Das Landmädchen und der Lord

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Gerettet! Eine großzügige Schenkung erlaubt der jungen Susannah, ihre erste Saison in London zu genießen. Dass ausgerechnet der attraktive Lord Harry Pendleton sie umwirbt, versetzt die zarte Schönheit vom Lande allerdings in tiefe Unruhe. Manch andere Debütantin wäre beglückt, denn Harry ist eine blendende Partie! Doch da ist diese seltsame Kühle in seinen Blicken … Und als er sie bittet, seine Frau zu werden, kann Susannah ihre Zweifel kaum bändigen: Was, wenn es ihr niemals gelingt, in ihrem Ehemann die Wärme wahrer Liebe, das Feuer echter Leidenschaft zu entfachen?


  • Erscheinungstag 28.12.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733769529
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Spanien – 1812

Erschöpft lagen drei Männer auf der harten, von der sengenden spanischen Sonne ausgedörrten Erde. Harry Pendleton, in etwas besserem Zustand als die anderen, hatte den Kopf gegen einen Felsen gelehnt. An Max Coleridges Brust klebte in der mörderischen Hitze ein blutgetränktes Hemd. Die Augen geschlossen, bewegte er sich nicht. Gerard Ravenshead fächelte ihm mit einem großen Blatt Kühlung zu und versuchte die Fliegen von der Wunde fernzuhalten. Um die tiefe Schnittwunde an seiner Schläfe war ein Halstuch geschlungen.

„Ich glaubte, wir wären erledigt“, sprach Harry aus, was alle dachten. „Was für ein Desaster!“

„Daran darfst du dir keine Schuld geben“, mahnte Gerard. „Sie wussten, dass wir kommen würden. Offenbar wurden sie von jemandem gewarnt.“

„Zehn Tote. Und wir drei kamen nur um Haaresbreite mit dem Leben davon.“ Harry stand auf, ging zu Max und musterte ihn. „Irgendwie müssen sie erfahren haben, dass wir bei einem Überraschungsangriff Gefangene machen wollten.“

„Sicher hat uns ein Dienstbote verpfiffen.“ Gerard zuckte die Achseln. „In diesem verdammten Krieg weiß ich nie, ob wir mit den Spaniern die Franzosen bekämpfen oder umgekehrt.“

„Keinem dieser Generäle würde ich trauen“, seufzte Harry und beobachtete das Blut, das über Gerards Gesicht rann. „Soll ich mir deine Wunde noch einmal anschauen?“

„Heute hast du mir das Leben gerettet.“ Gerard grinste ihn an. „Jetzt musst du nicht auch noch mein Kindermädchen spielen. Wir sollten Max ins Dorf bringen. Vermutlich müssen wir ihn tragen.“

Harry schnitt eine Grimasse. „So, wie du dich während dieser Schlacht aufgeführt hast, dachte ich, du wärst lebensmüde.“

„Ja, manchmal ist’s mir egal gewesen, ob ich sterben würde oder nicht“, gab Gerard zu und verjagte eine Fliege von seiner Wange. „Aber wenn man dem Tod ins Auge blickt, werden die Dinge in die richtige Perspektive gerückt. Schließlich habe ich’s gemerkt – ich will am Leben bleiben, heimkehren und eines Tages …“

Obwohl er den Satz nicht beendete, nickte Harry. Dass seinen Freund irgendetwas bedrückte, wusste er, und er nahm an, es würde mit der jungen Dame zusammenhängen, die Gerard umworben hatte.

Und mit der winzigen Narbe an seiner Schläfe … Die war ihm sofort bei der ersten Begegnung in Spanien aufgefallen, nachdem sie sich ein Jahr lang nicht gesehen hatten. Über diese Stelle strich Gerard sehr oft, wenn er nachdachte, und dann verriet seine Miene, dass er sich an etwas erinnerte, das ihn erzürnte.

„Was du meinst, verstehe ich sehr gut“, sagte Harry. „Der Kriegsdienst bedeutet Blut, Schweiß und Tränen. Und das ist noch harmlos.“ Wenn man die Sterbenden schreien hörte und ihnen nicht helfen konnte – das fand er viel schlimmer. „Hilf mir, Max auf meinen Rücken zu heben, ich trage ihn.“

„Nein, ich kann gehen“, murmelte Max. „Zieht mich hoch …“

„Sei nicht albern“, erwiderte Harry. „Ich trage dich so weit wie möglich. Dann geht Gerard ins Dorf und holt Hilfe.“

„Wenn ihr mich stützt, gehe ich.“ Entschlossen versuchte Max aufzustehen. „Verdammt, ich bin kein Baby …“

„Aber ich bin dein Vorgesetzter, also wirst du mir gehorchen“, fiel Harry ihm ins Wort und zwinkerte Gerard zu. „Eins steht jedenfalls fest. Diesen Tag werden wir drei nie vergessen. Und in der Zukunft werden wir einander beistehen, wann immer es nötig ist.“

Als sie Max auf die Beine halfen, stöhnte er.

Dann hievte Gerard ihn auf Harrys Schulter und nickte. „Kameraden im Krieg und im Frieden. Gehen wir. Bald wird mein Kopf platzen. Und Max muss verarztet werden …“

1. KAPITEL

England – 1816

Harry Pendleton sah das Mädchen über die schmale Landstraße laufen – nur wenige Sekunden bevor er an den Zügeln zerrte und das Gespann abrupt zum Stillstand zwang. Während er klirrendes Zaumzeug, schrilles Wiehern und die Flüche des Reitknechts hörte, brachte er die verwirrten Pferde unter Kontrolle. Eine so grobe Behandlung waren sie nicht gewöhnt.

