Das Kind seines Bruders

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Der erfolgreiche Anwalt Connor Tarkington hat beschlossen, einzuschreiten: Die Mutter seines Neffen ist ganz allein, seit Connors Bruder sie verlassen hat. Wo er nur kann, steht er der süßen Lucy nun hilfreich zur Seite. Bald jedoch geht es ihm nicht mehr nur um seinen entzückenden Neffen … Wie kann er Lucy klarmachen, dass er sich nie so verletzen würde wie sein Bruder?


  • Erscheinungstag 12.02.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776053
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Nicht einmal Kenny würde sich zu seiner eigenen Hochzeit verspäten.

Oder etwa doch?

Lucy Velardi steckte ihre letzten zwei Münzen in das öffentliche Telefon im Gerichtsgebäude und wählte Kennys Nummer, die seit fünf Wochen auch ihre war. Eigentlich war es wirklich albern, so nervös zu sein. Wahrscheinlich hatte Kenny den Flug zurück nach Scottsdale einfach verpasst, und wahrscheinlich hatte er sie auch angerufen, um ihr das mitzuteilen. Nur hatte sie das Haus bereits recht früh verlassen, um ihr Kleid abzuholen … ein Kleid, das den Grund ihrer überstürzten Trauung kaschieren sollte.

Würde Kenny tatsächlich …?

Er würde. Als sie den Anrufbeantworter per Fernabfrage abhörte, schaltete sich seine ihr so vertraute träge Stimme ein. „Hey, Babe, hör mal, tut mir wirklich leid, aber ich … nun ja, ich werde nicht zurückkommen. Ich habe diese tolle Chance bekommen, auf der Asientour zu spielen. Und … tja, ich halte die Idee, dass wir heiraten, für nicht besonders gut.“

Was? Lucy hätte fast einen Fluch herausgeschrien, wenn sie nicht rechtzeitig erkannt hätte, dass die Nachricht noch weiterging.

„Weißt du, ich finde, dass ich wirklich noch nicht für ein Baby bereit bin“, erklärte Kenny ihr. Als ob sie bereit wäre. Immerhin hätten sie beide bis Oktober Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten. „Und wenn du dir die ganze Sache einmal so richtig überlegst, dann wirst du genauso denken, da geh ich jede Wette ein. Ein Baby passt einfach nicht in unser Leben.“

Niemals würde Lucy so denken, ganz gleich wie sehr diese unerwartete Schwangerschaft ihr Leben durcheinandergebracht hatte. Wie konnte er das Baby nur so … so mit einer Handbewegung abtun?

„Aber sorge dich nicht“, fuhr Kenny fort. „Ich schicke dir per Post einen Scheck, der dich“, er räusperte sich, „über die Runden bringen wird. Sieh es als Zahlung dafür an, dass du auf das Haus aufpasst, okay? Das Haus steht dir zur Verfügung – hörst du? Bis zum Januar.“

Nun, da er das los war, schien er mächtig erleichtert zu sein. Es war deutlich genug, dass selbst Lucy es heraushörte, obwohl sie wie betäubt war. Als ob dieses Angebot alles wieder ins rechte Lot bringen könnte. Als ob sie sich aus seinem Geld und seinem Haus etwas machte.

„Das Haus ist unbewohnt bis auf die paar Wochen nach Neujahr“, beteuerte Kenny ihr vergnügt. „Solange kannst du darin nach eigenem Belieben verfahren. Ich weiß, du hast dein Apartment aufgegeben, und die Familie braucht wirklich jemanden, der sich ums Haus kümmert. Du wirst das großartig meistern, da bin ich mir sicher.“

Zumindest würde Lucy bis zur Geburt ihres Babys eine Unterkunft haben. Sie hatte sich so sehr eine richtige Familie für das Baby gewünscht – für Matthew oder Emily. Die Namen hatte sie bereits gewählt, weil sie so gut zu Tarkington passten. Doch so wie die Sache jetzt aussah, würden weder sie noch das Baby Kennys Nachnamen tragen.

„Wie dem auch sei“, schloss Kenny so aufgekratzt, als ob er eine lästige Arbeit endlich hinter sich gebracht hätte. „Ich bin wirklich froh, dass wir uns kennengelernt haben. Hatten wir nicht Spaß miteinander, hm? Okay, dann pass gut auf dich auf. Bye.“

Und das war es gewesen.

