Das große Glück für uns
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Die Redaktionskonferenz war zu Ende. Susannah stand unsicher auf und ging hinaus, um in dem winzigen Raum, der ihr als Büro diente, Zuflucht zu suchen.
Sie hatte Kopfschmerzen, und wie immer, wenn etwas sie aus der Fassung brachte, waren ihre Nerven sehr angespannt.
„Unser neuer Herr und Meister hat Ihnen aber ziemlich die kalte Schulter gezeigt, nicht wahr, Darling? Ich frage mich nur, weshalb“, hörte Susannah hinter sich eine weibliche Stimme betont langsam fragen.
Auch das noch! Claire Hunters Neugierde abzuwehren war wirklich das Letzte, was sie, Susannah, jetzt wollte.
Claire Hunter arbeitete bereits seit der Gründung für die Zeitschrift. Sie war eine brillante Journalistin, deren geistreiche und frech-amüsante Artikel über die Schwächen der Modewelt ihresgleichen suchten. In ihrem Beruf machte Claire niemandem etwas vor, und wehe demjenigen, der ihr nicht die gebührende Anerkennung zollte!
Hazard Maine hatte das offenbar versäumt, und jetzt bekam Susannah es zu spüren.
„Keine Ahnung“, wehrte sie die Bemerkung ihrer Kollegin ab. „Ich vermute, ich war zufällig in seiner Schusslinie. Das wird mir eine Lehre sein, nicht wieder in der letzten Minute zu erscheinen und dann in der ersten Reihe sitzen zu müssen.“
Claire schien mit dieser Antwort zufrieden zu sein, und Susannah schloss aufatmend die Tür ihres Büros hinter sich. Verdammter Hazard Maine, der neue „Herr und Meister“, wie Claire sich ausgedrückt hatte. Hazard Maine war erst kürzlich dazu berufen worden, die Chefredaktion der angesehenen englischen Zeitschrift Tomorrow zu übernehmen, der bedeutendsten Publikation des MacFarlaine-Konzerns.
Susannah wusste schon jetzt, dass sie mit Hazard Maine nicht gut auskommen würde, seit dem vergangenen Samstag war ihr das schon klar …
Seufzend schloss sie einen Moment die Augen. Sie hatte wirklich genug eigene Probleme und wünschte sich nichts weniger, als mit ihrem neuen Chef auf schlechtem Fuß zu stehen. Mit Richard hatte sie sich so gut verstanden. Er hatte sie stets ermutigt und ihr geholfen. Richard …
Es war zwecklos, sich zu wünschen, Richard wäre noch ihr Chef. Seine Frau, MacFarlaines einziges Kind, hatte ihm unmissverständlich gesagt, dass sie es leid sei, immer hinter der Arbeit ihres Mannes als Redakteur einer erfolgreichen Zeitschrift zurückstehen zu müssen. Und Richard hatte zögernd akzeptiert, etwas weniger Aufreibendes zu machen. Er würde künftig mit seinem Schwiegervater zusammen im Vorstand arbeiten.
Vielleicht hat Tante Emily doch recht, überlegte Susannah ärgerlich, wenn sie immer behauptet, dass meine kastanienroten Haare schuld an meinen Schwierigkeiten sind. Ich sollte mir an Claire Hunters kühl abschätzender Einstellung zum Leben ein Beispiel nehmen, anstatt mich in die Probleme anderer Leute hineinziehen zu lassen, die dann unweigerlich meine eigenen werden, dachte sie weiter.
Zum Beispiel letzten Samstag. Susannah seufzte wieder und fuhr sich mit den schlanken Fingern durch die widerspenstigen Locken. Am liebsten würde sie die ganze Sache vergessen.
„An allem ist nur David schuld“, schimpfte sie vor sich hin und starrte verdrießlich auf ihre Schreibmaschine.
