Das verbotene Verlangen des Ritters

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Um seine Ehre zu retten, muss der englische Ritter William Geraint einen gefahrvollen Auftrag annehmen: Er soll die vor Jahren in Frankreich untergetauchte Erbin Lady Isabel aufspüren und sicher nach England geleiten. Zwar entdeckt er Isabel bald in einem kleinen Dorf in Aquitanien und sie ist bereit, ihm zu folgen, doch er hat nicht mit ihrem betörenden Liebreiz gerechnet, dem er während der abenteuerlichen Reise mehr und mehr verfällt. Dabei ist eine reiche Adlige für einen Bastard wie ihn tabu! Doch gegen jede Vernunft verführt er Isabel schließlich zu einer Nacht der Leidenschaft – und setzt damit nicht nur seine Mission aufs Spiel …


  • Erscheinungstag 09.07.2024
  • Bandnummer 405
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526678
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Anno Domini 1206 – im weiten Umkreis von La Rochelle, Region Poitou, Aquitanien. Ein Gebiet, das immer noch der englischen Krone gehörte.

An diesem Tag würde sie sterben. Jetzt. In diesem Augenblick

Isabel öffnete den Mund, um zu schreien. Aber kein einziger Laut rang sich aus ihrer Kehle. Nachdem sie soeben ein unfassbares Grauen beobachtet hatte, schien ihre Stimme zu gefrieren. Verzweifelt sehnte sie sich nach ihrer Mutter, die sie besänftigen und das alles verscheuchen würde.

Doch das konnte sie nicht erhoffen, weil Mama weit entfernt war.

Zitternd lag Isabel am Boden, in panischem Entsetzen schaute sie zu dem bösen Mann auf, der sich zu ihr neigte. Um dem grässlichen Gemetzel zu entrinnen, das seine Schurkenbande angerichtet hatte, war sie in den Wald gerannt. Mühelos hatte er sie eingefangen. Und nun starrte sie dem Tod ins Gesicht. Sie rang nach Luft, kniff die Augen zusammen und dachte an ihren Vater, den sie im Stich gelassen hatte. Wenn sie auch keine Schuld daran trug…

Oh, bitte, allmächtiger Gott im Himmel, pass auf, damit es nicht wehtut … Bitte, lass es schnell vorbei sein … Wie ein Gebet sprach sie die Worte in ihren Gedanken, immer wieder.

Krampfhaft umklammerte Isabels kleine Hand das rautenförmige Schmuckstück, das an ihrem langen ledernen Halsband hing.

Aber nichts geschah. Statt sie zu ermorden, würgte der Mann seltsame, unerwartete Laute hervor. Langsam hob sie die Lider, sah ihn von einer Seite zur anderen schwanken, dann rollten seine Augäpfel nach oben, bevor er zusammenbrach. Mit einem dumpfen Geräusch landete er im Moos.

Und in diesem Moment erblickte sie ihn – einen Jungen, ein paar Jahre älter als sie, die Augen weit aufgerissen, ein Schwert in der Hand, dessen Metallgriff nach unten zeigte. Anscheinend hatte er den Mann überrascht und von hinten mit diesem schweren Griff niedergeschlagen. Zielsicher, denn sein Opfer rührte sich nicht.

„Geht es Ihnen gut, Miss?“, fragte er sanft. „Ich heiße Will Geraint, und ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Hat er Sie womöglich verletzt?“

Wie angenehm seine Stimme klang, so herzenswarm, dass sie sich sofort beruhigt fühlte – trotz allem, was sie mit angesehen hatte, was ihr beinahe widerfahren wäre ...

Allerdings wusste sie nicht, wem die Stimme gehörte und ob der Junge vertrauenswürdig war. Deshalb schwieg sie, schüttelte nur vorsichtig den Kopf, während er näher trat und ihr auf unsichere Beine half.

„Jetzt kann Ihnen nichts mehr zustoßen, Miss. Aber – schauen Sie besser nicht dorthin“, empfahl er ihr und wies über seine Schulter auf die schwelenden, in unheimliche Stille gehüllten Wagen. Alle Menschen, die diese Reise mit ihr angetreten hatten, waren tot. Auch sie wäre gestorben, hätte der Junge sie nicht gerettet.

„Wissen Sie, was hier geschehen ist, Miss?“ Aufmerksam schien er ihr Gesicht zu beobachten. „Wer hat das getan?“

Er musste ungefähr so alt sein wie ihr ältester Bruder. Zwölf oder dreizehn. Und seine Augen leuchteten in einem so klaren Tiefblau, wie sie es nie zuvor gesehen hatte. Freundliche Augen.

Trotzdem vermochte sie nicht zu antworten. Das wagte sie nicht.