Lucy hielt den Hörer umklammert und starrte in die Eingangshalle, ohne wirklich etwas zu sehen – bis auf die weißen Wände, das fluoreszierende Licht, das Kommen und Gehen der Menschen. Erst der schrille Piepton, der aus dem Hörer drang, und der Krampf in ihren Fingern brachten sie wieder zur Besinnung.

Sie konnte kaum durchatmen, als sie den Hörer einhängte. Ihre Lippen, ihr ganzes Gesicht waren wie zu einer Maske erstarrt. Sie konnte nicht klar denken oder weinen oder sich bewegen. Doch zumindest bewegen musste sie sich, weil sie nicht den Rest ihres Lebens in der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes stehen bleiben konnte.

Im Augenblick konnte sie nichts anderes tun als atmen und auch das nur unregelmäßig. Ihr war, als ob sie jeden Moment in Tränen ausbrechen würde. Was nur gut wäre. Tränen erleichterten. Doch auch dazu war sie zu niedergeschmettert. Noch nie zuvor war sie so verstört gewesen, dass sie nicht einmal weinen konnte. So viel Schmerz und Verzweiflung machten sich in ihr breit.

Und irgendwie auch – Erleichterung.

Erleichterung? Das verstand sie nicht. Vielleicht brauchte sie etwas, was ihr Trost gab. Nur so konnte sie die Kraft finden, zur Bushaltestelle zurückzugehen und sich auf den bedrückenden Heimweg zu machen.

Allein.

Nein, nicht allein, ermahnte sie sich, während sie aus der Eingangshalle nach draußen in das blendende Sonnenlicht trat. Sie hatte das Baby, auch wenn es noch nicht geboren war. Niemals würde ihr Baby auch nur ein Wort von dem zu hören bekommen, was soeben geschehen war. Niemals würde es erfahren, dass sein Vater kein Kind haben wollte.

Dass Kenny annahm, sie könne einen Schwangerschaftsabbruch auch nur in Betracht ziehen, bewies nur, wie wenig sie im Grunde füreinander bestimmt waren. Dieser Gedanke war ihr bereits gekommen, als ihre Periode ausgeblieben war und ihre Beziehung auf einmal eine unerwartete Wende genommen hatte. In ihrer Verliebtheit hatten weder sie noch Kenny an die möglichen Folgen gedacht.

Zwischen ihnen hatte es bei der ersten Begegnung sofort gefunkt. Es war tatsächlich Liebe auf den ersten Blick gewesen – leidenschaftlich, atemberaubend, verrückt, lustig. Dieser Überschwang hatte eigentlich nicht lange angehalten. Und in letzter Zeit waren Lucy Zweifel gekommen, ob ihre Beziehung wirklich andauern würde.

Möglich, dass sie das aufregende Leben an der Seite eines erfolgreichen Profi-Golfspielers genossen hätte. Ob es ihr wirklich zugesagt hätte, wusste sie nicht. Sie hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, weil sie es von Anfang an nicht darauf angelegt hatte, Kenny zu heiraten.

Mein Kind wird das alles niemals erfahren, beschloss Lucy und atmete ganz tief ein, während sie zur Bushaltestelle eilte. Emily oder Matthew würde nur von den guten Seiten ihres Vaters hören, nur von den wenigen Monaten, wo sie verliebt gewesen war in Kenny. Wo die Leidenschaft für ihn sie kopflos gemacht hatte.

Ihr Kind sollte das Gefühl haben, erwünscht und geliebt zu sein. Was auch immer kommen mochte, sie würde dieses Baby lieben.

Ihr Baby. Ihres allein.

1. Kapitel

Eine Frau war in seinem Wohnzimmer. Und sie kitzelte ein Baby.

Noch bevor Connor Tarkington sie fragen konnte, was sie in seinem Wohnzimmer zu suchen habe, blickte die Frau ihn erschrocken an, zog das in eine rosa Decke gewickelte Baby an sich und drehte sich so, dass sie es mit dem Körper gegen ihn abschirmte.

„Wer sind Sie?“, fuhr sie ihn an, so als ob sie einen Eindringling einschüchtern wollte. „Wie sind Sie hier hereingekommen?“

Richtig gute Abwehrstrategie, so viel gestand Connor ihr halb bewundernd, halb verärgert zu. Weise ihm die Schuld zu, benimm dich, als ob er ein Einbrecher sei und nicht ein total erschöpfter Anwalt, der gerade den ermüdenden Flug von Philadelphia nach Scottsdale hinter sich hat, um eine völlig Fremde in seinem Familienhaus vorzufinden.

