Das Spiel ist niemals aus

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Überglücklich sinkt Mary in Daniels Arme. Nach sechs verlorenen Jahren gibt das Schicksal ihr eine zweite Chance. Aber noch bevor sie ihr Glück richtig fassen kann, gerät sie ins Visier eines Kidnappers. Der ist auf der Suche: nach einer hübschen jungen Frau wie Mary …


  • Erscheinungstag 09.12.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743079
  • Seitenanzahl 170
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Tut mir leid, Ms. O’Rourke, Ihre Freundin kann leider nicht kommen. Sie hat versucht, Sie zu erreichen, aber Sie waren schon weg. Möchten Sie einen Tisch für eine Person?“

Mary Faith O’Rourke schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank, ich bleibe nicht“, sagte sie leise und verließ das Mimosa, ohne sich noch einmal umzusehen.

Sie hatte ohnehin keine Lust auf ein Mittagessen gehabt. In den vergangenen sechs Jahren hatte sie keinen Tag etwas anderes gewollt, als zu sterben, und heute war keine Ausnahme. Heute vor sechs Jahren waren ihr Mann und ihre kleine Tochter vor ihren Augen ums Leben gekommen.

Ihre Freunde machten sich Sorgen um sie, und irgendwie wusste sie diese Fürsorge auch zu schätzen. Aber sie verstanden sie einfach nicht. Natürlich wussten sie, was passiert war, allerdings ohne die genauen Einzelheiten zu kennen. Und damit die Schuldgefühle, mit denen Mary sich Tag für Tag herumplagte.

Ja, sie hatte im Vorgarten gestanden, als ihr Mann mit ihrer kleinen Tochter im Auto rückwärts aus der Einfahrt gestoßen war. Und ja, sie hatte das Polizeiauto, das dicht hinter einem anderen Wagen mit Blaulicht und Sirene um die Ecke gerast war, gehört, noch ehe sie es gesehen hatte. Und ja, sie hatte Daniel noch zugeschrien, dass er bremsen sollte, aber er hatte es nicht gehört. Doch kein Mensch außer ihr wusste, dass er im Streit weggefahren war, dass sie sich zum Abschied wütende Worte an den Kopf geworfen hatten. Niemand würde je wissen, wie Marys Schuldgefühle sie quälten oder wie sehr sie sich in dem Moment, in dem die drei Autos zusammengestoßen und in Flammen aufgegangen waren, gewünscht hatte, mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter zu sterben. Zusehen zu müssen, wie Daniel und Hope in diesem Feuer umkamen, hatte ihre Seele getötet. Seitdem wartete sie eigentlich nur noch darauf, dass ihr Körper ebenfalls starb.

Sie schaute auf die Uhr. Da sie erst in einer guten Stunde wieder in der Boutique sein musste, in der sie arbeitete, begann sie durch die Straßen zu schlendern.

Es war Jahre her, seit sie zum letzten Mal in diesem Stadtviertel von Savannah gewesen war. Ihre Freundin hatte diesen Treffpunkt vorgeschlagen und ihr vorgeschwärmt, wie schön es hier nach der Sanierung geworden wäre. Und Mary musste zugeben, dass das tatsächlich stimmte. Von den Bürgersteigen hatte man den Asphalt abgetragen und das alte Pflaster freigelegt. Der Straßenrand war mit Schatten spendenden Bäumen bepflanzt, unter denen man gemütlich dahinflanieren konnte. Zwischen den Häusern rankten sich an zierlichen Spalieren Efeu und Bougainvillea empor, was der Gegend einen europäischen Anstrich verlieh.

Mary wanderte ziellos durch die Straßen und schaute, ohne etwas zu sehen. Als sie an einer roten Ampel warten musste, hörte sie, wie sich zwei Frauen vor ihr über die beiden kleinen Mädchen unterhielten, die auf dem Heimweg von der Schule verschwunden waren, das zweite erst vor ein paar Tagen. Es gab keinerlei Hinweise darauf, was mit ihnen passiert war. Mary hatte Mitleid mit den Eltern, die sicher entsetzliche Angst um ihre Kinder ausstanden. Sie wusste, was es bedeutete, Menschen, die man über alles liebte, zu verlieren – sie hatte sogar für die beiden Mädchen gebetet, auch wenn sie nicht wirklich daran glaubte, dass es etwas half. In Wahrheit hatte Mary ihr Vertrauen in Gott und die Menschen verloren.