Nun begann er ebenfalls zu fluchen. Beinahe wäre die junge Frau unter die Hufe geraten. „Was, zum Teufel, bilden Sie sich eigentlich ein?“, donnerte er, warf dem Reitknecht die Zügel zu und sprang vom Fahrersitz. „Ich hätte Sie töten können!“

„Wären Sie nicht so schnell gefahren, hätte mir keine Gefahr gedroht.“ Trotz ihrer Blässe und der zitternden Hände warf sie herausfordernd ihr langes Haar in den Nacken. Verächtlich starrte sie ihn an. „Für ein so halsbrecherisches Tempo sind diese Landstraßen nicht geschaffen, Sir. Und ich hatte keine Ahnung, dass Sie plötzlich um die Biegung rasen würden …“

„Sicher waren die Hufschläge und das Geräusch der rollenden Räder laut genug“, verteidigte er sich, obwohl er ihr teilweise recht geben musste. „Was, um alles in der Welt, hat Sie veranlasst, wie von Furien gehetzt über die Straße zu stürmen?“

„Ich sah Primeln auf der anderen Seite, und die wollte ich pflücken. Glauben Sie mir, Sir, das ist eine sehr ruhige Straße. Hier fährt niemand so schell wie Sie.“

„Wahrscheinlich weil niemand dazu fähig ist.“ Noch während er sprach, erkannte er, wie lächerlich und arrogant seine Worte klangen. Das passte nicht zu seinem Wesen. „Wenn Sie die Straße in der Nähe einer Biegung überqueren, sollten Sie vorsichtiger sein, Miss …“ Erst jetzt merkte er, wie schön sie war. Ihr Haar, das im Wind flatterte, glich gesponnenem Gold. In ihren klaren meergrünen Augen hätte ein Mann fast ertrinken können. Fasziniert starrte er sie an. „Verzeihen Sie, ich kenne Ihren Namen nicht.“

„Den werde ich Ihnen auch nicht verraten, Sir“, entgegnete sie und hielt seinem Blick stand. „Ich finde Sie anmaßend und unhöflich. Und jetzt werde ich gehen.“

Verblüfft schaute er ihr nach, als sie davoneilte und über einen Zauntritt am Straßenrand kletterte. Nun wurde ihm bewusst, wie schlecht er sich benommen hatte.

„Tut mir leid!“, rief er ihr nach. „Ich sorgte mich, weil ich Sie beinahe getötet hätte. So rüde wollte ich Sie nicht anherrschen.“

Sie drehte sich nicht um, sondern entfernte sich auf einer Blumenwiese. Eine Zeit lang beobachtete er sie noch, dann schüttelte er den Kopf und stieg auf den Fahrersitz seines Phaetons. Sein verdammtes Temperament war mit ihm durchgegangen. Nur ganz selten verlor er seine Selbstkontrolle. Aber an diesem Morgen war es geschehen. Statt die junge Dame anzuschreien, hätte er sich vergewissern sollen, ob sie mit dem Schrecken davongekommen und ansonsten wohlbehalten war. Einige Sekunden lang erwog er, ihr zu folgen. Aber er musste sich beeilen. Er hatte versprochen, seine Freunde zu treffen, und sich ohnehin schon verspätet.

Die Stirn gerunzelt, fuhr er weiter – diesmal etwas langsamer. Offenbar war die junge Frau unverletzt. Doch er hatte nicht danach gefragt. Zumindest hätte er sich erkundigen sollen, ob sie seine Hilfe brauchte. Wenn er auch den Eindruck gewann, dass sie nicht darauf angewiesen war … Lächelnd entsann er sich, wie selbstsicher sie seine Vorwürfe beantwortet hatte. Ihre Nerven hatten offensichtlich keinen Schaden erlitten. In der Stadt wären die meisten jungen Damen einer Ohnmacht nahe, würden sie einem so ungehobelten Gentleman begegnen. Nun, nach ihrer Kleidung zu schließen und weil sie ohne Hut und Begleitung umherstreifte, war sie zweifellos ein Landmädchen – vielleicht die Tochter des ortsansässigen Vikars. Vermutlich würde er sie nie wiedersehen. Obwohl er ein gewisses Bedauern empfand, verdrängte er den Zwischenfall.

Als Susannah außer Atem geriet, blieb sie stehen. Was für ein ungehobelter Mann! Wäre er freundlich und rücksichtsvoll gewesen, hätte sie sich entschuldigt. Teilweise fühlte sie sich verantwortlich für das Missgeschick. Doch er war so rasend schnell um die Kurve gebogen – erstaunlich, dass er das Gespann gerade noch rechtzeitig gezügelt hatte. Beinahe wäre sie von den Pferden niedergetrampelt worden.

Eigentlich müsste sie ihn bewundern, weil er so geschickt mit den lebhaften Tieren umgehen konnte. Aber nachdem er sie so hochnäsig angeschrien hatte, war sie nicht zu einer Entschuldigung bereit gewesen. Sie setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Während sie sich allmählich beruhigte, entdeckte sie die Komik der Situation und musste lachen. Welch ein aufregendes Abenteuer … So etwas hatte sie sich schon lange gewünscht. Allerdings würde der Gentleman in ihren Träumen lächelnd, besorgt und sanft mit ihr sprechen und ihre Herzschläge beschleunigen. O ja, ihr Herz hatte sehr heftig gegen die Rippen gehämmert – wenn auch nicht von romantischen Gefühlen, sondern von Todesangst erfüllt. Jetzt dachte sie etwas gelassener an den Zwischenfall, und da entsann sie sich, dass der Fahrer des Wagens sehr attraktiv aussah – falls man hochmütige, unhöfliche Männer mochte.

Sie stand auf, und auf dem restlichen Heimweg verbannte sie ihn aus ihren Gedanken. Nun musste sie sich beeilen, um endlich das Cottage zu erreichen, das sie seit dem Tod ihres armen Papas bewohnte. Sie war sehr lange weg gewesen. Sicher hielt Mama schon nach ihr Ausschau.

