Das ist es, was ich will

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Als die zierliche Ana nach dem Schwimmen aus dem Wasser steigt und ihr nasses T-Shirt mehr enthüllt als verbirgt, kann der smarte Börsenmakler Garrett den Blick nicht von ihr wenden. Wie soll dieser Monat nur enden, wenn er so sexy beginnt? Denn vier Wochen lang muss Garrett sich mit Ana ein Ferienhaus in Maine teilen - so verlangt es eine Klausel im Testament seines Stiefvaters Robin. Von Beginn an ist Garrett überzeugt, dass Ana, die über ihr Verhältnis zu Robin schweigt, dessen Geliebte war. Und wann immer das Verlangen nach ihr zu heftig wird, zwingt Garrett sich, dran zu denken, dass diese verführerische Schönheit, die ihn so unschuldig und süß verzaubert hat, sehr berechnend sein muss. Warum begehrt er sie dann bloß so heftig?


  • Erscheinungstag 17.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719647
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Garrett Holden trat auf die niedrige, marode Veranda des winzigen Hauses und schüttelte abfällig den Kopf. Das hatte er nun davon, dass er darauf bestanden hatte, die Frau, die im Testament seines Stiefvaters Robin Underwood erwähnt wurde, persönlich zu benachrichtigen.

Gewöhnlich kam er nicht in diese Gegend Baltimores, in der schmale Straßen und dicht gedrängte, kleine Häuser mit winzigen Vorgärten das Bild bestimmten. Als er in die schmale Straße eingebogen war, hatte er entdeckt, dass sich hinter den Häusern keine Gärten befanden – alles war mit Betonplatten zugepflastert. Garrett war froh gewesen, einen Parkplatz in der Nähe zu finden, sodass er seinen ausländischen Sportwagen im Auge behalten konnte. Obwohl er niemand bemerkt hatte, der ihm verdächtig vorkam, wirkte die Gegend wie für Verbrechen prädestiniert. Er konnte sich nicht vorstellen, weshalb sich sein Stiefvater mit einer Frau aus diesem Umfeld eingelassen haben konnte.

Die Frau hat anscheinend einen grünen Daumen, dachte er, als er ihren kleinen Vorgarten betrachtete, wo die schönsten bunten Blumen blühten. Eine pinkfarbene Kletterrose, die sich bis zum Verandadach hochgerankt hatte, verbreitete zusätzlichen Schatten. Einige Dielenbretter waren so morsch, dass sie zerborsten waren, und als Garrett sich der Haustür näherte, hoffte er, dass der Hausbesitzer wenigstens so vernünftig gewesen war, den Eingangsbereich besser in Stand zu halten als die Veranda.

Er drückte energisch auf den Klingelknopf. Nichts regte sich. Niemand schien ihn zu bemerken. Er stieß die Fliegengittertür auf und klopfte heftig an die Haustür, die in Augenhöhe ein Fenster hatte. Aber schneeweiße Spitzenvorhänge versperrten ihm die Sicht ins Innere des Hauses.

Da er immer noch keine Schritte hörte, klopfte er erneut. „Hallo? Ist irgendjemand zu Hause?“

„Einen Moment“, erklärte eine weibliche Stimme aus einiger Entfernung, und es klang frustriert.

Er wartete ungeduldig und schaute auf die Uhr, bevor die Tür geöffnet wurde.

Garrett starrte sein Gegenüber sprachlos an. Die Frau entsprach überhaupt nicht seinen Erwartungen. Zum einen war sie nicht annähernd so alt, wie er es von einer Bekannten seines Stiefvaters erwartet hätte. Zum anderen war sie die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte, mit ihren rotblonden Locken, die locker hochgesteckt waren und von denen einige ihr schmales, herzförmiges Gesicht umrahmten. Ihre großen Augen mit den dichten dunklen Wimpern waren von einem fesselnden, leuchtenden Blaugrün, und darüber wölbten sich perfekt geschwungene Augenbrauen. Schräg stehende Wangenknochen, ein kleines Kinn und ein sinnlicher Mund, der im Kontrast zu ihrem hellen Teint pinkfarben leuchtete, rundeten das Bild ab.

