Das venezianische Erbe

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Um die mysteriösen Umstände, die zum Tod ihrer Großmutter geführt haben, zu erklären, kommt die hübsche Meredith nach Venedig - direkt ins bunte Treiben des Karnevals! Empfangen wird sie von Lucenzo Salviati, einem überaus charmanten Italiener, der sie nur zu gerne erobern möchte …


  • Erscheinungstag 14.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755980
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Scusi …“

Widerstrebend löste Meredith Williams den Blick von den Familien, die sich lärmend in der Ankunftshalle begrüßten, und wandte sich dem Mann zu, der sie um Entschuldigung gebeten hatte. Obwohl die geräuschvolle Wiedersehensfreude der Leute sie gefangen nahm, schlug der Anblick des sonnengebräunten Herrn sie sofort in Bann.

Der Eindruck, den sie von ihm gewann, war der unglaublicher Eleganz. Er trug einen schmiegsamen Wollmantel, der wundervoll zu den dunklen Augen passte. Der lässig um den Hals geschlungene Seidenschal war eine Spur blasser als das Haar, das die Farbe unreifen Korns hatte. Meredith war von der Kombination des blonden Haares mit den dunkelbraunen Augen fasziniert.

„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte sie und bemühte sich, nicht belustigt zu wirken, als sie sah, wie der Mann ihre Strickmütze, den billigen Regenmantel und die derben Straßenschuhe musterte. Die Aufmachung entsprach keineswegs italienischer Eleganz, und er war offenbar zu der Erkenntnis gelangt, dass er eine Engländerin vor sich hatte. Wider Willen musste sie lächeln.

„Sind Sie mit der aus London kommenden Maschine eingetroffen?“, erkundigte er sich leise.

Meredith war etwas verwundert über seine unbeteiligte Reaktion, denn im Allgemeinen konnte niemand ihrem herzlichen Lächeln widerstehen. Er hatte in sprödem Ton gesprochen und kaum hörbar, doch in der Stimme hatte unverkennbar mühsam beherrschter Ärger mitgeschwungen. Neugierig geworden, näherte sich Meredith und sagte: „Ja. Die Flugpläne sind das reinste Durcheinander. Auf Grund der Schneestürme hatten wir mehr als einen Tag Verspätung. Auf mich warten Sie wohl nicht?“, fügte Meredith zögernd hinzu und hoffte inständig, es möge nicht der Fall sein.

„Nein.“

„Oh, gut! Das hatte ich mir gedacht“, sagte sie erleichtert, durch das arrogante Verhalten nicht im Mindesten gekränkt. Jemand von der Banco d’Oro sollte sie abholen, und der blonde Schönling sah fürwahr nicht wie ein Bankangestellter aus, obwohl er natürlich Signor Corosini sein konnte. Mit gleichgültiger Miene sah sie sich in der fast leeren Ankunftshalle um und erinnerte sich, warum sie nach Venedig gekommen war.

Erpressung. Das war eine schlimme Sache. Allein bei dem Gedanken zitterten Meredith wieder die Knie.

Stirnrunzelnd wandte der arrogante Italiener sich an Meredith. „Waren Sie die Letzte, die durch den Zoll gekommen ist?“

„Ja. Mein Koffer wurde auf dem Transportband beschädigt“, erklärte Meredith.

„Dann habe ich umsonst gewartet.“

„Oh, so ein Pech.“ Meredith sah, dass ihr Mitgefühl keinen Eindruck auf ihn machte. Dem mürrischen Zug um die sinnlich geschnittenen Lippen nach zu urteilen, riss er denjenigen, der ihn versetzt hatte, in Gedanken offenbar in Stücke. Meredith war froh, dass nicht sie diese Person war. „Ich glaube, ich gehe jetzt besser nachsehen, wo die Boote nach Venedig abfahren“, sagte sie und seufzte, sich ungern damit abfindend, dass niemand sie abgeholt hatte. Sie nahm die Taschen und den lädierten Koffer und musste auf dem Weg zum Ausgang das sperrige Gepäck hinter sich herzerren.

