Das Herz kennt die Wahrheit

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Die Fernsehmoderatorin Kimberly geht nicht mehr unter Menschen, weil ihr schönes Gesicht bei einem Erdbeben verletzt wurde. Nur den Feuerwehrmann Jay, der bei ihrer Rettung sein Leben riskiert hat, kann sie nicht vergessen. Als sie erfährt, dass er einen schweren Unfall hatte, ist sie sofort an seiner Seite...


  • Erscheinungstag 10.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755461
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mach einfach weiter und tu so, als wäre alles ganz normal.

Das war Kimberly Lydells erster Gedanke, als die Erschütterungen begannen. Erdbeben waren hier in der Gegend nichts Ungewöhnliches und kein Grund zur Besorgnis. Sie zählten mehr oder weniger zum kalifornischen Alltag.

Und so las sie einfach weiter die Nachrichten vom Teleprompter ab und lächelte in die Kamera. „In den Vereinigten Staaten haben …“

Die Erdstöße wurden heftiger. Über ihr begannen die Scheinwerfer zu schaukeln. Ein dumpfes Grollen erfüllte das Studio. Der Boden fing an zu beben.

„… Wissenschaftler herausgefunden …“

„Sofort raus hier!“ Ihr Co-Moderator sprang auf und hechtete mit einem gewaltigen Satz zur Rückseite des Studios. Gleichzeitig rannten der Kameramann und der Techniker zur rettenden Tür. Hinter der schalldichten Scheibe gab der zuständige Redakteur Kim verzweifelt Zeichen, sich in Sicherheit zu bringen.

Aber Kimberly war wie gelähmt, unfähig, sich zu bewegen. Der Boden hob und senkte sich wie ein Schiff bei heftigem Seegang. Ohrenbetäubender Lärm übertönte jedes andere Geräusch. Eine Kamera stürzte wie in Zeitlupe um, und ein Scheinwerfer krachte auf den Boden und zerschellte.

Kim rappelte sich hoch und verfing sich dabei in ihrem Mikrofonkabel. Sie kämpfte sich frei, nur um im nächsten Moment über ein weites Kabel zu stolpern. Jetzt hatte auch sie panische Angst. Ein metallisches Kreischen ließ sie hochblicken. Der schwere Scheinwerfer über ihr war aus seiner Verankerung herausgerissen und hing nur noch an einer einzigen Schraube.

Dann ging das Licht aus, und sie sah nichts mehr. Um sie herum war alles pechschwarz. Ein heftiger Schmerz zog sich über ihre linke Gesichtshälfte, und sie schrie gellend auf. Dann stürzte sie zu Boden. Sekundenbruchteile später fiel etwas Schweres auf ihre Beine. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Staub drang in ihre Lungen.

Von einem auf den anderen Moment herrschte eine gespenstische Stille, die kurz darauf von dem schrillen Heulen von Sirenen zerrissen wurde.

Der Löschzug hielt mit quietschenden Bremsen vor dem Fernsehsender. Jay Tolliver sprang heraus, wie er es schon Hunderte von Malen getan hatte, und zurrte entschlossen seinen Helm fest. Das Erdbeben war diesmal schwerer als gewöhnlich gewesen. Aus der ganzen Stadt kamen Hilferufe, und die Leitungen waren blockiert.

Der Einsatzleiter war schon vor Ort und brüllte Befehle. „Tolliver und Gables, das hintere Gebäudedrittel ist teilweise eingebrochen. Angeblich befinden sich noch Menschen darin. Kümmert euch darum!“ Er wandte sich ab, um zwei weitere Männer in das offenbar weniger beschädigte Nachbargebäude zu schicken.

Jay und Mike Gables liefen los. Auf dem Parkplatz kreischten die Alarmanlagen von mehreren Autos, die durch das Beben ausgelöst worden waren. Rotlichter blinkten. Die stuckverzierte Fassade des Fernsehsenders war gerade renoviert worden.