Sie spazierte weiter, wobei sie ab und zu ihre Schritte verlangsamte, um einen Blick in ein Schaufenster zu werfen, auch wenn sie nicht wirklich vorhatte, etwas zu kaufen. Als sie schließlich vor einem Juwelier stehen blieb, merkte sie, dass sie nicht mehr wusste, wo sie war. Sie hatte sich vollkommen verlaufen. Eher neugierig als beunruhigt wandte sie sich auf der Suche nach einem Orientierungspunkt um, wobei ihr Blick auf einem Geschäft auf der anderen Straßenseite landete.

Zuerst fesselte der Name ihre Aufmerksamkeit. Time After Time. Doch als sie sah, dass es sich um einen Antiquitätenladen handelte, fuhr ihr der Schmerz wie eine eiserne Faust in die Magengrube.

Vor ihrer Heirat hatten sie und Daniel mit größter Begeisterung Antiquitätenläden nach seltenen Schätzen durchstöbert. Sie liebte alte Kochbücher und winzige Kleinigkeiten, die von richtigen Sammlern oft übersehen wurden. Diese gemeinsamen Streifzüge war eine Erinnerung an die Zeit, als sie und Daniel noch glücklich gewesen waren, als seine Familie noch nichts von Marys Existenz gewusst hatte. Sie erschauerte. Gott. Wie oft hatte sie in den vergangenen sechs Jahren an die weniger glückliche Zeit ihres gemeinsamen Lebens gedacht? Jedes Mal, wenn sie sich an ihre heftigen Auseinandersetzungen erinnerte, war ihr, als würde ihr eine Messerklinge ins Herz gestoßen, und der Schmerz war immer derselbe.

Seine Eltern hatten sie geradezu verabscheut, und Mary hatte nicht gewusst, wie sie ihrem Mann das begreiflich machen sollte. Immer wieder musste sie an das Weinen ihrer kleinen Tochter denken, mit dem sie auf die lautstarken Auseinandersetzungen zwischen ihr und Daniel reagiert hatte. Und immer machten sich dann auch wieder diese Schuldgefühle in ihr breit, weil sie gewusst hatte, dass die hitzigen Worte, die sie und ihr Mann sich an den Kopf warfen, ihrer kleinen Tochter Angst machten.

Daniel war zuletzt nur noch genervt gewesen, von seiner Frau, ihren Tränen und ihrer Unfähigkeit, mit seinen Eltern auszukommen. Mary hatte in der ständigen Angst gelebt, ihn zu verlieren, dass er irgendwann genug von ihr haben könnte – und verloren hatte sie ihn am Ende ja auch, nur auf eine ganz andere Weise, als sie es sich vorgestellt hatte.

Ein Auto, das dicht an der Bordsteinkante vorbeifuhr, riss sie aus ihren Gedanken.

Oh, Gott, wie lange willst du mich noch für meine Sünden bestrafen, bevor du mich endlich aus meinem Elend erlöst?

Wie üblich bekam sie keine Antwort auf ihre Frage. Zutiefst erschöpft wandte sie sich von dem Laden ab, wobei sie fast den Jungen übersehen hätte, der auf seinem Fahrrad um die Ecke bog. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, wich sie auf die Straße aus, und als sie sich umdrehte, sah sie, dass sie schon auf halbem Weg zu dem Antiquitätengeschäft war.

Plötzlich verspürte Mary das starke Verlangen, Verbindung zu Daniel herzustellen – und wenn es auch nur durch das Aufleben einer gemeinsamen Leidenschaft, dem Besuchen von Antiquitätengeschäften, geschah. Sie ging auf den Laden zu. Vor der Tür hielt sie nur ganz kurz inne, dann atmete sie tief durch und trat ein. In der Luft hing der vertraute Geruch nach Möbelpolitur und alten Büchern, vermischt mit Staub, und über den bunt zusammengewürfelten Sachen auf dem Ladentisch lag eine dicke Staubschicht.

Mary ließ sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen, wobei irgendwo über ihr eine Glocke bimmelte. Im selben Moment sah sie einen alten Mann hinter dem Ladentisch stehen.