„Halt! Bleiben Sie stehen!“

Sie drehte sich um und sah den unfreundlichen Italiener durch die tauenden Schneereste auf sich zukommen. „Es fährt kein Boot. Die Lagune ist gefroren. Der Wasserstand ist sehr niedrig. Sie werden ein Taxi nehmen müssen.“

Meredith fragte belustigt: „Ich soll ein Taxi nehmen? Vielen Dank für den Hinweis, aber jemand wie ich fährt nicht mit dem Taxi. Sehen Sie das nicht an dem Designerhut, den ich trage? So etwas tragen die Frauen, wenn sie sich beim Warten an der Bushaltestelle um den ersten Preis für modischen Kopfputz bewerben.“ Meredith lächelte fröhlich und hatte den Eindruck, dass ihre Heiterkeit die schlechte Laune des Italieners etwas dämpfte.

„Wenn Sie hier zu dieser Zeit allein herumstehen, könnte es sein, dass ein sexhungriger Mann sich entschließt, in Ihnen einen erstrebenswerten Preis zu sehen.“ Der Italiener sah Meredith in die erschrocken aufgerissenen blauen Augen, wies auf die vielen Gepäckstücke und sagte brummig: „Diesmal sollten Sie ein Taxi nehmen. Sie sehen aus, als bräuchten Sie es.“

„Ich kann mir kein …“

„Dann nehme ich Sie in meinem mit“, schlug er leise vor.

Meredith ermahnte sich, dass sie nicht mehr in England sei, wo sie mit Fremden plaudern und in jedes Auto einsteigen konnte, das des Weges kam. Vor Männern wie diesem sollte sie auf der Hut sein. Er lebte in einer anderen Welt als die Leute in dem walisischen Tal, aus dem sie kam. Es war ratsamer, nicht so aufgeschlossen und vertrauensvoll zu sein. „Sie sind sehr liebenswürdig“, erwiderte sie dennoch in freundlichem Ton, um den Mann nicht zu kränken. „Aber ich kenne Sie ja nicht. Eigentlich sollte ich mich gar nicht mit Ihnen unterhalten. Es fällt mir jedoch schwer, mir das ständig vor Augen zu halten, da ich in einem Dorf aufgewachsen und gewohnt bin, mit jedem zu reden, den ich treffe. Mein Gott, ist das kalt!“ Sie fröstelte im eisigen Wind und zog die Mütze tiefer über die Ohren.

„Sie lehnen mein Angebot ab?“, fragte der Italiener überrascht.

„Ich nehme nicht an, dass Ihnen das häufig passiert, nicht wahr?“ Meredith schmunzelte und fragte sich, warum ihr Gegenüber sich so bemühte, nicht zu lächeln, obwohl er über ihre Unverfrorenheit doch offensichtlich amüsiert war.

„Es ist schon spät. Sie frieren und sind wahrscheinlich so müde wie ich“, stellte er gelassen fest und machte wieder ein ernstes Gesicht. „Wir beide wollen nach Venedig …“

„Sie sollen doch jemanden abholen“, erinnerte Meredith ihn.

Er zuckte achtlos mit den Schultern, nahm die Visitenkarte aus der Manteltasche und warf sie mit verächtlicher Geste in einen übervollen Müllkorb. „Den Teufel werde ich tun!“, sagte er gereizt und sah mürrisch zu Boden. „Ich habe keine Lust, meine kostbare Zeit damit zu vertrödeln, auf jedes ankommende Flugzeug zu warten.“

„Das klingt, als hätten Sie schon sehr lange gewartet.“

„Natürlich. Mein ganzes Leben“, erwiderte er verdrossen.

Die Antwort war so übertrieben, dass Meredith lächeln musste. „Du meine Güte, das ist wirklich eine sehr lange Zeit!“, sagte sie belustigt. „Kein Wunder, dass Sie es leid sind.“ Sie warf dem Mann einen verschmitzten Blick zu und erwartete, auch er würde lachen. Aber seine Miene verfinsterte sich nur noch mehr, und das ernüchterte Meredith etwas. „Vielleicht kommt Ihr Freund …“

„Feind“, unterbrach er sie scharf.