Alles für die Katz, dachte Jay, als er die Glastür zur Eingangshalle aufstieß. Nur ein Notlämpchen leuchtete schwach. Auf dem Boden lagen Steine und Putzbrocken. Staubschwaden hingen in der Luft. Das Mobiliar war zersplittert und auf so bizarre Weise neu verteilt, als wäre der Innenarchitekt plötzlich wahnsinnig geworden.

„Offenbar ist der Sendebetrieb eingestellt“, bemerkte Mike trocken.

Jay knipste seine Taschenlampe an. Er dachte an Kimberly Lydell, die Nachrichtenmoderatorin mit dem engelhaften Gesicht und der rauchigen Stimme einer Bluessängerin. Er kannte sie noch aus der Highschool, wenngleich er sie immer nur aus der Ferne bewundert hatte. Achtzehn Jahre war er gewesen, und ihre Stimme hatte ihn schon damals ungeheuer erregt. Er hoffte nur, dass sie nicht unter den Opfern war.

„Ist da jemand?“, rief er. Der Mundschutz dämpfte seine Stimme. Langsam und vorsichtig stieg er neben Mike die Treppe hinauf in den ersten Stock. Mauerstücke und Glas knirschten unter den schweren Stiefeln. Ein Balken baumelte von der Decke, kaum noch von einer Strebe gehalten. Sie hörten ein Geräusch.

„Ich sehe mal nach, was das ist“, sagte Mike.

Jay drang weiter vor. Ein Elektrokabel ragte aus der Wand, schwang wie von Geisterhand bewegt hin und her.

„Hilfe!“

Jay blieb stehen und lauschte.

„Hilfe!“ Das war die Stimme einer Frau. Sie klang schwach.

„Wo sind Sie?“

„Hier …“

Er warf sich mit der Schulter gegen die Tür. Das Schloss sprang sofort auf. Suchend ließ er den Strahl seiner Lampe durch den Raum wandern. Er schien in einem Aufnahmestudio zu sein. Sein Herz schlug schneller. Kimberly Lydell war für die Vorabendnachrichten zuständig. Wie alle Männer in Paseo del Real saß er um diese Tageszeit pünktlich vor dem Fernsehapparat, wann immer es ihm möglich war. Das Beben hatte um 18.14 Uhr eingesetzt, also mitten in ihrer Sendung.

Plötzlich entdeckte Jay die blonden Haare. Sein Magen zog sich zusammen. Aber er war gut genug geschult, um nicht hektisch zu reagieren. Ruhig sprach er in sein Funkgerät. „Ich habe eine Frau gefunden, erster Stock, dritte Tür rechts. Ich gehe jetzt hinein.“

„Bitte … Ich bin verletzt …“

„Bleiben Sie ganz ruhig und bewegen Sie sich nicht. Ich bin gleich bei Ihnen.“ Jay trat vorsichtig über die umgestürzten Kameras und die Mauerbrocken. Die Zimmerdecke war teilweise eingestürzt. Ein schwerer dunkler Dachbalken lag auf dem Boden. Darunter war die Frau eingeklemmt.

Jay kniete sich neben sie. Er zwang sich, äußerlich ruhig und gefasst zu wirken, auch wenn seine Gefühle sich überschlugen. „Wie geht es Ihnen?“

„Sie meinen, abgesehen davon, dass ich halb verschüttet bin?“

Jay lachte. Gut. Die Frau hatte Humor. Das imponierte ihm.

Dann entdeckte er das Blut und die tiefen Verletzungen auf ihrer linken Wange. Sie war blass. Er zog eine sterile Kompresse aus der Innentasche seines Helmes, die er für solche Zwecke dort aufbewahrte, und riss die Plastikhülle auf. Er hatte schon viele Verletzte verarztet, aber jetzt lag Kimberly Lydell vor ihm, die Traumfrau aller Männer von Paseo del Real.

„Sie bluten. Ich verbinde Sie, und dann sehen wir zu, dass wir Sie schleunigst hier herausbekommen.“

Kim zuckte zusammen, als Jay ihr die Kompresse auflegte, aber sie gab keinen Laut von sich.