„Mit meinem Schlüssel“, teilte er ihr mit und hielt den Schlüsselanhänger aus Platin hoch, den seine Mutter ihm gestern Abend geschenkt hatte. Es war nach dem Abschiedsessen gewesen. „Und wer sind Sie?“

„Ich passe auf das Haus auf. Der Haussitter, wenn Sie so wollen“, antwortete sie herausfordernd. Ihre wachsame Haltung lockerte sich ein wenig beim Blick auf seine Reisetasche. Offensichtlich genügte ihr das, um in ihm nun nicht mehr den gefährlichen Eindringling zu sehen. „Die Tarkingtons werden voraussichtlich nicht vor Januar kommen. Sollten Sie vorhaben, sie zu besuchen …“

„Ich habe vor“, unterbrach Connor sie, „meine Sachen hereinzubringen, sie einfach hier fallen zu lassen und gleich ins Bett zu kriechen, um zu schlafen.“ Neun Stunden Flug einschließlich der Zwischenlandung in Chicago waren nur ein kleiner Preis, den er zahlte, um der Vorweihnachtszeit zu Hause zu entkommen. Diese neun Stunden Flug waren eine Tortur gewesen. Immerhin litt er unter Flugangst, was er natürlich für sich behielt. Das Fliegen und ein Arbeitstag von zwanzig Stunden die ganzen letzten Wochen hindurch hatten das Äußerste aus ihm herausgeholt. Er wollte nichts als ins Bett.

Allein.

Wenn er allerdings in der Laune für Gesellschaft wäre, könnte er sich keine bessere wünschen als diese Frau. Trotz ihrer abgetragenen Jeans mit den ausgefransten Säumen und dem zerzausten dunklen Lockenkopf schien sie mehr Sinnlichkeit auszustrahlen als irgendeine der anderen Frauen, die er kannte … auch wenn ihm das sehr lange her zu sein schien. So argwöhnisch wie die Lady hier ihn musterte, zweifelte er allerdings nicht, dass sie ihn in Scottsdale ganz und gar nicht willkommen hieß.

„Keiner hat mir gesagt, dass die Tarkingtons Gäste erwarten“, protestierte sie.

Wie auch? Seine Familie hatte angenommen, dass das Haus unbewohnt sei. Also konnte sich diese Frau nur selbst zum Haussitter ernannt haben. Und als Connor im angrenzenden Esszimmer eine Babytragetasche entdeckte, brauchte er nicht lange zu überlegen, warum sie hier war.

„Sie wohnen hier“, stieß er ärgerlich hervor.

Lucy machte nicht einmal den Versuch, es abzustreiten. Es wäre ihr auch nicht gelungen, wo das Baby Beweis genug war. „Bis Januar“, bestätigte sie und hob das Baby ein wenig höher auf ihrem Arm, damit es das Köpfchen gegen ihre Schulter schmiegen konnte. „Wer sind Sie?“, fragte sie wieder.

Connor zog seinen Führerschein aus der Brieftasche und hielt ihn ihr vor die Nase. „Connor Tarkington. Und Sie …“

„Connor Tarkington“, wiederholte Lucy und wurde weiß im Gesicht. „Sie sind Kennys Bruder?“

Wenn sie Kenny kannte, dann würde das auch erklären, wie sie hier hereingekommen war. Kenny hatte von jeher eine Schwäche für tolle Frauen, die auf ein flottes Leben und auf Spaß aus waren. Und diese hier war mehr als toll. Dieses dunkle Haar, die zarte Haut und diese weichen vollen Lippen … Nur war sie nicht so zurechtgemacht wie diese Showgirls, diese Blenderinnen, die Kenny nach den Golfturnieren in Scharen folgten. Irgendwie konnte Connor es sich auch nicht vorstellen, dass sein Bruder sich für eine Frau mit einem Baby erwärmen könnte. Und sie dazu auch noch zum Bleiben einladen würde.