Sie hatte ihn entdeckt, als er den Kopf gehoben und sie angeschaut hatte. Er war winzig und gebückt und wirkte so alt wie das Inventar seines Ladens. In der einen Hand hielt er eine Tube Klebstoff und in der anderen eine Pinzette. Vermutlich war er gerade dabei, den alten Bilderrahmen zu reparieren, der vor ihm auf der Ladentheke lag.

„Guten Tag. Ich möchte mich nur ein bisschen umsehen“, sagte sie.

Er nickte und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit.

Mary war erleichtert, dass der Alte offenbar nicht die Absicht hatte, sich ihr anzuschließen, um ihr irgendetwas aufzuschwatzen. Daniel und sie waren immer froh gewesen, wenn sie ungestört herumstöbern konnten.

Im hinteren Teil des Ladens wurde der Staub dicker und kitzelte sie in der Nase. Je weiter sie vordrang, umso schmaler wurde der Gang. Schließlich merkte sie, dass sie ihren Rock eng an ihren Körper presste, um zu verhindern, dass sie damit Staub wischte.

Obwohl sie anfangs gezögert hatte, den Laden zu betreten, schaltete sie nun sehr schnell in das, was Daniel immer ihren „Suchmodus“ genannt hatte, um. Mary gehörte zu den Menschen, die eher aus dem Bauch heraus kauften, ohne sich mit Antiquitäten wirklich auszukennen – und das hatten ihre Einkäufe auch meistens widergespiegelt. Sie erwarb ein bestimmtes Stück nur, weil es ihr gefiel, wobei sein Marktwert keine Rolle für sie spielte, und so kam es, dass ihr aus dieser kostbaren Zeit mit Daniel als Liebstes eine kleine, schlanke Vase geblieben war, für die sie die unerhörte Summe von fünfzig Cent bezahlt hatte. Diese Vase war kaum groß genug, um einen einzigen Geißblattzweig zu halten, aber ihre zerbrechliche Zartheit erinnerte Mary an glücklichere Zeiten.

Entschlossen reckte sie das Kinn, während sie sich ihren Weg durch das Chaos bahnte und auf einen einzeln stehenden Tisch an der hinteren Wand zusteuerte.

Auf ihm stand, inmitten heilloser Unordnung, ein kleiner Glaskasten mit Schmuck. Das Schloss war verrostet, was Mary angesichts der dicken Staubschicht auf dem Deckel nicht weiter erstaunte. Da sie einen Blick hineinwerfen wollte, zog sie ein Papiertaschentuch aus ihrer Tasche und wischte den Staub ab. Doch die Sicht wurde dadurch nicht wesentlich verbessert, denn das Glas schien durch die Jahre milchig und trübe geworden zu sein.

Mary drehte sich um und rief dem alten Mann zu: „Sir … ich würde mir gern den Schmuck hier ein bisschen näher ansehen. Haben Sie einen Schlüssel für diesen Kasten?“

Sie hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben, eine Schublade mit einem Quietschen geöffnet und wieder geschlossen wurde. Kurz darauf kam der alte Mann in gebückter Haltung schlurfend auf sie zu.

Mary versuchte ihn nicht anzustarren, aber sie schaffte es nicht, den Blick abzuwenden. Auf seinem Gesicht lag eine Mischung aus Alter und Traurigkeit und Wissen, das sich einstellt, wenn man schon zu viele nahestehende Menschen verloren hat.

Der Alte trat hinter sie und schloss das kleine Vorhängeschloss überraschend flink auf, dann klappte er den Deckel des Glaskastens hoch. Als sich ihre Blicke kurz trafen, hatte Mary das seltsame Gefühl, als ob der Mann sie ganz sacht berührt hätte. Doch dann blinzelte er, und das Gefühl war weg.

„Danke“, sagte sie. „Ich würde mir gern diese Ringe da ansehen. Könnte ich vielleicht …“

Ohne ein weiteres Wort schlurfte er wieder nach vorn, was Mary zu einem Schulterzucken veranlasste. Aus der dicken Staubschicht, die auf dem Schmuckkasten lag, konnte man schließen, dass er nicht allzu oft etwas daraus verkaufte. Nun, wenn der Alte bei anderen Kunden ebenso vertrauensselig war, war es das reinste Wunder, dass man ihm noch nicht den ganzen Laden leergestohlen hatte.

