Das Geheimnis der schönen Witwe

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Seine Liebe zu der blutjungen Witwe Seraphina stürzt Richard Durrant, Earl of Heywood, in einen qualvollen Zwiespalt: Folgt er seinem Herzen, muss er seine Königin verraten, in deren Auftrag er Seraphina ausspioniert. Dient er weiter seinem Land, stößt er die Frau ins Verderben, die er über alles begehrt …


  • Erscheinungstag 01.08.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765057
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Richard Durrant, Earl of Heywood, lag bewegungslos auf dem vermoderten Heuboden einer verlassenen Hütte und hoffte inständig, dass der von dem schimmligen Heu aufsteigende Staub ihn nicht etwa zum Niesen reizen würde. Durch ein Loch in den verrotteten Dielenbrettern starrte er in den unter ihm liegenden Raum.

Das einzige Licht darin kam von einer armseligen rauchenden Kerze auf dem wackligen Tisch. Vier Männer drängten sich um den Tisch, so als hofften sie, einen Hauch von Wärme von diesem kümmerlichen Unschlittstumpf erhaschen zu können. Ihre Gesichter, die so fahl waren wie die weißen Halskrausen, wirkten im Gegensatz zu den dunklen, mit den Schatten des finsteren Raumes verschwimmenden Reisemänteln totenbleich. Das verlieh ihren Köpfen einen irgendwie körperlosen Eindruck. Es sieht aus, als säßen sie schon gar nicht mehr auf ihren Schultern, dachte Heywood grimmig.

Seine braunen Augen verdunkelten sich, während er langsam von einem zum anderen der versammelten Männer blickte: Tregarrick, Wharton, Southwick und Malgreave. Noch vor einer Stunde hätte er geschworen, dass sie alle treugesinnte Engländer wären. Bei diesem Gedanken verzog Heywood den Mund zu einem bitteren Lächeln. Die letzten Jahre hätten ihn gelehrt haben müssen, dass religiöser Eifer, gewürzt mit Habgier und Angst, ein Gebräu war, das auch aus dem vernünftigsten Mann einen Narren machen konnte.

König Heinrich, der alte Tyrann, würde sich in seinem Grabe umdrehen, wenn er sehen könnte, wie seine Kinder England zugrunde gerichtet hatten mit dem ständigen Hin und Her in Glaubensfragen! Zuerst der dünkelhafte Protestant Edward, nun die frömmelnde papistische Mary, die ihre eigenen Landsleute verfolgen und auf dem Scheiterhaufen verbrennen ließ und Nachbar gegen Nachbar aufbrachte. Es war kein Wunder, dass die Wirtschaft des Landes darniederlag und die Armee sich nach dem Debakel von Calais nur noch als gedemütigter Trümmerhaufen präsentierte.

Ein Scharren aus einer der dunklen Ecken außerhalb des zuckenden Lichtkreises ließ die Männer um den Tisch zusammenfahren und nach ihren Degen greifen.

Heywood verzog spöttisch die Lippen. Bei Gott, sie würden bald genug mit diesem Geräusch vertraut werden. Der Tower wurde von Ratten geradezu heimgesucht. Die Erinnerung daran stand ihm noch deutlich vor Augen aus jener Zeit, die er dort mit Robin Dudley und Lady Elizabeth Tudor verbracht hatte.

„Das sind nur Ratten“, sagte Tregarrick voller Abscheu. „Der Teufel weiß, warum wir uns in dieser verlausten Pesthöhle treffen mussten. Wenn der Lichtstumpf noch einen Fingerbreit heruntergebrannt ist und sie ist immer noch nicht hier, mache ich mich wieder auf den Weg. Sie kann sich dann jemand anderes suchen, der ihr die Arbeit macht.“

Die anderen brachten halblaut ihre Zustimmung zum Ausdruck und schoben die bereits zur Hälfte gezogenen Degen in die Scheiden zurück. Über ihren Köpfen hielt Heywood den Atem an. Sie! Das war eine Möglichkeit, die weder er noch Cecil jemals in Betracht gezogen hatte … immer nur hatten sie nach der Identität eines Mannes geforscht. Er biss sich auf die Lippen. Eine Frau! Nun, wer wäre wohl besser geeignet, Zugang zu einer künftigen Königin zu finden? Aber wer mochte sie sein? Bei dem Gedanken, dass sie sich vielleicht bereits unter dem Gefolge von Elizabeth Tudor befand, krampften sich seine Finger um den Degenknauf. Er musste herausfinden, um wen es sich handelte, denn die Zeit schwand dahin, ebenso schnell wie das Leben von Mary Tudor.

„Wie geht es der Königin?“, fragte Malgreave, der jüngste der Männer.

„Sie liegt im Sterben. Daran gibt es jetzt keinen Zweifel mehr“, knurrte Tregarrick, und seine Worte schienen ein Echo auf Heywoods Gedanken zu sein. „Ich sah sie vergangene Woche und gebe ihr nicht einmal mehr Zeit bis zum Christfest.“

„Und sie scheint immer noch nicht geneigt zu sein, ihre Meinung über die Thronfolge zu ändern?“, erkundigte sich Wharton, ein stämmiger Mann mit plumpen Gesichtszügen.

Tregarrick schüttelte seinen von dichtem Grauhaar bedeckten Kopf. „Nein. Sie denkt nicht daran, Anne Boleyns Balg zu enterben, obwohl sie weiß, dass sie eine Ketzerin ist.“

„Warum nicht, zum Teufel?“, grollte Wharton. „Sie hat selbst Bischöfe um des wahren Glaubens willen auf den Scheiterhaufen geschickt, und hier lässt sie sich diese Möglichkeit entgehen. Ich verstehe nicht, was in den Köpfen von Weibern vor sich geht!“

„Sie ist zuallererst eine Tudor und erst in zweiter Linie Katholikin. Letzten Endes wird sie die Interessen des Staates immer über ihr eigenes Gewissen stellen“, erwiderte Tregarrick kurz. „Sie fürchtet, dass die Krönung von Mary Stuart einen Bürgerkrieg auslösen könnte, und glaubt, dass die Engländer nicht hinter einer schottischen Königin, noch dazu mit einem französischen Königssohn als Gemahl, stehen würden.“

„Vielleicht hat sie tatsächlich recht …“, entgegnete Malgreave unsicher. „Elizabeth mag vor dem Gesetz ein Bastard sein. Doch niemand wird in Abrede stellen, dass sie Heinrichs Tochter ist. Könnten wir nicht mit ihr handelseins werden und ihr unsere Unterstützung anbieten als Gegenleistung für die Garantie, dass wir dem von uns erwählten Glauben anhängen dürfen ohne Angst vor Repressalien und Verfolgung?“

„Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht“, seufzte Tregarrick. „Es müsste doch noch einen anderen Weg geben.“

„Beim Himmel! Ihr redet, als wäret Ihr noch nicht trocken hinter den Ohren!“, fuhr Wharton auf. „Und was ist mit Euern Familien? Malgreaves Gemahlin ist doch eine Verwandte von Bischof Bonner, oder etwa nicht? Und die Eure, Tregarrick, war sie etwa nicht unter denjenigen, die ein wachsames Auge auf Elizabeth haben sollten, während man sie in Woodville festhielt?“ Er schüttelte den Kopf und lachte verächtlich. „Der einzige Handel, auf den Elizabeth Tudor mit Euch eingehen würde, wäre der um Eure Köpfe! Glaubt Ihr wirklich, dass die ketzerische Tochter von Henry Tudor und Anne Boleyn ihr Wort halten würde? Eure Familien und Eure Besitztümer wären die ersten, die ihre Krallen zu spüren bekämen!“

„Ihr … Ihr mögt wohl recht haben“, stammelte Malgreave. „Aber manchmal denke ich, ich würde lieber mein Hab und Gut einbüßen als erleben zu müssen, dass England von Franzosen regiert wird.“

„Und noch lieber Eure Gemahlin verlieren!“, herrschte Wharton ihn an. „Eine Verwandte von Bonner wird sehr schnell einen Kopf kürzer sein, wenn die Protestanten an die Macht kommen! Wenn ich gewusst hätte, dass ich von Narren umgeben bin, hätte ich mich aus dieser Angelegenheit herausgehalten und meine Klinge allein gegen die ketzerische Dirne gezogen!“

„Ihr heißt mich einen Narren, Sir?“ Bei diesen Worten fuhr Tregarricks Hand zum Degengriff.