Es war töricht gewesen, sich auf eine Freundschaft mit David Martin einzulassen, und es tröstete sie keineswegs, dass David nicht nur sie getäuscht hatte. Sich in einen verheirateten Mann zu verlieben, ist so … so beschämend, gestand Susannah sich missmutig ein und dachte zurück an ihre Affäre mit David …
Susannah und David hatten sich bei einer Talkshow des regionalen Rundfunks kennengelernt. David hatte damals fürs Fernsehen gearbeitet und sie für ein Lokalblatt. Sie hatten so viele gemeinsame Interessen, dass sie ohne zu zögern Davids Einladung zum Dinner annahm. Als sie später von einer Freundin erfuhr, dass David verheiratet sei, hatte sie sich bereits in ihn verliebt.
Auf ihre Vorwürfe hatte David ziemlich beschämt reagiert und zugegeben, dass er ihr gegenüber nicht fair gewesen war. Er entschuldigte sich, dass er es anfangs nicht für wichtig gehalten hätte, ihr von seiner Ehe zu erzählen. Und später, später habe er einfach Angst gehabt, sie zu verlieren.
Sie war hin und her gerissen gewesen zwischen ihren Gefühlen für David und den strengen, altmodischen Moralvorstellungen, mit denen sie aufgewachsen war.
Nur wenige Monate nach ihrer Geburt waren ihre Eltern mit dem Boot im Sturm gekentert und ertrunken. Tante Emily, die einzige lebende Verwandte, nahm sie zu sich und erzog sie. Die Erziehung, die sie bei der ältlichen Jungfer – eigentlich schon einer Großtante – erhielt, war allerdings wenig geeignet, sie auf das moderne Leben des zwanzigsten Jahrhunderts vorzubereiten.
Ein anderes Mädchen an meiner Stelle, überlegte Susannah, hätte sicher alle moralischen Skrupel über Bord geworfen und sich genommen, was das Leben ihm bot. Aber sie konnte das nicht. David war an eine andere Frau gebunden, und so schmerzlich es war, sie, Susannah, musste die Beziehung lösen. Sie hatte ihrer Tante eröffnet, sie wolle von nun an auf eigenen Füßen stehen und sich in London nach einem geeigneten Arbeitsplatz umsehen.
Und sie hatte Glück gehabt. Sie bekam einen Job bei einer bekannten Londoner Zeitschrift. Richard, ihr Boss, hatte ein feines Gespür für vielversprechende Jungreporter und war stolz darauf, sie zu fördern und zu ermutigen. Ja, es war wirklich ein Glücksfall gewesen, unter Richards Führung zu arbeiten und alles über das Zeitungswesen von Grund auf zu lernen. Das alte Sprichwort von denen, die Unglück in der Liebe, aber Glück im Spiel haben, schien sich – jedenfalls ungefähr – bei ihr zu bestätigen.
Als sie vor acht Monaten Leicestershire verließ, war sie dreiundzwanzig und so unglücklich, dass sie glaubte, das Leben hätte ihr nichts mehr zu bieten. Über ihre Arbeit hatte sie langsam wieder Selbstvertrauen gewonnen und festgestellt, dass es sich trotz allem zu leben lohnte, auch ohne David. Aber dann war David nach London gekommen.
Sie wusste nicht, wie es ihm gelungen war, Tante Emily die Adresse zu entlocken, doch an einem regnerischen Sommertag stand er spätabends vor der Tür.
An diesem Tag war sie müde, aber in bester Stimmung nach Hause gekommen. Richard hatte sie wegen eines Interviews, das sie mit einem jungen, misshandelten Mädchen gemacht hatte, sehr gelobt. Als sie dann noch zwei ältere, erfahrene Kolleginnen zum Lunch einluden, fühlte sie sich im Kreis der Mitarbeiter voll akzeptiert und war sehr stolz.
Die beiden Journalistinnen erklärten ihr, sie seien fest davon überzeugt, dass sie es in ihrem Beruf noch weit bringen werde.