„War es ein Hinterhalt?“

Zögernd nickte Isabel und begann wieder zu zittern.

„Können Sie mir Ihren Namen sagen, Miss?“

Noch immer schwieg sie und versuchte sich zu fassen.

Seufzend zuckte er die Achseln. „Also gut ... Kommen Sie mit mir, und ich frage Sir Percy, was mit Ihnen geschehen soll.“

Einen Herzschlag lang erstarrte sie, bevor sie zurückwich. Diesem Jungen durfte sie sich keinesfalls anschließen! Wer war sein Herr? Womöglich ein weiterer Feind ihres Vaters ...

Will Geraint sah ihr die Angst offenbar an, denn er versuchte sie erneut zu beruhigen. „Nur keine Bange. Sir Percy ist ein guter, rechtschaffener Mann und er wird Ihnen helfen. Folgen Sie mir, hier können Sie nicht bleiben.“

Nein, wirklich nicht – in der Nähe des schauderhaften Gemetzels, wo es nach verbranntem Fleisch stank ... O Gott, das alles war einfach zu viel. Abrupt wandte sie sich ab, würgte krampfhaft und erbrach.

„Tut mir so leid“, murmelte der Junge und tätschelte ihren Rücken. „Aber – hier hält Sie nichts mehr, Miss. Gehen wir, ich bringe Sie in Sicherheit.“

Noch länger zu zaudern, war gewiss unvernünftig. Deshalb hob sie ihren Ranzen auf, der zu Boden gefallen war, und schlang den Riemen über eine Schulter. Vorsichtig ergriff sie die ausgestreckte Hand ihres Retters, sah ihn zufrieden lächeln und ließ sich zu einem Pferd führen. Er half ihr auf den ungesattelten großen Hengst, dann schwang er sich hinter ihr empor, umfasste die Zügel und sie ritten davon – weg vom Schauplatz namenlosen Grauens.

An Wills Brust gelehnt, spürte sie erleichtert, wie ihre panische Angst allmählich von überwältigender Erschöpfung verdrängt wurde. Sein gleichmäßig pochendes Herz und die Hufschläge lullten sie in tiefen Schlaf, aus dem sie erst viel später erwachte.

Jetzt saß sie nicht mehr auf einem Pferderücken. Stattdessen lag sie auf einer harten, klumpigen Matratze. Sie blinzelte, setzte sich auf und schaute sich in einer kleinen, düsteren Krypta um. In einem Kamin knisterte ein schwaches Feuer. Verwirrt rieb sie sich die Augen, die sich nur langsam an das Halbdunkel gewöhnten. Und dann sah sie ihn – den Jungen, Will Geraint.

An die Wand gelehnt, den Rücken zu Isabel gewandt, stand er bei der offenen Tür und sprach mit jemandem. Plötzlich schien er zu spüren, dass sie nicht mehr schlief, denn er drehte sich um. Mit zwei langen Schritten eilte er zu ihr und kniete neben der Matratze nieder. „Ich habe gewartet, bis Sie wach sind. Weil ich mich verabschieden und Ihnen alles Gute wünschen möchte, bevor ich weggehe.“

Nein, bitte, lass mich hier nicht allein! Verstört brach sie in Tränen aus und umklammerte seinen Arm.

„Nun müssen Sie tapfer sein, kleine Miss, und hier bei Pater Clement bleiben. Er wird sie in ein nahes Kloster bringen. Dort wird man für Sie sorgen und ...“

Wurde sie schon wieder bitter enttäuscht und im Stich gelassen? Sie hatte diesem Jungen vertraut und geglaubt, sie wäre endlich in Sicherheit. Aber nein – es gab niemanden, der sie beschützen würde. Nur auf sich selbst konnte sie sich verlassen.

Verzweifelt schluchzte sie, und Will Geraint schnitt eine Grimasse. „Beruhigen Sie sich, Miss, hier sind Sie in guten Händen.“

Isabel schüttelte wieder den Kopf. Noch immer brachte sie kein Wort hervor.

„Sagen Sie mir, wie Sie heißen?“, bat er. „Wenn wir Ihre Verwandten suchen und benachrichtigen, würden sie gewiss hierherkommen und Sie holen.“

Mühsam schluckte sie ihre Tränen hinunter, öffnete den Mund, um zu sprechen, und schloss ihn sofort wieder. Nein, unmöglich – sie durfte ihm ihren Namen nicht verraten. Denn sie hatte ihrem Vater versprochen, niemandem mitzuteilen, wer sie war und wohin sie reisen würde. Das musste sie für sich behalten – ganz egal, was geschehen mochte. Papa hatte sie sogar zu einem Eid auf die Heilige Bibel gezwungen.