„Mylords, bewahrt Ruhe!“ Zum ersten Mal mischte sich Southwick, der Priester, in das Gespräch. „Um des Glaubens willen lasst ab von Euern Streitigkeiten und Zweifeln. Es ist Gottes Auftrag, den wir hier erfüllen. Seid dessen eingedenk, und wir werden nicht fehlgehen.“

Ein zustimmendes Murmeln ging durch die kleine Versammlung, und nur Malgreave senkte den Blick zu Boden und hing seinen eigenen Gedanken nach.

Heywood lächelte, als sein Blick auf den jungen Mann fiel. Ein schwaches Glied in der Kette … es war genau das, was ihnen zupass kam. Man brauchte Malgreave nur ein bisschen gut zuzureden, und er würde sich als sehr hilfreich erweisen. Doch sein Lächeln erstarb, als er ein Kratzen von Metall an der Tür vernahm. Der Riegel wurde zurückgeschoben … sie war da. Mit derselben Eindringlichkeit wie die Männer unter ihm starrte Heywood auf den kaum erkennbaren Umriss einer Gestalt in der geöffneten Tür. Jetzt würde er den Namen erfahren, den Cecil so dringend benötigte … den Namen der Verbindungsperson zu Frankreich.

Atemlos lauschte er dem Kreischen der rostigen Angeln, als die Tür langsam wieder geschlossen wurde. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er gegen den etwas helleren Nachthimmel die undeutliche Silhouette einer in einen Umhang gehüllten Person wahrgenommen. Dann verlosch die Kerze durch den plötzlichen Luftzug und tauchte den Raum in tiefschwarze Dunkelheit.

Mit überwachen Sinnen nahm Heywood das knisternde Rascheln seidener Unterröcke wahr, den zarten Hauch eines kostbaren Parfums, dessen Duft von Moschus und Gewürzen sich über den Geruch heißen Unschlitts legte. Die Sekunden schienen sich zu Stunden auszuweiten, während Tregarrick leise fluchend mit Feuerstein und Zunder hantierte. Los doch! beschwor der Lauscher ungeduldig und unterdrückte eine Verwünschung, als die Kerze endlich wieder den Raum erhellte. Von der unbekannten Frau war nicht mehr zu erkennen als zuvor in der Dunkelheit.

Sie war in einen schwarzen Umhang und einen dichten schwarzen Schleier gehüllt, der von ihrem Gesicht nicht mehr wahrnehmen ließ als einen blassen Schimmer hinter dem dunklen Flor.

„Ihr habt Euch verspätet“, sagte Tregarrick kurz.

„Ich musste mich versichern, dass mir niemand folgt“, erwiderte die Frau scharf und ohne den leisesten Anklang einer Entschuldigung. „Ihr solltet mir für meine Vorsicht dankbar sein, Mylords.“

Die Stimme war kühl und jung, mit einem leichten westlichen Tonfall. Sie muss aus Somersetshire kommen oder aus Wiltshire, dachte Heywood und ging in Gedanken die adligen Familien aus dieser Gegend durch.

„Ich wäre noch dankbarer, wenn wir jetzt zu unseren Geschäften kommen könnten, damit wir so schnell wie möglich diese Fieberhöhle wieder verlassen können“, gab Tregarrick barsch zurück. „Habt Ihr Anweisungen aus Frankreich erhalten? Wann sollen wir zur Tat schreiten?“

„Geduld, Mylord“, wies ihn die Fremde zurecht. „Wir handeln nicht, bevor die Königin tot ist. In Frankreich hofft man noch darauf, dass sie ihren Sinn ändern und die schottische Königin zu ihrer rechtmäßigen Nachfolgerin machen wird. Wenn sich diese Hoffnung jedoch nicht erfüllt, werde ich dafür sorgen, dass Anne Boleyns Bastard Gift verabreicht wird, noch ehe man ihr die Krone aufs Haupt setzen kann. Eure Aufgabe, Mylords, ist, dafür Sorge zu tragen, dass es keinen Widerstand gibt, wenn Maria Stuart in England an Land geht. Sie besteht darauf, dass ein protestantischer Aufstand unter allen Umständen ausgeschlossen wird. Tregarrick muss außerdem sicherstellen, dass Lady Katherine Grey strengstens bewacht wird, damit sie nicht in Versuchung gerät, dem Beispiel ihrer Schwester Jane zu folgen und eine Neuntagekönigin zu werden. Alle weiteren Einzelheiten findet Ihr hier.“ Mit diesen Worten zog sie einen kleinen Lederbeutel unter ihrem Umhang hervor. Sie streifte ihre Handschuhe ab und öffnete ihn.

Der Earl starrte auf ihre schmalen Hände, die im Schein der Kerze wie fahles Gold schimmerten. An den Fingern befand sich nur ein einziger Ring, doch dieser war von besonderer Eigentümlichkeit, bestand er doch aus einem gewundenen Drachen, geformt aus funkelnden Steinen, entweder Rubinen oder Smaragden – in dem unsicheren Licht war das nicht genau auszumachen. Ein gewundener Drache … Heywood runzelte die Stirn, während er versuchte, sich daran zu erinnern, wo er einen solchen Ring schon einmal gesehen hatte.

„Hier sind für jeden von Euch Instruktionen“, sagte die Frau, entnahm dem Beutel vier Pergamentstreifen und händigte sie den Männern aus. „Lest es jetzt und gebt es mir zurück.“

Die Männer beugten sich näher zur Kerze und lasen schweigend.

„Gibt es noch irgendetwas, das Ihr zu wissen wünscht?“, fragte die Unbekannte, als sie die Pergamentstreifen wieder in Empfang nahm. Tregarrick und Southwark schüttelten die Köpfe.

„Ihr solltet aber wissen, dass Malgreave Zweifel gekommen sind“, knurrte Wharton. „Mich dünkt, er würde unseren Kreis gern wieder verlassen.“

„Das kann ich nicht glauben.“ Diese Worte wurden von einem leisen Lachen begleitet. „Er weiß doch, dass ihn von seinem Schwur nur der Tod lösen kann, nicht wahr, Sir John?“

Die Stimme war sanft, beinahe honigsüß. Dennoch war die Drohung unmissverständlich.

Heywood tastete nach seinem Dolch im Gürtel. Cecil mochte noch so sehr auf Verschwiegenheit bestehen, doch er selbst konnte nicht dabeistehen und zusehen, wenn ein Mord geschah.

„Natürlich weiß er das“, nahm Tregarrick das Wort für Malgreave, der nicht in der Lage zu sein schien, eine Antwort zu geben. „Und hinzu kommt, dass seine Gemahlin meine Tochter ist. Deshalb würde er mich niemals in Gefahr bringen. Ihr braucht also keine Angst zu haben, dass er plaudern wird – bei allen Zweifeln, die ihm gekommen sind, nicht wahr, John?“

Mit bleichem Gesicht schüttelte Malgreave wortlos den Kopf.

„Gut, dann lasst uns diese Angelegenheit als erledigt betrachten.“ Der Ton, in dem diese Worte gesprochen wurden, erlaubte keine weiteren Erörterungen.

Die vier Männer schauten ausdruckslos zu, wie die Fremde die Pergamentstreifen in die Flamme der Kerze hielt, bis sie auflodernd verbrannten.

„Können wir jetzt gehen?“, fragte Tregarrick mürrisch, als die Aschereste auf dem Fußboden zerstreut worden waren.