„Ja, ich bin Kennys Bruder“, antwortete Connor und legte seinen Mantel über die Lehne des Sessels nahe der Tür. Wie er feststellte, bekam ihr herzförmiges Gesicht wieder Farbe. „Er lässt Sie also hier wohnen, ja? Sagte Ihnen, dass Sie sich hier häuslich einrichten könnten, hab ich recht?“

Lucy drückte die Schultern durch und warf ihm einen kühlen Blick zu. „Kenny hat mir gesagt“, entgegnete sie, „dass seine Familie jemanden brauche, der auf das Haus aufpasst – bis Januar. Dann sollte ich ausziehen und den Schlüssel zurücklassen.“ Angesichts seines ungläubigen Blicks stockte sie. Sie drückte das Baby enger an sich und flüsterte: „Ach du Schande! Hat Kenny es womöglich nur so gesagt, dass die Tarkingtons jemanden brauchten, der auf das Haus aufpasst?“

Natürlich, er hatte es sich ausgedacht. Diesmal hatte Kenny sich selbst übertroffen. Statt diese Frau mit einem charmanten „Danke für die wundervolle Zeit“ wegzuschicken, hatte er sie unter dem Vorwand eines Jobs im Ferienhaus der Familie wohnen lassen. Haussitter, das war ja lächerlich. Die Tarkingtons hatten noch nie jemanden Fremdes auf ihr Ferienhaus aufpassen lassen.

„Hören Sie“, fing Connor an, unterbrach sich aber, weil ihm erst jetzt klar wurde, dass er nicht einmal den Namen dieser Frau kannte. „Wie ist noch Ihr Name?“

„Lucy. Lucy Velardi.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig. Doch als sie das Baby so hielt, als ob sie es ihm zeigen wollte, drückte ihre Haltung Stolz aus. „Und das ist Emily. Meine Tochter.“

Connor hielt die Augen niedergeschlagen. Er wollte das Baby nicht ansehen.

Na großartig, jetzt musste er auch noch die Rolle des bösen Buben spielen gegenüber einer Frau und einem Baby. Es war fast ein Jahr her, seit Kennys letzte abgelegte Freundin bei ihm in der Kanzlei aufgekreuzt war. Dass Kenny sich seit einer ganzen Zeit bei ihm nicht gemeldet hatte, bedeutete nicht, dass er sich gewandelt hätte und ganz plötzlich den Schlamassel, den er angerichtet hatte, selbst ausbaden wollte. Nein, wie eh und je war es immer noch Connors Job, die Unordnung seines Bruders wieder in Ordnung zu bringen.

Okay. War wohl an der Zeit, herauszufinden, ob seine Begabung, die Dinge geradezubiegen, während der letzten sechs Monate gelitten hatte. Im vergangenen halben Jahr hatte er sein Leben von Grund auf neu geordnet. Also, nichts als ran an die Arbeit, so unangenehm sie auch sein mochte. Es hatte keinen Sinn, eine Entscheidung – so unerfreulich sie auch sein mochte – hinauszuzögern.

„Lucy“, sagte er schnell, „was immer mein Bruder Ihnen erzählt hat, bedaure ich sehr. Denn wenn meine Familie jemand gesucht hätte, der auf das Haus aufpassen sollte, dann hätte sie eine professionelle Agentur eingeschaltet.“ Der betroffene Blick, den Lucy ihm zuwarf, versuchte er zu ignorieren. „Es war sehr nett von Ihnen, sich um das Haus zu kümmern, aber …“

„Es ist nicht wirklich ein Job gewesen. Zumindest nicht hauptsächlich“, unterbrach Lucy ihn.

Das wich allerdings von dem Gewohnten ab, wie Connor überrascht feststellte. Noch etwas, was diese Frau von den sonst üblichen Showgirls unterschied. Normalerweise beharrten sie darauf, dass Kenny die Wahrheit gesagt haben musste, als er ihnen einen Porsche versprach oder sie nach Hawaii eingeladen oder bereits von einem 5-karätigen Verlobungsring gesprochen hatte. Und nie vergaßen sie hinzuzufügen, dass die Liebe, die sie miteinander geteilt hatten, einmalig gewesen sei.

Diese Frau hier war nicht auf Geld aus.