Es dauerte nicht lange, bis Mary merkte, dass ein Großteil des Schmucks Ramsch war – bis auf die Ringe. Sie betrachtete sie eingehend und probierte sogar den einen oder anderen an. Nachdem sie glaubte, alles gesehen zu haben, und gerade den Deckel schließen wollte, fiel ihr Blick auf ein Stück alter beschädigter Spitze, das in einer Ecke des Kastens lag. Neugierig griff sie danach und holte überrascht Luft, als ein Ring herausrutschte und ihr direkt in die Hand fiel.

Er war aus Silber, mit einem durchscheinenden blauen Stein. Ein blauer Topas, dachte sie und hielt den Ring in das matte, gelbe Licht der nackten Glühbirne, die von der Decke herabbaumelte. Während sie ihn bewundernd drehte und einzuschätzen versuchte, wie viel er wohl wert sei, entdeckte sie eine Gravur in der Innenseite. Sie kniff die Augen zusammen und schaffte es nur mit Mühe, die verschnörkelten Buchstaben zu entziffern.

Für immer Dein

Ihr schossen die Tränen in die Augen. Nichts war für immer.

Sie versuchte sich den Mann auszumalen, der seiner Liebe diesen Ring geschenkt hatte, und schloss die Augen. Als Daniels Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte, streifte sie den Ring ohne zu zögern über.

Doch was war das? Im selben Moment begann ihr Finger wie verrückt zu brennen. Sie keuchte erschrocken und versuchte den Ring abzuziehen, aber es gelang ihr nicht. Sie stieß einen Schrei aus, und gleich darauf stand der kleine alte Mann vor ihr.

„Oh, mein Gott … oh, mein Gott, bitte helfen Sie mir, Sir. Ich bekomme diesen …“

Er lächelte, und das Brennen hörte schlagartig auf. Wieder war ihr, als ob der Alte sie berührt hätte. Sie hielt erstaunt die Hand mit dem Ring hoch, und der Mann nickte. Obwohl sie nicht erkennen konnte, dass sich seine Lippen bewegten, glaubte Mary die Worte Alles wird gut zu hören.

„Ich fühle mich aber gar nicht so gut“, murmelte sie und überlegte, dass es wahrscheinlich doch besser gewesen wäre, wenn sie etwas zu Mittag gegessen hätte.

Dann verspürte sie einen schwachen Luftzug, und gleich darauf wurde die Luft dünn. Und obwohl sie wusste, dass sie auf der Stelle stand, hatte sie das Gefühl, sich zu drehen. Immer im Kreis herum … und die Stühle und Tische, die eingestaubten Bilder an den Wänden begannen sich in der Gegenrichtung zu drehen … wie ein Karussell im Rückwärtsgang. Schließlich drehte sich alles im Raum, und Mary drehte sich mit. Sie wollte ihre Augen schließen, aber sie hatte eine ganz seltsame Angst, aus der Welt zu fallen. Auch der alte Mann begann zu schwanken und wirkte plötzlich fast schwerelos. Dann wurde es schlagartig eiskalt, und Mary sah erschrocken, wie sich der alte Mann in Luft auflöste. Ungläubig starrte sie auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hatte.

Und plötzlich waren der Geruch nach Staub und Kampfer in der Luft sowie ein weniger durchdringender, aber dennoch deutlich wahrnehmbarer Duft nach Lavendel und getrockneten Rosenblättern. Mary hörte Lachen und Weinen und gleich darauf ein leises Wimmern, von dem sie wusste, dass es ihr eigenes war. Irgendetwas in ihr zerbrach – und dann fühlte sie, wie sie fiel.

Als sie wieder festen Boden unter den Füßen verspürte, stand sie in ihrer Küche an der Spüle und hörte nebenan im Zimmer ihre kleine Tochter weinen.

Oh, Gott … bitte nicht. Nicht schon wieder.