„O Gott ...“ Will Geraint hielt den Atem an. „Es sei denn – Ihre Verwandten wurden im Wald überfallen ...“ Sichtlich verlegen kratzte er sich am Kopf. „Tut mir so leid ...“

Wenn sie auch keine Blutsverwandten gewesen waren – sie hatten Papas Haushaltsgefolge angehört, sie nach Frankreich begleitet und einen grausigen Tod erlitten.

Immer noch wortlos, schaute sie Will Geraint flehend an und umfasste seinen Arm noch fester.

„Ich kann Sie nicht mitnehmen, Miss, denn Sir Percy hat mir nur erlaubt, Sie hierherzubringen, wenn ich danach sofort zu seinem Heer zurückkehre. Ich bin nur ein Knappe. Aber ich beteilige mich eifrig an allen Waffenübungen, um ein Soldat zu werden – und eines Tages mit Gottes Wille ein Ritter ... Nun muss ich wirklich gehen.“

Mit sanfter Gewalt befreite er sich von ihrem Griff, stand auf und zog sie auf die Beine. Als er ihr noch ein Lächeln schenkte, flossen neue Tränen. Behutsam wischte er sie mit einem Finger von ihren Wangen und seufzte.

„Versprechen Sie mir, tapfer zu sein, Miss. So wie ich es auch sein muss. Im Lauf der Zeit werden Sie dieses lähmende Entsetzen überwinden. Das weiß ich. Und vergessen Sie nicht – in mir werden Sie immer einen Freund haben“, beteuerte er und presste eine Hand auf seine Brust. „In Will Geraint.“

Bitte, lass mich nicht zurück!, wollte Isabel schreien. Doch sie wusste, sie könnte ihn nur umstimmen, wenn sie ihm erklären würde, wer sie war. Und sie durfte ihren Eid nicht brechen, den Vater nicht mehr enttäuschen – wie schon so oft.

Eindringlich hatte er sie ermahnt, niemandem zu trauen. „Zu viele Feinde umgeben uns. Verlass dich auf niemanden, den du nicht gut genug kennst. Hast du mich verstanden, mein Mädchen?“

„Ja, Papa.“

„Gut. Vergiss es nicht! Ein Eid ist ein feierliches Versprechen, das man niemals missachten darf“, hatte er ihr eingeschärft.

Resigniert ließ sie die Schultern hängen. Ja, anscheinend musste sie ihr Schicksal hinnehmen und hier ausharren, wo immer das auch sein mochte. So oder so, Papa würde sie suchen, aufspüren und nach Hause bringen.

Oh, wieder daheim zu sein ...

Isabels Blick schweifte wieder durch die kalte Krypta. Innerhalb weniger Tage, weniger Momente hatte sich ihr Leben völlig verändert. Der Junge hatte vermutlich recht. In diesem Raum war sie sicher. Aber bevor er fortging, wollte sie ihm etwas geben, zum Zeichen ihrer Dankbarkeit.

Ehe er sich abwenden konnte, zog sie hastig die Lederschnur über ihren Kopf, streifte einen Ärmel von Will Geraints Tunika hoch und legte den silbernen, mit Rubinen besetzten Anhänger in seine Hand.

Verblüfft schüttelte er den Kopf. „Sie müssen mir nichts schenken, Miss.“

Nein, natürlich nicht. Doch sie beschenkte ihre Mitmenschen sehr gern. Und der Junge hatte so freundliche Augen. Außerdem war es gefährlich, zwei gleichartige Anhänger zu besitzen. Den anderen hatte sie in ihrem Ranzen entdeckt. Also brauchte sie diesen nicht. Sie hoffte, Papa würde stolz auf ihren Entschluss sein. So schwierig war es, ihn zufriedenzustellen.

Ihre kleinen Finger drückten den Schmuck noch fester in Wills Hand. Unschlüssig runzelte er die Stirn, und sie nickte ihm aufmunternd zu. Diesen Anhänger musste er annehmen. Ein Geschenk durfte man nicht ablehnen. Mama würde sagen, das sei unhöflich.

Mama ... O Mama ...

Isabel schluckte, schniefte und kämpfte schon wieder mit den Tränen. Jedes Mal, wenn sie weinte, ärgerten ihre Brüder sich ganz furchtbar.

„Also gut, wenn Sie mir das geben wollen ...“ Die Schnur mit dem Silberschmuck hing an Wills Hand. „Vielen Dank, ich werde dieses Präsent stets in Ehren halten. Viel Glück, kleine Miss, leben Sie wohl.“

Sie starrte den Steinboden an und sah nicht, wie er die Krypta verließ, hörte nur leise, flinke Schritte. Erst als sie allein war, schlug sie schluchzend die Hände vors Gesicht.