„Oh, meinetwegen auch das.“ Die griesgrämige Art des Fremden bereitete ihr Unbehagen, doch ihr Sinn für Gerechtigkeit ließ sie sagen: „Wissen Sie, das Wetter in England ist scheußlich. Es hat stark geschneit, und in Heathrow ging alles sehr chaotisch zu. Vielleicht ist Ihr … Ihr Besucher in einer Schneewehe stecken geblieben?“

„Das ist ein wundervoller Gedanke!“, sagte der Mann bissig.

Meredith sah, dass er sie unverhohlen neugierig betrachtete und nun ein flüchtiges Lächeln über seine Lippen huschte. Sie erwiderte es, da sie vermutete, dass er selten lächelte und sie sich geschmeichelt fühlen durfte. „Ich werde jetzt gehen“, sagte sie verlegen. „Ich hoffte, jemand würde mich abholen, aber ich kann es niemandem übel nehmen, dass er nicht so lange auf mich gewartet hat. Wenn ich mich in Heathrow durchschlagen konnte, finde ich auch den Weg ins Stadtzentrum.“

Der Fremde wollte etwas entgegnen, doch abwehrend hob sie die Hand, stieß dabei mit dem Ellbogen an die im Müllkorb liegende Visitenkarte und warf einen Blick auf die Schrift. Lucenzo Salviati, Banco d’Oro, las sie, wandte sich dem Fremden mit offenem Mund zu und sah ihn verblüfft an. Ein Mann dieses Namens hatte sie abholen sollen. „Wie komisch!“, sagte sie erleichtert und strahlte über das ganze Gesicht. „Soeben ist mir klar geworden, wer Sie sind!“

„Ach, wirklich?“, fragte er misstrauisch und versteifte sich.

Sie nickte entzückt und vergaß alles, bis auf die Tatsache, dass er sich hilfsbereit gezeigt und ihr bis jetzt Gesellschaft geleistet hatte. „Sie sind der Angestellte von der Bank!“, antwortete sie triumphierend.

„Ich bin Bankier“, korrigierte er sie verbissen.

Sie merkte, dass sie sein Selbstbewusstsein gekränkt hatte, und erwiderte schmunzelnd: „Oh, Entschuldigung! Bankier oder Bankangestellter, für mich gibt es da keinen großen Unterschied. Sie werden sich freuen zu hören, Mr. Salviati, dass Sie doch nicht umsonst gewartet haben. Denn ich bin Meredith Williams!“

„Meredith …“ Signore Salviati verstummte. Der Name schien ihm die Sprache verschlagen zu haben, und sein Verhalten ließ keine Spur von Höflichkeit erkennen.

Verwirrt ließ Meredith die zur Begrüßung ausgestreckte Hand sinken.

„Unmöglich!“, knurrte er sichtlich verärgert.

„Nein, ganz und gar nicht“, widersprach sie verdutzt. „Warum soll das nicht möglich sein?“

„Weil Meredith Williams ein Mann ist“, antwortete Signore Salviati barsch. „Das weiß ich genau.“

„Nun, ich bin nun einmal eine Frau, von Kopf bis Fuß“, erwiderte sie trocken. „Das weiß wiederum ich sehr genau.“

„Ach, machen Sie sich nicht über mich lustig!“, brauste er zornig auf. „Wer, zum Teufel, sind Sie?“

Unwillkürlich war sie einen Schritt zurückgewichen. „Das sagte ich Ihnen doch“, antwortete sie und wunderte sich, warum Signore Salviati so erbost reagiert hatte. „Ich bin Meredith Williams, die Person, die Sie abholen sollten. Ada Williams ist meine Großmutter.“

„Das glaube ich nicht“, knurrte er in unheilvoll leisem Ton. „Eine Frau?“ Er fluchte verhalten. „Dieses rachsüchtige …“ Er schluckte hinunter, was er hatte sagen wollen, und atmete tief durch. Wieder setzte er eine unergründliche Miene auf, und nur das Glitzern in den Augen verriet, dass er wütend war. „Haben Sie Brüder?“, herrschte er Meredith plötzlich an, sodass sie zusammenzuckte.