„Das könnt Ihr, Mylords. Es wird allerdings etwas Zeit in Anspruch nehmen, die Pferde wieder einzufangen. Ich habe sie im Wald losgemacht für den Fall, dass einer von Euch so töricht sein sollte und versuchen würde, mir zu folgen.“

„Ihr …“, begann Tregarrick wütend, besann sich dann aber eines Besseren und verließ eilends die Hütte, unmittelbar gefolgt von den anderen.

Sie ist schlau, verdammt schlau, dachte der Earl, als er sich etwa eine Minute, nachdem die Frau die Hütte verlassen hatte, vorsichtig von dem Dachboden herabgleiten ließ. Der Geruch ihres Parfums lag noch in der Luft. Es war ein warmer, weiblicher Duft, würzig und sinnlich. Doch er passte nicht zu ihr. Sie war kalt und skrupellos und hatte nichts Weibliches an sich.

Eng an die feuchte Steinwand neben dem schmalen, glaslosen Fenster gepresst beobachtete Heywood, wie die Frau die mondbeschienene Lichtung überquerte. Ihr grauer Wallach war an einem umgestürzten Baum festgebunden. Ungeschickt erkletterte die Fremde den Baumstumpf, denn ihre weiten Röcke behinderten ihre Bewegungen. Als sie die Zügel von einem Ast löste und dem Pferd über den Kopf warf, bewegte sich der Wallach unruhig hin und her und scheute schließlich sogar, als sie einen Fuß in den Steigbügel setzte. Einen Augenblick lang hing die Frau halb in der Luft. Dabei wurden lächerlich elegante Seidenschuhe sichtbar, mehr geeignet für einen Maskenball denn für einen nächtlichen Ausritt. Heywood verzog den Mund. Sie schien genauso eitel wie grausam zu sein.

„Dummes Vieh!“ Die Unbekannte fluchte laut und klammerte sich an die Mähne, während sich das Pferd wie wild im Kreise drehte.

Nur nicht so kaltschnäuzig, dachte der Earl mit einem grimmigen Lächeln, als es ihr endlich gelungen war, sich aufrecht in den Sattel zu setzen, und sie dem Tier im selben Augenblick kräftig die Hacken in die Flanken stieß. „Armer Kerl“, murmelte Heywood. Schlau mochte sie ja sein, aber sie war alles andere als eine gute Reiterin. Vorsichtig zog er sich vom Fenster zurück, als der Graue in einen ungleichmäßigen Galopp verfiel und zwischen den Bäumen verschwand.

Als sich Heywood wieder zum Tisch vortastete, entdeckte er neben dem Kerzenstumpf den kleinen Lederbeutel. Glück muss der Mensch haben! Mehr brauchte er fürs Erste nicht. Angestrengt lauschte er nach draußen, ehe er durch die Tür schlüpfte.

Die vier Männer machten Lärm wie ein ganzes Regiment. Sie fluchten und schimpften laut, während sie im Wald über Äste stiegen und durch Dornbüsche krochen. Dabei war es leicht, unbemerkt wegzukommen.

Heywood pfiff leise, und einen Augenblick später trottete seine kastanienbraune Stute gehorsam hinter den Bäumen am anderen Ende der Lichtung hervor, während sich ein unansehnlicher gescheckter Jagdhund von seinem Versteck unter einem Busch von Adlerfarn erhob.

„Los, Tumbler, jetzt zeig, dass du beim Aufspüren eines Verräters genauso gut bist wie bei unseren Spielen im Walde.“ Der Earl hielt ihm den Beutel an die feuchte Nase. Eine Zeitlang beschnüffelte der Hund das Leder und begann dann, in immer größer werdenden Kreisen nach der Spur dieses Geruches zu suchen. Als das Tier plötzlich ein leises Winseln von sich gab, schwang sich der Earl in den Sattel und lächelte zufrieden. Mehr als einmal war er verspottet worden, weil er sich einen Hund hielt, der weder bellen konnte noch ein einigermaßen angenehmes Äußeres hatte. Aber Tumblers Nase machte alle diese Nachteile vollauf wett, und insbesondere heute war seine fehlende Stimme von ungeheurem Vorteil. Denn das Letzte, was Heywood jetzt gebrauchen konnte, war der Verdacht der Fremden, dass man sie verfolgte.

Wie üblich enttäuschte der Hund ihn auch diesmal nicht. Etwa eine Stunde später hielt Heywood sein Pferd vor den Ställen des Gasthofes zur Rose an und betrachtete den grauen Wallach, der zufrieden auf einer nicht unbeträchtlichen Portion Heu herumkaute.

„Eine Witwe, sagt Ihr? Ich könnte schwören, dass es das Pferd meiner Schwester ist“, bemerkte Heywood zu dem Kutscher neben ihm. „Könnt Ihr die Frau beschreiben, der der Graue gehört? Wie heißt sie?“

„Das weiß ich nicht, Mylord.“ Der Mann zuckte bedauernd die Schulter. „Es war nur die Zofe, die mich vorgestern angemietet hat. Sie hat mir den Namen ihrer Herrin nicht gesagt, und es stand mir ja auch nicht zu, danach zu fragen, solange sie mich ordnungsgemäß bezahlten.“

„Ja, ja, natürlich …“ Der Earl seufzte leise. Es war doch nicht ganz so leicht, wie er erwartet hatte. Er hatte gehofft, den Namen zu erfahren und sich dann aus dem Staube machen zu können, ehe die Gefahr bestand, dass ihn irgendjemand erkannte. Die fremde Frau aus der Hütte würde jedenfalls seine Anwesenheit in dem Gasthof mit Sicherheit nicht als puren Zufall betrachten.

„Ihr sagtet, sie hat eine Zofe bei sich?“

„Ja, ein Mädchen aus Wiltshire mit strohfarbenen Haaren und vielen Sommersprossen. Sie sieht niedlich aus, aber Ihr würdet sie dennoch keines Blickes würdigen neben der anderen.“

„Welcher anderen?“, erkundigte sich der Earl interessiert. „Wird die Witwe noch von einer weiteren Dame begleitet?“

„Ja, und sie ist eine richtige kleine Schönheit, fast so wie die Muttergottes in der Kirche: Haare wie vergoldetes Silber und Augen so klar und blau wie der Himmel. Sie kam hier zusammen mit der Witwe an, hat aber schon den Burschen vom Wirt beauftragt, sie morgen im Zweitsattel nach Linton zurückzubringen. Sie hat nämlich Angst vor Pferden und reitet nie alleine. Aber dem Burschen ist es schon recht so. Sir …“, plötzlich bekamen die Augen des Mannes einen ängstlichen Ausdruck, „… Ihr denkt doch nicht etwa, dass es Eure Schwester ist? Ich möchte nicht, dass der Junge Schwierigkeiten bekommt, weil er einer Ausreißerin behilflich ist.“

„Das wird er bestimmt nicht“, entgegnete der Earl beruhigend. „Außerdem bin ich im Zweifel, ob es tatsächlich meine Schwester ist. Ihr sagtet, sie ist klein? Aber meine Schwester ist groß, geht mir etwa bis zum Kinn.“

„Nein, die hübsche Blonde würde Euch eben bis zur Schulter reichen.“ Der Kutscher kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Aber die in Witwentracht ist groß, Mylord. Ich wette, sie ist der Vogel, den ihr ins Netz bekommen wollt.“

„Mag sein. Ich muss indes sicher sein, ehe ich ihr gegenübertrete. Diskretion ist in dieser Angelegenheit das Wichtigste. Wenn der Verlobte meiner Schwester entdeckt, dass sie davongelaufen ist, um einen anderen zu treffen … nun, das wäre höchst unangenehm, Ihr versteht?“

„Ja, natürlich, Mylord.“ Der Mann riss die Augen weit auf, als er die Münze sah, die der Earl spielerisch in die Luft warf. „Kann ich Euch irgendwie behilflich sein?“

„Habt Ihr ein paar Kleidungsstücke, die Ihr mir leihen könnt?“, fragte Heywood. „Schließlich ist meine Schwester nicht die Einzige, die andere an der Nase herumführen kann.“

Seraphina starrte teilnahmslos aus dem Fenster in den Hof des Gasthauses unter ihr. Der grauende Morgen an diesem Oktobertag sah aus wie ihr Inneres: düster und leer. Ihr Gemahl war tot … und trotzdem spürte sie keine Regung im Herzen. Nichts. Aber das lag wohl daran, dass Edmund ihre Gefühle für ihn abgetötet hatte, lange bevor er sie um ein Haar selbst umgebracht hätte.