1. KAPITEL

Frühling 1218

Sobald der alte Mann wie ein Pfau in die Taverne stolzierte, erregte er Will Geraints Interesse.

Dieser Besucher zählte nicht zur üblichen Kundschaft des schmuddeligen, fragwürdigen Lokals in La Rochelle, das Will sein Zuhause außerhalb der wahren Heimat nannte. Instinktiv lehnte er sich in den Halbschatten zurück, um nicht aufzufallen.

Eine Hand am Schwertgriff unter der Tischkante, beobachtete er, wie die Knopfaugen des Neuankömmlings den ganzen Raum erforschten. Schließlich erreichten sie die Ecke, in der Will saß. Entschieden nickte der Mann und näherte sich.

Wer zum Teufel ist das? Noch wichtiger – was bezweckt er?

Will umfasste den Schwertgriff noch fester, als der Mann seinen Federhut auf den Tisch warf, ihm gegenüber Platz nahm und ihn prüfend musterte. Irgendwas an der anmaßenden Haltung des Fremden wirkte beunruhigend.

„Stört es Sie, wenn ich hier sitze?“, fragte er auf Französisch.

Aber Will erkannte sofort den Engländer. Also ein Landsmann – und ein Höfling, vermutlich nicht allein. Irgendwo da draußen würden Gesinnungsgenossen warten. Der Entschluss des Mannes, diese gottverlassene Kneipe in einem abgeschiedenen Teil von Frankreich zu betreten, musste bedeuten, dass er Will gesucht hatte. Außerdem hätte er sich angesichts der wenigen Gäste woanders niederlassen können.

Will überdachte mehrere Möglichkeiten, schleunigst zu verschwinden, ohne die Vordertür zu benutzen. Insbesondere, ohne eine Verfolgung zu riskieren. Scheinbar gleichmütig zuckte er die Achseln. „Wo Sie sitzen, ist mir egal, solange Sie mich nicht stören.“

„Das habe ich nicht vor. Worum es mir geht – man hat mir erzählt, hier würde ich einen Mann finden, der ein legendäres Talent im Schwertkampf besessen habe – und immer noch besitzt.“ Lässig schnippte der Höfling eine imaginäre Fussel von seiner Schulter. „Diesen phänomenalen Ruf genießt er immer noch, obwohl er es seit etwa zwei Jahren vorzieht, sich in abgelegenen Gebieten aufzuhalten.“

„Hier gibt es niemanden, auf den diese Beschreibung passt.“

„Tatsächlich nicht? Was ich dem Betreffenden anbieten würde, wäre eine Truhe voller Silber und eine Begnadigung, damit er nach England zurückkehren könnte.“

Vermaledeit!

Nun musste Will bedachtsam vorgehen. Während der letzten beiden Jahre hatte er als Söldner in Frankreich gelebt, unter dem Deckmantel eines Exils sein Schwert verkauft. In Wirklichkeit hatte er seit König Johns Tod unermüdlich für William Marshal gearbeitet, Englands neuen Regenten und Lordprotektor des unmündigen Königssohns. Die Tarnung eines entehrten, entrechteten Ritters hatte ihm ermöglicht, wichtige Informationen für die Krone zu sammeln.

Nur wenige Personen wussten Bescheid. Und dieser Fremde gehörte sicher nicht dazu. „Und was wollen Sie von einem solchen Mann?“, fragte Will. „Wenn einer existiert.“

„Ich muss ihn finden. Wegen einer äußerst dringenden Angelegenheit.“

Seufzend schüttelte Will den Kopf. „Keine Ahnung, was Sie meinen. Jedenfalls sind Sie am falschen Ort.“

„Nein, das glaube ich nicht. Ich zog zahlreiche Erkundigungen ein, hier in Frankreich und in England. Zweifellos bin ich am richtigen Ort. Und ich spreche mit dem richtigen Mann.“ Höhnisch verzog der Mann die Lippen. „Sie sind Sir William Geraint. Ganz eindeutig.“

Erneut verstärkte Will den Druck seiner Finger am Schwertgriff. „An Ihrer Stelle würde ich dorthin zurückkehren, wo Sie hergekommen sind, Fremdling. Das heißt, wenn Sie Ihr Leben schätzen.“

„Um des lieben Friedens willen, Sir William!“ Der Mann hob seine Hände, die Handflächen nach außen gedreht. „Da Sie sich nicht am Hof aufhielten, wissen Sie nicht, welche Gerüchte über Sie kursieren. Ebenso über den Ritter, dessen Knappe Sie waren, Sir Percy Halsted. Vor über zehn Jahren haben Sie beide einem blutjungen Mädchen das Leben gerettet.“

„Und wenn schon …“, konterte Will kühl. „Wir taten nur unsere Pflicht, was keine Folgen nach sich zog.“

Abgesehen von unauslöschlichen Erinnerungen an das verängstigte Mädchen mit den merkwürdigen Augen, das er damals in Sicherheit gebracht hatte – selbst noch ein Junge ... Seit jenem schicksalhaften Tag hatte er oft genug überlegt, was aus der kleinen Miss geworden sein mochte. Nur zu gut entsann er sich, wie verzweifelt und trostlos sie in der kalten, gespenstischen Krypta zurückgeblieben war. Von ganzem Herzen hatte er sie bedauert und gehofft, in den nächsten Jahren würde ihr ein angenehmes Los beschieden sein.