Alles in allem sah sie aus wie eine Waldnymphe, die sich in die Stadt verirrt hatte. Unter einem jadegrünen T-Shirt, das ihre Augen zum Leuchten brachte, und der Jeans war eine geschmeidige, kurvenreiche Figur verborgen, die selbst das ausgebeulteste Shirt nicht hätte kaschieren können.

Und ihres war nicht ausgebeult. Wenn überhaupt, war es einmal zu oft gewaschen worden und dabei eingegangen. Das Shirt hatte quer über der einen Schulter einen Riss, der ihre seidig schimmernde Haut entblößte, die er am liebsten berühren würde. Die Waldnymphe hielt bunte Bänder in den Händen, die um ihren Körper flatterten, wenn sie sich bewegte. Eine seidige Haarsträhne lockte sich bis auf ihre linke Brust und setzte deren Rundung in Szene. Garretts Blick folgte den bunten Bändern weiter nach unten, während er die Beziehung der Frau zu seinem Stiefvater zu ergründen versuchte.

Abrupt sah er der Wahrheit ins Auge: Diese Frau musste Robins Geliebte gewesen sein. Warum sonst hätte er sich mit jemanden treffen sollen, der so jung und so unpassend für ihn war?

„Was kann ich für Sie tun?“, fragte die Waldnymphe mit deutlich hörbarem britischem Akzent. Ihr Blick war offen, und sie lächelte nicht.

„Ich suche Ana Birch.“

„Sie haben sie gefunden“, sagte sie. „Ich bin ein bisschen spät dran und wirklich nicht interessiert – was auch immer Sie verkaufen wollen.“ Sie wollte sich umdrehen und wieder ins Haus gehen.

„Oh, es geht mir nicht darum, Ihnen etwas zu verkaufen“, entgegnete Garrett „Mein Name ist Garrett Holden. Kennen Sie Robin Underwood?“

„Guten Tag, Garrett!“ Sie streckte eine Hand aus und ihr ernster, angestrengter Gesichtsausdruck wich sofort einem strahlendem Lächeln, das ihrem Gesicht Wärme verlieh. In ihren lebhaft funkelnden Augen stand Hoffnung, als sie die Tür aufmachte. „Robin hat oft über Sie gesprochen. Begleitet er Sie?“

Garrett starrte sie einen Moment lang an, wobei er ihre ausgestreckte Hand ignorierte. Ihr Lächeln gefror. Sie weiß es nicht, dachte er und fühlte heftigen Ärger und Kummer in sich aufsteigen. „Robin ist tot“, erklärte er knapp.

„Was?“ Sie fasste sich an die Kehle, und einige der bunten Bänder fielen zu Boden. „Entschuldigung. Ich muss Sie falsch verstanden haben.“

Ohne seine Verachtung zu verbergen, musterte er sie kühl. „Sie haben richtig verstanden.“

Aus ihrem Gesicht wich jegliche Farbe. Unsicher tastete sie nach dem Geländer der Veranda und stützte sich dann vorsichtig ab. Dabei sah sie ihn die ganze Zeit über an. „Bitte sagen Sie, dass das ein sehr schlechter Witz ist“, flüsterte sie.

Er schüttelte den Kopf und unterdrückte ein aufkeimendes Schuldgefühl, als er sich daran erinnerte, dass diese Frau sein Mitgefühl nicht brauchte. Es sei denn, um sie über den guten Fang, den sie im Auge gehabt hatte, hinwegzutrösten.

„Was ist passiert?“, stieß sie mit zitternder Stimme hervor.

„Er hatte einen Herzanfall. Er ist einfach nicht mehr aufgewacht. Der Arzt glaubt nicht, dass er etwas gespürt hat.“ Garrett wusste nicht, warum er den letzten Satz hinzugefügt hatte. Vermutlich weil Ana Birch so betroffen wirkte. Vielleicht verabschiedete sie sich aber auch einfach nur innerlich von dem Vermögen, das zu erwarten gewesen wäre, wenn sie den alten Mann vorher zur Heirat überredet hätte.

Sie schien in sich zusammenzusacken. „Wann ist das Begräbnis?“

Garrett war so verblüfft, dass er einen Moment brauchte, um zu antworten. Sicherlich hatte sie nicht erwartet, zur Trauerfeier gebeten zu werden. „Es fand gestern statt.“

Sie wurde noch bleicher, wandte sich von ihm ab, und ihre Schultern begannen zu zucken. Dann gaben ihre Knie langsam nach, und sie sank auf den Boden.