„Das hätte mich auch gewundert. Meine Familie hat bislang noch nie auf die Dienste eines Haussitters zurückgegriffen“, wiederholte er etwas verunsichert. Was hatte sein Bruder der Lady versprochen? Immerhin hatte sie ganz offensichtlich das Haus sauber gehalten, hatte all die Arbeit getan, die sonst der Hausreinigungsdienst am Tag vor der Rückkehr der Familie ausgeführt hätte. „Ich werde mich nun um das Haus kümmern“, fügte er hinzu. Zumindest bis seine Mutter und Warren im Januar hier wieder einzogen. „Sie und Emily können also dorthin zurückkehren, wo …“

„Richtig“, fiel Lucy ihm wieder ins Wort und zog mit hastigen und entschiedenen Bewegungen die Babydecke enger um ihre kleine Tochter. „Natürlich. Wir machen uns sofort auf den Weg.“

„Sie haben doch sicher eine Unterkunft, nicht wahr?“ Natürlich hatte sie. Die Frage war überflüssig. Sie würde sonst nicht so schnell wegwollen. Dennoch, die Arbeit eines Haussitters, oder wie immer dieser Job sich nennen mochte, verdiente mehr Anerkennung, als er ihr zugestanden hatte, ganz gleich, wie viel sie von Kenny bereits eingesammelt haben mochte. „Brauchen Sie Geld? Ich meine, wenn Sie das Haus bereits seit einer ganzen Weile hüten, bin ich Ihnen sicher einiges schuldig.“

„Nein, das sind Sie nicht“, entgegnete Lucy heftig und marschierte auf den Tisch im Esszimmer zu, auf dem sich ein Drucker befand und daneben ein Stapel von Umschlägen. „Ich habe von Kenny bereits im März einen Scheck bekommen, und ich habe mir etwas dazuverdient mit dem Adressieren von Umschlägen für eine Zeitfirma. Und vorige Woche habe ich mit der Frühschicht in einem Coffeeshop angefangen. Die haben eine Sonderregelung für Mütter, sodass ich Emily mitnehmen kann. Wir …“

„Halt! Stopp! Lucy …“ Sie redete so schnell und rannte so kopflos hin und her, dass Connor fürchtete, sie könnte jede Sekunde in Panik ausbrechen. Als sie sich ihm aber schließlich zuwandte, sah er nichts als Entschlossenheit in ihren braunen Augen. „Ist wirklich alles in Ordnung? Wenn Sie zuerst irgendwo anrufen wollen oder wenn Sie Hilfe brauchen …“

„Ich brauche keine Hilfe!“, stieß sie hervor. „Ich kann auf mich aufpassen – und auf Emily.“

Emily … das Baby, das er immer noch nicht ansehen wollte. Als er es dann doch tat, war er überrascht, wie winzig es war. War Bryan jemals so klein gewesen?

Fang nicht damit an!

Er sollte sich lieber auf das Nächste konzentrieren und nicht auf seinen Sohn.

„Nun gut“, murmelte er, obwohl er zweifelte, ob es wirklich gut war. „Ich hab noch einige Sachen draußen, die ich hereinbringen möchte. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen, mit einem Koffer oder so.“

Das machte Lucy wütend. „Hab ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt?“, fragte sie mit erstaunlich ruhiger Stimme. „Ich nehme absolut nichts von einem Tarkington an – weder Hilfe noch irgendwas sonst.“

Den Namen spuckte sie förmlich aus. Mit dieser Frau musste Kenny eine besonders miese Nummer abgezogen haben. Dabei war es deutlich, dass sie – anders als die Frauen, die auf einen Porsche aus waren – ihr Herz an ihn gehängt hatte.

Sie musste Kenny geliebt haben.

Sein Bruder hatte die vergangenen vier Jahre damit verbracht, auf seinen Turnieren Herzen zu brechen. Nur gehörte diese Frau nicht zu den Groupies, die sich geltungssüchtig in seinem Ruhm sonnten. Nein, diese natürliche, sinnliche, faszinierende Frau hatte Kenny Tarkington geliebt.

Connor fand es schon seltsam, wie sehr sie sein Mitgefühl weckte.