Sie versuchte, die Verwirrung zu meistern. „Nein, ich bin ein Einzelkind“, erklärte sie.

Er murmelte etwas Unverständliches, und dann entspannte sich seine starre Miene. „Sie allein sind schlimm genug“, sagte er verächtlich.

Plötzlich fiel bei Meredith der Groschen, und sie wusste, warum Signore Salviati so aufgebracht war. Es lag nicht nur an dem endlosen Warten, der späten Stunde und der Langeweile, die ihm auf die Nerven gegangen sein musste. Nein, die Gründe lagen ganz woanders. Er wusste über die Erpressung Bescheid.

Meredith schloss die Augen, um alles zu verdrängen – die Verlegenheit, den Schreck und das tiefe Gefühl der Scham. Kein Wunder, dass Signore Salviati ausgesehen hatte, als wolle er ihr den Hals umdrehen. Sie stöhnte leise auf. Der aufgestaute Zorn galt nicht dem Mann, den abzuholen er geglaubt hatte, sondern ihr. „Wie schrecklich!“, sagte sie erschüttert, kaum fähig, die Worte über die Lippen zu bringen. „Sie denken, die Erpressung hätte mich hergeführt?“

„Sie legen keinen Wert darauf, Ihre Absichten zu verbergen, nicht wahr?“, fragte er spöttisch und hob eine Augenbraue.

Die unterschwellige Beschuldigung trieb Meredith die Röte in die Wangen. „Was soll das heißen?“, erwiderte sie empört. „Wollen Sie andeuten, dass ich vorhabe …“

„Die Erpressungen fortzusetzen, die Ihre Großmutter begonnen hat“, unterbrach Signore Salviati in verächtlichem Ton und sprach jedes Wort sehr langsam und mit Nachdruck aus. „Ja, genau das will ich damit andeuten. Warum hätten Sie sich sonst die Mühe gemacht, bei so scheußlichem Wetter nach Venedig zu fliegen?“

„Oh, wie können Sie es wagen!“, entrüstete sich Meredith. „Sie haben die Aufgabe, mich hier abzuholen, aber nicht, über meine Absichten zu urteilen! Dazu sind Sie gar nicht in der Lage. Die Sache geht nur mich und Mr. Corosini etwas an.“

„Nein, das haben wir beide abzumachen“, widersprach Signore Salviati ruhig und sah Meredith durchdringend an.

„Ich befasse mich nicht mit Mittelsmännern“, entgegnete sie erbost und sah, dass er bei der Beleidigung zusammenzuckte. „In dem Brief, den ich Ihnen in der letzten Woche geschickt habe, schrieb ich, dass ich von Ihnen erwarte, Sie würden ein Treffen zwischen mir und Mr. Corosini arrangieren, und zwar morgen. Und nun lassen Sie mich vorbei. Ich finde den Weg zu meiner Unterkunft auch allein.“ Sie war entschlossen, Signore Salviati zu beweisen, dass sie auch ohne die Hilfe eines arroganten Bankiers, der nur zur Hälfte Bescheid wusste und vollkommen falsche Schlussfolgerungen gezogen hatte, zurechtkommen würde. Sich zur Ruhe zwingend, wandte sie sich brüsk ab und ging rasch durch den tiefen Schnee zur nächsten Bushaltestelle.

„Kommen Sie zurück!“, rief Lucenzo Salviati ihr gereizt nach. „Sie benehmen sich albern!“

Vor Zorn bebend, drehte sie sich um. „Ich nicht, aber Sie!“, entgegnete sie wütend. „Dumm sind die Leute, die auf Grund dürftiger Beweise und ihnen nur vom Hörensagen bekannter Umstände voreilige Schlüsse ziehen! Sie und Mr. Corosini haben sich auf der ganzen Linie geirrt, über meine Großmutter, mich und sogar über mein Geschlecht. Wie lächerlich, nicht einmal die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass Meredith der Name einer Frau sein kann! In meinem Brief ließ nichts darauf schließen, dass ich ein Mann bin. Das war bereits ein Fehler, den Sie begangen haben. Warum geben Sie nicht zu, dass Ihnen auch andere unterlaufen sind?“ Trotzig wandte sie Signore Salviati den Rücken zu und sah auf den Fahrplan.

