihm ab und an in die Nase stieg, eine ausgesprochen betörende Wirkung auf ihn. Sie bewegte sich kurz, und er dachte, sie würde aufwachen, doch ihre Augen blieben fest geschlossen.

Sie kamen nur langsam voran, was Guy genügend Gelegenheit zum Nachdenken bot. Wer war sie? Was ließ sich aus der Qualität ihrer Kleidung ablesen? Warum reiste sie ohne Begleitung? Nun, er würde es früh genug erfahren, sobald sie aufwachte. Während der langen und qualvollen Stunden, in denen Suzanne in den Wehen gelegen und er sehnsüchtig auf seinen Erben gewartet hatte, hatte er gelernt, dass Geduld eine besondere Tugend ist. Dann war seine Frau gestorben und hatte den Sohn mit sich genommen. Von diesem Tag an hatte er auf nichts mehr gewartet. Entweder etwas war sofort für ihn greifbar, oder er war weitergezogen.

Als The Folly in Sichtweite kam, erwachte er aus seinen Gedanken. Ohne dass es einer weiteren Führung bedurfte, steuerte Dante auf die Rotunde vor dem Portal zu und hielt, als sie die Stufen erreicht hatten.

Wie es sich für einen erstklassigen Butler gehörte, stand Oswald bereits am Fuß der Marmortreppe, bevor Guy dazu kam, ihn zu rufen.

„Mylord, lassen Sie mich helfen.“

Der Butler streckte die Arme nach der bewusstlosen Frau aus, und Guy übergab sie ihm vorsichtig. Die Kälte und der langsame Ritt hatten seine Muskeln steif werden lassen. Es war ein unbehagliches Gefühl.

„Bitten Sie Mrs. Drummond, nach ihr zu sehen.“ Er lenkte Dante in die andere Richtung und ritt zu den Stallungen, ohne sich noch einmal umzusehen. Er würde sicherstellen, dass die Frau versorgt war und dann, sofern sich das Wetter nicht verschlechterte, erneut in Richtung Stadt reiten und zu Ende bringen, was er ursprünglich vorgehabt hatte.

Guy betrat das Vestibül und schüttelte den Schnee von seinen Stiefeln, der sich auf den schwarz-weißen Marmorfliesen in bräunliche Pfützen verwandelte.

„Tststs, Mylord. Sie achten doch sonst immer so sehr darauf, dass in The Folly alles perfekt ist, und das Schmutzwasser hat hier fraglos nichts zu suchen“, tadelte ihn eine ältere Frau.

Schon gereizt durch die ganze Situation, drehte sich Guy zu der Sprecherin um. „Mrs. Drummond, Sie sind eine langjährige Bedienstete, nichtsdestotrotz sollten Sie sich nicht zu viel herausnehmen.“

Sie richtete sich zu voller Größe auf. Ihre imposante Gestalt erinnerte an die Zeus-Gattin Hera, das grau melierte Haar war zu einem strengen Knoten zusammengebunden, und sie vibrierte förmlich vor Tatendrang. In ihrer Jugend war sie Guys Kindermädchen gewesen.

„Jawohl, Mylord.“ Sie machte einen tiefen Knicks.

Guy seufzte und strich sich über den Bart. „Mrs. Drummond“, sagte er wieder in jenem nachsichtigen Umgangston, den er normalerweise mit ihr pflegte, „glücklicherweise ist immer ein Platz in meinem Herzen für Sie frei.“

Sie schenkte ihm jenes fürsorgliche Lächeln, das sie ihm geschenkt hatte, seit er sich erinnern konnte. „Ja, Mylord, und Sie haben einen in meinem. Aber jetzt geht es um die junge Dame.“

„Was gibt es da zu besprechen? Sie wird hierbleiben müssen, bis sie in der Lage ist, weiterzureisen.“

Es war nicht die Antwort, die er geben wollte, aber es gab keine Alternative. Schließlich konnte er sie nicht einfach vor die Tür setzen. Dass sie ihn selbst im bewusstlosen Zustand erregte, verhieß zwar nichts Gutes, aber er würde sich schon zurückhalten.

„Das dachte ich mir bereits.“ Die Haushälterin musterte den Mann, der einst mit jedem Wehwehchen zu ihr gelaufen war. „Ich werde wohl als Anstandsdame taugen, denke ich. Zumindest, solange niemand erfährt, dass sie sich hier aufhält.“

Seine Miene verfinsterte sich. Ihn hatte seine Reaktion auf die fremde Frau derartig beschäftigt, dass er die üblichen Schicklichkeitsregeln ganz außer Acht gelassen hatte. Eine Frau von Stand zu kompromittieren, war das Letzte, was ihm in den Sinn kam, und genau für eine solche Frau hielt er den unwillkommenen Gast.