„Wir Frauen müssen zusammenhalten“, meinten sie, „um uns gegen die Vorherrschaft der Männer in unserer Branche zu behaupten.“
Nach diesem Gespräch beschloss sie, sich von jetzt an ganz auf ihre Karriere zu konzentrieren. Männer, seien sie verheiratet oder ledig, würden in ihrem Leben keinen Platz mehr haben.
Und dann hatte David vor ihr gestanden, und sie hatte entmutigt und erschreckt gespürt, wie sie plötzlich wieder schwach wurde.
David bestand darauf, mit in die Wohnung zu kommen. Er erzählte ihr, er habe Louise, seine Frau, verlassen und sei jetzt frei, mit ihr, Susannah, ein neues Leben zu beginnen.
Die Versuchung war groß, es hatte keinen Sinn, es zu leugnen; und als David erklärte, er wolle über Nacht bleiben, hätte sie beinah nachgegeben. Nur der Gedanke, wie Tante Emily sie ansehen würde, wenn sie das wüsste, hielt sie davon ab. Solche altmodischen Skrupel waren sicher lächerlich, aber sie konnte sich nicht davon freimachen. Als Teenager hatte sie geglaubt, ihre Zweifel bezüglich Sex vor der Ehe würden in dem Augenblick schwinden, wenn sie einen Mann liebte. Nur, so einfach war es nicht.
„Willst du behaupten“, hatte David ungläubig gefragt, „dass wir uns nicht lieben können, solange wir nicht verheiratet sind?“
So ausgedrückt, klang es veraltet oder, noch schlimmer, wie eine Art Handel nach dem Motto: Liebe gegen Ehering.
„Nein, das ist es nicht. Ich bin nur noch nicht bereit dafür, David … Ich kann es dir nicht erklären …“
Sie hatte krampfhaft versucht, die aufsteigenden Tränen zu verbergen. Aber David hatte sie lachend in die Arme genommen und sie geneckt.
„Du bist doch eine kleine Schwindlerin. Was würden die Leute wohl denken, wenn sie wüssten, dass Miss Susannah Hargreaves, die Verfechterin des freien Willens und des Frauenrechts, in Wirklichkeit eine schüchterne kleine Jungfrau ist?“
Sie war zu erleichtert gewesen, um sich über seine männliche Überheblichkeit zu ärgern, das kam erst später. Noch heute fröstelte es sie, wenn sie sich daran erinnerte, wie verlangend David sie bei diesen Worten angesehen hatte. Hatte er sie begehrt, weil er sie wirklich liebte, oder war sie für ihn nur eine Herausforderung?
Aber war das jetzt noch wichtig? Zwischen ihr und David konnte es keine Beziehung mehr geben, und das hatte sie ihm auch damals unmissverständlich klar gemacht.
Da ihre Wohnung zu klein war – es gab nur ein Schlafzimmer –, fuhr David noch am selben Abend nach Leicestershire zurück. Er erklärte aber, er würde am Wochenende wieder kommen und dann mit ihr Pläne für eine gemeinsame Zukunft machen.
Aber bevor David zurückkam, erschien seine Frau bei ihr. Eine zarte Blondine, die sie vom Sehen kannte.
Sie war bestürzt über den Besuch, besonders als sie sah, dass die Frau ganz offensichtlich schwanger war. Wortlos bat sie sie herein. Louise erzählte ihr mit brüchiger Stimme, dass David die Scheidung verlangt habe und sie und das ungeborene Kind verlassen wolle. Anfangs konnte sie Louise das gar nicht glauben. Davids Frau erwartete ein Kind, sein Kind. So naiv war sie, Susannah, nicht, dass ihr nicht sofort klar wurde, dass diese Frau das Kind zu einer Zeit empfangen haben musste, als David immer wieder beteuert hatte, er habe keine Beziehung mehr zu seiner Frau. In diesem Moment wusste sie, dass sie David niemals heiraten könnte.