Den Korb voller Wildblumen und Kräutern am Arm, die sie gesammelt hatte, betrat sie das Cottage. Ihre Haare waren zerzaust, die Wangen von der frischen Luft gerötet, als sie den Korb auf den blank geschrubbten Küchentisch aus Kiefernholz stellte. Verlockend stieg ihr der Duft von Backwerk in die Nase, und sie griff nach einer Kuchenplatte. In diesem Moment kam Maisie herein. Früher war sie ihr Kindermädchen gewesen, jetzt führte sie Mrs. Hampton den Haushalt und kümmerte sich um alles, was zu erledigen war. Andere Dienstboten konnten sie sich nicht leisten.

„Rühren Sie bloß den Kuchen nicht an, Miss Susannah!“, mahnte sie. „Heute Nachmittag erwartet Ihre Mama den Vikar und ein paar Freunde zum Tee. Für diesen Kuchen habe ich die letzte Butter verbraucht.“

„Darf ich mir nur ein ganz kleines Stück nehmen?“, bat Susannah. Ihr Magen knurrte. „Seit heute Morgen habe ich nichts gegessen.“

„Wären Sie zum Lunch nach Hause gekommen, statt wie eine Landstreicherin über die Wiesen und Felder zu wandern, hätten Sie jetzt keinen Hunger.“ Missbilligend musterte Maisie das Mädchen, konnte aber ihre tiefe Zuneigung nicht verbergen. „Ziehen Sie sich um. In einer Stunde wird der Tee serviert. Bis dahin müssen Sie sich gedulden.“

„Aber ich bin jetzt hungrig.“ Susannah stibitzte ein ofenwarmes Stück Haferbiskuit und floh aus der Küche, von Maisies Schimpftirade verfolgt.

Seufzend stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, um ihr altes Kleid mit einem schöneren zu vertauschen. Wieder einmal beschmutzten Grasflecken den Saum, und weil sie an einem Dornengestrüpp hängen geblieben war, klaffte ein kleiner Riss im Rock. Nur gut, dass sie dieses Kleid getragen hatte … Ihre besseren Sachen verwahrte sie für besondere Gelegenheiten. Ihre Mutter besaß gerade genug, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und Maisies kargen Lohn zu bezahlen. Was sie tun sollten, wenn sie neue Kleider brauchten, wusste Susannah nicht.

Nach dem Tod des Vaters hatte sich alles geändert. Durch unkluge Investitionen und am Spieltisch hatte er ein Vermögen verloren. Nun mussten sie sich mit dem geringen Einkommen aus einem Erbe der Mutter begnügen.

„Keine Ahnung, was ich machen soll, Susannah“, hatte Mama gestanden, als sie aus dem komfortablen Haus in das bescheidene Cottage gezogen waren. „Wenn ich dir eine Saison in London finanziere, wird nicht viel von unserem Geld übrig bleiben.“

„Sorg dich deshalb nicht, Mama“, hatte sie gebeten. „Ich verzichte sehr gern auf eine Saison. Vielleicht läuft mir hier draußen auf dem Land ein Prinz über den Weg, der mich trotz meiner mangelnden Mitgift leidenschaftlich lieben und in sein Schloss heimführen wird. Dann kauft er mir Juwelen und Kleider, und du musst nie wieder jeden Penny umdrehen.“ Ihr Lächeln hatte etwas wehmütig gewirkt, was ihr nicht bewusst gewesen war.

Traurig hatte Mrs. Hampton den Kopf geschüttelt, erstaunt über die rege Fantasie ihrer Tochter. „Wenn du auch sehr hübsch bist, mein Liebling – so etwas geschieht nur im Märchen. Gewiss wird eines Tages jemand um dich anhalten, aber ob er dir gefällt …“

„Oh, jetzt denkst du sicher an Squire Horton.“ Stöhnend hatte Susannah das Gesicht verzogen. Der Squire – ein freundlicher Gentleman, über vierzig Jahre alt – hatte zwei Ehefrauen begraben und zog eine ungebärdige Kinderschar groß. Obwohl sie ihn schätzte, fand sie ihn kein bisschen attraktiv und ziemlich langweilig. „Wenn sich nichts anderes ergibt, muss ich eben so jemanden heiraten, Mama“, hatte sie hinzugefügt. „Aber es ist noch zu früh, um alle Hoffnung aufzugeben.“

Nun verspeiste sie ihren Biskuit, dann wusch sie sich und vertauschte ihr altes Kleid mit einem primelgelben Nachmittagskleid, bürstete ihr Haar und hielt es mit einem weißen Band aus der Stirn. Eine weiße Stola über den Schultern verwandelte die „Landstreicherin“ in eine elegante junge Dame.

Als sie nach unten gehen wollte, schwang die Tür auf, und Mrs. Hampton eilte ins Zimmer. In einem grauen Seidenkleid sah sie immer noch attraktiv aus. Die Melancholie, die ihr stets etwas bittere Züge verlieh, war ausnahmsweise verflogen. So heiter hatte Susannah ihre Mutter nicht mehr gesehen, seit Papa vor sechs Monaten an einer Infektionskrankheit gestorben war.

„Was ist geschehen, Mama?“, fragte sie neugierig.