Sie biss die Zähne zusammen, spürte, wie sie sich umdrehte, wobei sie schon vorher wusste, dass Daniel immer noch im Türrahmen stehen und sie ansehen würde, als ob sie eine Fremde wäre und nicht die Frau, die er geheiratet und mit der er ein Kind hatte. Sie hörte sich etwas sagen, und weil es immer wieder dieselben Worte waren, hätte sie am liebsten laut aufgeschrien. Sie kannte die Worte so genau, weil sie sie seit sechs Jahren jede Nacht in ihren Träumen hörte. War das ihre Strafe dafür, dass sie lebte, während die Menschen, die sie über alles liebte, tot waren? War sie dazu verdammt, diese letzten Momente mit Daniel und Hope bis in alle Ewigkeit immer wieder durchleben zu müssen? Würde dieser Albtraum niemals enden?

„Ist das Fläschchen noch nicht fertig?“, fragte Daniel.

Mary drehte sich zur Spüle um, wo Hopes Babyflasche im Wasserbad lag. Sie nahm sie heraus, ließ sich, um die Temperatur zu überprüfen, ein paar Tropfen der Milch aufs Handgelenk rinnen und wollte dann mit der Flasche an ihrem Mann vorbeigehen, doch er verstellte ihr den Weg.

„Lass, ich gebe sie ihr“, sagte er, nahm ihr die Flasche aus der Hand und verließ die Küche.

Mary spürte die Zurückweisung so überdeutlich, als ob er ihr eine Ohrfeige versetzt hätte. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. In der Spüle stapelte sich das ungespülte Geschirr, auf dem Boden neben der Waschmaschine wartete ein Berg Schmutzwäsche darauf, gewaschen zu werden. Der Fußboden musste dringend gekehrt werden. In der Luft hing noch der Geruch nach gebratenem Speck vom Frühstück. Im Zimmer nebenan hörte sie Daniels tiefe beruhigende Stimme und gleich darauf ein zufriedenes Schmatzen, als Hope anfing, an der Flasche zu nuckeln. Marys Schultern sackten nach unten. Sie war eine Versagerin. Alles, was sie in die Hand nahm, ging schief.

Seit ihrer ersten Verabredung mit Daniel hatte sie gewusst, dass er der Mann war, den sie heiraten wollte. Sein irischer Charme hatte in ihrem empfindsamen Herzen ein loderndes Feuer entfacht, und als er sie das erste Mal küsste, hatte sie ganz weiche Knie bekommen. Sie hatte ihn ohne Vorsicht geliebt und war ob ihrer Hemmungslosigkeit schwanger geworden. Obwohl sie zugeben musste, dass er sehr glücklich gewirkt hatte, als sie es ihm erzählt hatte. Noch in der derselben Nacht fragte er, ob sie seine Frau werden wolle. Nur seine Eltern, die sie von Anfang an auf Abstand gehalten hatten, waren empört, ja geradezu wütend gewesen, und das hatte sich nie geändert. Vor allem seine Mutter war überzeugt, dass Mary ihren Sohn in eine Falle gelockt hatte, und zeigte ihre Ablehnung immer deutlicher – doch solange Daniel in der Nähe war, sagte sie nie ein verletzendes Wort zu ihrer Schwiegertochter, im Gegenteil. Und dieses unehrliche Verhalten machte Mary fast verrückt. Daher kam es zwischen ihr und Daniel oft zu Reibereien, deren wahre Ursache ihm unbekannt war. Er verstand nicht, was mit seiner Frau los war, und sie wusste nicht, wie sie es ihm erzählen sollte, ohne dass es so aussah, als wolle sie seine Eltern schlechtmachen. Deshalb behielt sie es für sich und ließ es zu, dass ihr Schmerz ihr Familienleben infizierte.

Im Zimmer nebenan schaute Daniel auf seine Tochter hinunter und bewunderte die Perfektion dieser winzigen Gesichtszüge. Und doch zog sich sein Herz vor Kummer zusammen. Er liebte Mary Faith so sehr, wie er sich eine Liebe früher nicht einmal hätte vorstellen können. Er war sich schon vor ihrer Schwangerschaft sicher gewesen, dass die Liebe, die er für sie verspürte, tief und allumfassend war. Dann war Hope zur Welt gekommen, und er hatte eigentlich erwartet, dass sich durch das gemeinsame Kind das Band ihrer Liebe noch festigte. Aber das Gegenteil war eingetreten. Mary hatte angefangen, sich zurückzuziehen und ihre Gefühle auf eine Art für sich zu behalten, die ihm absolut unbegreiflich war. Sie verließ nur selten das Haus, und wenn sie es tat, brachte sie ihre Besorgungen so eilig hinter sich wie eine Krabbe auf der Suche nach einem Versteck und schien sich erst wieder einigermaßen entspannen zu können, wenn sie zu Hause war.