Garrett reagierte instinktiv und fing sie auf, als sie zusammenbrach. Ein zarter, blumiger Duft umgab sie, und für einen Moment übernahmen seine männlichen Hormone die Regie.

Ana riss sich von ihm los. Sie war nicht ohnmächtig geworden, wie er zuerst angenommen hatte. Und jetzt war ihr Gesicht nicht mehr bleich, sondern rot vor Verlegenheit. Da er in Gedanken immer noch mit ihrer Wirkung auf ihn beschäftigt war, registrierte er ihr Erröten jedoch nur am Rande.

Dann meldete sich sein Verstand zurück. Er war widerlich. Diese Frau war die Geliebte seines Stiefvaters gewesen. Sein dreiundsiebzig Jahre alter Stiefvater und diese … Wie alt war sie? Anfang zwanzig? Und jetzt war er, Garrett, ebenfalls von ihr fasziniert. Er fand sich selbst widerlich. Ebenso wie sie. Sie konnte sich doch auf keinen Fall zu Robin sexuell hingezogen gefühlt haben. Er mochte gar nicht daran denken.

Ana wich langsam zurück. „Verzeihen Sie bitte. Ich muss … muss hinein.“

„Warten Sie.“

Aber er kam zu spät. Sie flüchtete, schlug in unglaublichem Tempo erst die Fliegengittertür und dann die Haustür hinter sich zu und ließ ihn allein zurück.

Garrett fluchte. „Miss Birch? Ich muss mit Ihnen reden.“ Er wurde lauter. „Miss Birch?“

Keine Antwort.

Dann hörte er ein leises Weinen, unterbrochen von tiefen, kummervollen Schluchzern. Eine Reaktion, die er sich nicht gestattete, weil er so etwas unmännlich fand, obwohl ihm auch ein oder zwei Mal danach zu Mute gewesen war, seit er vor vier Tagen von Robins Tod erfahren hatte.

Nun, das machte jede Hoffnung zunichte, dass Ana Birch zurückkam. Keine Frau mit geschwollenen Augen und roter Nase würde sich freiwillig einem fremden Mann zeigen. Verdammt!

Er nahm eine Visitenkarte und einen goldenen Füller aus seiner Tasche und notierte auf die Rückseite: Sie sind im Testament erwähnt. Rufen Sie mich an.

Das sollte Wirkung zeigen, dachte Garrett, als er froh darüber, diese schmuddelige Gegend wieder verlassen zu können, zu seinem Wagen zurückkehrte. Er würde jede Wette eingehen, dass Miss Birch sich heute noch bei ihm melden würde. Wenn sie dachte, dass Geld im Spiel war, würde ihr Kummer schnell verfliegen.

Er schloss seinen bronzefarbenen Sportwagen auf und fuhr Richtung Umgehungsstraße.

Eine halbe Stunde später erreichte er den Friedhof nahe Silver Spring, wo Robin gestern beerdigt worden war. Er parkte seinen Wagen und ging zu Robins Grab.

„Du hast es geschafft, mich zu überraschen“, sagte er laut. „Wie hast du es fertig gebracht, mit einer so jungen Frau Schritt zu halten? Kein Wunder, dass du einen Herzanfall hattest.“

Im schwülen Juliwetter ließen die gestern noch frischen Blumen bereits die Köpfe hängen, und Garrett nahm sich vor, den Friedhofswärter anzurufen, um sie bald entfernen zu lassen.

„Ich war nicht darauf vorbereitet“, fuhr er schroff fort. „Nicht, dass du jetzt schon von mir gegangen bist.“ Es war das erste Mal, dass er sich erlaubte, daran zu denken, was er verloren hatte. Bislang hatten ihm die Formalitäten der Beerdigung und die vielen Beileidsbekundungen dabei geholfen, den Gedanken an den Verlust zu vermeiden. Den Verlust des Mannes, der ihn als rebellischen Stiefsohn im Teenageralter an die Hand genommen und ihm Respekt und Liebe gegeben hatte. Jetzt schnürte ihm der Kummer die Kehle zu. Schwer atmend lehnte er sich an den Grabstein.