Mrs. Hampton schwenkte einen Bogen aus edlem Papier. „Heute bekam ich einen Brief von Amelia Royston. Erinnerst du dich an sie? Wir haben sie in Bath kennengelernt. Dort weilte sie mit ihrer Schwägerin Lady Royston, und sie tat mir leid, weil sie die Gesellschaft dieser Xanthippe ertragen musste. Natürlich ist ihr Bruder ein Gentleman. Aber ich bin nicht sicher, ob ich ihn mag.“ Nachdenklich runzelte sie die Stirn, denn ihre Freundin hatte nichts über ihre Lebensumstände erzählt. Trotzdem hatte sie in Bath gespürt, dass Amelia unglücklich war. „Wie du dich vielleicht entsinnst, lud ich sie sehr oft ein, und seither korrespondieren wir regelmäßig. Jetzt lebt sie bei einer älteren Tante, und es geht ihr viel besser.“

„Was schreibt sie denn, Mama?“

„Oh, es ist wie ein Traum! Ihre Tante, Lady Agatha Sawle, starb und hinterließ ihr ein Vermögen. Damit hatte Amelia gar nicht gerechnet, und sie wusste nicht einmal, wie reich die alte Dame war.“

„Da siehst du es, Mama, es geschehen doch noch Wunder. Vielleicht werden wir eines Tages auch etwas erben.“

„Amelia ist so großzügig.“ Gerührt betupfte Mrs. Hampton ihre Augen mit einem Spitzentaschentuch, und der Duft ihres Lavendelwassers wehte zu Susannah herüber. „Stell dir vor, Liebes, sie lädt dich zu einer Saison in London ein. Natürlich weiß sie Bescheid über Papas finanzielle Schwierigkeiten. Nun will sie uns helfen. Sie bezahlt alle unsere Kosten. Außerdem bekommst du eine Mitgift – fünftausend Pfund. Also hast du allerbeste Chancen auf eine gute Partie.“ Mit zitternden Fingern berührte sie den Arm ihrer Tochter. „Warum sie das für uns tut, verstehe ich nicht – wo wir doch nicht einmal mit ihr verwandt sind.“

Ungläubig starrte Susannah ihre Mutter an. „Eine Saison in London … Wie gut Miss Royston ist! Aber – wieso hat sie an uns gedacht?“

„In ihrem Brief erklärte sie, ich sei in Bath so nett zu ihr gewesen. Damals habe sie dringend eine Freundin gebraucht. Doch ich vermute, sie hat noch andere Gründe. Wahrscheinlich fühlt sie sich einsam. Ihre Familie behandelt sie ziemlich schlecht, wenn sie sich auch nie darüber beklagt. Jedenfalls weiß ich es … Wie auch immer, ihre Großmut ist erstaunlich. Gewiss, solche ungeheuren Wohltaten dürfte man nicht annehmen. Normalerweise würde ich es nicht tun. Aber ich habe um ein solches Wunder gebetet. Und du verdienst eine Chance auf eine glückliche Zukunft, mein Liebes. Vielleicht können wir Amelia ihre Großzügigkeit irgendwann vergelten … Oh, überleg doch, du wirst viele bedeutsame Leute kennenlernen. Amelia hat Kontakte zu den allerbesten Kreisen. Und wer weiß, was passieren wird, wenn alles gut geht …“

Susannah nickte. Während sie das strahlende Gesicht ihrer Mutter betrachtete, ließ ihre Freude ein wenig nach. Offenbar hofft Mama auf einen schwerreichen Gatten für mich, dachte Susannah, der alle Probleme lösen wird. Das wünschte sie sich ebenfalls. Andererseits wollte sie ihre romantischen Träume von der großen, unsterblichen Liebe nicht aufgeben. Aus unerfindlichen Gründen erschien plötzlich das Bild des wütenden Gentleman in ihrer Fantasie, dessen Pferde sie beinahe niedergetrampelt hätten. Unfassbar – wieso dachte sie gerade jetzt an ihn? Wo er sich doch so abscheulich benommen hatte …

Wie auch immer, sie freute sich auf die Saison in der Hauptstadt. In all den Monaten seit Papas Tod hatte sie sich danach gesehnt. Wenn sie Glück hatte, würde sie sich in einen passenden Gentleman verlieben, der ihr Herz höher schlagen ließ und Mamas Wohlgefallen erregte. Möglicherweise würde er wie jener ungehobelte Mann aussehen – und ihr viel höflicher begegnen.

„Obwohl ich die Hintergründe von Amelias Entschluss nicht begreife, will ich ihr sofort schreiben, dass wir ihr generöses Angebot dankbar annehmen“, verkündete Mrs. Hampton. „Sie hat uns für nächste Woche in ihr Haus bei Huntington eingeladen. Da werden wir alles Nötige besprechen. Dann fahren wir zusammen nach London. Sie schickt uns ihre Kutsche.“

„Wie freundlich von ihr!“ Susannah stockte der Atem, als ihr ein neuer Gedanke durch den Sinn ging. „Und … unsere Kleider, Mama?“

„Dafür ist gesorgt. Amalia hat mir geschrieben, wir sollen in der Stadt zu ihrer Schneiderin gehen und ihr die Rechnungen schicken.“

„Dann kauft sie mir auch Kleider?“ Überwältigt starrte Susannah ihre Mutter an. „O Mama, dieses Wunder übertrifft meine kühnsten Träume! Miss Royston muss wirklich sehr reich sein.“

„Ja, Liebes, aber sie weiß, wie es ist, wenn man von einem kleinen Einkommen leben muss und von den Verwandten schlecht behandelt wird. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum sie uns hilft.“

Überglücklich nickte Susannah. Sie konnte es kaum erwarten, bis ihr Abenteuer beginnen würde. Doch die nächsten Tage würden sehr schnell vergehen. Sie musste ihre Kleider begutachten und sehen, was sich damit machen ließ. Einige konnte sie sicher mit neuen Bändern, Spitze oder Bordüren auffrischen. Allzu sehr wollte sie Miss Roystons Großzügigkeit nicht beanspruchen.

Fasziniert betrachtete Susannah das Haus, als ein Reitknecht ihr aus der Kutsche half – ein schönes L-förmiges Gebäude aus gelbem Stein mit einem imposanten Portal und bleiverglasten Fenstern, von einem gepflegten Garten und alten Bäumen umgeben. Sobald sich eine Gelegenheit bot, würde sie den Garten erforschen.