Als sie in Louises blasses Gesicht sah, hatte sie sich gefragt, wen sie mehr bemitleidete und verachtete: Louise, weil sie so verzweifelt darum bettelte, ihren Mann zu behalten, oder David, weil er erst so schwach gewesen war, dass seine Frau schwanger wurde, und sie dann von sich stieß. Vielleicht sollte ich mich selbst verachten, war ihr nächster und beschämender Gedanke gewesen, weil ich Davids Schwäche nicht erkannt habe und mich von seinem charmanten Lächeln bezaubern ließ.
Das darauf folgende Gespräch mit David würde sie nie vergessen. Er flehte sie an, er weinte vor Enttäuschung und Bedauern, aber sie blieb hart. Sie hatte keine Ahnung, ob er zu seiner Frau zurückkehren wollte, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er es letztlich tun würde. Seine Frau tat ihr leid. Wie würde ihr Leben an der Seite dieses Mannes aussehen?
Sie hatte sich zwar gesagt, dass sie, Susannah, die Glücklichere sei, aber in ihrem tiefsten Innern hatte sie doch um ihre verlorene Liebe getrauert.
Susannah schob nervös ein paar Manuskriptseiten auf dem Schreibtisch in ihrem kleinen Redaktionsbüro hin und her. Sie dachte daran, in welcher Stimmung voll bitterer Selbstverachtung und Trauer sie am letzten Samstag zu der Party bei den Sunderlands gegangen war – und was auf der Party dann geschah.
Die Sunderlands waren ihre Paten. Norbert Sunderland und ihr Vater waren Schulfreunde gewesen, und sie hatte oft die Ferien mit der Familie Sunderland verbracht. Jetzt, da die Söhne verheiratet waren und der eine in Kanada, der andere in Australien lebte, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, Norbert und seine Frau Martha, so oft sie es einrichten konnte, zu besuchen.
Norbert hatte sich Anfang des Jahres aus dem Berufsleben, er war Bankdirektor, zurückgezogen und sich mit seiner Frau in einem kleinen Dorf in der Umgebung von Gloucester angesiedelt. Sie hatte die beiden im Sommer einige Male besucht, und obgleich ihr im Augenblick nicht der Sinn danach stand, war ihr doch klar gewesen, dass sie zu Marthas sechzigstem Geburtstag gehen musste – eben zu dieser bewussten Party am letzten Samstag.
Paul und Simon, die Söhne, würden mit ihren Familien auch kommen, und es war abgemacht, dass sie, Susannah, übers Wochenende bleiben sollte.
Martha hatte ihr bereits von den großartigen Plänen für die Party erzählt. Norberts Frau Martha war Halb-Amerikanerin und sehr lebenslustig. Sie und Tante Emily verstanden sich überhaupt nicht. Das ist auch nicht verwunderlich, überlegte Susannah, die zwei sind zu verschieden; und ich kann mir nicht vorstellen, dass ein junges Mädchen, das von Martha erzogen worden wäre, moralische Bedenken hätte, mit einem Mann zu schlafen, mit dem es nicht verheiratet ist.
Susannah stand auf und ging leise fluchend in dem engen Büro auf und ab. Natürlich kann ich nicht Tante Emily für meine Unsicherheit in Sachen Sex verantwortlich machen – das wäre zu einfach, sann sie weiter und spürte, wie ihre Stimmung düsterer wurde, je länger sie ihren Selbstbetrachtungen nachhing. Sie hasste diese Schwermut, die sie manchmal gänzlich unvorbereitet überfiel, und war überzeugt, dass dies, ebenso wie ihre roten Haare, ihr zarter blasser Teint und die grünen Augen ein Erbteil ihrer keltischen Vorfahren war.
Dass Hazard Maine, ihr neuer Chef, sie vor allen anderen heruntergeputzt hatte, war auch nicht gerade dazu angetan, ihre Stimmung zu heben. Es war ihr Pech, dass er bemerkt hatte, wie sie versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken.