Er hatte sich darauf festgelegt, im Mai des kommenden Jahres eine Vernunftehe mit Miss Duckworth einzugehen. Dringender denn je benötigte er einen Erben, da es bei Dominic keinerlei Anzeichen gab, dass er jemals heiraten würde. Keinesfalls beabsichtigte er, irgendeine fremde Frau, von der er nicht einmal den Namen kannte, heiraten zu müssen, nur weil die Regeln des Anstands verletzt worden waren.

„Sie wird wahrscheinlich nicht lange hierbleiben. Sie scheint keine schweren Verletzungen erlitten zu haben“, bemerkte er. „Sollte es sich anders verhalten, werden wir um der Fassade willen jemanden an Ihre Seite stellen müssen.“

„Sie wird auf jeden Fall so lange hierbleiben wie nötig“, erklärte Mrs. Drummond mit Entschiedenheit. „Sie hat eine Kopfverletzung. Die Beule am Hinterkopf ist fast so groß wie ein Hühnerei. Das erklärt wahrscheinlich auch, weshalb sie noch immer nicht zu Bewusstsein gekommen ist.“ Mrs. Drummond schüttelte den Kopf. „Erinnern Sie sich noch, als Miss Annabell vom Baum gefallen ist und einen ganzen Tag lang nicht aufwachte? Ich bin fast gestorben vor Sorge.“

Guy erinnerte sich gut daran. Es war das Ergebnis eines typischen Abenteuers seiner Schwester gewesen. Bella war als Kind ein Teufelsbraten gewesen, und noch immer verhielt sie sich ungezwungener, als schicklich war.

Aber Bella war seine Schwester, und der Sturz vom Baum lag viele Jahre zurück. Er wollte die fremde Frau auf keinen Fall mehr als ein paar Stunden oder höchstens Tage unter seinem Dach beherbergen.

„Denken Sie, dass sie bald wieder aufwacht?“

Mrs. Drummond zuckte mit den Schultern. „Das wird sich herausstellen. Werden Sie persönlich nach ihr sehen?“

Seinem ungebetenen Gast nochmals näherzukommen, erschien ihm ebenso riskant, wie die Hand in einen Korb mit Giftschlangen zu stecken. Trotzdem war es seine Pflicht, sicherzustellen, dass sie gut versorgt war. Er vertraute seinen Bediensteten, doch letztlich trug er die Verantwortung.

„Später“, gab er zur Antwort und ärgerte sich über sein plötzliches Interesse an ihrem Wohlergehen. „Kümmern Sie sich erst einmal um alles Notwendige.“

Schon jetzt bereitete ihm diese Frau nur Scherereien. Sie hatte ihn davon abgehalten, Jane aufzusuchen, und bis zu ihrer Abreise würde sie eine Belastung darstellen. Zur Hölle mit ihr, wenn ich wegen ihrer Gegenwart meine Verlobung mit Miss Duckworth aufs Spiel setze!

Stunden später betrat Guy das Sylphiden-Zimmer, in dem sein ungebetener Gast schlief. Aquamarin- und rubinfarbene Schattierungen belebten das Grün und Dunkelblau des Zimmers und verliehen ihm das Aussehen einer Unterwasserhöhle. Die Möbel aus Mahagoni und Rosenholz wirkten darin wie elegante tropische Fische. Hauchdünne Gazevorhänge in changierenden Blau- und Grüntönen umrahmten das hohe Himmelbett, auf dem die Frau lag.

Im Lichtschein des Kaminfeuers entdeckte er ein junges Dienstmädchen, das in einer Ecke saß und einen Strumpf stopfte. „Du kannst jetzt gehen, Mary“, wies er sie an.

Sie sprang eilig auf und knickste ruckartig. „Jawohl, Mylord. Verzeihen Sie, ich habe Sie nicht bemerkt, Mylord.“ Noch während sie sprach, huschte sie zur Tür.

Guy lächelte. Mary war noch keine zwei Wochen hier. Bald würde sie erkennen, dass keiner der Bediensteten ihn fürchtete. Sie respektierten ihn, und er behandelte sie respektvoll. Seine Eltern hatten ihn gelehrt, dass die Vorteile, die aus der aristokratischen Abstammung resultierten, mit Pflichten und Verantwortlichkeiten einhergingen.

Er durchquerte das Zimmer, um den zurückgelassenen Kerzenleuchter des Dienstmädchens an sich zu nehmen, bevor er an das Bett trat. Das Gesicht der Frau wirkte weiß wie der Frost, der die Fenster mit Eisblumen bekränzte. Ihre leicht durchscheinende Haut bedeckte edel geformte Wangenknochen und ein zartes Kinn. Ihre geschlossenen Augen, die weit auseinander standen, zierten lange geschwungene Wimpern, und hohe Brauen wölbten sich auf ihrer Stirn. Die vollen Lippen hatte er bereits auf dem Ritt nach The Folly bewundert. Doch es war ihr Haar, das ihn ganz in den Bann zog. Das Verlangen, die seidigen Locken zu berühren, die ihren Kopf in einem herrlichen Durcheinander umgaben, und mit den Fingern hindurchzufahren, war beinahe übermächtig.