Sie folgte ihrer Mutter in die Eingangshalle. Dort wurden sie von der Haushälterin begrüßt. „Miss Royston lässt sich entschuldigen, Mrs. Hampton“, sagte die Frau. „Ich bin Mrs. Winters, die Wirtschafterin. Wenn Sie gestatten, führe ich Sie nach oben zu Ihren Räumen. Sie wird Sie bald willkommen heißen. Vor einigen Minuten ist ein unerwarteter Besucher eingetroffen …“

„Oh, das ist wirklich nicht schlimm“, erwiderte Mrs. Hampton. Dann wandte sie sich zu ihrer Tochter. „Sehen wir uns erst einmal oben um, Liebes.“

„Darf ich im Garten spazieren gehen, Mama? Offenbar ist er sehr schön. Oder würde das Miss Royston stören?“ Fragend schaute Susannah die Haushälterin an.

„Oh, Miss Royston ist eine leidenschaftliche Gärtnerin“, erklärte Mrs. Winters lächelnd. „Seit sie hier wohnt, gibt sie sich sehr viel Mühe mit ihrem Garten, und er ist ihr ganzer Stolz. Schauen Sie sich nur um, Miss Hampton. Nachdem Sie so lange im Wagen gesessen haben, wird Ihnen die Bewegung guttun. Aber bleiben Sie in der Nähe des Hauses. Wenn Miss Royston bereit ist, Sie zu empfangen, werde ich Sie rufen.“

„Also gut, dann geh hinaus, Susannah“, sagte Mrs. Hampton. „Allerdings musst du auf deinen gewohnten langen Spaziergang verzichten. Das wäre sehr unhöflich.“

„Keine Bange, Mama, ich gehe nur zur Rosenlaube und bin bald wieder zurück.“

Susannah eilte zur Vordertür hinaus, die ihr ein beflissener Lakai öffnete. Lächelnd dankte sie ihm und freute sich, weil sie vor der Begegnung mit der Gastgeberin ein paar Minuten mit sich allein sein würde.

Als die Kutsche vor dem Haus gehalten hatte, war ihr der Rosengarten aufgefallen. Schon jetzt, zu dieser frühen Jahreszeit, gediehen die Büsche überraschend üppig. Doch ihre ganze Pracht würden sie erst in einem Monat entfalten. Dann würde der Garten in einem wahren Farbenrausch leuchten und der Rosenduft bis ins Haus wehen. Außerdem gab es große Beete mit Lavendel, Peonien und anderen mehrjährigen Blumen. Tatsächlich, Miss Royston musste sehr viel Zeit in ihrem Garten verbringen, und sie hatte die Gestaltung fachkundig geplant.

Auf dem Weg zur Laube hörte Susannah eine Frauenstimme. Zögernd verlangsamte sie ihre Schritte. Da sie nicht stören wollte, beschloss sie umzukehren. Doch dann wurde der Name ihrer Mutter erwähnt, und sie blieb stehen.

„Margaret Hampton ist eine gute Freundin. Dieses Angebot habe ich ihr aus eigenem Antrieb gemacht, Michael. Darum wurde ich nicht gebeten, das versichere ich dir. Und ich erlaube dir nicht, so schreckliche Dinge zu sagen. Margaret und Susannah werden mein gutes Herz sicher nicht ausnutzen.“

„Was für eine Närrin du bist, Amelia!“, erwiderte eine scharfe Männerstimme. „Wirklich, ich verstehe dich nicht! Du weigerst dich, bei Louisa und mir zu wohnen – und jetzt öffnest du dein Haus fremden Leuten …“

„Wie ich dir bereits erklärt habe, werde ich nie wieder unter einem Dach mit Louisa leben, Michael. Deine Frau mag mich nicht. Von Anfang an war sie gegen mich. Und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern.“

„Bevor du ein Vermögen geerbt hast, warst du dankbar für meine Großzügigkeit“, stieß der Mann hervor. „Hätte Agatha ihr Geld mir vererbt, mit einem Einkommen für dich – was jede vernünftige Frau getan hätte –, würde das alles nicht geschehen. Eigentlich hätte sie wissen müssen, dass du unfähig bist, auf dich selber aufzupassen.“

„Wäre es Tante Agathas Wunsch gewesen, dich zu ihrem Erben einzusetzen, hätte sie es sicher getan.“ Obwohl Amelia in ruhigem Ton sprach, schwang kontrollierter Zorn in ihrer Stimme mit. „Wie sie mir erklärte, hat sie dich und deine Söhne zur Genüge bedacht. Wir haben zwar denselben Vater, Michael, aber verschiedene Mütter, und Tante Agatha liebte meine Mutter.“

„Da sie Vaters Tante war, besitze ich die gleichen Rechte wie du, Amelia. Trotzdem werde ich das Testament nicht anfechten. Sonst würde ich einen Skandal heraufbeschwören. Und wie du sehr wohl weißt, hasse ich es, unliebsames Aufsehen zu erregen. Aber du solltest einiges wiedergutmachen und wenigstens deinen Neffen helfen.“

„Vielleicht werde ich mich irgendwann dazu entschließen, wenn ich den Eindruck gewinne, sie würden es verdienen. Aber das ist einzig und allein meine Entscheidung. Von dir lasse ich mir keine Vorschriften machen …“

Schuldbewusst zuckte Susannah zusammen, als ein Zweig knackte, auf den offenbar jemand getreten war. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie schamlos lauschte. Sie kehrte in die Richtung des Hauses zurück und begann zu laufen, denn sie vermutete, Miss Royston und der Mann würden die Laube verlassen. Natürlich wollte sie nicht gesehen werden.