Natürlich hatte Hazards Rede sie nicht gelangweilt, ganz im Gegenteil. Wie konnte sich irgendwer langweilen, wenn man hörte, wie die Arbeit der Redaktion, zu der man schließlich ja auch gehörte, scharf kritisiert wurde? Mehr noch, sie fand, Hazard Maine hatte sich wie der sprichwörtliche neue Besen aufgeführt. Nein, das Gähnen war reine Nervosität gewesen. Finster blickte Susannah vor sich hin. Wie lange würde sie ihren Job noch behalten? Hazard Maine mochte sie nicht, und nach seinem Vortrag von heute Morgen zu urteilen, mochte er überhaupt keinen der Mitarbeiter. Er hatte sie alle überrascht, als er die Zeitschrift hart attackierte und die Redaktion warnte, dass er Veränderungen vorzunehmen gedenke. Hatte er sie, Susannah, dabei nicht eine Spur länger angesehen als die anderen?
Zu ihrem Entsetzen hatte sie in diesem Moment abermals ein Gähnen unterdrücken müssen. Und diesmal hatte Hazard nicht einmal versucht, es zu übersehen. Voll Verachtung erklärte er: „Wer in dieser Zeitschrift erfolgreich sein will, sollte eins nicht vergessen: Zuerst kommt die Arbeit, Miss Hargreaves! Deshalb schlage ich vor, dass Sie entweder Ihren Job wechseln oder Ihren Liebhaber!“
Bei dem allgemeinen belustigten Gemurmel und den abschätzenden Blicken der männlichen Kollegen war sie feuerrot geworden. Sie galt als kühl und unnahbar und sprach nie über ihr Privatleben. Und jetzt hatte Hazard Maine ein gänzlich falsches Bild von ihr entworfen, ohne dass sie die Möglichkeit hatte, es richtigzustellen.
Denn es war ihr klar, weshalb er sie angegriffen hatte und worauf er anspielte. Natürlich! Ärgerlich kniff Susannah die vollen Lippen zusammen. Hazard Maine mag zwar ein großer Mann sein, körperlich, immerhin ist er über einen Meter neunzig groß und sehr athletisch gebaut, aber mir auf diese Weise vorzuhalten, was am Samstag passiert ist, zeugt gewiss nicht von geistiger Größe, sagte sich Susannah wütend. Ausgerechnet ihr musste das passieren! Aber wie hätte sie es auch nur ahnen können? Norbert und Martha verkehrten doch in ganz anderen Kreisen als sie. Aber an diesem Wochenende lief ja von Anfang an alles schief …
Zitternd setzte sich Susannah wieder an den Schreibtisch. Sie wollte sich auf ihre Arbeit konzentrieren und nicht mehr an Hazard Maine denken – und schon gar nicht an das letzte Wochenende. Aber die Erinnerung ließ sie nicht los …
Es sah Martha ähnlich, dass sie ihr, Susannah, erst in letzter Minute gesagt hatte, es würde eine sehr festliche Party sein, eher eine Gesellschaft. Abendkleidung wurde erwartet. Mit viel Glück fand sie in der kurzen Zeit dann doch ein passendes Kleid, obgleich das Verleihgeschäft, das sie in ihrer Verzweiflung anrief, wenig in ihrer zierlichen Größe vorrätig hatte.
Schließlich entschied sie sich für ein sehr schlichtes Kleid. Sie war nicht in der Stimmung, irgendetwas Auffälliges anzuziehen. Eigentlich wäre sie sowieso lieber allein geblieben. Aber wenn sie nicht auf der Party erschien, würde Martha so lange fragen und bohren, bis sie ihr alles über David und sie erzählt hatte. Und sie wollte vor der welterfahrenen Frau auf keinen Fall als Närrin dastehen.