Auch von seinen Eltern schottete sie sich weitgehend ab, obwohl ihm völlig schleierhaft war, warum. Überhaupt schien Mary sich nur zu Hause, allein mit ihm und Hope, einigermaßen wohlzufühlen. Trotzdem – er musste es schaffen, ihr begreiflich zu machen, dass seine Eltern auch Anteil an Hopes Leben nehmen wollten. Immerhin waren sie ja die Großeltern. Da Mary ohne eigene Familie aufgewachsen war, war er davon ausgegangen, dass sie sich freuen würde, seine Familie mit ihm zu teilen. Aber das war keineswegs der Fall. Daniel hatte gehofft, dass sich, wenn sie sich erst von der Geburt erholt hatte, ihre Abneigung gegen seine Eltern schon legen würde. Doch mittlerweile war Hope schon drei Monate alt, und die Situation hatte sich nicht im Geringsten gebessert, sie wurde sogar immer schlimmer. Er schlief mit Bauchschmerzen ein und wachte mit Bauchschmerzen wieder auf. Ohne dass er wusste, warum, entglitt ihm seine Frau jeden Tag ein bisschen mehr, und das jagte ihm eine Höllenangst ein. Eine Angst, die sich dann oft in Verärgerung oder gar Wut äußerte.

Als er hörte, dass Mary in der Küche lautstark mit Töpfen hantierte, stieß er einen Seufzer aus. Er ließ sich nicht täuschen. Das machte sie nur, damit er ihr Schluchzen nicht hörte.

Daniel schaute auf seine kleine Tochter und hätte am liebsten selbst geweint. Sie hatten dieses Baby mit so viel Liebe gemacht. Was war von dieser Liebe übrig geblieben?

Mary ließ heißes Wasser in die Spüle einlaufen, tat einen Spritzer Spülmittel dazu und ließ dann die Teller einweichen, während sie die Waschmaschine mit Wäsche füllte. Ihr Rücken tat weh. Hinter ihren Schläfen hämmerte es. Am meisten jedoch machte ihr Herz ihr zu schaffen. Letzte Nacht hatte sie sich im Schlaf an Daniel geschmiegt und war aufgewacht, als er ihre Hand abgeschüttelt und sich auf die andere Seite gedreht hatte. Sie war sich sicher, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er ihr eröffnete, dass er die Scheidung wollte. Und sie konnte ihm nicht einmal einen Vorwurf daraus machen. Er wusste nicht, was sich zwischen ihr und seinen Eltern abspielte. Und sie wiederum wusste nicht, wie sie seine Liebe zu ihr und die zu seiner Familie voneinander trennen sollte. Es war alles ein schreckliches Chaos.

Nachdem sie Waschmittel eingefüllt hatte, stellte sie die Maschine an, dann ging sie wieder an die Spüle zurück. Als sie gleich darauf ihre Hände ins Wasser tauchte, verspürte sie einen scharfen, durchdringenden Schmerz.

„Au!“, schrie sie und riss ihre Hand heraus.

„Mary!“, rief Daniel. „Was ist passiert?“

„Nichts“, sagte sie, schnappte sich ein Handtuch und wickelte es um ihren blutenden Finger, dann rannte sie ins Bad.

Daniel hob den Kopf, als Mary auf den Flur rannte. Hope hatte fast ausgetrunken und war schon halb eingeschlafen. Behutsam legte er sie in ihren Stubenwagen und ging Mary dann nach, um zu sehen, was passiert war. Als er ins Bad kam, desinfizierte sie gerade eine Schnittwunde am Finger.

„Um Himmels willen, was ist denn passiert? Bist du okay, Honey?“

„Offensichtlich habe ich mich geschnitten“, gab sie scharf zurück.