Zum Dank für sein kluges, reaktionsschnelles Verhalten in der heiklen Situation hatte Sir Percy ihn gefördert, mit einem Leben voller Abenteuer und Chancen belohnt. Welch ein Gegensatz zu der düsteren Welt, die Will jetzt bewohnte ...

Geistesabwesend zog er das lederne Halsband unter seiner Tunika hervor, seine Finger umschlossen den silbernen, mit Rubinen besetzten Anhänger. Dieses Geschenk des kleinen Mädchens hatte er in all den Jahren stets getragen.

Die Augen des Fremden verengten sich, dann murmelte er etwas Unverständliches. Kannte er das Juwel?

Verdammt, welch ein Leichtsinn, schalt sich Will. Doch jetzt ließ sich der Schaden nicht mehr beheben.

Die Lippen des Mannes bildeten einen dünnen Strich, bevor er wieder zu sprechen begann. „Weder Sie noch Ihr Mentor kannten die Identität der jungen Dame – was mich keineswegs überrascht. König John versagte ihrer Familie seine Gunst, und so kam sie nicht an den Hof. Vor Kurzem kehrte Sir Percy aus dem Heiligen Land zurück. Und so erfuhr meine Herrin erst neulich von der Existenz des Mädchens, das sie die ganze Zeit für tot gehalten hatte.“

„Und wer sind Sie? Wer ist Ihre Herrin?“

„Eustace Rolleston, zu Ihren Diensten, Sir William.“ Der Höfling neigte den Kopf. „Und meine Herrin ist Lady Adela de Clancey.“

„Nun, Eustace Rolleston, wenn ich die Angelegenheit richtig verstehe ... Sie möchten mich beauftragen, ein Mädchen aufzuspüren, das jetzt erwachsen ist, sollte es noch leben?“ Will grinste süffisant und schüttelte den Kopf. „Verzeihen Sie, dafür haben Sie den falschen Mann gewählt.“

„O nein, den richtigen Mann! Das hat mir Sir Percy bestätigt. Sein Gedächtnis lässt allmählich nach, und er erinnert sich nur mehr schleierhaft an jene Ereignisse. Aber er weiß immer noch, dass Sie das Mädchen geradezu tollkühn in der Nähe von La Rochelle gerettet haben.“

Offenbar war der alte Ritter, dem Will einst gedient hatte, nicht bereit gewesen, diesem Mann genauere Informationen zu geben. Der scharfsinnige Sir Percy litt wohl kaum an Erinnerungslücken. Vermutlich wollte er seinen ehemaligen Knappen auf diese Weise zur Vorsicht ermahnen.

Die Stirn gerunzelt, beugte Will sich vor und starrte sein Gegenüber durchdringend an. „Man erteilt mir viele verschiedene Aufträge. Vermisste Personen zu finden, gehört allerdings nicht zu meinem Aufgabenbereich. Schon gar nicht, wenn ich keine Ahnung habe, wer Sie sind. Und keine Riesenkiste voller Silber würde mich von diesem Grundsatz abbringen.“

Was nicht ganz stimmte. Aber Will wollte feststellen, wie weit er bei dieser Verhandlung gehen konnte – und wie verzweifelt der Höfling war.

„Das dachte ich mir. Natürlich wollen Sie überzeugt werden.“ Spöttisch verdrehte Rolleston die Augen. „Was meine spezielle Mission betrifft, trage ich ein Dokument bei mir, das vom Lordprotektor höchstpersönlich unterzeichnet wurde. Außerdem einen Brief von Lady de Clancey. Was die Silberkiste angeht – ganz bestimmt einigen wir uns auf eine Summe, die Ihnen zusagt, Sir William. Übrigens weiß ich, Sie würden das Mädchen finden.“

Den letzten Kommentar ignorierte Will. In eine solche Situation wollte er nicht verwickelt werden. „Wie ich bereits erwähnt habe – derartige Aufträge nehme ich nicht an.“

Rolleston hob eine Braue. „Bringen Sie das Mädchen nach England. Dann werden Sie bezüglich der Ereignisse in Portchester begnadigt und Sie können Ihre Ehre in allen Belangen zurückgewinnen. Mit der Entlohnung können Sie auch den gesellschaftlichen Status Ihrer Familie wiederherstellen – Ihrer Schwester, Ihrer verwitweten Mutter und Ihres jüngeren Bruders, der sich noch in der Ausbildung befindet.“

In Wills Kinn zuckte ein Muskel. O Gott, welch ein tückischer Mann!