„Wir sollten in uns hineinhören. Gefühle sind wie unsere Freunde.“

„Doch, es war deutlich genug“, räumte er ein und versuchte, die Mahnung seines Therapeuten zu verdrängen. Er wollte sich nicht von Gefühlen leiten lassen. Jedenfalls nicht im Moment. Und jedenfalls nicht, solange er sich – wieder einmal – mit einer Frau befassen musste, der sein Bruder wahrscheinlich den Laufpass gegeben hatte. Auch wenn sie sich von Kennys schnell wechselnden Freundinnen deutlich abhob, musste sie seinen oberflächlichen Versprechungen geglaubt haben. „Kenny ist zurzeit auf einer Asientour.“

„Nun, von mir aus kann er in Asien bleiben“, entgegnete Lucy scharf. „Und Sie können hierbleiben. In Ihrem Haus. Emily und ich räumen das Feld.“ Sie nahm den Stoß Umschläge und steckte ihn in einen Karton. „Und Sie …“ Sie wandte sich Connor noch einmal zu. „Tun Sie das, was Sie vorgehabt haben – Ihre Sachen hereinbringen, sie einfach fallen lassen und ins Bett kriechen. Das war es doch, was Sie wollten, oder?“

Sie würde Connor Tarkington nicht dabei zusehen, wie er ‚seine Sachen‘ aus seinem superteuren Auto auslud und hereinbrachte. Sie würde ihm auch nicht dabei zusehen, wie er seine Sachen in dem luxuriösen Schlafzimmer auspackte, das sie kaum zu betreten gewagt hatte. Nein, schwor Lucy sich, während sie auf das Gästezimmer zuging, um für sich und Emily das Nötigste zu packen und von hier zu verschwinden, bevor der letzte Rest von Stolz, der ihr noch verblieben war, zusammenbrach.

Ihre Freundin Shawna würde sie ganz sicher heute Nacht aufnehmen. Und da Lucy kein Auto hatte, würde sie im Coffeeshop auf Jeff warten. Shawnas Mann würde sie und Emily dort nach seiner Nachtschicht abholen. Gut, dass der Coffeeshop die ganze Nacht geöffnet hatte. Denn sie wollte keine Sekunde länger als nötig in diesem Haus hier bleiben. Eilig fing sie an, das Nötigste für sich und das Baby einzupacken.

Connor Tarkington machte es ihr jedoch nicht leicht, sich auf das Packen zu konzentrieren. Es lag ganz sicher nicht in seiner Absicht, sie abzulenken, so geschäftig, wie er sich gab. Lief rein und raus, mal mit einem Laptop, mal mit einer prall gefüllten Mappe, mal mit einer ganzen Serie von beschrifteten Ablagebehältern. Dabei sah er unglaublich attraktiv aus, trotz des abgespannten Gesichts und des zerknitterten blau-weiß gestreiften Hemds.

Nein, sie hatte kein Recht, so zu denken.

Also, je eher sie von hier fortkam, desto besser. „Das schaffen wir schon“, sagte Lucy ihrer kleinen Tochter und faltete ein Dutzend Baumwollwindeln, die sie dann in eine rosa Tasche steckte. Sie hatte noch immer nicht das Geld zusammen für eine Mietkaution, und Kennys Bruder zu bitten, ihr auszuhelfen, kam nicht infrage. Sie versuchte sich Mut zu machen, indem sie mit dem Baby sprach. „Shawna – sicher erinnerst du dich an sie, sie hat dieses maisgelbe Haar, das sie in Zöpfen trägt – lässt uns bei sich übernachten. Und morgen wird Mummy sich dann nach einem neuen Job umschauen.“

Der Coffeeshop war einfach perfekt gewesen, weil sie dabei auf Emily achtgeben konnte, während sie belegte Brote für die Gäste vorbereitete. Die Bezahlung war allerdings schlechter als in dem anspruchsvolleren Restaurant, in dem sie bis Februar gearbeitet hatte. Sie hatte ihren Job als Kellnerin gekündigt, als Kenny mit ihr mehr Zeit verbringen wollte. Gleich am Morgen nach dem Tag, an dem er kurzerhand ihre Beziehung beendet hatte, hatte sie die Arbeit wieder aufgenommen. Nur hatte sie sie nicht lange machen können. Lucy litt unter vorzeitigen Wehen und hatte strenge Bettruhe verordnet bekommen.

Immerhin hatte sie in dem Haus der Tarkingtons die Monate über mietfrei wohnen können. Das Geld, das ihr für das Adressieren der Umschläge überwiesen worden war, hatte sie für den Kinderarzt, für Lebensmittel, für Strom- und Wasserrechnungen ausgegeben. Sie hatte jeden verbliebenen Dollar gespart, um im Januar ein kleines Polster zu haben, wenn sie hier ausziehen musste. Doch der Betrag war recht mager.