Schnelle Schritte stapften durch den Schnee. Signore Salviati war endlich gegangen. Einen Moment später hielt jedoch ein Taxi am Bürgersteig, und Meredith stöhnte leise auf.

Lucenzo Salviati kurbelte die Scheibe herunter, beugte den Kopf aus dem Fenster und sagte befehlend: „Steigen Sie ein!“

„Für wen halten Sie sich eigentlich?“, fragte Meredith, unbeirrt von dem drohenden Blick, den er ihr zuwarf. „Ich fahre nicht mit jemandem, der glaubt, ich wolle einen anderen erpressen. Ich fahre allein in die Stadt. Aber warten Sie es nur ab, Signore Salviati!“, fügte sie fest hinzu und straffte sich. „Sie werden sich noch wünschen, dass Sie nie …“

Die Tür des Taxis wurde aufgestoßen. Im Nu war er aus dem Wagen, ergriff Meredith hart an den Armen und sah sie mit wutverzerrtem Gesicht an. „Wagen Sie ja nicht, mir zu drohen!“, zischte er ihr zu und riss sie an sich. „Eines sollten Sie wissen. Ich wünsche mir schon lange, dass ich nie von Ihnen oder Ihrer elenden Großmutter gehört hätte! Und jetzt hören Sie auf, mir noch mehr Ungelegenheiten zu bereiten. Sie werden in das verdammte Taxi steigen, oder ich befördere Sie eigenhändig hinein. Und ich meine, was ich sage. Außerdem, bis morgen früh fährt kein Bus!“

„Bis morgen früh?“, wiederholte sie erschrocken.

Lucenzo Salviati nutzte ihre Überraschung aus. Wortlos nahm er das Gepäck und verstaute es im Kofferraum. Dann drängte er Meredith in das Auto.

Sie warf ihm einen ängstlichen Blick zu und zuckte vor der Kälte in seinen Augen zurück. „Danke“, murmelte sie in eisigem Ton.

„Lassen Sie das. Ich möchte nicht, dass Sie denken, ich hätte Sie aus reiner Herzensgüte mitgenommen“, erwiderte er verächtlich. „Wir wohnen zufällig im selben Haus, und ich habe keine Lust, die ganze Nacht aufzubleiben und auf Ihre Ankunft zu warten. In den vergangenen zwei Tagen habe ich durch die Verspätung Ihrer Maschine herzlich wenig geschlafen und bin todmüde. Nur deshalb und aus keinem anderen Grund nehme ich Sie jetzt mit. Verstanden?“

„Ja“, antwortete Meredith steif und hoffte, Signore Salviati möge nicht merken, wie betroffen sie über seine unverhüllte Verachtung war. „Aber ich will meine Unabhängigkeit behalten. Ich zahle den halben Fahrpreis.“

Lucenzo Salviati warf ihr einen überraschten Blick zu. „In Ordnung“, willigte er achselzuckend ein und wandte sich wieder von ihr ab. „Warum sollte ich mich Ihretwegen zum Bettler machen?“

2. KAPITEL

Langsam setzte das Taxi sich in Bewegung und fuhr durch die raue Nacht. Reglos saß Meredith im Wagen und dachte verstört daran, dass schon einmal jemand diese Redewendung benutzt hatte.

Vor fast einem Jahr hatte der Postbote einen in Venedig abgestempelten Brief im Cottage abgegeben, das sie mit der Großmutter bewohnte. Granny hatte das Schreiben gelesen, entsetzt aufgeschrien und einen Schlaganfall bekommen. Bei der Erinnerung lief Meredith ein Frösteln über den Rücken. Während sie auf die Ambulanz wartete, hatte sie die gelähmte Großmutter getröstet, die bereits zum dritten Male eine Herzattacke erlitten hatte.