Ihr Verhältnis zu Martha war etwas ungewöhnlich, einmal waren sie die besten Freundinnen, ein anderes Mal fast Feinde. Trotzdem liebte sie Martha, und Martha liebte sie.
„Hab’ keine Angst vor dem Leben“, ermunterte sie ihr Patenkind stets. „Stürz dich hinein und genieß es!“
„Susannah ist nicht der Typ, der sich in etwas hineinstürzt. Wir Briten sind anders“, entschuldigte Norbert sie dann. Aber selbst Norberts freundliche Worte versetzten ihr irgendwie einen kleinen Stich.
Besonders in dem Moment hatte sie es wieder empfunden, als sie sich in ihrem Schlafzimmer umzog und sich wie schon so oft fragte, ob sie David wirklich nur aus Gewissensgründen zurückgewiesen hatte oder aus Angst vor einer Liebesbeziehung.
Ärgerlich über sich selbst, bürstete sie ihre zerzausten Haare durch und schlüpfte in das schicke, klassisch geschnittene Kostüm, das sie sich in der vergangenen Woche gekauft hatte. Rasch noch den Koffer, die Schachtel mit dem Abendkleid und das Geschenk für Martha in den kleinen Fiat packen und die Alarmvorrichtung an der Wohnungstür einschalten. Fertig! Wenn ich mich beeile, kann ich rechtzeitig zum Lunch bei Norbert und Martha sein, überlegte Susannah und stieg in den Wagen, um sich dann geschickt in den fließenden Verkehr einzufädeln.
Der Nachmittag würde sicher mit tausend letzten kleinen Vorbereitungen für Marthas Party ausgefüllt sein. Susannah lächelte, als sie an ihre quirlige, energievolle Patin dachte. Und dann muss ich nur noch irgendwie den Abend überstehen; zum Glück weiß Martha ja nichts von David, tröstete sie sich. David …
Selbst zu diesem Zeitpunkt hatte sich ein Teil von ihr gewünscht, dass …
Was? hatte sie sich spöttisch gefragt. Dass David wie durch ein Wunder plötzlich frei wäre? Aber er war nicht frei, und sie könnte auch gar nicht mit einem Mann leben, der bereit war, sein Kind im Stich zu lassen.
Hör auf, an ihn zu denken, hatte sie sich ermahnt. Es ist vorbei!
Susannah hatte sich auf der Fahrt zu ihrer Patentante nur auf den Verkehr konzentrieren wollen, aber dann waren ihre Gedanken doch wieder abgeschweift. Sie dachte an Richard, mit dem sie so gut zusammenarbeiten konnte und der sie immer gefördert und ihr Talent gelobt hatte. Jetzt würde ein gewisser Hazard Maine seinen Platz als Chefredakteur einnehmen. Damals, vor dem letzten Wochenende, war Hazard Maine nur irgendein Name für sie gewesen, verbunden mit ein paar Informationen.
Wie alle Kollegen hatte auch sie, Susannah, einiges über ihn gelesen, seit feststand, dass Hazard Maine der künftige Boss sein würde. Bisher hatte er für Zeitungen in New York und Sydney aus irgendwelchen Krisengebieten der Welt berichtet, war vierunddreißig Jahre alt, also zehn Jahre älter als sie, und er war ledig. Das hatte sie anfangs gewundert, aber es war ja bekannt, dass Auslandskorrespondenten selten heirateten.
Hazard Maine hatte einen erstklassigen Ruf. Er würde volle Handlungsfreiheit haben, das hieß, er konnte nach Gutdünken Mitarbeiter einstellen oder entlassen und die Zeitschrift ganz nach seinen eigenen Richtlinien führen. So jedenfalls erzählte man sich in der Redaktion. Es hieß auch, dass er den Job zuerst abgelehnt habe, mit der Begründung, er sei in erster Linie Zeitungsjournalist und Zeitschriften interessierten ihn nicht.