Tapfer ist sie, dachte er anerkennend. Das nötigte ihm Respekt ab. Er setzte sich auf die Hacken und schaltete sein Funkgerät an, um Hilfe zu rufen.

In diesem Augenblick bebte die Erde zum zweiten Mal.

Jay riss sich den Helm vom Kopf, um Kims Gesicht damit zu bedecken, und legte sich schützend auf sie. Das ganze Gebäude ächzte und schien in seinen Fundamenten zu erzittern. Deckenteile fielen hinunter, krachend zersplitterte Holz. Metall knirschte unter der Belastung. Draußen begannen wieder die Sirenen zu heulen.

Dann war alles totenstill. Jay atmete tief durch. „Sind Sie noch da?“, erkundigte er sich und hob den Helm hoch, damit er Kim ins Gesicht sehen konnte.

„Ich würde im Traum nicht daran denken, eine so aufregende Party frühzeitig zu verlassen“, erwiderte sie und lächelte angestrengt.

Jay lachte.

„Alles okay?“, erkundigte Mike sich über das Funkgerät.

Jay atmete tief durch. „Ja. Wir amüsieren uns großartig“, gab er zurück. „Aber ich glaube, die Dame hätte gern ein bisschen mehr Gesellschaft. Sie ist unter einem Balken eingeklemmt. Vielleicht könnt ihr uns jemanden schicken. Bringt eine Brechstange mit. Ein Sanitäter wäre auch nicht schlecht.“

„Kriegst du. Es kann aber ein bisschen dauern. Das zweite Beben hat die Treppe ziemlich stark beschädigt.“

Jay sah auf Kim hinunter. Sie blutete nicht sehr stark, aber ihre Beine machten ihm Sorgen.

„Überzieht eure Zigarettenpause nicht allzu sehr, okay?“

„Okay.“

Kim sah zu Jay auf. „Beim nächsten Beben kann das ganze Gebäude einstürzen. Sie sollten sich lieber schnell in Sicherheit bringen.“

„Ich sollte gar nichts, und schon gar nicht ohne Sie, Kim. Meine Kollegen werden uns hier herausholen, keine Angst.“

„Sie kennen mich?“

„Ja, natürlich. Hier kennt Sie jeder.“

Kim runzelte die Stirn. „Müsste ich Sie auch kennen?“

„Könnte sein. Wir waren auf derselben Highschool.“

Kim sah ihn eine Weile forschend an, dann wurden ihre Augen groß. Sie hatten dieses unvergleichliche Blau, die jede Schattierung der Lupinen, die im Frühling in den Hügeln rund um Paseo blühten, in sich zu vereinen schienen. „Jay?“, fragte sie ungläubig. „Bist du Jay Tolliver?“

Es tat Jay gut, dass sie ihn erkannte, auch wenn es nichts zu bedeuten hatte. „Erraten.“

„Ach du meine Güte …“ Sie schrie leise auf, als sie eine unvorsichtige Bewegung machte.

„Bleib ganz ruhig liegen, Kim. Es dauert nicht lange, bis wir dich hier herausholen.“

„Ja …“ Er sah, dass sie gegen aufsteigende Panik ankämpfte, und nahm ihre Hand. Sie zitterte und versuchte dann zu lächeln. „Natürlich erinnere ich mich an dich.“

„Ich fühle mich geschmeichelt.“

„Du solltest nicht …“ Sie stöhnte und biss sich auf die Lippen.

„Ich werde versuchen, das Gewicht ein bisschen von dir zu nehmen.“ Jay nahm seine Axt und versuchte einen Keil unter den Balken zu schieben. Wenn er ihn nur ein oder zwei Zentimeter anheben konnte, würde es schon helfen. Aber seine Kraft reichte einfach nicht.