„Warum?“, fragte Garrett. „Was hat dir diese Frau bedeutet, dass du sie im Testament erwähnt hast? Warst du so einsam?“

Das war möglich. Unzählige ältere Männer gerieten in den Bann junger Schönheiten. Gerade Garrett sollte das nicht wundern. War es nicht auch seinem eigenen Vater passiert? Natürlich gab es da einen deutlichen Unterschied. Robin hatte um einer jüngeren Frau willen nicht seine Frau und ein kleines Kind verlassen. Und da war der Altersunterschied. Robin war fast fünfzig Jahre älter als seine Geliebte gewesen. Eine Tatsache, die Garrett einfach nicht in den Kopf gehen wollte.

Er seufzte. „Ich missgönne dir nicht das Glück, jemand gefunden zu haben, dem du etwas bedeutet hast. Aber der Gedanke, dass eine Frau absichtlich deine Einsamkeit ausnutzte, macht mich verrückt.“ Er hielt inne und fragte sich, warum er sich so schuldig fühlte. „Wenn ich dich vernachlässigt habe, tut es mir Leid.“ Sicherlich hatte er in den letzten Jahren viel zu tun gehabt, aber für Robin war immer Zeit gewesen, oder nicht?

Doch, bestätigte er sich selbst. Deshalb sollte er sich keine Vorwürfe machen. Robin war derjenige gewesen, der in letzter Zeit oft zu beschäftigt gewesen war, um wie sonst mehrmals in der Woche abends gemeinsam zu essen. Im letzten Jahr war er zum ersten Mal nach dem Tod von Garretts Mutter wieder glücklich gewesen. Er hatte jugendlicher gewirkt und sein immer noch gut aussehendes Gesicht hatte oft gestrahlt. Garrett hatte ihn mehr als einmal damit aufgezogen, dass es da eine Frau geben müsse, aber Robin hatte nur geheimnisvoll gelächelt … bis vergangene Woche.

Letzten Dienstag, nur einige Tage vor seinem Tod, hatte Robin anders auf Garretts Anspielungen reagiert.

„Ich werde sie dir bald vorstellen“, hatte er versprochen. „Ich glaube, du wirst sie mögen.“ Das hatte Garretts Ahnungen bestätigt. Aber er hatte sich immer eine ältere, mütterliche und würdevolle Frau vorgestellt und nicht so ein junges Ding mit Modelmaßen und makellosem Teint, das Robins Tochter sein könnte. Oder noch eher seine Enkelin. Es stimmte, dass Robin für sein Alter immer noch gut ausgesehen hatte und auch körperlich ausgezeichnet in Form gewesen war. Was zumindest jeder geglaubt hatte. Und es stimmte auch, dass eine große Zahl einsamer Witwen ihn hatte wissen lassen, dass seine Besuche willkommen wären. Aber es ging doch etwas zu weit, sich einzubilden, diese junge Schönheit Anfang zwanzig könnte sich körperlich zu ihm hingezogen gefühlt haben.

Wenn sie nicht ein Auge auf Robins Geld geworfen hatte, was sehr viel wahrscheinlicher war. Robins Vermögen mochte sich im Vergleich zu dem immensen Kapital, das Garrett mittlerweile angehäuft hatte, bescheiden ausnehmen, aber Robin war reich. Es war sehr gut möglich, dass eine junge Frau als Ausgleich für das Geld ein paar Jahre mit einem älteren Mann in Kauf nahm.

Garrett nahm an, dass er froh sein sollte, dass Robin sie nicht geheiratet hatte. Nach dem Tod seiner zweiten Frau, Garretts Mutter Barbara, hatte Robin gesagt, dass er nie wieder heiraten würde. Aber dennoch mochte ein Mann in seinen Jahren, mit Anfang siebzig, immer noch gewisse Bedürfnisse haben.

Denk nicht weiter daran, sagte Garrett sich. Denn trotz seines Widerwillens musste er wieder mit Miss Birch reden. Der Anwalt, der Robins letzten Willen vollstrecken sollte, hatte sehr deutliche Anweisungen gegeben. Die Testamentseröffnung würde nur stattfinden, wenn Miss Birch daran teilnahm.