Sofort fühlte Daniel sich ungerecht behandelt und brauste auf: „Ich kann bei dir nicht gewinnen, und wenn ich mich noch so anstrenge, stimmt’s?“ Er nahm ihr die Flasche mit dem Jod aus der Hand und begann den Schnitt abzutupfen. „Egal was ich auch sage, immer ist es das Falsche.“ Dann betrachtete er sich die Wunde ein bisschen genauer. „Ich glaube nicht, dass es genäht werden muss, aber vielleicht sollten wir trotzdem in die Ambulanz fahren … nur zur Sicherheit.“

„Das kostet Geld, und das können wir uns nicht leisten“, erwiderte sie. „Gib mir einfach ein Pflaster. Das wird schon reichen.“

Daniel erstarrte.

Mary fühlte sich elend. Ihr Mann machte ein Gesicht, als ob sie ihn geohrfeigt hätte. Aber wenn sie in die Klinik fahren würden, würde sich Phyllis O’Rourke eine gehässige Bemerkung bestimmt nicht verkneifen können. Und Mary konnte allein den Gedanken, sich wieder einmal eine von Phyllis’ hasserfüllten Tiraden anhören zu müssen, nicht ertragen. Daniel wusste nichts davon, dass seine Mutter ihr schon seit Wochen damit in den Ohren lag, wie viel ihr Sohn arbeiten musste und warum sie nicht auch endlich wieder arbeiten ging. Egal wie oft Mary auch wiederholte, dass die Entscheidung, zu Hause bei ihrem Kind zu bleiben, von ihr und Daniel gemeinsam getroffen worden war, es war umsonst. Phyllis machte Mary für alles verantwortlich, was ihrer Meinung nach in Daniels Leben schieflief.

Mary seufzte. „Daniel … ich …“

Hope fing an zu weinen. Daniel holte tief Luft und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, zuckte Mary zusammen und wich einen Schritt zurück. Du großer Gott! War es wirklich schon so weit zwischen ihnen, dass sie glaubte, er könnte sie schlagen?

Hopes Weinen wurde lauter.

Plötzlich verlor er die Beherrschung und brüllte: „Herrgott noch mal, Mary Faith! Das reicht jetzt. Ich fahre dich zum Arzt, und vorher liefern wir Hope bei Mom ab. Kein Grund, sie im Wartezimmer Gott weiß was für Krankheiten auszusetzen. Und wenn wir zurückkommen, reden wir miteinander. Ich verstehe nicht, was mit uns los ist, ich weiß nur, dass ich mich hundeelend fühle und es satthabe, ständig aus deinem Leben ausgeschlossen zu werden. Hast du mich verstanden?“

„Nein!“, schrie sie und versuchte ihn am Arm festzuhalten. „Bitte, bring Hope nicht zu deiner Mutter. Die Wunde muss nicht genäht werden. Es ist überhaupt nicht schlimm. Da, schau, es hat schon fast aufgehört zu bluten.“

Doch Daniel beachtete sie nicht und ging ins Wohnzimmer, um das Baby zu holen.

Mary folgte ihm und flehte ihn an, Hope nicht zu seiner Mutter zu bringen, aber er stellte sich taub. Sie beobachtete entsetzt, wie er eine Flasche mit Babynahrung aus dem Kühlschrank nahm, sich die Tüte mit den Windeln schnappte und das schreiende Baby aus dem Stubenwagen holte. Hope hörte sofort auf zu weinen, dafür war Mary jetzt in Tränen aufgelöst.

„Ich will nicht, dass du sie zu deiner Mutter bringst!“, schluchzte sie. „Das kannst du nicht machen. Ich fahre nicht mit, ich will nicht in die Ambulanz.“

Daniel drehte sich um und starrte sie an wie eine Fremde. „Gut“, sagte er schließlich. „Dann bleibst du eben hier. Aber ich bringe Hope trotzdem zu Mom, und wenn ich zurückkomme, reden wir.“

Er verließ das Haus und ging im Laufschritt zum Auto, wo er Hope in dem Kindersitz auf der Rückbank festschnallte, ohne Mary zu beachten, die ihm gefolgt war und ihn immer noch anflehte, nicht zu fahren.

Sobald er sich abwandte, begann Hope wieder zu schreien. Aber Daniel hatte jetzt keine Zeit, sich mit seiner Tochter zu befassen. Sie war frisch gewickelt und satt, und Blähungen hatte sie auch keine. Es gefiel ihr einfach nur, wenn man sie in den Schlaf wiegte, doch dafür war im Moment keine Zeit.