„Wollen wir uns nicht ein bisschen unterhalten, bis Hilfe kommt? Ich meine …“

„Gute Idee.“ Ihre Lippen waren blutleer. Offenbar hatte sie einen Schock. Wo zum Teufel blieben seine Kollegen? Kim musste hier raus, und zwar bald. „Worüber?“

„Über dich. Wie bist du eigentlich zur Feuerwehr gekommen?“

„Ich habe immer davon geträumt, eines Tages eine wunderschöne Frau zu retten, woraufhin sie mir ihre unsterbliche Liebe gesteht.“

„Dann hast du jetzt dein Ziel erreicht. Welche Frau könnte da schon widerstehen?“

Die meisten, vermutete Jay. Er war zu realistisch, um sich etwas vorzumachen. Vor allem die Frauen, die seinen Hintergrund kannten, wollten nichts von ihm wissen. Er war in ärmlichen Verhältnissen bei seiner zuletzt pflegebedürftigen Mutter aufgewachsen und hatte sich täglich am Rande einer Katastrophe bewegt. Während der Schule hatte er Abendkurse belegt und alle möglichen Jobs angenommen, um seine Mutter unterstützen zu können. Geld hatte er nie gehabt. Er war kaum der Mann, der in einer Frau romantische Träume wecken konnte – schon gar nicht in Kimberly Lydell.

Auf der Highschool hatte er für sie geschwärmt, aber nie den Mut gefunden, sie anzusprechen. Sie war ihm damals schon in allen Bereichen überlegen gewesen. Aber solche Erinnerungen halfen ihm nicht weiter. Jetzt hatte er andere Sorgen: Er musste sie zum Durchhalten bewegen, bis Hilfe kam.

Noch immer rieselte Kalk auf sie hinunter, und er rückte den Helm auf ihrem Kopf zurecht, um sie vor dem weißen Staub zu schützen.

„Das ist nicht meine Größe“, meinte sie und lächelte schwach.

„Steht dir trotzdem großartig. Wer weiß, vielleicht begründest du damit einen neuen Modetrend. Schließlich warst du schon immer das modebewussteste Mädchen in der Stadt.“

Nach kurzem Zögern schob Kim ihre Hand in seine. „Jay, wie schlimm ist mein Gesicht verletzt? Es fühlt sich an, als ob … Bitte. Ich muss es wissen.“

„Es scheinen nur oberflächliche Verletzungen zu sein.“ Vielleicht war es eine Lüge, er wusste es nicht. Aber sie durfte sich jetzt nicht auch noch darum Gedanken machen. „Kopfwunden bluten meistens sehr stark, das sagt überhaupt nichts. Es wird alles wieder heil werden.“

Sie klammerte sich an seine Hand. „Danke. Ich bin so froh, dass du da bist.“

„Ich auch …“

Es dauerte beinahe eine Stunde, bis das Rettungsteam Kimberly aus den Trümmern befreit hatte. Die ganze Zeit über hielt sie Jays Hand und ließ sie erst los, als sie in den Krankenwagen gehoben wurde.

Jay arbeitete die ganze Nacht durch und fand erst am nächsten Morgen nach Ende seiner Schicht die Zeit, ins Krankenhaus zu fahren.

„Wie geht es Miss Lydell?“, erkundigte er sich beim Stationsarzt.

Der Arzt wirkte erschöpft. Auch für ihn war es eine lange Nacht gewesen. „Leider dürfen wir nur Angehörigen Auskünfte geben.“

„Herr Doktor, ich habe sie gefunden und möchte es einfach wissen. Können Sie nicht eine Ausnahme machen?“

Der Arzt sah ihn eine Weile an und nickte dann. „Miss Lydells Zustand ist kritisch, aber stabil.“

„Was ist mit ihren Beinen?“

„Es sah zum Glück schlimmer aus, als es ist. Im rechten Bein war die Durchblutung ziemlich lange unterbrochen, aber es sieht so aus, als ob wir es retten können.“

„Und ihr Gesicht?“

„Schönheitschirurgie fällt nicht in mein Fachgebiet, aber ich glaube kaum, dass sie ohne Narben davonkommen wird. Es waren keine glatten Wundränder.“

Jay atmete tief durch. Genau das hatte er befürchtet. „Kann ich zu ihr?“

„Im Moment nicht. Sie wird gerade in den Operationssaal gebracht. Hier war die ganze Nacht die Hölle los. Das können Sie sich ja denken.“

Am nächsten Tag versuchte Jay Kim anzurufen, musste sich aber sagen lassen, dass Miss Lydell keine Anrufe entgegennahm und auch keine Besucher empfing.