Bis zum Auszug im Januar wären es noch fünf Wochen gewesen.

„Wir ziehen eben ein wenig früher aus“, erzählte sie ihrer kleinen Tochter und schloss die Tasche. „Morgen gucken wir in die Zeitung. Vielleicht sucht ja jemand nach einer Mitbewohnerin mit einem sieben Wochen alten Baby. Einem süßen Baby.“

Emily gluckste, und Lucy küsste sie aufs Köpfchen. Und als sie mit ihr in die Küche ging, sah sie Connor noch eine Ladung Kartons auf den Esstisch packen. „Wir sind so gut wie weg“, rief sie ihm zu.

Es war schon seltsam, wie sehr er seinem Bruder ähnelte. Sein Haar war zwar dunkel und nicht blond wie Kennys, doch alles andere war wie eine Wiederholung. Die gleiche kräftige Gestalt, das gleiche Grübchen im Kinn, die gleichen leuchtend blauen Augen. Nur war Connors Blick irgendwie strenger.

Irgendwie – faszinierender.

Und es war ein wenig zermürbend, dass ein Teil von ihr immer noch einen Mann so … ja, so attraktiv finden konnte.

„Brauchen Sie wirklich keine Hilfe?“, fragte Connor sie.

Sie fuhr bei seiner Frage zusammen. Oberflächlich gesehen, war es eine höfliche Frage, doch sie wusste, was sich dahinter verbarg. Ihr war der überdrüssige Ausdruck in seinem Gesicht nicht verborgen geblieben, als er ihr mitgeteilt hatte, dass es den Job eines Haussitters niemals gegeben habe. Sie wusste, in welche Richtung seine Gedanken gegangen waren. Hier ist ein Mädchen, das glaubt, in einer Goldmine gelandet zu sein.

Genau wie ihre Mutter …

„Nein“, antwortete Lucy abrupt und ging in ihr Zimmer zurück, um ihre Pullover zu holen. „Wir brauchen keine Hilfe.“

Dass sie gerade jetzt an ihre Mutter denken musste, empfand sie als doppelt erniedrigend. Bereits mit sechzehn, als sie noch auf der Highschool war, hatte Lucy angefangen, für sich selbst aufzukommen. Damals hatte sie sich geschworen, dass sie auf all das verzichten würde, was sie nicht bezahlen könnte. Und dass sie sich niemals – niemals! – von der Großzügigkeit der Männer abhängig machen würde, deren Auslagen auf Spesenkosten ging und die eine Ehefrau zu Hause sitzen hatten.

Bis sie es auf einmal zugelassen hatte, mit einem berühmten Golfer, der im Geld schwamm, zusammenzuziehen.

Zumindest war Kenny nicht verheiratet. Er war bloß Abschaum. So hatte Shawna ihn genannt, als er kein einziges Mal angerufen hatte, um Lucy zu fragen, ob sie eine Tochter oder einen Sohn geboren habe. Wahrscheinlich hoffte er immer noch, dass sie das Baby abgetrieben hatte.

Genau das war auch der Grund, warum Lucy es abgelehnt hatte, mit ihm jemals wieder Kontakt aufzunehmen.

Sie streifte den Riemen der Windeltasche über die Schulter, nahm das eingemummelte Baby auf den Arm und blickte sich noch einmal im Zimmer um. Sie hatte nichts vergessen. Also ging sie auf die Eingangstür zu, gerade in dem Augenblick, als Connor mit den Schlüsseln in der Hand von draußen hereinkam.

„Ich hab nun alles drinnen“, teilte er ihr mit und hielt ihr die Tür auf … mit einer anerzogenen Höflichkeit, wie Lucy vermutete. Dann blickte er plötzlich auf, als ob es ihm erst jetzt bewusst wurde, dass sie das Haus verließ. „Lucy, wo ist Ihr Wagen?“

Diese Frage hatte sie nicht erwartet. Sie war eher darauf vorbereitet gewesen, dass er ihre Tasche nach gestohlenem Silber durchsuchen würde, obwohl das ein wenig ungehobelt für einen so gebildeten Mann wie ihn gewesen wäre. Stattdessen sah er sie so verblüfft an, als ob er es sich einfach nicht vorstellen konnte, dass jemand das Haus verließ, ohne ein Auto in der Auffahrt warten zu haben.