Jäh trat er einen Schritt zurück. Er durfte diese Frau nicht anrühren. Sie war allein und stand unter seinem Schutz. Außerdem war sie eine Frau, die er würde heiraten müssen, wenn er sie kompromittierte. Beide Argumente mussten ausreichen, um ihn auf Distanz zu halten.

Zum Teufel mit ihren Haaren!

Er holte tief Luft und betrachtete das, was noch von ihr zu sehen war. Die Decke war bis hoch über ihre Brüste gezogen, und ihr Körper war eng darin eingewickelt. Mrs. Drummond hatte ein hochgeschlossenes Nachtgewand gefunden, das komplett zugeknöpft war und den eleganten schlanken Hals der Frau verdeckte, den er während des Ritts betrachtet hatte.

Das Lavendelaroma war jetzt noch intensiver. Dufteten ihre Haare danach oder die Kleidungsstücke, die Mrs Drummond ihr angezogen hatte? Wahrscheinlich verströmten beide den Wohlgeruch.

Plötzlich bewegte sie sich stöhnend und hob die Lider. Wie gebannt blickte er in haselnussbraune Augen, deren Iris einen goldenen Rand hatten. Erneut wich er einen Schritt zurück.

Sie öffnete den Mund, und für einen Moment war ihre Zunge zu sehen. Der Anblick erregte ihn, und er stieß einen leisen Fluch aus.

„Wer sind Sie?“ Seine Frage klang unfreundlicher, als er beabsichtigt hatte.

Sie blinzelte. „Ich …“ Sie schloss die Augen und atmete tief ein. „Könnte ich bitte etwas Wasser haben?“

Verlegen griff er nach dem Krug auf dem Nachttisch und füllte Wasser in ein Glas. „Selbstverständlich.“ Er reichte es ihr. „Können Sie alleine trinken?“

Die Eindringlichkeit, mit der sie ihn ansah, verstörte ihn.

„Ich denke schon. Vielen Dank.“

Sie richtete sich im Bett auf und ergriff das Glas. Dabei berührten ihre Finger, die lang und schlank waren, ganz kurz seine Hände. Ihr rechter Arm zitterte. Schweigend führte sie die Flüssigkeit an die Lippen und trank, bis das Glas leer war. Er nahm es ihr wieder ab, bevor sie zurück in die Kissen sank.

„Vielen Dank“, murmelte sie. Ihre Stimme klang leise und kraftlos.

„Gern geschehen“, erwiderte er höflich und stellte das Trinkgefäß beiseite. Ohne sie um Erlaubnis zu bitten, schob er einen niedrigen Stuhl an das Bett und nahm Platz, sodass sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden. „Also, wer sind Sie?“

Sie wurde noch blasser und starrte ihn eine Weile an, bevor sie sich leicht drehte und in Richtung des Kaminfeuers schaute. Allmählich verlor Guy die Geduld, aber er wartete ab, bis sie sich ihm wieder zuwandte.

„Ich …“ Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich weiß … kann nicht …“ Sie sah ihn aus großen Augen an, die mit einem Mal trübe wirkten. „Ich weiß es nicht.“ Ihre Stimme wurde immer leiser, sodass er sie nur noch mit Mühe verstand. „Ich weiß nicht, wer ich bin.“

Seine Miene verfinsterte sich. „Das kommt von der Kopfverletzung.“ Als sie ihn verwirrt anstarrte, wiederholte er: „Sie haben eine Kopfverletzung erlitten. Deshalb haben Sie wahrscheinlich vergessen, wer Sie sind. Meiner Schwester ist das auch einmal passiert. Ihr Erinnerungsvermögen hat am nächsten Tag wieder eingesetzt.“

Sie öffnete ihren Mund, als ob ihre Lippen einen kleinen Kreis formen wollten, sagte jedoch nichts. Es schien, als wäre ihr Sprachvermögen ebenso abhandengekommen wie ihr Gedächtnis.

Ohne lange nachzudenken, ergriff er ihre rechte Hand und hielt sie zwischen seinen Handflächen. Er bereute diese spontane Geste, als er spürte, dass ein heißer Strom seine Arme durchzuckte. Dennoch ließ er sie nicht los.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird nicht lange andauern.“

Er lächelte, obwohl er ebenso verärgert wie beunruhigt war. Nichts hätte ihm mehr in die Quere kommen können als eine Dame von Stand in seinem Haus, die ihr Gedächtnis verloren hatte und von der er sich überdies auf unerklärliche Weise angezogen fühlte – um seine Reaktion auf sie gelinde auszudrücken. Dennoch blieb ihm keine andere Wahl. Schließlich konnte er sie nicht fortschicken, solange niemand wusste, wo sie hingehörte. Und es konnte ebenso gut Minuten wie Wochen dauern, bis sie sich wieder erinnerte.