Als Garrett zu dem Haus zurückkam, das er gemeinsam mit seinem Stiefvater bewohnt hatte, ging er direkt in sein Arbeitszimmer und griff zum Telefon. „Miss Birch, hier ist Garrett Holden, Robins Stiefsohn“, sagte er, als sie sich meldete. „Es ist notwendig, dass Sie bei der Testamentseröffnung dabei sind.“

„Nein.“ Es klang endgültig. „Sie können alles haben, was er mir hinterlassen hat. Schicken Sie mir einfach alle notwendigen Papiere, und ich werde unterschreiben.“ Noch bevor Garrett etwas erwidern konnte, hatte sie aufgelegt. Gab sie eine Erbschaft auf?

Er starrte auf das Telefon, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sie nicht mehr sehen zu müssen, und dem Ärger über ihr Benehmen. Er verstand es nicht. Ungeduldig drückte er die Wahlwiederholung. Als Ana Birch sich meldete, sagte er: „Sie haben nicht verstanden. Sie werden hingehen müssen.“

„Das werde ich nicht.“ Sie klang jetzt aufgebracht. „Bitte rufen Sie nicht wieder an.“ Und zu seinem großen Erstaunen legte sie ein zweites Mal auf.

Also gut, er würde noch einmal zu ihr gehen müssen. Er konnte sich jetzt vorstellen, was los war. Sie zierte sich, um ihre Geldgier zu kaschieren. Trotz ihrer Weigerung, so vermutete er, kannte sie den Inhalt des Testaments bereits. Zumindest, soweit es ihre Person betraf. Was bedeutete, dass sie mehr wusste als er. Er würde ihr einfach eine höhere als die in Robins Testament vorgesehene Summe versprechen müssen, und sie würde viel zugänglicher werden.

Er fuhr sich durch die dunklen Haare und massierte seine Kopfhaut. In den letzten Tagen litt er unter stechenden Kopfschmerzen, und sie schienen nicht besser zu werden. Es lag wahrscheinlich an all dem Stress.

Wenn das Testament erst einmal eröffnet wäre, würde er eine Woche im Landhaus in Maine verbringen. Das Häuschen am Ufer des Snowflake Lake im südlichen Maine war für Robin und seinen Stiefsohn ein besonderer Ort gewesen. Garrett wusste, dass Robin es vor gut einem Vierteljahrhundert gebaut hatte. Es war der einzige Platz gewesen, wo Robin sich hatte erholen können, denn die Geisteskrankheit seiner ersten Frau hatte sich bis zu ihrem Tod fortlaufend verschlimmert.

Seine zweite Frau – Garretts Mutter – hatte wenig Interesse gehabt, ihre Ferien in einem rustikalen Ferienhaus auf dem Land zu verbringen und dort die Sonnenuntergänge zu bewundern. Sie hatte sich immer geweigert, nach Maine zu fahren. So war Eden Cottage zu einem Ort geworden, wohin Garrett und Robin sich mindestens einmal im Jahr zurückgezogen hatten. Sie hatten im kühlen See geschwommen und gefischt, Bootstouren unternommen und mit einem Drink auf der hölzernen Terrasse des Landhauses die Natur genossen.

Ja, eine Woche in dem Ferienhaus war genau das, was er brauchte. Ohne Robin würde das nicht einfach sein, aber in gewisser Weise würde er sich dort seinem Stiefvater näher fühlen als in Baltimore.

Dankbar, dass es noch so lange hell war, fuhr Garrett am frühen Abend zurück in das Viertel, in dem Ana Birch wohnte. Als er dieses Mal bei ihr anklopfte, wurde ihm die Tür fast sofort geöffnet.

„Miss Birch“, sagte er, bevor sie den Mund aufmachen konnte, und schlug einen wärmeren Ton an. „Ich möchte mich für die unsensible Art, mit der ich Sie über Robins Tod informiert habe, entschuldigen. Es ist eine schwierige Zeit. Darf ich eintreten und einige Minuten mit Ihnen reden?“

Sie zögerte. Sie hatte sich in der Zwischenzeit umgezogen und trug jetzt ein ärmelloses Jeanskleid mit einem kurzärmeligen Top darunter. Ihre Haare waren ordentlich zu einem dicken Pferdeschwanz gebunden, der jedes Mal wippte, wenn sie den Kopf bewegte. Zu Garretts großer Erleichterung drehte sie sich wortlos um und ging ins Haus.