Offenkundig hatte er sich gründlich über Wills Vergangenheit informiert, aber interessanterweise nicht von Lordprotektor Marshal erfahren, Geraint sei bereits begnadigt, seine Ehre wiederhergestellt worden. Auf Wills Wunsch war das nicht öffentlich verlautbart worden – ein einvernehmlicher Entschluss, der beiden Seiten nützte. Rolleston war wohl nicht eingeweiht worden. Eine weitere Vorsichtsmaßnahme?

„Also soll ich eine junge Frau ausfindig machen, die vielleicht verheiratet ist, mit einer kleinen Kinderschar beglückt?“ Will nippte an seinem Ale. „Soll ich sie entführen, aus ihrer gewohnten Umgebung reißen und Ihnen überantworten?“

Was mochte ihr zustoßen? Dafür gab es mehrere Möglichkeiten, und keine war erstrebenswert.

„Ja, Sir William. Wir sind auf alle erdenklichen Eventualitäten vorbereitet – falls die vermisste junge Frau die Person ist, für die wir sie halten.“

„Und wer ist sie?“

Bevor Rolleston antwortete, musterte er Will eine ganze Weile. „Die Erbin vom Castle de Clancey und der Ländereien ringsum. Ihr Vater und ihre Brüder sind tot. Möge Gott ihren Seelen gnädig sein“, fügte er hinzu und bekreuzigte sich. „Deshalb ist es enorm wichtig, dass sie gefunden und der Obhut ihrer Mutter übergeben wird – damit sie ihren rechtmäßigen Platz an Lady de Clanceys Seite einnehmen kann. Was ich noch betonen möchte – in diesen schwierigen Zeiten wird meine Herrin von Geoffrey Fitzwalter unterstützt, ihrem angeheirateten Cousin.“

Will trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. „Bisher haben Sie meine Frage nur unvollständig beantwortet, Rolleston. Wie heißt die junge Dame?“

„Oh, habe ich das versäumt ...? Sie ist die vermisste Erbin – Lady Isabel de Clancey.“ Der Höfling wies auf den Anhänger an Wills Halsband. „Und das da ist ein bedeutsames Familienerbstück. Wahrscheinlich gab sie es Ihnen, weil sie hoffte, Sie würden es ihrer Familie bringen. Diesen Wunsch sollen Sie erfüllen, Sir William. Es wäre wahrlich höchste Zeit.“

2. KAPITEL

Manchmal – nur manchmal hätte Isabel ihre Schwester am liebsten erwürgt!

An diesem wichtigen kirchlichen Feiertag zu Mariä Himmelfahrt gab es so viel in St. Jean de Cole zu tun. Trotzdem hatte Heloise den ganzen Tag vor dem Spiegel verbracht, um sich für die Feier am Abend herauszuputzen und die Arbeit wie gewohnt der Schwester überlassen. Isabel wischte mit einem Handrücken ihre Stirn ab, stellte den großen Korb mit den warmen Brötchen und den Honigküchlein ihrer Mutter auf den Boden. Dann holte sie tief Atem.

Geistesabwesend bekreuzigte sie sich und verbannte die sündhaften Rachegedanken. So etwas gehörte sich nicht, schon gar nicht an einem heiligen Tag. Andererseits – Heloise benahm sich viel zu oft unerträglich. Noch immer musste eine ganze Menge erledigt werden, und Isabel brauchte ein hilfreiches Händepaar. Doch das würde wohl kaum ihrer Schwester gehören.

Seit sie Kinder gewesen und vom Kloster ihrer neuen Familie, den Meuniers, anvertraut worden waren, spielten sie eindeutig abgegrenzte Rollen: Isabel, die Vernünftige, Fleißige, Verantwortungsvolle. Und Heloise, schon damals ein hübsches kleines Mädchen, war die bewunderte, verwöhnte, träge Dorfschönheit.

Die Familie hatte die beiden adoptiert, damit sie Madame Meunier unterstützten. Da sich ihr Augenlicht zusehends verschlechterte, konnte sie ihre Arbeit in der Mühle nicht mehr allein bewältigen. Eigentlich hatten die Meuniers nur ein Mädchen aufnehmen wollen. Aber weil Heloise so gellend geschrien hatte, war das Ehepaar schließlich auch zur Adoption der Schwester bereit gewesen.