Sie nahm den Handspiegel vom Tisch und verzog ihr Gesicht bei dem Anblick, den er ihr bot. Auf ihrer blütenweißen Haut zeichneten sich schwarze und blaue Flecke ab. Ihr sonst so glänzendes rotbraunes Haar war stumpf, und über ihren graugrünen Augen lag ein trüber Schleier. Vorsichtig berührte sie eine schwarzrote Schwellung auf der Wange mit den Fingerspitzen und zuckte zusammen.

Da ertönte ein leises Klopfen an der Zimmertür. Schnell legte Seraphina den silbergerahmten Spiegel beiseite und griff nach ihrem Witwenschleier … er war nicht da. „Wartet!“ Die Stimme war scharf vor Schreck, denn sie wollte nicht erkannt werden und wünschte auch nicht, dass man ihre Verletzungen wahrnahm. Es gab genug flinke Zungen, und sie durfte keinesfalls jetzt der Gegenstand von Klatschgeschichten werden.

„Seraphina, ich bin es doch nur!“, ertönte eine sanfte weibliche Stimme.

„Einen Augenblick, Grace.“ Langsam und mühevoll erhob sich Seraphina, um die Tür zu öffnen.

„Ich habe heute Morgen festgestellt, dass dein Gewand und dein Umhang feucht waren, und habe sie in die Küche neben das Feuer hängen lassen.“ Die blondhaarige junge Frau ließ ein Bündel Kleidungsstücke auf das Bett gleiten, während Seraphina die Tür hinter ihr wieder abschloss.

„Ich danke dir“, sagte sie schuldbewusst. Grace war immer so freundlich und so tüchtig. Sie hätte selbst daran denken müssen, dass ihre Sachen auf der Reise feucht geworden waren, aber sie war gestern Abend so müde gewesen. „Du hättest Bess damit beauftragen können.“

„Sie schläft immer noch. Du lässt ihr zu viele Freiheiten, Seraphina.“

„Bess ist alles andere als eine Langschläferin“, erwiderte Seraphina abwehrend, obwohl sie zugeben musste, dass Grace recht hatte. Sie war den Bediensteten gegenüber nicht so streng, wie sie hätte sein müssen. Aber Bess war mehr als ihre Zofe, denn sie waren miteinander aufgewachsen.

Grace verzog ihren kleinen Mund, der so liebreizend war wie eine Rosenknospe, sagte aber kein Wort, während sie der Freundin das weite schwarze Gewand entgegenhielt.

Als Seraphina die Arme behutsam in die Ärmel schob, hielt sie den Atem an und stöhnte leise auf. Bei dieser Bewegung hatten die Schrammen auf ihrem Rücken wieder zu bluten begonnen.

Grace warf einen Blick auf die sich langsam vergrößernden roten Flecke auf den leinenen Binden, die Seraphinas Oberkörper umschlangen. „Man könnte denken, du wärest die halbe Nacht durch ein dichtes Unterholz galoppiert!“

„So fühle ich mich auch.“ Seraphinas Lachen klang rau.

Die Freundin seufzte und schüttelte den Kopf. „Es wird jetzt von Tag zu Tag besser werden. Warum bleibst du nicht noch ein oder zwei Tage hier?“

„Nein“, stieß Seraphina zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während sie erneut die Arme hob. Je länger sie hierblieb, desto größer wurde die Gefahr, dass man sie erkannte. Und das wollte sie um jeden Preis verhindern. „Nein“, wiederholte sie, „ich will nach Hause. Es ist ohnehin nur noch eine Tagesreise von hier.“

„Wenn du es überstehst.“ Grace musterte Seraphinas schmerzverzerrtes Gesicht. „Ich kann dich doch in diesem Zustand nicht allein lassen. Vielleicht sollte ich dich doch lieber nach Mayfield begleiten.“

„Auf keinen Fall! Du musst unbedingt zurück. Jemand muss in Sherard House sein und auf Ordnung sehen, bis Edmunds Erbe eintrifft“, erwiderte Seraphina ein bisschen zu nachdrücklich. Grace war gleichbleibend freundlich, und dennoch empfand sie ihre Anwesenheit als bedrückend. Das war nicht die Schuld der Freundin. Es lag vielmehr daran, dass sie keinen Blick auf deren fast überirdische Schönheit werfen konnte, ohne an ihren Gemahl erinnert zu werden, den schönen, charmanten und doch so grausamen Edmund mit seinem Haar wie gesponnenes Gold und seinen eisblauen Augen.

„Du willst mich unbedingt los sein.“ Grace hob die sorgfältig gezupften Augenbrauen.

„Ich meine doch nicht …“, begann Seraphina reumütig.

„Es ist nicht nötig, dass du dich entschuldigst.“ Grace lächelte, während sie die Bänder, mit denen das lose Gewand am Rücken geschlossen wurde, zusammenknüpfte. „Ich kann mir schon vorstellen, dass du alles vergessen möchtest, was mit Sherard House verbunden ist.“

„Alles, aber nicht deine Freundlichkeit. Ich weiß, dass wir in verschiedenen Dingen anderer Meinung waren, doch ich hoffe, dass wir dennoch immer Freunde bleiben werden“, entgegnete Seraphina lebhaft. „Ich wollte nicht undankbar erscheinen. Aber du hast schon mehr als genug für mich getan. Schließlich warst du es …“ Sie zögerte. Zum ersten Mal hatte sie gewagt, die Sprache auf die Ereignisse jener Nacht zu bringen, in der Edmund starb. „Schließlich warst du es doch, der ihm Einhalt gebot.“

Eine unnatürliche Stille legte sich nach diesen Worten über den Raum.

„Ja.“ Grace’ Blick war wachsam, beinahe gespannt, als sie ihn zu Seraphinas Gesicht wandte. „Ich bin überrascht, dass du dich daran erinnern kannst. Ich hatte angenommen, du wärest ohnmächtig gewesen.“

„Nahe daran war ich schon“, erwiderte Seraphina schwach. „Aber ich sehe noch vor mir, wie du dich über mich beugtest, und spüre noch die Erleichterung, die ich dabei empfunden habe.“

„Dasselbe kann ich auch von mir sagen“, murmelte Grace halblaut. Ihre Augen waren plötzlich kalt und abweisend. „Ich fürchtete, er hätte dich umgebracht.“

„Das hat er zumindest nachdrücklich genug versucht“, räumte Seraphina mit bitterem Lächeln ein.

„Nein! Das darfst du nicht sagen …“ Grace schien entsetzt zu sein. „Er wollte dir nie wehtun. Was an diesem Abend geschah, war nur der plötzliche Ausbruch einer seiner Launen …“

„Eine plötzliche Laune.“ Seraphina schüttelte ungläubig den Kopf. „Glaubst du wirklich, dass er damals zum ersten Male die Hand gegen mich erhoben hat?“

„Vielleicht …“, begann Grace zögernd, „… hast du ihm hin und wieder Veranlassung dazu gegeben …“

„Oh, mindestens tausendmal!“, schnitt ihr Seraphina mit einem schroffen Lachen das Wort ab. „Es schien ja in seinen Augen schon ein Verbrechen zu sein, ein hübsches Kleid zu tragen, im Park spazieren zu reiten ohne seine Erlaubnis oder einem seiner Freunde zuzulächeln!“

Über Grace’ klare blaue Augen zog ein Schatten. „Es war seine Art, von allen größtmögliche Vollkommenheit zu verlangen, und du warst …“

„… weit davon entfernt, eine vollkommene Gattin zu sein.“ Seraphina verzog spöttisch die schön geschwungenen Lippen, als sie diesen Satz für Grace beendete.