Er schickte ihr Blumen und schrieb seine Telefonnummer auf die beigelegte Karte. Er bekam keine Antwort. Weder in dieser Woche noch später. Aber er hatte auch nichts anderes erwartet. Wahrscheinlich bekam sie Hunderte von Blumensträußen geschickt, und er war einfach nur einer unter vielen Fans.

Es machte ihm nicht einmal etwas aus, dass seine Kollegen in der Wache ihn damit aufzogen, dass er die schönste Frau der Stadt gerettet hatte – zumindest störte es ihn nicht sehr. Er hatte seine Arbeit erledigt, was konnte man mehr von ihm erwarten?

Kim ging seit vier Monaten nicht mehr an die Tür, wenn es klingelte. Sie hatte sich vollständig zurückgezogen und in ihrem Haus eingeigelt, in Gesellschaft ihrer Bücher und ihrer Tonskulpturen. Trotz aller ärztlichen Bemühungen waren ihre Verletzungen nur schlecht verheilt, und über ihre linke Gesichtshälfte zog sich eine gezackte Narbe, die auch unter dickem Make-up nicht ganz verschwand. Kim hatte das Gefühl, als gliche ihr Gesicht damit einer Clownsmaske.

Nein, sie ging nicht mehr an die Tür.

Aber dieser Besucher war besonders hartnäckig. Sie ging ans Fenster und zog den Vorhang vorsichtig einen Spalt zur Seite. Ihr kleines Haus lag etwas abgeschieden inmitten eines Eichenwäldchens auf einem Hügel außerhalb der Stadt, und an klaren Tagen konnte sie von der Terrasse den Sonnenuntergang über dem Pazifik beobachten.

Der Mann, der auf der Veranda stand, gab offenbar nicht so schnell auf. Kim kannte ihn: Es war Chief Harlan Gray, Leiter der Feuerwehr von Paseo del Real, und sie konnte ihn unmöglich ignorieren. Seufzend öffnete sie die äußere Tür, trat sofort einen Schritt zurück und schloss sofort das Fliegengitter dahinter, damit Harlan Gray ihr Gesicht nicht so genau erkennen konnte.

„Chief Gray. Was führt Sie zu mir?“

Harlan Gray nahm seine Mütze ab. Er hatte dichtes weißes Haar. „Guten Morgen, Miss Lydell. Schön, Sie zu sehen.“

„Na ja …“ Diese Ansicht teilten sicher nicht sehr viele Menschen, und sie selbst fand es alles andere als schön, sich im Spiegel sehen zu müssen.

„Könnte ich wohl einen Augenblick hereinkommen?“

„Tut mir leid, aber ich empfange keine Besuche.“

„Ich verstehe.“ Er drehte die Mütze in seinen Händen. „Haben Sie zufällig von der Explosion in der Kunststofffabrik vor einigen Tagen gehört?“

„Ich sehe nur selten Nachrichten.“ Das erinnerte sie zu sehr an die Vergangenheit und alles, was sie aufgeben musste.

„Bei dieser Explosion wurde einer meiner besten Männer verletzt. Er hatte einem der Opfer seinen Schutzhelm gegeben, und dann explodierte direkt vor ihm ein Glascontainer.“

„Das tut mir leid.“ Was nicht einmal gelogen war, aber Kim kam zurzeit kaum mit sich selbst zurecht. Wie sollte sie sich da noch mit den Schicksalen anderer Menschen beschäftigen?