Dafür musste Isabel dankbar sein. Sie liebte ihren Alltag in St. Jean de Cole. Alles hier, außer an Tagen wie diesem.

Sie griff wieder nach ihrem Korb und schlenderte über die kleine gewölbte Brücke zum Zentrum des idyllischen Orts im nördlichen Aquitanien. Freundlich wechselte sie Grüße mit ein paar Einheimischen.

„Guten Tag, Blanche. Wie geht es Ihnen?“

„Viel besser, Ihre Salbe war wunderbar, so beruhigend.“ Lächelnd beugte sich die Frau vor. „Und sie hat gewirkt. Jetzt juckt meine Haut nicht mehr.“

„Oh, da bin ich wirklich froh! Kamille und Minze mildern die meisten Hautleiden ...“ Als Isabel das Unbehagen der Frau bemerkte, fuhr sie rasch fort: „Unsere Gebete haben natürlich auch geholfen.“ Allmählich hatte sie sich an den Aberglauben der meisten Dorfbewohner gewöhnt.“

„Gewiss, mein Liebe, und richten Sie Sibylla meinen Dank aus.“

Sibylla, eine „weise alte Frau“, brachte Isabel bei, welche Pflanzen bei verschiedenen Krankheiten ihre Heilkräfte entfalteten. Sicher würde sie sich freuen, wenn sie hörte, die von ihrer Schülerin hergestellte Salbe habe den angestrebten Erfolg erzielt.

Wenn Isabel Salbe mischte oder heilsame Getränke braute, erholte sie sich von der anstrengenden Arbeit in der Mühle. Bei dieser Tätigkeit, die sie liebte, überlegte sie gelegentlich, was für ein Dasein sie führen würde, hätte sie jene schicksalhafte Reise in ihrer Kindheit planmäßig beendet. So oder so – ihr neues Leben in St. Jean de Cole war ein unerwarteter Segen. Verglichen mit dem Grauen, das ihr hätte zustoßen können, verlief es einfach und problemlos. Trotz der harten Arbeit genoss sie ihre Freiheit – vor allem ihre Sicherheit, ihre Geborgenheit.

Anfangs hatte sie gehofft, ihr Vater würde sie aus dem Kloster Abbaye aux Dames holen und inbrünstig darum gebetet. Hatte er nicht versprochen, er würde etwas unternehmen, sollte die Reise ein unvorhergesehenes Ende finden? Dann würde er zu ihr kommen und sie heimbringen. Doch ihre Gebete waren nie erhört worden.

Auch die Menschen, die Isabels Tod wünschten und nach all den Jahren immer noch ihre Träume plagten, waren nicht erschienen. Zweifellos würden sie nach ihr fahnden, wenn sie wüssten, dass sie am Leben geblieben war ...

Entschlossen verdrängte sie die beklemmenden Gedanken. Das alles spielte keine Rolle mehr, keiner ihrer Feinde würde sie in St. Jean de Cole aufstöbern. Denn sie hatte für ihre Sicherheit gesorgt, ihren richtigen Namen sogar ihrer Adoptivfamilie stets verheimlicht.

Als ihr ein attraktiver junger Mann entgegenhinkte, hob sie lächelnd den Kopf. „Guten Tag, Ralph.“

„Freut mich, Sie zu treffen, Adela. Soll ich Ihren Korb zum Dorfplatz tragen?“

Bevor sie den Kopf schüttelte, zögerte sie kurz. Noch immer erschien es ihr seltsam, mit dem Namen ihrer Mutter angesprochen zu werden, den sie zu ihrem Schutz angenommen hatte.

„Großer Gott, nein! Was würde Sibylla sagen, wenn sie erführe, Sie hätten sich überanstrengt? Nachdem wir so hart für eine Verbesserung Ihres Zustands gearbeitet haben!“

In seinem gesunden Auge las sie unverhohlenen Zorn, das andere verbarg sich nach wie vor hinter einem Verband. „Unsinn! Mit jedem Tag fühle ich mich stärker! Wenn ich auch ewig dankbar für Ihre Pflege sein werde – ich bin kein Invalide!“

Mit ihrer freien Hand zupfte sie behutsam am Ärmel des Engländers. „Sicher wissen Sie, dass ich Sie nur ein bisschen hänseln wollte.“

Seufzend rieb er seine Schläfen. „Verzeihen Sie, mein Wutausbruch war überflüssig, nach allem, was Sie für mich getan haben. Aber manchmal – ach, manchmal … Ich bin so bitter enttäuscht, weil es nur langsam aufwärtsgeht. Diese verdammte Unfähigkeit ...“

Wieder einmal entsann sie sich, wie ein paar Dorfbewohner eines Vorfrühlingstags den bewusstlosen Verwundeten im Wald entdeckt hatten. So schwierig es auch gewesen war, Sibyllas Kenntnisse und Isabels ausdauernde Fürsorge hatten Ralphs Genesung erreicht. Nach der bedrohlichen Kopfverletzung erinnerte er sich nur lückenhaft an die Ereignisse, an wenige Einzelheiten eines blutrünstigen Kampfes, etwa an seinen Namen und die Wichtigkeit eines verblichenen purpurroten Bandes in seinem Besitz. Nicht nur das Auge war schwer verletzt, die ganze Gesichtshälfte wies Narben auf.