„Ich brauche keinen Wagen“, entgegnete Lucy und hielt mit einer Hand Emily fest an sich gedrückt, um mit der anderen Hand den Schlüssel aus ihrer Tasche zu angeln, den sie Connor hinhielt. Es kostete sie Anstrengung, ihre Stimme auch weiterhin so überzeugend klingen zu lassen, aber sie schaffte es. „Ich komme dann morgen noch einmal vorbei, um den Rest meiner Sachen abzuholen.“

„Sie …“ Er blickte vom Schlüssel zu ihr, dann auf das schlafende Baby, und seine blauen Augen drückten Besorgnis aus. „Holt Sie jemand ab?“

Warum um Himmels willen war er nur so besorgt, dass sie in einer Gegend wie dieser zu Fuß gehen wollte? Noch nie zuvor hatte sie in einem solch luxuriösen, von der Außenwelt abgeschlossenen Villenviertel gelebt. „Nein. Es ist nicht nötig, dass mich jemand abholt. Ich laufe. Bis zur Hayden Road ist es nicht weit“, erwiderte Lucy und wies mit dem Kinn zu den entfernten Lichtern von der Straße, an der der Coffeeshop lag.

„Jetzt, um diese Zeit? Mitten in der Nacht?“, rief Connor entsetzt und nahm ihr noch immer nicht den Schlüssel ab, den sie ihm hinhielt. „Ich werfe Sie und Ihr Baby doch nicht hinaus!“

Nicht wörtlich, mag sein. Doch von dem Moment an, wo er ihr eröffnet hatte, dass die Tarkingtons niemals einen Aufpasser für das Haus angefordert hätten, hatte sie keine andere Wahl gehabt. Er wirkte immer noch beunruhigt, dass sie und Emily tatsächlich vorhatten, einfach wegzugehen. „Sie werfen uns nicht hinaus“, beruhigte sie ihn und legte den Schlüssel auf das Stuckornament rund um die Veranda. „Also, auf Wiedersehen.“

„Lucy, warten Sie! Hören Sie, das Haus ist groß genug. Warum bleiben Sie nicht die Nacht über hier, und morgen früh fahre ich Sie, wo immer Sie hinwollen.“

Das Angebot kam überraschend. Lucy wusste im ersten Moment nicht, wie darauf reagieren. Sie überlegte. Immerhin musste sie auch an Emily denken, die eher ins Bett gehörte als auf eine nächtliche Wanderung. Doch dann war da ihr Stolz, der es ihr verdammt schwer machte, Connors Angebot anzunehmen. Sei’s drum. Sie beschloss, ihren Stolz zu schlucken. Das eine Mal. „Morgen brauchen Sie mich nicht zu fahren. Da kann ich auch den Bus nehmen.“

Er lächelte verhalten, so als ob er mittlerweile kapiert habe, wie eigenwillig und selbstständig sie war. „In Ordnung. Wenn ich ehrlich sein will, muss ich gestehen, dass ich nicht die ganze Nacht wach bleiben möchte aus Sorge um Sie. Und um Emily.“

Ach.

Nun gut, wenn das der Grund für sein Angebot war, dann erschien es Lucy recht vernünftig, noch eine Nacht hier im Haus zu bleiben. Ganz sicher war das um vieles besser, als mit dem Baby im Coffeeshop zu warten. Sie brauchte nur ins Gästezimmer zurückzukehren, wo sie die vergangenen acht Monate verbracht hatte. Niemand verlor seine Unabhängigkeit, weil er für eine Nacht die Gastfreundschaft eines Fremden annahm.

„In Ordnung“, sagte sie und trat den Rückzug an, während Connor das Licht auf der Veranda ausschaltete und die Vordertür abschloss. Er tat es auf genau die Weise, wie sie es seit März jeden Abend selbst getan hatte. „Danke.“

Autor

Laurie Campbell
Laurie Campbell spielte als Kind mit ihrer Schwester gerne Phantasiespiele. Als sie aus diesen Spielen rauswuchs, begann sie die Charaktere, die ihr schon so vertraut waren, in einem Buch festzuhalten. Sie begann eine Bruder-Schwester-Geschichte aufzuschreiben. Sie schwörte sich selber, dass sie sie eines Tages beenden würde. Aber mittlerweile genießt sie...
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