„Dabei wurde seine Hornhaut an beiden Augen beschädigt. Die Ärzte befürchten, dass er sein Leben lang blind bleibt.“

Kim bekam ein schlechtes Gewissen. Sie hatte sich so von ihren eigenen Problemen überwältigen lassen, dass sie manchmal vergaß, dass es anderen Menschen noch viel schlechter ging. „Das ist wirklich traurig, aber ich verstehe nicht ganz, was ich damit zu tun habe.“

„Es handelt sich um Jay Tolliver.“

Sie hatte das Gefühl, als hätte man ihr eine schallende Ohrfeige verpasst. Ausgerechnet der Junge – jetzt ein erwachsener Mann –, für den sie in der Highschool ebenso heimlich wie aussichtslos geschwärmt hatte, hatte sie nach dem Erdbeben aus dem eingefallenen Gebäude gerettet. Und jetzt war er selbst auf fremde Hilfe angewiesen.

„Jay ist inzwischen aus dem Krankenhaus entlassen worden, lässt aber niemanden an sich heran. Er hat diese fixe Idee, dass ein echter Mann allein mit seinem Schicksal fertig werden muss, selbst wenn es ihn umbringt.“

„Ich weiß nicht recht, was ich da tun kann.“

„Miss Lydell, nach dem Erdbeben hat Jay tagelang nur von Ihnen geredet. Seine Kollegen haben ihn deshalb mächtig aufgezogen. Wenn er überhaupt Hilfe annimmt, dann nur von Ihnen.“

Kim geriet in Panik. Das war ganz und gar unmöglich. Seit Monaten verließ sie das Haus nur, wenn sie einen Termin beim Arzt hatte, und dann trug sie immer eine große Sonnenbrille und ein Tuch, um ihr Gesicht zu verhüllen. Was sie zum Leben brauchte, bestellte sie telefonisch und ließ es sich ins Haus liefern. So gern sie Jay geholfen hätte, so wenig sah sie eine Möglichkeit.

Ein Zittern lief durch ihren Körper. Nein, dieses Ansinnen ging über ihre Kräfte. Allein die Vorstellung, dass jemand sie so entstellt sah, brachte sie halb um. Es gab nur zwei Reaktionen auf ihren Anblick: Mitleid und Abscheu. Beides könnte sie nicht ertragen.

„Ich fürchte, ich bin dafür leider nicht die geeignete Person.“

„Er braucht jemanden, Miss Lydell.“

Kim nahm all ihren Mut zusammen, öffnete das Fliegengitter und trat auf die sonnige Veranda hinaus. Wenn der Chief sie so sah, würde er verstehen, dass sie nichts tun konnte. „Glauben Sie im Ernst, jemand, der so aussieht, könnte anderen Menschen helfen?“

Der Feuerwehrchef betrachtete sie eine Weile. „Jay ist blind, Miss Lydell“, sagte er dann ruhig. „Ich glaube kaum, dass Ihr Aussehen ihn stört.“

2. KAPITEL

Was in Dreiteufelsnamen trieb der Mann da eigentlich?

Wenige Stunden nach Harlan Grays Besuch parkte Kim vor Jays kleinem Holzhaus. Es stand inmitten einer Reihe ähnlicher Häuser und hatte eine kleine Veranda an der Vorderseite. Darauf stand ein Schaukelstuhl für milde Sommerabende. Vor dem Haus war ein winziger Rasen angelegt, auf dem Jay im Augenblick mit einem Ungetüm von Rasenmäher herumkurvte.

Entweder war er doch nicht ganz blind oder völlig verrückt und zudem noch lebensmüde. Er sah in seinen abgeschnittenen Jeans und dem viel zu kurzen T-Shirt, das seinen Waschbrettbauch enthüllte, wie ein „echter Mann“ aus! Kim stellte sich unwillkürlich vor, wie sie mit der Hand über diesen Bauch strich, und ihr Magen zog sich zusammen.