Er folgte ihr in das Wohnzimmer, das mit bequemen Polstermöbeln mit verblichenem Blumenmuster ausgestattet war – abgewetzt, aber sauber. Obwohl es klein war, wirkte das Zimmer ordentlich. An einer Wand war eine ungewöhnliche Kollektion Hüte zu sehen – altmodische und moderne, freche und brave.

Ana schloss die Tür hinter ihm, und er hörte das Summen der Klimaanlage.

Er drehte sich zu ihr um und zwang sich, seinen erhöhten Puls beim Anblick ihrer schönen Gesichtszüge zu ignorieren. Er zeigte auf die Ausstellungsstücke an der Wand. „Sie mögen Hüte, nicht wahr?“

„Ja. Eine Zeit lang habe ich sie gesammelt. Ich habe nur meine Lieblingshüte behalten. Die anderen habe ich verkauft.“ Sie zeigte auf die Couch. „Bitte nehmen Sie Platz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

Bei einer anderen Gelegenheit hätte er sich über ihre ausnehmend guten Manieren amüsiert. „Nein danke.“ Er nahm am Ende der Couch Platz und ging davon aus, dass Ana sich neben ihn setzen würde. Aber sie durchquerte das Zimmer und setzte sich auf einen Schaukelstuhl.

„Danke, dass Sie mich hereingebeten haben“, begann er, obwohl es ihn störte, dass er so höflich sein musste. „Haben Sie noch einmal über das nachgedacht, was ich Ihnen über Ihre Anwesenheit bei der Testamentseröffnung gesagt habe?“

„Das Testament interessiert mich nicht“, erwiderte sie tonlos. „Aber ich möchte gern wissen, wo Robin begraben ist, damit ich zu seinem Grab gehen kann.“

Richtig. Und er war ein kleines, grünes Männchen. „Da das Testament auch mich betrifft, interessiert es aber mich.“

„Sie können alles haben.“ Ihr offener Blick deutete nicht auf irgendeine List hin. Miss Birch machte ihre Sache gut, das musste er ihr lassen. „Ich werde alles unterzeichnen, was Sie wollen.“

„Glauben Sie mir, nichts wäre mir lieber“, erwiderte Garrett knapp und gab es auf, sie besänftigen zu wollen. „Leider geht das nicht so einfach. Wir beide müssen bei der Testamentseröffnung dabei sein.“

„Warum?“

Er machte den Mund auf, um zu antworten, aber ein Fauchen hielt ihn davon ab. Er bemerkte, wie ein gestreiftes Etwas die Treppe hochschoss. „Was ist das?“, fragte er überrascht, obwohl er ziemlich sicher war, dass es eine Katze sein musste.

„Meine Katze. Sie ist noch nicht sehr zutraulich.“

„Wieso sagen Sie ,noch nicht‘?“

„Ich habe sie auf der Straße gefunden. Jemand hatte sie überfahren und war dann geflüchtet. Ich brachte sie zum Tierarzt. Als sie sich einigermaßen erholt hatte, nahm ich sie mit nach Hause. Sie leistet mir Gesellschaft.“

„Sie wirkt nicht übermäßig zahm.“

„Sie war wild, denke ich.“ Ana Birchs Gesicht hatte seinen teilnahmslosen Ausdruck verloren. Jetzt leuchteten ihre Augen. Unfreiwillig fühlte Garrett sich von ihr angezogen. Sie war wirklich eine schöne Frau. „Aber sie gewöhnt sich allmählich an mich.“

„Warum haben Sie sie nicht wieder laufen lassen, wenn sie wild ist?“

„Sie braucht regelmäßig Medikamente. Sie hatte eine Wunde am Kopf, und der Tierarzt denkt, dass die Schädigung von Dauer sein könnte. Außerdem hat sie auf der einen Seite nur noch die Hälfte ihrer Zähne und kann nur sehr weiches Futter kauen. Draußen würde sie wahrscheinlich nicht überleben.“ Der schöne, gefühlvolle Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand wieder, und ihre Miene wirkte erneut undurchdringlich. „Also, warum ist es erforderlich, dass ich bei der Testamentseröffnung dabei bin?“

„Robin wollte es so. Er hat es ausdrücklich verfügt, und sein Anwalt weigert sich, irgendetwas preiszugeben, wenn wir nicht beide anwesend sind.“

Ana sah ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an. „Also, wenn ich mich weigere, dabei zu sein, bekommen Sie nichts? Ist es so?“

„Wahrscheinlich“, antwortete er, obwohl er sich dessen ganz und gar nicht sicher war.