Beklemmende Verlegenheit trieb ihr das Blut in die Wangen. Offenbar hatte sie einen Streit zwischen Miss Royston und ihrem Bruder, Sir Michael, mit angehört. Welch eine aufschlussreiche Diskussion! Wäre Mamas Name nicht erklungen, hätte sie sicher nicht gelauscht. Aber sie hatte wissen wollen, worum es bei dieser Debatte gegangen war. Die arme Miss Royston! Also hatte Mama nicht grundlos befürchtet, die Freundin wäre von ihrer Familie schlecht behandelt worden. Kein Wunder, dass Amelia nicht mehr bei ihren Verwandten wohnen mochte …

In der Nähe der Zufahrt blieb Susannah stehen und ordnete ihre Gedanken. Hinter Büschen verborgen, beobachtete sie, wie Miss Royston ins Haus ging. Gleichzeitig erklang das Räderrollen einer Kutsche, die davonfuhr.

Einfach schrecklich, dass Sir Michael glaubte, Mama und sie selbst würden die Großzügigkeit seiner Schwester ausnutzen! Hätte sie nur das gehört, würde sie ihre Mutter bitten, sofort mit ihr abzureisen. Aber Miss Royston hatte ihre Gäste energisch verteidigt. Außerdem war es offensichtlich, dass der Gentleman sich nur deshalb so ärgerte, weil er Tante Agathas Erbe für sich selbst beanspruchte. Welch ein widerwärtiger Mensch musste das sein, der mit seiner Schwester in diesem schroffen Ton sprach!

Letzten Endes entschied Susannah, das belauschte Gespräch sollte ihr die Freude auf die Londoner Saison nicht verderben, und sie wandte sich zum Haus. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und die Haushälterin winkte sie zu sich.

„Kommen Sie, Miss Hampton, Miss Royston wartet auf Ihre Mutter und Sie.“

„Oh, vielen Dank.“ Susannah folgte ihr in die Halle. „Hoffentlich bin ich nicht zu lange durch den Garten gewandert.“

„Selbst wenn es so wäre, würde Miss Royston Ihnen nicht zürnen, Miss. Sie ist sehr gutmütig. Aber ich kann Sie beruhigen, Sie haben sich nicht verspätet“, versicherte Mrs. Winters.

„Ich war nur in der Nähe der Rosenlaube“, erklärte Susannah und errötete. „Hat Miss Royston oft Besuch?“

„Seit Lady Agatha Sawles Tod führte sie ein sehr zurückgezogenes Leben. Hin und wieder lädt sie jemanden ein – nur Freunde ihrer Tante.“

„Kommt ihre Familie manchmal hierher?“

„Nein, Miss.“ Mrs. Winters presste die Lippen zusammen. Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Seit Tagen spricht Miss Royston nur noch von Ihrem Besuch, und ich sah sie nie zuvor in so guter Stimmung … Ah, da ist Ihre Mama. Miss Royston wartet im Kleinen Salon.“

Lächelnd musterte Mrs. Hampton ihre Tochter. „Bist du bereit, Liebes?“

Wenige Sekunden später klopfte die Haushälterin an eine Tür und öffnete sie, um die Ankunft der Gäste zu melden.

Susannah spähte an ihr vorbei und sah die Hausherrin am Fenster stehen. Sobald Miss Royston die Stimme der Frau hörte, drehte sie sich um.

Hätte Susannah den Streit nicht belauscht, wäre ihr der Kummer in Amelia Roystons Augen verborgen geblieben. Ihre Mutter bemerkte nichts dergleichen. Freudestrahlend betrat sie den Salon, während Susannah im Hintergrund wartete.

„Amelia, meine liebe Freundin!“ Margaret Hampton umarmte und küsste die Gastgeberin. „Wie dankbar ich dir bin, kann ich gar nicht in Worte fassen.“

„In meinem Brief habe ich dir bereits erklärt, du würdest mir einen Gefallen erweisen. Auf keinen Fall will ich in London bei meiner Schwägerin wohnen. Und ich kann nicht allein in der Hauptstadt leben. Bis jetzt habe ich noch keine Gesellschafterin engagiert. Außerdem ist es viel netter, ein Haus mit Freundinnen zu teilen, nicht wahr? Alle gesellschaftlichen Veranstaltungen werden wir gemeinsam besuchen.“

Als Susannah diese Worte hörte, fühlte sie sich viel besser. Gewiss, Mama und sie selbst waren Miss Royston zu Dank verpflichtet. Doch nun wusste sie, wie unglücklich die arme Frau im Haus ihres Bruders gewesen sein musste. Wenn sie Mama und mich bei sich aufnimmt, profitieren nicht nur wir von diesem Arrangement. Auch für sie ist es vorteilhaft, denn es erspart ihr eine weiteren Aufenthalt unter dem Dach ihrer verhassten Schwägerin …

„Ja, in der Gesellschaft von Freundinnen ist das alles viel angenehmer“, stimmte Mrs. Hampton zu, während Susannah den Blick durch den Raum schweifen ließ, der mit dunklen Mahagonimöbeln eingerichtet war – eher gemütlich als elegant. „Wie gut du aussiehst, Amelia! Das graue Kleid steht dir ausgezeichnet. Welche Farben wollen wir für die Stadt aussuchen?“

„Grau und Violett würden sich gut eignen“, erwiderte Amelia. „Und in den nächsten Wochen vielleicht ein paar andere dunkle Farben. Meine Trauerkleidung habe ich erst vor Kurzem abgelegt. Tante Agatha würde nicht erwarten, dass ich für alle Zeiten Schwarz trage. Wahrscheinlich hätte sie mir von Anfang an davon abgeraten. Aber ich dachte, unter den Umständen müsste ich ihr Respekt erweisen. So großzügig war sie zu mir. Wenn ich auch wusste, sie würde mir etwas hinterlassen – dass sie mich zu ihrer Haupterbin bestimmen würde, hatte ich nie vermutet.“

„Sicher verdienst du ihren Entschluss“, meinte Mrs. Hampton. Dann winkte sie Susannah zu sich. „Komm zu uns, Liebes. Zweifellos erinnerst du dich an meine Freundin.“

Susannah knickste formvollendet und lächelte schüchtern. „Ja, ich erinnere mich an Miss Royston. Ma’am, es ist so freundlich von Ihnen, uns nach London einzuladen. Wie ich Ihnen danken soll, weiß ich nicht. Möchten Sie das alles wirklich für uns tun?“ Diese Frage musste sie stellen, nachdem sie das Streitgespräch zwischen Sir Michael und seiner Schwester gehört hatte.