„Sei jetzt still, Süße“, sagte er sanft. „Dir fehlt nichts. Und in ein paar Minuten wird dich Grandma Phyllis in den Schlaf wiegen.“

Er schlug die hintere Tür zu und wollte eben vorn einsteigen, als Mary ihn am Ärmel festhielt.

„Daniel! Tu das nicht, bitte! Du weißt nicht, was du mir damit antust.“

Er runzelte die Stirn. „Was ich dir antue? Verdammt noch mal, Mary! Du weißt nicht, was du mir antust … uns!“

Mary verspürte Panik in sich aufsteigen. Sie trat einen Schritt zurück und beobachtete entsetzt, wie Daniel einstieg und die Tür hinter sich zuschlug.

Ihr Herz begann zu rasen, ihr Magen brannte. Nein, sie wollte nicht wieder hier sein. Sie wusste genau, was gleich passieren würde. Seit sechs Jahren sah sie es Nacht für Nacht im Traum vor sich.

Oh, Gott, mach, dass ich vor dem Zusammenstoß aufwache. Bitte! Ich habe einfach nicht die Kraft, das noch einmal mitzuerleben.

Daniel startete den Wagen. Mary stand wie erstarrt da und lauschte den zornigen Schreien ihrer Tochter. Daniel legte den Rückwärtsgang ein und stieß langsam zurück. Mary hörte bereits die näher kommenden Sirenen, die im Auto im Schreien des Babys untergingen.

Oh Gott … oh Gott.

Und dann schoss der braune Sportwagen mit quietschenden Reifen um die Ecke. Er kam ins Schleudern, während der Fahrer alles daransetzte, nicht die Kontrolle über den Wagen zu verlieren.

Oh Gott … oh Gott.

Sekunden später folgte das Polizeiauto mit Blaulicht und heulenden Sirenen.

Und Daniel schaut auf mich, nicht auf das, was hinter ihm ist.

Plötzlich löste sich Mary aus ihrer Erstarrung. Sie stieß einen gellenden Schrei aus, rannte auf das Auto zu und warf sich über die Kühlerhaube. Daniel bremste abrupt und brachte den Wagen in dem Moment zum Stehen, in dem sie nach unten rutschte.

Sein Herz hämmerte wie verrückt, als er aus dem Auto sprang. Oh Gott, oh Gott … wenn er Mary überfahren hatte, würde er nicht damit leben …

Erst jetzt hörte er die Sirenen. Er wirbelte genau in dem Moment herum, in dem der Sportwagen außer Kontrolle geriet und sich um die eigene Achse drehte. Einen Sekundenbruchteil später raste der Streifenwagen mit einem ohrenbetäubenden Krach seitlich in den Sportwagen hinein, und postwendend gingen die beiden Autos in Flammen auf.

Daniel schlug instinktiv die Autotür zu, um zu verhindern, dass Hope von durch die Luft fliegenden Wrackteilen getroffen wurde, und warf sich über die am Boden liegende Mary.

Sie konnte es nicht fassen. Der Traum! Es war nicht derselbe! Unsagbar erleichtert fing sie an zu weinen. Gott sei Dank. Gott sei Dank. Vielleicht bedeutete das ja, dass ihre Wunden langsam anfingen zu heilen. Auch wenn es nur ein Traum war, hatte sie sich selbst ein glückliches Ende beschert.

„Mary, Darling … bist du okay?“

Daniels Gewicht fühlte sich auf ihrem Körper ebenso wundervoll an wie der Klang seiner Stimme in ihren Ohren.

„Ja, jetzt geht es mir wieder gut.“

Er zog sie auf die Füße, presste ihr Gesicht an seine Brust und hielt sie fest, während er auf die brennenden Autowracks starrte.

„Wenn du mich nicht aufgehalten hättest, wären wir jetzt …“

Autor

Sharon Sala
Es war ein Job, den sie hasste, der sie dazu brachte, ihre ersten Zeilen auf einer alten Schreibmaschine zu verfassen und es war ihre Liebe zu diesem Handwerk, die sie schreiben ließ. Ihre ersten Schreibversuche landeten 1980 noch unter ihrem Bett. Ein zweiter Versuch folgte 1981 und erlitt ein ähnliches...
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