Allerdings ging das Gerücht, Hazard Maine habe sich noch sehr viel genauer und drastischer ausgedrückt.
Das berufliche Ansehen dieses Mannes war zwar beeindruckend, aber sie persönlich würde Richard vermissen. Der eine oder andere der Kollegen hatte sie manchmal mit Richard geneckt, aber niemand glaubte ernstlich, dass Richard ihr mehr als rein berufliches Interesse entgegenbrachte.
Richard liebte seine Frau sehr. Seiner Frau zuliebe hatte er seinen geliebten Job aufgegeben und eine Aufgabe übernommen, die ihn wenig begeisterte. Aber er glaubte es Caroline schuldig zu sein.
„Journalisten sind keine guten Ehemänner, meint Caroline. Und wissen Sie, Susannah, sie hat recht“, hatte er ihr erklärt. „Jetzt, wo die Jungen älter werden, brauchen sie ihren Vater besonders. Im Augenblick sehe ich sie nur am Wochenende, und auch dann habe ich nicht immer genügend Zeit für sie.“
Richard war, genau wie sie, mit eher altmodischen Moralvorstellungen aufgewachsen. Vielleicht hatte sie ihn deshalb so gern. Und sie hatte ihn als Chef bewundert und bewunderte ihn noch als väterlichen Freund, eine Bewunderung, die sie für Hazard Maine bestimmt nie haben würde. Auf der Fahrt zu ihrer Patentante Martha hatte sie das allerdings noch nicht gewusst …
Das neue Heim von Norbert und Martha war ein Herrenhaus aus dem siebzehnten Jahrhundert. Man erreichte es über eine schmale, gewundene Zufahrt, sodass die schöne Fassade erst im letzten Moment sichtbar wurde.
Susannah hatte von Norbert gehört, dass Martha das Innere des Hauses mit dem ihr eigenen, typisch amerikanischen Unternehmungsgeist fast vollständig umgestalten wolle. Sie hatte erfahrene und teure Designer damit beauftragt, und Susannah, die den ursprünglichen, etwas verwahrlosten Charme des alten Hauses sehr gern gehabt hatte, war auf das Ergebnis dieser Umgestaltung nicht besonders gespannt gewesen.
Vor dem Haus parkten bereits mehrere Wagen, und Susannah fuhr ihren kleinen Fiat rückwärts in eine Lücke neben einen großen, sehr neu aussehenden Jaguar.
Als sie auf das Haus zuging, wurde die Tür geöffnet, und Martha eilte auf Susannah zu und umarmte sie. Sie trug einen Tweedrock mit einem farblich genau abgestimmten Kaschmirpullover und dazu eine Perlenkette. Alles war so offensichtlich auf den vornehm-ländlichen Hintergrund zugeschnitten, dass Susannah nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken konnte. Typisch Martha.
„Du bist zu dünn“, erklärte Martha bestimmt. „Was hast du angestellt?“
„Gearbeitet“, antwortete Susannah. „Ich dachte übrigens, eine Frau könnte gar nicht zu schlank sein.“
„Schlank und dünn ist ein Unterschied“, bemerkte Martha ernst. „Und du bist dünn. Es steht dir nicht.“
„Danke, Martha.“
Ihre elegante Patentante hob leicht eine Augenbraue. „Du meine Güte, bist du heute aber empfindlich. Ist etwas nicht in Ordnung, Susannah?“
Susannah biss sich auf die Unterlippe. „Nein, ich … Du hast recht, ich habe wohl ein bisschen zu viel gearbeitet. Entschuldige bitte, wenn ich etwas grob war. Zeigst du mir jetzt das Haus?“
Sie hakte sich bei Martha ein und zwang sich, dem besorgten Blick der Älteren standzuhalten.