Aber Amelia antwortete ohne Zögern. „Danke mir ganz einfach, indem du glücklich bist, Kindchen.“ Die Herzenswärme in ihren Augen zerstreute Susannahs letzte Bedenken. „Nach eurem schrecklichen Verlust hattet ihr beide mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Und wie ich deiner Mama bereits erklärt habe – ich werde mich in London viel besser fühlen, wenn Freundinnen bei mir wohnen. Also tut ihr mir einen Gefallen.“

„O Ma’am, Sie sind überaus gütig.“ Vor dieser Begegnung war Susannah ziemlich nervös gewesen. Und jetzt erweckte Miss Royston den Eindruck, im Grunde würden sie gar keine Wohltaten empfangen. „Ich bin ja so aufgeregt. Voller Ungeduld fiebere ich unserer Ankunft in London entgegen.“

„Sobald sich herumspricht, wir seien in der Stadt eingetroffen, werden wir sehr viele Einladungen erhalten. Du wirst Freundinnen finden. Und ich glaube, du wirst zu den hübschesten Debütantinnen zählen – wenn du nicht sogar die allerhübscheste bist.“

Errötend schüttelte Susannah den Kopf. Sie fand Miss Royston sehr schön mit dem rötlichen Haar und den grünen Augen. Natürlich würde sie niemals wagen, ihr das zu sagen. Für eine so reiche Frau kleidete sich die Gastgeberin erstaunlich schlicht, aber geschmackvoll. Nur ein einziges Schmuckstück zierte das graue Kleid, eine silberne, mit erlesenen Perlen besetzte Brosche.

In Bath war Miss Royston ihr still und zurückhaltend erschienen, aber ihr Lächeln gewinnend und liebenswürdig. Damals hatte sie selten gelächelt – kein Wunder, wenn man ihre problematische Situation berücksichtigte. Da sie bei ihrem anmaßenden Bruder und ihrer unfreundlichen Schwägerin gelebt hatte, war ihr das Lächeln meistens vergangen.

„Trinken wir Tee.“ Amelia zeigte auf einen Tisch, an dem sie Platz nahmen. „Nach der Reise braucht ihr sicher eine Erfrischung. Tut mir leid, dass ihr warten musstet. Mein Bruder kam unangemeldet zu Besuch.“ Nur flüchtig spiegelte ihr Gesicht Ärger und Empörung wider.

Susannah sah sich noch einmal im Salon um. In verschiedenen gedämpften Grün- und Weißnuancen gehalten, erzeugte das Dekor eine behagliche Atmosphäre. Wahrscheinlich waren die Vorhänge jahrelang nicht erneuert worden. Auch andere Dinge wirkten etwas abgenutzt. Doch das störte sie nicht, denn sie zog die komfortable Aura einer Eleganz nach der neuesten Mode vor. In diesem Raum hatte man das Gefühl, jemand wäre hier sehr lange glücklich und zufrieden gewesen. Auf einem Wandtischchen lag ein Buch, neben einem Lehnstuhl stand ein Nähkorb. Und das Pianoforte schien oft benutzt zu werden. Ein hübscher Ständer enthielt mehrere leicht vergilbte Notenblätter.

Nachdem Amelia mit einem Glöckchen geläutet hatte, trug ein Butler ein großes Silbertablett in den Salon. Ein Dienstmädchen folgte ihm und stellte ein exquisites Teegeschirr und Platten mit kleinen Kuchen und Sandwiches auf einen Beistelltisch. Sobald der Tee eingeschenkt war, stand Susannah auf, um ihrer Mutter und der Hausherrin die Tassen zu reichen.

„Ich habe einigen Freundinnen geschrieben, wann wir in London ankommen werden“, berichtete Amelia. „Daraufhin erhielt ich bereits ein paar Einladungen. Sicher wird man uns noch andere schicken. In der ersten Woche gebe ich eine Dinnerparty. Und wenn Susannah Freundinnen gefunden hat, veranstalten wir einen kleinen Tanzabend.“

„O Ma’am, auf ein eigenes Tanzfest wagte ich gar nicht zu hoffen!“, rief Susannah. „Wollen Sie sich meinetwegen wirklich so viel Mühe machen? Wo Sie doch ohnehin schon so viel für uns tun! Und wir gehören nicht einmal zu Ihren Verwandten …“ Zu spät erkannte sie, dass sie Miss Roystons Familie besser nicht erwähnen sollte. Verlegen errötete sie, senkte den Kopf und knabberte an einem Stück Mandelkuchen.

„Aber wir sind gut befreundet“, erwiderte Amelia nach einer kurzen Pause. „Es gab eine Zeit, da war deine Mama die einzige Freundin, der ich trauen konnte, und ihr beide steht mir näher als meine Familie. Außerdem ist es nicht mühsam, eine Tanzparty zu organisieren. Den Großteil der Arbeit nimmt mir das Personal ab.“ Bevor sie weitersprach, lachte sie leise: „Ich tanze sehr gern. Und es bereitet mir Freude, junge Leute zu beobachten, die sich amüsieren.“

„Jetzt redest du so, als hättest du die Jugend schon hinter dir“, warf Margaret Hampton ein und schüttelte den Kopf. „Du bist immer noch jung genug, um zu tanzen und das Leben zu genießen.“

„Ja, vielleicht – wenn jemand mit mir tanzen will …“ Miss Royston wandte sich wieder zu Susannah. „Bitte, meine Liebe, nenn mich Amelia – zumindest wenn wir unter uns sind. Du sollst mich wie eine sehr enge Freundin behandeln. Oder wie eine ältere Schwester.“