Sie erwiderte sein Lächeln nicht. Apathisch ließ sie ihre Hand zwischen seinen Fingern liegen, als ob der Verlust der Erinnerung sie nicht nur sprachlos, sondern ganz und gar empfindungslos gemacht hätte.

„Es wird alles wieder gut“, versuchte er sie zu trösten. „So etwas kann passieren.“

Sie schloss die Augen, und er hatte den Eindruck, dass sie weinte. Tränen rannen wie kleine Kristalle aus ihren Augenwinkeln. Er zögerte.

Suzanne hatte nicht viel geweint, aber wenn, dann hatte sie sich gewünscht, dass er sie festhielt und sie einfach weinen ließ. Es war schmerzhaft für ihn, sich jetzt und unter diesen Umständen daran zu erinnern. Er dachte nicht mehr so viel an Suzanne wie früher. Zehn Jahre waren mittlerweile ins Land gegangen und hatten seinen Kummer gemildert. Nichtsdestotrotz blieb die Erinnerung an den schrecklichen Verlust in ihm lebendig.

Endlich öffnete die Fremde wieder die Augen. „Vielen Dank“, sagte sie leise. „Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.“

Sie wirkte schwach und zerbrechlich. Obwohl er sie gern weiter befragt hätte, erkannte er, dass sie Ruhe benötigte. Er nahm sich vor, mit dem Kutscher zu sprechen, der den verunglückten Wagen gelenkt hatte. Vielleicht gelang es ihm, auf diese Weise mehr zu erfahren.

Guy ließ ihre Hand los und erhob sich. „Meine Haushälterin wird nach Ihnen sehen. Sie müssen sich gut ausruhen. Tiefer Schlaf ist das Beste, um zu Kräften zu kommen. Und wahrscheinlich ist Ihr Gedächtnis wieder da, wenn Sie aufwachen.“

Sie lächelte zaghaft. „So wie bei Ihrer Schwester“, sagte sie leise.

Er hatte noch nicht ganz die Tür erreicht, als Mrs Drummond eintrat. Sie warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu und wandte ihre Aufmerksamkeit der Verletzten zu.

„Sie Arme, Sie müssen fürchterliche Kopfschmerzen haben. Die Beule an Ihrem Hinterkopf ist riesig.“

Die Frau lächelte schwach, aber Erschöpfung stand ihr ins Gesicht geschrieben. „Es tut ein bisschen weh.“

Mrs Drummond schüttelte den Kopf. „Ich nehme mal an, Sie untertreiben gewaltig. Eine ordentliche Dosis Laudanum wird die Beschwerden lindern.“

Sogleich ließ sie ihren Worten Taten folgen und ergriff ein Fläschchen, das neben dem Wasserkrug stand. Sie öffnete den Verschluss, gab eine kleine Menge in das Glas und fügte Wasser hinzu. Nachdem sie das Präparat gemischt hatte, hielt sie der Frau das Trinkgefäß an die Lippen.

Guy verließ das Zimmer.

Bereitwillig trank sie die Opiumtinktur. Sie war nicht sicher, was schlimmer war, ihre Kopfschmerzen oder das schreckliche Gefühl der Leere. Die Haushälterin schaute sie mitfühlend an und nahm ihr das Glas aus den zitternden Händen.

„Sie werden sich besser fühlen, wenn die Wirkung einsetzt“, versprach Mrs Drummond freundlich.

Sie zwang sich, der älteren Frau ein Lächeln zu schenken. „Ich danke Ihnen.“

„Sie sollten jetzt am besten schlafen.“ Mrs Drummond blies die Kerze aus, die auf dem Nachttisch stand.

Sie beobachtete, wie die Haushälterin das Zimmer verließ. Ihr war klar, dass ihr das Laudanum Erleichterung verschaffen würde. Dennoch war ihre Lage hoffnungslos. Sie wusste nicht einmal mehr ihren eigenen Namen, und tiefe Verzweiflung stieg in ihr hoch.

Wer bin ich? Warum war ich alleine mit einer Kutsche unterwegs? Es kam ihr ungewöhnlich vor, dass Frauen ohne Begleitung reisten. Sie seufzte und schloss die Augen. Vielleicht war es gar nicht ungewöhnlich. Wenn sie sich nicht einmal daran erinnern konnte, wer sie war, wie konnte sie da wissen, was normal oder ungewöhnlich war?

Autor

Georgina Devon
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