„Die Entschuldigung ist angenommen.“ Martha tätschelte liebevoll Susannahs Hand. „Aber hab keine Angst, ich werde dein aufopferndes Angebot, das Haus zu besichtigen, nicht annehmen. Ich weiß, dass du das Haus vor dem Umbau lieber mochtest. Du bist wie Norbert. Er dachte doch tatsächlich, wir würden hier einziehen, ohne irgendetwas zu verändern“, spottete Martha. „Wie sehr ihr Engländer doch Veränderungen hasst.“
Beide lachten. Der Friede war wiederhergestellt, und Susannah atmete erleichtert auf.
„Sind Paul und Simon schon angekommen?“, erkundigte sie sich.
„Gestern Abend.“ Martha rollte mit den Augen. „Ich liebe meine Enkel sehr“, meinte sie ergeben, „aber wenn sie alle auf einmal da sind …“
„Was höre ich da, Mom? Du hast doch nicht etwa schon genug von uns.“
Paul ist seinem Vater wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten, dachte Susannah, als der jüngere der beiden Brüder sie umarmte. „Und wie geht es unserem kleinen Rotschopf? Sag mal, was hast du denn angestellt? Du bist ja nur noch ein Strich in der Landschaft!“
„Das habe ich ihr eben auch gesagt.“
„Wo sind Sarah und die Jungen?“, wechselte Susannah schnell das Thema und befreite sich aus Pauls Umarmung.
„Wir sind alle im Wintergarten. Komm mit, Ethel hat gerade Kaffee gekocht.“
Ethel war die Haushälterin, die schon in London für Norbert und Martha gesorgt hatte und nach anfänglichem Sträuben schließlich mit ihnen aufs Land gezogen war.
Als sie den Wintergarten betraten, konnte Susannah das Festzelt im hinteren Teil des Gartens erkennen. Offenbar waren die Vorbereitungen für die Party voll im Gang, denn es herrschte ein eifriges Kommen und Gehen von Lieferanten und Bediensteten.
Pauls und Simons Frauen kannte Susannah bereits, aber inzwischen hatte die Familie Zuwachs bekommen, und Susannah musste zuerst die beiden Babys bewundern, ehe sie den Großvater begrüßen konnte.
Der Ruhestand bekommt ihm gut, stellte Susannah fest und lächelte Norbert zu. Er hatte ein sanfteres Wesen als Martha. Vielleicht war er nicht ganz so scharfsinnig wie sie, aber auf seine Art war er sehr klug und bestimmt diplomatischer als Martha.
Während des Lunchs wurde eifrig erzählt; immerhin war es fast zwölf Monate her, dass die Familie vollzählig beisammen war. Susannah war froh, etwas abseits zu sitzen, und warf nur hin und wieder ein paar Worte ein.
„Und was ist mit dir, Susannah?“, fragte Simon. „Arbeitest du noch immer bei dem Zeitschriften-Verlag?“
„Ja. Und meine Arbeit gefällt mir noch immer.“
Ihre Stimme klang ein wenig trotzig. Susannah liebte Paul und Simon sehr, aber es ließ sich nicht leugnen, dass die beiden Brüder ziemlich veraltete Ansichten über Frauen und Karriere hatten. Ihre eigenen Frauen schienen auch sehr zufrieden damit zu sein, sich nur der Familie zu widmen, obgleich sowohl Sarah als auch Emma vor der Ehe sehr erfolgreich in ihrem Beruf gewesen waren.
Keine von beiden scheint ihren Beruf zu vermissen, dachte Susannah. Verändert die Liebe einen so, dass man keinen beruflichen Ehrgeiz mehr hat? Habe ich bei David auch so empfunden? Könnte ich mein Leben für ihn völlig ändern und nur noch eine zufriedene Hausfrau sein, während er …
Während er mich betrügt, so wie er seine Frau betrogen hat? fragte sie sich.
„He, träumst du?“
Simon zog Susannah neckend an den Haaren. Sie schob die düsteren Gedanken beiseite und nahm sich vor, sich lieber ihren Freunden zuzuwenden.