„Es steht mir nicht zu, darüber zu richten“, murmelte Grace zurückhaltend. „Aber bei deiner Hochzeit hast du Gehorsam gelobt, und ein Gemahl hat das Recht, seine Frau zu bestrafen, wenn …“

„Recht! Die Peitsche gegen mich zu schwingen? Mir den Rücken mit Striemen zu versehen? Oh, du großer Gott!“ Seraphina konnte die Wut, die in ihr aufwallte, nicht mehr bändigen. „Wie kannst du so etwas sagen, wenn du selbst nie verheiratet warst? Zu der Art, wie er mit mir umging, hatte er keinerlei Recht, und ich hoffe nur, dass er in der Hölle schmort!“

Grace’ Wangen erblassten, und sie schwieg einen Augenblick. Schließlich stieß sie einen tiefen Seufzer aus. „Versuch, ihm zu vergeben. Ein solcher Hass ist Sünde …“

„Wenn ich all der Sünden schuldig bin, deren mich Edmund angeklagt hat, bin ich ohnehin schon zum höllischen Feuer verdammt!“ Seraphina lachte freundlos und zuckte dabei wieder vor Schmerz zusammen. „Da macht eine Sünde mehr oder weniger wohl keinen großen Unterschied mehr.“

„Seraphina!“ Grace holte tief Luft. Ihre Stimme war schmerzerfüllt, und ihr Gesicht sehr weiß. „Du darfst solche Dinge nicht sagen. Sie lassen mich für deine unsterbliche Seele fürchten.“

„Das tut mir leid.“ Seraphina senkte reuevoll den Blick, als sie das Glitzern von Tränen in Grace’ blauen Augen bemerkte. „Du bist die Letzte, der ich zu nahe treten möchte. Nur, wenn du Edmund verteidigst …“

„Wie sollte ich es nicht?“ Grace hob hilflos die Schultern. „Er war mehr ein Bruder für mich als ein Cousin. Er nahm mich in sein Haus auf, während meine Familie mich hätte verhungern lassen.“

„Ja“, stimmte Seraphina zögernd zu. „Manchmal hatte ich den Eindruck, er bedauerte, dass er mit dir so nahe verwandt war und dich nicht an meiner Stelle hatte heiraten können.“

„Das bezweifle ich“, erwiderte Grace nach einem kurzen Zögern abweisend. „Wir waren uns zu ähnlich. Aber nun lass uns nicht mehr über Vergangenes reden. Setz dich und ruh dich aus, während ich deine Zofe wecke und sie beauftrage, das Frühstück zu besorgen.“

„Ich bin nicht hungrig.“

„Unsinn“, entgegnete Grace lebhaft. „Wenn du reisen willst, musst du auch etwas essen. Ich bin nicht lange weg.“

„Wo steckt der Kerl nur? Wie lange dauert es bei ihm, die Pferde anzuschirren?“, schimpfte Bess mit lauter Stimme, während sie neben Seraphina vor dem Wirtshaus wartete. „Und dieser Faulpelz dort drüben neben dem Block zum Aufsitzen ist auch nicht besser. Er dreht schon zehn Minuten an dem Strohseil, und es ist noch keinen Fingerbreit länger geworden. Unentwegt starrt er Euch an! Soll ich hingehen und ihm sagen, dass er das gefälligst unterlassen soll?“

„Ach nein, das macht ja nichts.“ Seraphina stieß die Worte zwischen ihren zusammengepressten Lippen hervor. Ihr Rücken brannte wie Feuer. Dagegen war eine solche Unverschämtheit völlig unbedeutend. Teilnahmslos warf sie einen Blick auf den schlecht gekleideten Mann mit der speckigen Wollmütze und bemerkte dabei beiläufig, dass die Sachen für seine kräftige Gestalt viel zu klein schienen. Sein Gesicht war so schmutzig, dass man keine Einzelheiten erkennen konnte. Doch als er plötzlich von seiner Arbeit aufschaute, war sie tatsächlich etwas verwirrt von der Direktheit, mit der seine goldbraunen Augen ihr mitten ins Gesicht zu spähen schienen. Sie drehte rasch den Kopf weg und war plötzlich sehr froh, dass ihr der schwere Witwenschleier Schutz bot. Bess hatte recht. Der Mann war unverschämt. In diesem Augenblick ratterte die Kutsche aus der Scheune und versperrte dem Burschen die Sicht.

„Das wird aber auch Zeit!“ Bess empfing den Kutscher höchst ungnädig. „Sitzt nicht da oben herum, Mann, sondern steigt ab und greift mit zu … Könnt Ihr nicht sehen, dass sich die Lady kaum auf den Beinen halten kann?“

Seraphina ließ sich von Bess zur Kutsche führen, hielt jedoch plötzlich leise schwankend inne und schalt sich eine Närrin. „Bess, ich habe den Kasten mit meinen Papieren im Zimmer stehen lassen. Bitte, hol ihn sofort. Er darf keinesfalls verloren gehen.“

„Sobald Ihr Platz genommen habt, Mylady …“

„Nein, ich sagte, sofort!“ Schmerzen und Unruhe ließen Seraphina heftig werden. „Was auch immer sein mag, die Papiere dürfen nicht verloren gehen. Geh! Ich komme schon zurecht …“

Ihr Gesicht war starr vor Unmut, und Bess tat, wie ihr geheißen war. Mit schmerzerfüllter Langsamkeit hob Seraphina den Fuß auf das Trittbrett der Kutsche, blickte dann plötzlich zurück und stöhnte laut auf.

„Mylady?“ Der Kutscher reichte ihr zögernd die Hand entgegen.

„Crecy? Wo ist der Wallach?“

„Der Graue?“ Der Mann schaute sie einfältig an. „Den habe ich ganz vergessen, Mylady. Ich hole ihn gleich …“

„Nein! Ihr ladet die Koffer auf. Ich werde den Stallburschen dort bitten. Das geht schneller“, erwiderte Seraphina kurz. Grace hatte recht gehabt. Sie war nicht in der Verfassung für eine Reise. Dennoch konnte sie nichts anderes denken, als dass sie umso schneller daheim sein konnte, je eher sie sich auf den Weg machen würden.

Doch sie hatte den Hof noch nicht zur Hälfte überquert, als sie feststellen musste, dass es eine Torheit gewesen war, nicht sofort in die Kutsche zu steigen. Irgendetwas stimmte mit ihren Beinen nicht, oder auch mit den Pflastersteinen. Bei jedem Schritt hob und senkte sich der Boden unter ihren Füßen. Es wurde ihr heiß unter dem Schleier, sie schien zu ersticken. Als sie einen weiteren unsicheren Schritt tat, blinzelte sie verzweifelt. Der Schleier wurde immer kleiner und dichter, legte sich immer enger um ihr Gesicht, sodass sie kaum noch atmen konnte. Sie bemerkte noch, wie der Bursche neben dem Block zum Aufsitzen sich erhob und auf sie zukam. Aber sein Bild verschwamm vor ihren Augen. Sie taumelte und griff angstvoll an den Kragen ihres Umhanges, wollte versuchen, den Schleier zu lösen und fiel plötzlich in bodenlose Finsternis, tiefer und immer tiefer … und dann fing sie irgendjemand auf, riss sie aus dem Abgrund empor. Auf einmal war die Dunkelheit nicht mehr beängstigend, sondern nur noch eine ersehnte Erholung von den Schmerzen, und sie gab sich ihr willig hin.