Erst später hatte sie den Brief gelesen. Er kam von einem Mann namens Corosini, der die Rückgabe eines Schlüssels verlangte und der Großmutter damit gedroht hatte, sie als Erpresserin zu entlarven. Der Text hatte mit dem Satz geendet: „Ihretwegen habe ich mich seit Jahren zum Bettler gemacht, aber damit ist jetzt Schluss!“ Selbstverständlich war die in dem Schreiben geäußerte Anschuldigung vollkommen aus der Luft gegriffen. Meredith hätte Mr. Corosini in diesem Sinne antworten sollen, doch sie kannte seine Adresse nicht. Erst als sie dazu bevollmächtigt gewesen war, hatte sie in Venedig nachforschen und den Herkunftsort des Briefes feststellen lassen können.

Und das war die Banco d’Oro.

Jetzt saß sie neben Signore Salviati, der überzeugt war, dass ihre Großmutter sich schuldig gemacht hatte. Sie atmete tief durch und fragte gefasst: „Welche Verbindung besteht zwischen Ihnen und Mr. Corosini?“

Lucenzo Salviati warf ihr einen kurzen Blick zu und sah dann wieder weg. „Er ist Kunde der Bank“, antwortete er knapp.

„Ich verstehe.“ Sie versuchte, nicht auf ihr heftig klopfendes Herz zu achten, und bemühte sich, vernünftig zu sein. „Es ist verständlich, dass Sie auf Mr. Corosinis Seite sind“, räumte sie ein. „Schließlich ist er Ihr Klient. Ich begreife also, warum Sie sich mir gegenüber so abweisend verhalten.“

„Wie zuvorkommend!“, erwiderte Lucenzo Salviati ironisch. „Zuerst wollen Sie mich dadurch entwaffnen, dass Sie mir anbieten, den halben Fahrpreis zu begleichen, und nun gestatten Sie mir, eine Kriminelle zu verachten.“

„Eine Kriminelle!“ Meredith zuckte zusammen und sah Signore Salviati aus feuchten blauen Augen an. „Geben Sie mir Gelegenheit, die Sache zu erklären.“

„Machen Sie sich nicht die Mühe, mich einwickeln zu wollen. Erpressung ist nichts Nettes“, entgegnete er schroff.

„Ich stimme Ihnen zu. Ich lege größten Wert darauf, dieses Missverständnis zu klären. Erzählen Sie mir, was Sie über mich denken.“„Ich weiß alles“, sagte er barsch. „Ich habe Ihren Brief an die Bank in Empfang genommen, in dem Sie die monatlichen Überweisungen auf das Konto Ihrer Großmutter beanstandeten.“

„Ja, ich habe mich gefragt, ob es zwischen diesen Zahlungen und Mr. Corosinis Anschuldigungen einen Zusammenhang geben könne“, gestand Meredith zögernd und fügte vorwurfsvoll hinzu: „Sie haben mir nie auf den Brief geantwortet.“

„Die Sache ging Sie ja nichts an!“, erwiderte Lucenzo Salviati scharf.

„Ganz im Gegenteil! Ich sagte Ihnen doch, dass ich bevollmächtigt bin, mich um die Belange meiner Großmutter zu kümmern“, widersprach Meredith.

„Aber Sie haben mir nicht gesagt, warum.“

„Sie hatte einen Schlaganfall und war vollkommen gelähmt.“

„Sie konnte nicht sprechen?“, erkundigte Lucenzo Salviati sich gespannt.

„Die Ärmste!“, flüsterte Meredith bewegt. „Sie konnte nicht einmal aufschreiben, was sie wollte. Sie hat sich verzweifelt gequält.“

„Das kann ich mir denken“, meinte er trocken.