„Oh, vielen Dank. Ja, wenn wir allein sind …“

„Gut. Du musst dich bei mir wohl und unbefangen fühlen. Inzwischen wurde euer Gepäck nach oben gebracht. Aber die Dienstmädchen haben nur die kleinen Reisetaschen ausgepackt, weil wir übermorgen nach London aufbrechen.“

„Das ist mein erster Besuch in London. In Bath war ich schon zwei Mal. Da ging Mama mit mir ins Theater und in schöne Geschäfte. Sicher ist London viel grandioser.“

„Anfangs wird es dir fremdartig erscheinen, doch du wirst dich bald eingewöhnen. Es gibt dort viele Theater und elegante Läden.“ Amelia lächelte freundlich. „Komm, gehen wir nach oben, Susannah. Soviel ich weiß, hast du dein Zimmer noch gar nicht gesehen.“

Sie verließen den Salon, und während Susannah hinter der Gastgeberin die breite Treppe hinaufstieg, musterte sie die Porträts an den Wänden.

Das Zimmer, das sie bewohnen sollte, war sehr hübsch, in Blau und Weiß dekortiert und offenbar erst vor Kurzem neu eingerichtet worden. Anscheinend hatte Miss Royston die Trauerzeit genutzt, um einen Teil des Hauses nach ihrem eigenen Geschmack zu gestalten. Den Salon im Erdgeschoss hatte sie unberührt gelassen – vielleicht weil er so gemütlich war. Wie sie den Raum hier oben ausgestattet hatte, fand Susannah perfekt. Sie stellte sich vor, ein großes Haus herzurichten, so wie es ihr gefiel. Dafür braucht man allerdings sehr viel Geld, dachte sie wehmütig.

Allein in ihrem Zimmer, seufzte sie voller Sehnsucht nach einer Romanze. Doch sie wusste, was sie ihrer Mutter schuldig war. Mama müsste in einem Haus wie diesem leben, nicht in einem bescheidenen Cottage. Und das wird nur geschehen, wenn ich eine gute Partie mache.

Als sie ihr Reisekleid ausziehen wollte, klopfte es an der Tür. „Herein!“, rief sie, in der Annahme, Mama würde zu ihr kommen.

Stattdessen trat ein junges Mädchen mit braunem Haar und dunklen Augen ein, knickste und lächelte schüchtern. „Guten Tag, Miss Hampton, ich bin Iris. Miss Royston hat gesagt, ich soll in den nächsten Wochen Ihre Zofe sein und Sie nach London begleiten.“

„Oh …“ Überrascht hob Susannah die Brauen. Im Cottage hatte sie sich daran gewöhnt, für sich selbst zu sorgen. Aber es war zweifellos sehr angenehm, wieder bedient zu werden, wenn auch nur für ein paar Wochen. „Das freut mich, Iris. Jemand hat das Kleid ausgepackt, das ich heute Abend tragen möchte. Waren Sie das?“

„Ja, Miss, ich habe es gebügelt, während Sie Tee tranken.“ Bewundernd schaute Iris ihre neue Herrin sah. „So schönes honigblondes Haar … Darf ich Sie frisieren?“

„Wissen Sie, wie man das macht?“ Susannah zögerte, denn sie besaß sehr feines Haar, und es gelang ihr nie, es für längere Zeit in Ordnung zu halten.

„Gewiss. Meine Mutter war vor ihrer Hochzeit die Zofe einer feinen Dame, und sie brachte mir all die Fähigkeiten bei, die ich brauche. Vor ein paar Wochen stellte Miss Royston mich ein. Sie hat ihre eigene Zofe. Aber ich konnte ein paar Mal aushelfen. Und jetzt arbeite ich für Sie, Miss. Oh, es wird so aufregend sein, in London zu leben.“

„Das glaube ich auch. Also gut, frisieren Sie mich, Iris. Ich habe schon oft mit meinem Haar experimentiert. Leider ist es ziemlich widerspenstig. Mal sehen, was Sie daraus machen.“

„Sie werden staunen, Miss.“

Als Susannah zum Dinner nach unten ging, fühlte sie sich wundervoll. Sie trug ein elegantes gelbes Kleid, das Mama ihr ein paar Wochen vor Papas Tod zum Geburtstag gekauft hatte. Seither hatte sich keine Gelegenheit mehr geboten, es anzuziehen. Aber dies war ein besonderer Abend, und sie wollte möglichst gut aussehen. Ihr Haar war am Hinterkopf zu einem doppelten Knoten geschlungen und mit einer Seidenblume geschmückt. Zu beiden Seiten ihres Gesichts ringelten sich zarte Löckchen.

„Oh, du hast dich anders frisiert!“ Verblüfft starrte Margaret Hampton ihre Tochter an. „Jetzt siehst du viel erwachsener aus, Liebes.“

„Dieser Stil steht dir sehr gut“, meinte Amelia. „Bist du mit Iris zufrieden, Susannah? Ich dachte, sie wäre dir eine Hilfe. Wenn das ihr Werk ist, war mein Vertrauen in ihre Fähigkeiten berechtigt.“

„Ja, sie hat mein Haar hochgesteckt“, bestätigte Susannah. „Sie schlug vor, verschiedene Frisuren auszuprobieren und herauszufinden, welche am besten zu mir passt. Wie geschickt sie ist … Das könnte ich niemals.“

Autor

Anne Herries
Anne Herries ist die Tochter einer Lehrerin und eines Damen Friseurs. Nachdem sie mit 15 von der High School abging, arbeitete sie bis zu ihrer Hochzeit bei ihrem Vater im Laden. Dann führte sie ihren eigenen Friseur Salon, welchen sie jedoch aufgab, um sich dem Schreiben zu widmen und ihrem...
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