Der Earl blickte auf das reglose Bündel in seinen Armen und runzelte ratlos die Stirn. Sie war leichter, als er erwartet hatte, und die Hände und Handgelenke, die sich weiß von ihren dunklen Gewändern abhoben, waren zarter, als sie ihm in der Nacht zuvor erschienen waren. Aber es musste dennoch dieselbe Frau sein. Er war ihr gefolgt, das Pferd war dasselbe und nicht zuletzt auch der Duft des Parfums, der aus dem Samt ihres Kleides emporstieg. Instinktiv war er aufgesprungen, um die Fremde davor zu bewahren, auf die groben Steine des Hofes aufzuschlagen. Nun wunderte er sich über diese Regung. Sie hatte doch nichts Besseres verdient.

Verächtlich verzog er den Mund, während er sie langsam wieder zu Boden gleiten ließ, und griff nach dem Rand des Schleiers. Endlich hatte er die Gelegenheit, ohne ihr Wissen ihr Gesicht zu sehen. Die Ohnmacht war echt gewesen, daran bestand kein Zweifel. Seine Gemahlin hatte sie zu oft vorgetäuscht, als dass er den Unterschied nicht hätte feststellen können.

„Nimm deine Hände von ihr, du Flegel!“

Noch bevor Heywood den Schleier auch nur eine Spanne breit hatte heben können, wurde er von der blondhaarigen Zofe unsanft zur Seite gestoßen.

„Was hast du mit meiner Lady gemacht, Kerl?“

Während der Earl mühselig sein Gleichgewicht zu bewahren versuchte, verbiss er sich eine scharfe Erwiderung. Man hielt ihn doch für einen Stallburschen, und ein solcher stand im Range weit unter der Kammerzofe einer Lady.

„Hab’ überhaupt nichts gemacht“, murmelte er mürrisch und gab diesen Worten so viel von der örtlichen Mundart, wie ihm möglich war. „Sie kippte einfach um.“

„Dann steh nicht hier herum und halte Maulaffen feil.“ Bess würdigte ihn keines Blickes, sondern beugte sich besorgt über ihre Herrin. „Geh ins Haus und hol Hilfe. Sage ihnen, sie sollen nach dem Bader schicken. Los, los, du blöder Lümmel!“

Der Earl machte sich hastig aus dem Staube und verschwand in den Ställen. Er hatte keinesfalls die Absicht, den Gasthof zu betreten und dort womöglich der anderen Dame dieser Reisegesellschaft zu begegnen oder gar den Wirt misstrauisch zu machen und zu peinlichen Fragen zu veranlassen. Cecil hatte ihm ausdrücklich ans Herz gelegt, auf jeden Fall Diskretion zu wahren, und Heywood war immer bemüht gewesen, seinen Instruktionen Folge zu leisten. Enttäuscht lehnte er sich gegen die niedrige Trennwand zwischen den Boxen und schimpfte leise vor sich hin. Er war dem Ziel doch so nahe gewesen!

„Ist es denn Eure Schwester, Mylord?“ Der Kutscher, der den Wallach am Zügel führte, stand plötzlich neben ihm.

„Ich hatte noch nicht genügend Zeit, um ganz sicher zu gehen.“ Bedauernd schüttelte der Earl den Kopf. „Aber vielleicht könnt Ihr mir noch einmal Hilfe leisten. Ihr sagtet, dass Ihr in westliche Richtung reisen werdet, nicht wahr? Sobald Ihr dabei das Gasthaus zum Weißen Ross erreicht, teilt dem Wirt dort Euern Bestimmungsort mit. Und nehmt dies hier als Zeichen meines Vertrauens …“ Er warf ihm eine Geldkatze zu. „Eine weitere wartet auf Euch im Weißen Ross.“

„Tausend Dank, Mylord.“ Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Kutschers, als er den Beutel in der hohlen Hand wog. „Ihr werdet den Schlupfwinkel bald genug erfahren, verlasst Euch darauf.“

2. KAPITEL

Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr nichts von Wert festgestellt habt? Malgreave! Tregarrick! Das sind doch nur kleine Fische. Wir müssen herausbekommen, wer diese verdammte Weibsperson ist!“ Sir William Cecil warf die Feder mit solcher Heftigkeit in das Tintenfass zurück, dass die Tinte über seine Finger spritzte. „Nach all dem, was wir wissen, kann sie schon jetzt, während wir noch miteinander reden, bei Lady Elizabeth eingetroffen sein!“

„Das glaube ich nicht.“ Der Earl kippte den Stuhl an und legte seine Füße in den Spornlederstiefeln auf den Rand von Cecils Schreibtisch. „Wirklich, ich würde einiges darauf verwetten …“

„Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr wisst, wo sie ist?“

„In der Tat. Und auch wer.“

„Was?“ Mit einem scharfen Zischlaut stieß Cecil das Wort heraus. Doch als er den belustigten Glanz in Heywoods Augen bemerkte, richtete er sich kerzengerade auf. „Am besten wird sein, Ihr berichtet mir alles, Mylord, und zwar schnell.“

Schweigend lauschte Cecil dem Bericht des Earls, und als dieser geendet hatte, vergrub er minutenlang in Gedanken versunken das Kinn in die aufgestützte Hand.

„Die Jüngste der Careys …“, murmelte er schließlich. „Wenn es nicht von Euch käme, Mylord, würde ich es nicht glauben. Henry Careys Tochter …“ Cecil schüttelte den Kopf. „Ihr sagt, sie sei zu ihren Eltern heimgekehrt? Nun, Mayfield ist der letzte Ort, an dem ich nach einem Verräter gesucht hätte.“

„Dasselbe war auch meine Meinung, Sir.“ Der Earl zuckte die Schulter. „Aber ich glaube, Ihre Eltern habe keine Ahnung von ihren verräterischen Unternehmungen. Lady Katherine war eine der bevorzugten Hofdamen von Anne Boleyn, und Lord Henry war sogar mit ihr verwandt. Ich halte es für undenkbar, dass sie die Hand gegen Königin Annes Tochter erheben würden.“

„Ich ebenso.“ Cecil nickte zustimmend. „Die Careys waren seit Bosworth treue Anhänger der Tudor. Und sie hätten zudem viel zu gewinnen, wenn Lady Elizabeth Königin von England würde. Da sie mit den Boleyns verwandtschaftlich verbunden sind, könnten sie mit besonderen Gunstbezeigungen rechnen.“ Nachdenklich zupfte er an seinem Bart. „Aber Henry Carey war für ein Amt in der alten Kirche vorgesehen, bevor sein älterer Bruder starb, und er hat seine einzige Tochter Sherard zur Frau gegeben, einem überzeugten Katholiken.“

„Darin sehe ich nichts anderes als eine politische Notwendigkeit“, widersprach der Earl. „Seit Königin Mary den Thron bestiegen hat, konnten die Careys nicht mehr auf das Wohlwollen des Königshauses zählen. Ihr wisst, die Königin war schlecht auf alle Menschen aus der Umgebung jener Frau zu sprechen, die ihre Mutter vertrieben und sie selbst zum Bastard gemacht hatte. Wahrscheinlich haben die Careys diese Verbindung betrieben, als angenommen wurde, dass Königin Mary ein Kind erwartete und damit eine katholische Thronfolge sicher zu sein schien. Ich kenne wohl ein halbes Dutzend protestantischer Familien, die im letzten Jahr ähnliche Eheschließungen zustande gebracht haben.“

„Hm, zweifellos habt Ihr darin recht.“ Cecil zupfte erneut an seinen Bartspitzen. „Wir müssen uns also ausschließlich auf die Tochter konzentrieren. Was wisst Ihr sonst noch von … wie war doch gleich ihr Name? … irgendetwas Ausländisches, habe es nicht behalten …“

„Seraphina“, kam der Earl zu Hilfe. „Es bedeutet die Brennende.“

„Sehr passend, wenn es sich herausstellt, dass sie der gesuchte Verräter ist.“ Cecil begleitete diese Worte mit einem eiskalten Lachen. „Dann könnte sie in der Tat brennen.“

„Allerdings“, bestätigte der Earl ohne das geringste Zeichen von Heiterkeit. Er hatte genug von Ketzerverbrennungen gehört und gesehen, als dass ihm dieser Gedanke sonderlich angenehm gewesen wäre.