Viele Mädchen in der Highschool hatten für Jay geschwärmt, nicht nur sie. Wie oft hatte sie von ihm geträumt – und er hatte sie nicht einmal wahrgenommen!

Genau wie jetzt, dachte sie und zog sich unwillkürlich das Tuch weiter ins Gesicht.

Jay ließ sich durch ihr Kommen nicht in seinem Treiben stören, sondern fuhr zügig weiter – über seine Grundstücksgrenze hinweg mitten in das Narzissenbeet des Nachbarn. Dort wendete er und mähte auch noch den Rest der Blumen nieder.

„Jay, halt!“, schrie Kim und sprang hastig zur Seite, bevor er sie auch noch aus dem Weg räumte.

Jay hielt den Rasenmäher an, nahm den Gang heraus und lauschte. Offenbar hatte er Besuch bekommen. Er hasste diese Dunkelheit, die ihn hilfloser und verletzlicher machte, als er es jemals für möglich gehalten hätte.

„Ist da jemand?“

„Ja. Ich bin es – Kimberly Lydell. Könntest du den Rasenmäher vielleicht für einen Moment abstellen?“

Er machte den Motor aus und drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. „Kim? Was machst du denn hier?“

„Im Moment versuche ich gerade, die Blumenbeete deines Nachbarn zu retten.“

„Was?“

„Du hast gerade einen Teil seiner Narzissen umgemäht. Er hätte aber noch ein paar frisch gepflanzte Stiefmütterchen zu bieten, wenn du weitermachen möchtest.“

Es war eine völlig unwirkliche Situation. Da saß er blind auf seinem Rasenmäher und unterhielt sich mit Kimberley Lydell, um die so viele seiner Träume gekreist hatten, über die Blumenbeete seines Nachbarn. „Ich fürchte, ich verstehe dich nicht.“

„Jay, du bist mitten durch den Garten deines Nachbarn gerattert.“

„Unmöglich. Ich bin den Rasen vorher genau abgeschritten! Nie würde ich …“

Kim drückte ihm kommentarlos eine Hand voll zerrupfter Blätter und Stiele in die Hand.

Er seufzte. „Das war wohl keine besonders geglückte Aktion.“ Schlimmer als der Schaden war jedoch, dass ausgerechnet Kim Zeugin seiner Ungeschicklichkeit geworden war. Seit dieser Explosion strengte er sich verzweifelt an, so zu tun, als hätte nichts sich geändert. Meine Blindheit ist doch nur vorübergehend, redete er sich fortwährend ein. Es konnte gar nicht anders sein. Und wenn der Rasen gemäht werden musste, dann wurde er eben gemäht, so oder so!

„Ich kann nur hoffen, dass du verständnisvolle Nachbarn hast.“

„Ja, zum Glück.“ Clarence und Essie Smith waren beide schon in den Achtzigern und kümmerten sich rührend um ihn, vor allem seit seinem Unfall. Und so wartete im Kühlschrank wieder einmal einer von vielen Aufläufen, während Jay versuchte, sich trotz seiner Blindheit selbst etwas zu kochen. Mit Spiegeleiern war er schon einigermaßen erfolgreich, auch wenn sie meist am Rand etwas angebrannt und in der Mitte zu weich waren. Er wollte lieber nicht wissen, wie der Herd aussah. „Und was bringt dich hier in diesen Teil der Stadt – abgesehen von der Sorge um den Vorgarten meiner Nachbarn?“

„Ich habe mich noch gar nicht für die Blumen bedankt, die du mir ins Krankenhaus geschickt hast – oder dafür, dass du mich nach dem Erdbeben gerettet hast.“

Jay hob abwehrend die Schultern. „Das gehört schließlich zu meinem Job.“ Schade, dass er sie nicht sehen konnte, sondern auf seine Erinnerung an ihre schulterlangen blonden Haare und das Lupinenblau ihrer Augen angewiesen war.