„Sie sind herzlos!“, erwiderte Meredith, entsetzt über seine Gefühllosigkeit. „Meine Großmutter hatte vorher schon zwei schwere Herzattacken, aber an dem Schlaganfall sind Mr. Corosinis grundlose Behauptungen schuld. Wenn ich je Anlass hatte, jemanden zu hassen, dann ihn! Das werde ich ihm sagen, wenn ich ihn treffe.“ Meredith ignorierte Signore Salviatis warnenden Blick. „Wie hätte eine gebrechliche Frau, die niemals die Heimat verlassen hat, mit einem verrückten Venezianer zusammenkommen können?“

„Sie verteidigen sie sehr heroisch, obwohl ich es unklug finde. Fast könnte ich Sie Ihrer Loyalität wegen bewundern.“

„Ich würde jedes Mitglied meiner Familie verteidigen, dessen Integrität in Frage gestellt wird“, gestand Meredith leidenschaftlich. „Sie etwa nicht?“

„Oh, doch! Das würde ich. Aber das steht hier nicht zur Debatte. Sagen Sie mir lieber, warum Sie so lange gezögert haben, ehe Sie hergekommen sind.“ Unversehens legte er ihr die Hand auf das Knie, aber es schien ihn nicht zu stören, dass sie zusammenzuckte. „Haben Sie so lange gebraucht, um sich diese rührselige Geschichte auszudenken und die schäbige Garderobe in einem Second-Hand-Laden zu beschaffen?“

„Sie Flegel! Wie können Sie es wagen, sich über meine Kleidung lustig zu machen?“, fragte Meredith erbost. „Ich kann nichts dafür, dass ich sparen muss. Und was die Verzögerung bei der Beantwortung des Briefes betrifft, so haben Sie offensichtlich keine Ahnung, wie zeitraubend es ist, sich um jemanden zu kümmern, der durch einen Schlaganfall gelähmt wurde. Ich hatte keine Zeit zum Nachdenken, bis meine Großmutter beerdigt war“, sagte sie vorwurfsvoll. Trotzig reckte sie den Kopf. Sie wollte, dass Signore Salviati sich wie ein schäbiger Wicht vorkam. Doch er ließ keinerlei Verlegenheit erkennen und entschuldigte sich auch nicht.

Er zog nur die Hand fort und lehnte sich entspannt zurück. „Ihre Großmutter ist also tot!“, sagte er nachdenklich und versank dann in Schweigen.

Meredith starrte mit leerem Blick in die Dunkelheit und wünschte sich, die nervenaufreibende Fahrt möge endlich zu Ende sein.

„Dann ist Ihre Großmutter endlich von ihrer Schuld eingeholt worden“, murmelte Lucenzo Salviati schließlich.

„Ich habe nie etwas Bösartigeres gehört!“ Meredith verschlug es die Sprache, und die Tränen traten ihr in die Augen.

„Es stimmt, was ich sagte. Ihre Großmutter hat seit zehn Jahren Schweigegeld angenommen.“

„Seit zehn Jahren?“, wiederholte Meredith entsetzt.

„Haben Sie sich denn nicht die alten Kontoauszüge angesehen?“, fragte Lucenzo Salviati verwundert und sah Meredith kalt an. „Durch die Erpressung muss Ihre Großmutter für Sie ein beträchtliches Vermögen angehäuft haben.“

Meredith errötete und war bemüht, sich von Salviati nicht reizen zu lassen. „Ich weiß erst seit kurzem, dass sie viel Geld hatte. Es war ein ziemlicher Schock, als ich sah, wie viel es ist.“

„Das kann ich mir denken“, spottete Lucenzo Salviati.

Jäh kam ihr ein Einfall, und erschrocken riss sie die Augen auf. Vor zehn Jahren waren ihre Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen. Offenbar hatten die Zahlungen damals eingesetzt. Was hatte das zu bedeuten? Waren sie als Ausgleich zu verstehen? Hatte Granny das Geld ganz bewusst angenommen, es vielleicht sogar gefordert? Meredith biss sich auf die Unterlippe und versuchte, den aufsteigenden Argwohn zu verdrängen. Ada Williams hatte immer einen starken Sinn für Gerechtigkeit gehabt. Es hätte ihr ähnlich gesehen, ein Entgelt von demjenigen zu verlangen, der an dem Unglück schuld war. Und dieser Mann konnte Corosini sein.