„Also, was wisst Ihr noch über sie?“, wiederholte Cecil unvermittelt.

„Wenig genug, außer …“ Der Earl hob seine muskulösen Schultern und überlegte, wie er einem Mann, der etwas von einem Puritaner an sich hatte, beibringen sollte, was über Seraphina Carey berichtet wurde.

„Außer was, Mylord?“, mahnte Cecil ungeduldig.

„Sie soll eine Dirne sein und ihren Gemahl mit jedem Mann betrogen haben, der ihr gefiel … einschließlich Sherards Stallburschen.“ Heywood verzog verächtlich den Mund. „Sie scheint ebenso bereit gewesen sein, ihren Ehemann zu verraten wie ihr Vaterland.“

„Und dennoch hat sie den Glauben ihres Ehegatten so leidenschaftlich übernommen, dass sie gewillt ist, Hochverrat dafür zu begehen?“ Cecil runzelte die Stirn. „Das gibt keinen Sinn.“

„Handeln denn Frauen jemals logisch?“, fragte der Earl spöttisch und fuhr sich mit der Handfläche über seinen kurz gestutzten schwarzen Bart. „In dem Augenblick, in dem Elizabeth den Thron besteigt, werden wir die Kleine in Haft nehmen und die Wahrheit schon aus ihr herausholen.“

„Das wird natürlich das Vertrauen in die Regentschaft von Lady Elizabeth außerordentlich fördern!“, erwiderte Cecil sarkastisch. „Die Adelsfamilien, die dem alten Glauben anhängen, liebäugeln ohnehin schon damit, ihre Namen für die Ansprüche der Stuart in die Waagschale zu werfen, weil sie Elizabeths Repressalien wegen der Verfolgung der Protestanten unter Königin Mary fürchten! Die Careys sind mit der Hälfte der Aristokratie blutsverwandt und mit dem Rest verschwägert! Wenn man eine von ihnen ohne Beweise, die die ganze Welt von ihrer Schuld überzeugt, arretiert, wird man eine Welle der Furcht auslösen, die Elizabeth Tudor ihr Königreich kosten kann. Eure Vorurteile verwirren Euren Verstand, Mylord. Ehebruch reicht nicht aus als Beweis für Hochverrat, das solltet Ihr wissen!“

Das Gesicht des Earls erstarrte zur Maske. Wenn diese Anspielung auf seine verstorbene Gemahlin von einem Mann gekommen wäre, der ihm an Rang und Namen gleichstand, er hätte ihm noch im selben Augenblick den Handschuh vor die Füße geworfen …

„Mylord!“ Cecil seufzte unhörbar, als er bemerkte, wie die Hand des Earls zum Degenknauf zuckte. „Es sollte keine Insultation sein. Aber Ihr wisst doch, dass ich recht habe.“

„Ja“. Heywood stieß die Luft aus und schob die Finger unter den Degengurt. „Ich weiß, dass wir es uns nicht leisten können, die Careys und ihre Sippschaft auf die Seite unserer Gegner zu treiben, solange Elizabeths Regentschaft nicht gefestigt ist und Katholiken wie Protestanten erkannt haben, dass sie nichts fürchten müssen, solange sie getreu zu England stehen … Aber was zum Teufel sollen wir dann mit Sherards Witwe machen! Wir können doch die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Die Gefahr für Lady Elizabeth ist zu groß.“

Cecil rieb sich nachdenklich die Stirn. „Bis Königin Mary das Zeitliche segnet, haben wir noch eine kurze Spanne Zeit, und die gilt es, gut zu nützen. Ihr müsst die Dame scharf beobachten, dürft aber auf keinen Fall ihren Verdacht erregen. Wenn die Franzosen misstrauisch werden und eine andere Kontaktperson benutzen, sind wir in einer ungleich schlechteren Lage.“

„Aber wie soll ich sie denn beobachten?“, begehrte der Earl auf. „Ich kann doch nicht die Dienerschaft des Hauses bestechen, damit sie ihr nachspioniert!“

„Das weiß ich nicht, und es ist mir auch gleichgültig.“ Die Besorgnis machte Cecil ungewohnt schroff. „Aber es muss getan werden. Dann heiratet eben das Mädchen“, fügte er unwirsch hinzu. Doch dann hellte sich sein bleiches, intelligentes Gesicht plötzlich auf. „Beim Himmel! Das ist es! Wer hat mehr Rechte, die Unternehmungen einer Frau zu überwachen, als ihr Gemahl?“

„Sir, Ihr kennt meine Meinung über den Ehestand!“ Der Earl setzte mit einem dumpfen Knall die Füße auf den Boden, sodass Cecil nervös zusammenzuckte. „Ein solches Ansinnen könnt Ihr nicht an mich stellen!“

„Aber ich kann es, nicht wahr, Richard?“

Die kühle, angenehme Stimme kam von der halbgeöffneten Tür. Einen Moment später wurde sie vollends aufgestoßen, und eine junge Frau mit rotgoldenem Haar erschien auf der Schwelle.

Beide Männer sprangen auf und verneigten sich tief, doch Elizabeth Tudor winkte sie ungeduldig empor.

„Nun, Richard?“ Ihre sorgfältig geformten feinen Brauen hoben sich leicht, als sie dem Earl zulächelte.

„Euer Gnaden wissen, dass ich alles tun werde, um Euch sicher auf Englands Thron zu sehen …“

„Dann ist es also abgemacht“, unterbrach ihn Elizabeth liebenswürdig, während sie schadenfroh Heywoods Gesicht betrachtete, der wie vom Donner gerührt schien.

„Aber es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben …“ Der Earl wandte sich Hilfe suchend an Cecil, aber die erhoffte Unterstützung blieb aus. „Die Familie weist meine Werbung vielleicht ab …“

„Hört auf, Euch an Strohhalme zu klammern, Mylord. Die Careys werden vor Freude in die Luft springen, und was das Mädchen anbelangt …“ Elizabeth lächelte mutwillig. „Ihr seid hübsch und erfahren genug, um einem achtzehnjährigen Ding den Kopf zu verdrehen.“

„Achtzehn! Um Himmels willen, mehr nicht? Ich hätte nicht gedacht, dass sie so jung ist.“

„Warum nicht?“, erwiderte Lady Elizabeth scharf. „Ich hatte mich gegen die Anschuldigung des Hochverrates zu verteidigen, als ich gerade fünfzehn war, und meine Cousine, Lady Jane, fiel unter dem Beil des Henkers mit sechzehn. Achtzehn oder achtzig, das macht keinen Unterschied. Ihr solltet das eigentlich wissen, Richard. Die Jugend Eurer verstorbenen Gemahlin machte sie auch nicht unfähig zu Falschheit und Betrug, oder etwa nicht?“

Die Augen des Earls verdunkelten sich. Diesen Hieb hätte er von niemand anderem ohne Gegenwehr entgegengenommen. „Gewiss, Euer Gnaden“, sagte er steif. Offensichtlich hatte er völlig vergessen gehabt, wie scharf Lady Elizabeths Krallen sein konnten. Manchmal erschien es ihm kaum glaubhaft, dass sie erst fünfundzwanzig Jahre alt war, drei Jahre jünger als er selbst.