„Der alte Gauner“, murmelte sie.

„Verzeihung?“, fragte er verblüfft.

„Er wusste, dass ich nichts haben will, und auf diese Weise muss ich mir zumindest anhören, was er mir vermachen wollte, weil Sie sonst Ihr Erbe verlieren. Und er wusste, dass ich das nicht zulassen würde.“

Unerwartet wurde Garrett eifersüchtig. Jetzt hatte er keinen Zweifel mehr daran, dass sie Robin – in welcher Beziehung sie auch immer mit ihm gestanden hatte – sehr gut gekannt und verstanden hatte. Er verbarg seine Gefühle hinter einer kühlen Maske. „Also, werden Sie kommen?“

Ana seufzte. „Das nehme ich an. Wann und wo?“

Als Ana am nächsten Morgen beim Anwalt eintraf, war Garrett bereits dort. Er stand mit dem Rücken zu ihr im Wartezimmer des Anwalts und sah aus dem Fenster, und Ana beobachtete ihn, bevor sie eintrat.

Er wirkte starr und unnachgiebig. Als sie daran dachte, wie sicher Robin gewesen war, dass Garrett sie in der Familie willkommen heißen würde, wurde ihr die Kehle eng. Es war das erste Mal in den wenigen Jahren, in denen sie Robin gekannt hatte, dass er sich gründlich geirrt hatte.

Robin. Sie hob den Kopf und bemühte sich, die aufsteigenden Tränen fortzublinzeln.

Sie konnte nicht glauben, dass ihr Vater gestorben war. Sie hatten so wenig Zeit miteinander gehabt. Sie war geschockt gewesen, als er ihr an seinem letzten Geburtstag sein Alter verraten hatte. Er war siebzehn Jahre älter als ihre Mutter gewesen. Sie wusste, dass ihre Mutter die Dreißig überschritten hatte, als sie sich begegnet waren. Damals musste Robin Ende vierzig gewesen sein.

Vielleicht hatten sich ihre Mutter und ihr Vater nun schließlich wieder gefunden. Und dieser Gedanke beruhigte sie seltsamerweise mehr als alles andere.

Sie warf erneut einen Blick auf Robins Stiefsohn. In diesem Moment drehte er sich um, und ihre Blicke trafen sie. Wieder hatte sie dieses seltsame Kribbeln im Bauch, wie bei den beiden Malen, als er sie zu Hause besucht hatte. Aber ebenso wie jetzt hatte sie diese Empfindungen abgeschüttelt. Der Mann war attraktiv, na und? Mit seinem unhöflichen Benehmen hatte er bewiesen, was hinter seiner hübschen Sonnenbräune steckte. Dennoch konnte wünschte Ana, sie hätte ihn unter anderen Umständen getroffen.

Ihr Gefühl des Verlusts wurde noch stärker, als sie an ihre erste Begegnung mit Garrett dachte. Monatelang hatte sie sich ausgemalt, wie Robin ihr Garrett vorstellen würde. Sie hatte in ihrer Fantasie einen beschützenden, umgänglichen Mann vom Typ des großen Bruders vor Augen gehabt.

Sie hatte nie erwartet, dass ihr erstes Treffen unter so ungünstigen Umständen stattfinden würde. Und sie konnte immer noch nicht akzeptieren, dass sie nicht an Robins Beerdigung teilgenommen hatte.

Autor

Anne Marie Winston
<p>Anne Marie Winston lebt im ländlichen Pennsylvania und war früher Lehrerin. Doch als sie wegen ihrer Kinder zu Hause blieb, wusste sie eines Tages, dass es an der Zeit war, etwas Neues zu probieren. 1989 fing sie an, ihre erste Romance zu schreiben, und 1991 verkaufte sie ihr erstes Manuskript...
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