„Lassen Sie diese Komödie!“, herrschte er sie an. „Ich habe Sie gewarnt. Spielen Sie mir nicht die Unschuld vom Lande vor! Ich verachte Ihre Großmutter für das, was sie gemacht und Corosini angetan hat. Und ich glaube nicht eine Sekunde, dass Sie nichts von dem Vermögen wussten. Wie hat Ihre Großmutter denn gelebt? Von Brot und Wasser?“

„Beinahe“, antwortete Meredith zornig. „Wir hatten nie viel Geld und lebten bescheiden in einem gemieteten Cottage, das in einem abgeschiedenen Tal in Wales stand. Das Leben wurde noch beschwerlicher, als ich meine Arbeit aufgeben und mich um Granny kümmern musste.“

„Ach, hören Sie auf. Sie erwarten doch wohl nicht, dass ich Ihnen die rührselige Geschichte abnehme.“

„Sie ist nicht rührselig!“, wehrte sich Meredith stolz. „Ich erwarte kein Mitleid. Ich wollte nur erklä…“

„Ich weiß zu gut“, fiel Lucenzo Salviati ihr ins Wort, „dass man Ihre Großmutter in ein Pflegeheim gebracht hätte, wäre sie tatsächlich so bedürftig gewesen, wie Sie vorgeben.“

„Ich hätte niemals zugelassen, dass Fremde sich um Granny kümmern.“

„Oh, ganz die treu sorgende und hingebungsvolle Enkelin!“ Lucenzo Salviati sah sie ungläubig an. „Angesichts dieser herzbewegenden, ergreifenden Vorstellung könnte man gut auf den Gedanken kommen, dass Sie Komödiantenblut in den Adern haben.“

Meredith wunderte sich über den seltsamen Unterton der Bemerkung und warf Signore Salviati einen scharfen Blick zu. „Was wissen Sie über meine Familie?“, fragte sie erstaunt. Vielleicht war ihm bekannt, dass ihre Mutter auf der Bühne gestanden hatte. Wie er es erfahren haben konnte, war Meredith allerdings nicht ersichtlich. Nein, er konnte das nicht wissen. Zwischen ihrer Familie und Mr. Corosini gab es keinerlei Verbindung. Bei der Hochzeit hatte der Vater den Mädchennamen der Mutter angenommen und es später Meredith damit erklärt, dass seine Frau die Berühmtheit war und er nur immer Mr. Williams genannt wurde. Oder hatte es einen anderen Grund gegeben?

„Ihre Großmutter besaß genügend Geld, um sich ein Haus zu kaufen, wenn sie das gewollt hätte“, bemerkte Lucenzo Salviati leise.

„Das wusste ich doch nicht!“, erwiderte Meredith verzweifelt. „Ich erfuhr das erst, als ich mich mit ihren Angelegenheiten befasste. Aber ich hätte mich trotzdem um sie gekümmert.“

„Sehr überzeugend. Applaus, Applaus! Wie schade, dass nur ein so winziges Publikum Ihre herzerweichende Darstellung des edelmütigen, aufopfernden und armen Mädchens miterlebt. Aber so etwas ist Ihnen ja angeboren, nicht wahr?“

„Angeboren? Ich weiß nicht, was Sie meinen“, flüsterte Meredith beklommen und sah Signore Salviati eindringlich an, um in seiner starren Miene eine Spur für des Rätsels Lösung zu finden.

„Nein?“ Er rückte näher zu ihr heran. „Denken Sie darüber nach. Sie wissen nicht viel über uns Venezianer, nicht wahr?“

Autor

Sara Wood
Sara Wood wurde in England geboren. An ihre Kindheit hat sie wundervolle Erinnerungen. Ihre Eltern waren zwar arm, gaben ihr jedoch das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit. Ihr Vater kannte seine Eltern nicht, deshalb war er so glücklich über seine eigene Familie. Die Geburtstagsfeiern, die er gestaltete, waren sensationell: Er...
Mehr erfahren