„Nun, Mylord, macht nicht ein so entsetztes Gesicht. Wenn sich das Mädchen weiter mit Hochverratsplänen befasst, werdet Ihr wohl bald wieder Witwer sein.“

„Und wenn nicht?“, knurrte der Earl. „Dann bin ich an eine Frau gekettet, die ich niemals heiraten wollte.“

Elizabeth lachte, und ihre dunklen Augen glänzten dabei. „Ihr könntet Euch ja bemühen, ihrem Bett fernzubleiben. Ich bin sicher, dass wir dann eine Annullierung der Ehe durchsetzen können. Bei meiner Stiefmutter Anna von Cleve hat das damals sehr gut funktioniert. Vielleicht ist Keuschheit einmal eine neue Erfahrung für Euern überfütterten Gaumen.“

„Besten Dank für Euern freundlichen Rat“, erwiderte Heywood trocken, ohne auf Elizabeths frivole Bemerkung einzugehen. „Darf ich mit Eurer Erlaubnis mich jetzt verabschieden, Madam?“

„Gewiss“, entgegnete Elizabeth gnädig. „Wohin wollt Ihr gehen?“

„Schöne Augen machen, Euer Gnaden“, knirschte der Earl.

„Schöne Augen machen? Meint Ihr nicht eher, Brautschau halten, Mylord?“, verbesserte Elizabeth mit einem spöttischen Tadel.

Das Lächeln, das dabei um ihre Lippen spielte, trug nichts zur Verbesserung von Heywoods Laune bei. Es verfolgte ihn noch, als er bereits sorgsam die Tür hinter sich geschlossen hatte und nun seinem Zorn freien Lauf lassen konnte. Laut fluchend stürmte er den Korridor entlang. Er wollte verdammt sein, wenn er noch einmal vor den Traualtar trat, nicht einmal für Elizabeth Tudor. Auf welchem Weg auch immer, er würde Seraphina Careys Geheimnisse lüften, auch ohne noch einmal im Hafen der Ehe zu landen. Dieser Entschluss heiterte ihn ein wenig auf, und der Ausdruck verbissenen Grimms wandelte sich in ein Schmunzeln. Achtzehn Jahre und ein leichtes Mädchen. Was machte er sich Gedanken! Ins Bett würde er sie sich holen, wenn es denn sein musste, aber ehelichen niemals.

„Du hast Glück, Seraphina. Die Striemen heilen besser, als ich gehofft hatte“, stellte Lady Katherine Carey ungerührt fest, während sie Kräutersalbe auf die roten Schrammen und die verblassenden Blutergüsse strich, die die weiße Haut ihrer Tochter verunstalteten.

„Glück!“, wiederholte Seraphina tonlos und strich sich eine Strähne ihres fuchsroten Haares aus der Stirn. „Wenn das Glück ist, Mutter, so möge mich Gott vor Weiterem bewahren.“

„Seraphina!“ Lady Katherine seufzte. „Es schien doch gar keine schlechte Partie zu sein, damals …“, fügte sie mehr zu sich selbst hinzu.

„Sogar eine ausgezeichnete Wahl aus deiner Sicht, Mutter.“ Seraphina lächelte bitter. „War es nicht aufmerksam von Edmund, just in dem Augenblick seinen Geist aufzugeben, als es sich herausstellte, dass die Königin nicht guter Hoffnung war, sondern auf dem Sterbebett lag? Ein katholischer Schwiegersohn wäre doch außerordentlich peinlich, wenn Lady Elizabeth den Thron besteigen sollte.“

Die Mutter erblasste. „Glaubst du, mir liegt nichts anderes im Sinn als Berechnung und Reichtum, Seraphina? Oder denkst du wirklich, ich hätte diese Eheschließung begünstigt, wenn ich geahnt hätte, dass er auf eine solche Art und Weise mit dir umgeht?“

„Das weiß ich nicht.“ Seraphina zuckte die Schulter und begegnete mit kühler Miene dem Blick ihrer Mutter. „Du hast es mir doch damals klar genug gemacht, dass die Familie den Vorrang hat vor dem eigenen Glück.“

„Das ist wahr“, räumte Lady Katherine ein. „Aber ich dachte, er gefiele dir. Du hattest selbst gesagt, du seist zufrieden, dass dein Bräutigam jung und hübsch ist. Mir schien es sogar, als wärest du von ihm angetan gewesen …“

„Du brauchst mich nicht an meine eigene Torheit zu erinnern“, unterbrach Seraphina die Mutter frostig. „In den letzten zwölf Monaten ist kein Tag vergangen, an dem ich sie mir nicht ins Gedächtnis gerufen habe.“

„Wenn du mir doch nur sagen würdest, was eigentlich vorgefallen ist, meine Tochter …“, beschwor Lady Katherine Seraphina. „Ich möchte dir so gern helfen …“

„Du hilfst mir am besten, wenn du mich in Frieden lässt. Ich möchte nicht über Edmund sprechen … niemals wieder!“

„Seraphina …“ Lady Katherine hielt bekümmert inne, denn die Zofe betrat in diesem Augenblick das Zimmer mit einem sauberen weißen Hemd.

„Seid Ihr fertig, Mylady?“, fragte Bess zögernd, als sie den sorgenvollen Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Herrin wahrnahm.

„Ja“, erwiderte Lady Katherine abweisend.

„Neben der Leinentruhe steht ein Becken mit warmem Wasser zum Händewaschen“, sagte Bess, während sie Seraphina das Hemd über den Kopf zog.

Mit langsamen Schritten begab sich Lady Katherine in das Nebenzimmer. Auf der breiten steinernen Fensterbank fand sie die Waschschüssel und ein Stück weißes Linnen vor. Während sie die Hände in das Wasser gleiten ließ, starrte sie blicklos in die heitere Parklandschaft, die den Herrensitz Mayfield umgab. Immer wieder grübelte sie darüber nach, ob sie Heywood nicht hätte erneut vertrösten sollen. Aber wie denn? In den vergangenen drei Wochen hatte sie jede nur erdenkliche Ausrede benutzt. Doch sein letzter Brief, in dem er sich ausdrücklich auf die Wünsche von Lady Elizabeth bezog, war nunmehr weniger höflich denn bestimmt in der Wortwahl gewesen. Lady Katherines Sorgenfalten vertieften sich. Heute war der 3. November. In zwei Tagen würde der Earl hier sein … und noch immer hatte sie den Mut nicht gefunden, es Seraphina mitzuteilen.

„Ihr Rücken heilt wirklich gut ab.“ Bess unterbrach ihre Grübelei, als sie das Zimmer betrat, um ein schwarzes Trauergewand mit einem weißen Seidenkragen aus dem großen geschnitzten Schrank zu holen.

„Ja, ja …“ Lady Katherine nickte bestätigend. „Ihr Rücken schon, aber nicht ihr Gemüt. Vor jedem Schatten schreckt sie zurück, und sie war noch nicht ein einziges Mal in den Ställen bei den Pferden. Wenn sie toben und mir Vorwürfe wegen ihrer Ehe mit Sherard machen würde … oder weinen … ich wäre glücklich. Aber sie so zu sehen, so kalt, so bitter … das macht mir Angst.“

„Mit der Zeit, Mylady …“

„Es ist keine Zeit mehr“, entgegnete Lady Katherine müde.

„Mylady?“ Bess blickte ihre Herrin verwundert an.

Lady Katherine schüttelte unmerklich den Kopf. Sie musste unbedingt mit Seraphina sprechen, ehe sich die Angelegenheit unter der Dienerschaft herumsprach. Seufzend ließ sie sich auf der Fensterbank nieder und wand gesenkten Hauptes das Stück Linnen in ihren Händen hin und her, immer wieder.

„Mylady … kann ich helfen?“

Lady Katherine hob den Blick. „Pass gut auf sie auf, Bess, mir zuliebe. Gestern stand sie direkt an der Brüstung, und einen Augenblick lang … wenn sie dann noch erfährt, was ich ihr zu sagen habe …“

„Oh, Mylady, solche Dinge dürft Ihr nicht einmal denken!“ Unwillkürlich bekreuzigte sich Bess.

„Ich kann nichts dafür, Bess. Fünf meiner sechs Kinder habe ich durch das Wechselfieber verloren, als Seraphina noch ganz klein war … Ich kann nicht mehr zählen, wie oft ich Gott angefleht habe, mir mein letztes Kind zu lassen. Wenn ich sie auch noch verlieren müsste …“ Lady Katherine versagte die Stimme.

Autor

Marie Louise Hall
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