„Die Blumen auch?“

„Na ja, ich dachte, du könntest ein bisschen Aufmunterung brauchen.“

„Danke. Das war sehr lieb von dir.“ Ihre Stimme wurde plötzlich heiser, und Jay spürte, wie er eine Gänsehaut bekam.

„Wie geht es dir denn inzwischen?“

„Großartig, ehrlich. Ganz toll.“

Jay hatte den Eindruck, als wäre ihr seine Frage unangenehm. „Ich habe dich seitdem nicht mehr im Fernsehen gesehen.“ Oder viel mehr gehört, setzte er in Gedanken bitter hinzu.

„Ich habe mir eine Auszeit genommen.“

„Aha.“ Er hätte gern gewusst, was sie damit genau meinte.

„Möchtest du mir nicht vielleicht etwas zu trinken anbieten?“, fragte sie jetzt.

Jay versuchte sich an seine Vorräte zu erinnern. „Ich habe aber nur Bier da.“

„Großartig.“

„Den Rasen kann ich später auch noch fertig mähen.“

Kim lachte. „Das wissen deine Nachbarn sicher zu schätzen.“ Sie nahm seinen Arm, und er fühlte ihre weichen, sanften Rundungen an seinem Körper.

Dem Geräusch nach zu schließen, das ihre Absätze machten, hatte sie hochhackige Schuhe an. Bei jedem Schritt raschelte ihr Rock. Seide, dachte er. Wie gern hätte er darüber gestrichen und ihre Haut durch das feine Material gespürt. Welche Farbe der Rock wohl hatte? Blau, stellte er sich vor, passend zu ihren Augen. Ein zarter Duft ging von ihr aus, und Jay atmete ihn tief in sich ein.

Als Kim leicht den Arm hob, schloss er daraus, dass sie die Stufen zur Veranda erreicht hatten. Zum Glück stolperte er nicht. Das war eindeutig ein Fortschritt gegenüber den letzten Tagen, in denen er sich manche Schramme und Beule eingehandelt hatte, weil er die Hindernisse nicht rechtzeitig wahrgenommen hatte.

Seine Augenkompressen sollten in etwa drei Wochen abgenommen werden, und wenn er so weitermachte, war er bis dahin völlig lädiert. Aber er hatte auch keine Lust, untätig herumzusitzen. Schließlich war er nicht krank, sondern momentan nur etwas in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt.

Es gelang ihm ohne größere Schwierigkeiten, die Tür zu öffnen.

Kim folgte ihm ins Haus. Sie brauchte einen Moment, bis ihre Augen sich nach dem Sonnenschein an das dämmrige Licht im Wohnzimmer gewöhnt hatten. Vor einem kleinen offenen Kamin stand eine bequem aussehende, wenn auch etwas fadenscheinige Couch mit passendem Sessel, auf der einen Seite von einem Bücherregal, auf der anderen von einem Fernsehapparat flankiert. Auf dem Couchtisch waren Zeitschriften ordentlich aufeinander gestapelt. Neben einer offenbar schon seit mehreren Tagen dort stehenden, halb ausgetrunkenen Tasse Kaffee lag die Fernbedienung. Eine große Tigerkatze erhob sich gähnend von einem Kissen und streckte sich ausgiebig.

„Fühl dich ganz wie zu Hause“, lud Jay Kim ein. „Ich hole das Bier.“

„Kann ich dir helfen?“

„Nein, danke. Ich komme wunderbar zurecht.“ Er ging durch den Rundbogen zum Esszimmer, wich dabei dem Stuhl am Tischende aus, nur um im nächsten Augenblick gegen einen zweiten zu stoßen, der direkt daneben stand. Er fluchte.

Autor

Charlotte Maclay
Charlotte Maclay hatte immer Geschichten in ihrem Kopf. In der dritten Klasse erfanden sie und eine Freundin Bambi – Geschichten und führten sie als kleine Theaterstücke auf. Ihre Freundin spielte Bambi – sie war Thumper, der Hase aus dem Disney – Film. Eines Tages zog ihre Freundin weg, aber Charlotte...
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