„Ihre vollständige Gesundung braucht nun einmal Zeit und Geduld, Ralph. Und ich glaube, es wird nicht mehr allzu lange dauern.“

„Vielen Dank für Ihre Zuversicht, Adela.“ Offenbar besänftigt, neigte er sich vor und küsste ihre Wange. „Was für eine gute Freundin Sie sind! Hoffentlich sehen wir uns später beim Fest.“

Er nickte ihr zu und ging davon. Sprachlos blieb sie stehen, der Korb entglitt ihr und fiel zu Boden. Ihre Fingerspitzen berührten ihre Wange.

Seit jenem Frühlingstag schwelgte sie in der schwierigen Herausforderung, Ralphs Wunden zu heilen. Ihre angeborene Hartnäckigkeit verbot ihr, seinen Tod, den er fast erlitten hätte, auch nur zu erwägen.

Er musste weiterleben, musste gerettet werden.

Genauso wie ein Junge mit freundlichen blauen Augen, der sie einmal gerettet hatte. Vor so vielen Jahren ...

Voller Dankbarkeit schloss sie ihn immer noch in ihre Gebete ein. Und sie wünschte sich, der silberne Anhänger, den sie ihm geschenkt hatte, würde ihn irgendwie schützen, zu einem erfolgreichen Dasein verhelfen.

Nun war Isabel froh, weil es ihr gelungen war, ein Menschenleben zu retten, so wie damals jenem Jungen.

Sie strich wieder die Wange, die Ralph geküsst hatte, und seufzte. Wenn sie ihre zahlreichen Aufgaben rechtzeitig erfüllte, würde sie die abendliche Feier vielleicht wirklich genießen können.

Offenbar nicht!

Zu oft wurde ihre Hilfe benötigt. Die Marktstände mussten auf dem Hauptplatz aufgestellt, die Kirche vor der Vesper gereinigt, so vieles andere erledigt werden.

Daheim machte sie sich hastig zurecht und hoffte, sie würde präsentabel aussehen, als sie endlich zum Marktplatz ging – lange, nachdem ihre Familie aufgebrochen war.

Sie lief die schmale, mit Kopfsteinen gepflasterte Straße hinab, grüßte lächelnd die Passanten und hielt den Kranz mit dem Schleier auf ihrem Haar fest. Wahrscheinlich würde sie einige Blumen verlieren, die sie in ihre Zöpfe gewunden hatte.

Schließlich tauchte sie aus den Schatten auf und blieb am Rand des großen Platzes stehen. Wie schön er im Licht er Sonne aussah, die allmählich hinter den Hügeln versank und einen warmen, bernsteinfarbenen Schimmer auf die Festlichkeiten warf … Ringsum waren himmelblaue Fensterläden einladend geöffnet, auf den Simsen prangten bunte Geranien, Kletterpflanzen mit kleinen weißen Blüten schmückten fast alle Steinwände.

Am überdachten Ende des Marktplatzes standen lange, auf Böcke gestellte Tische, reich gedeckt mit den Gaben der Spätsommerernte. An den steinernen Säulen, die das Dach stützten, rankten sich Blumengirlanden empor, und einige überquerten das ganze Gebiet bis zu ein paar Fenstern auf der anderen Seite.

Zweifellos hatte sich Isabels Mühe gelohnt. Alle Dorfbewohner waren versammelt, lachten und schwatzten, aßen und tranken, freuten sich des Lebens. Bald würde Tanzmusik erklingen, vielleicht auch die Estampie, die lebhafte Stampfmelodie, die immer populärer und glücklicherweise von der Kirche geduldet wurde.

Seufzend biss Isabel auf ihre Lippen, als sie Ralph bei Heloise und ihren vielen anderen Verehrern sitzen sah. Also wirklich … Aber natürlich war ihre Schwester nicht schuld an der Aufmerksamkeit, die sie erregte.

Ralph fing Isabels Blick auf, stand sofort auf und hinkte zu ihr. „Endlich sind Sie da, Adela!“

Lachend nickte sie. „So sieht es aus. Wie vorwurfsvoll Sie dreinschauen! Glauben Sie, ich hätte mich absichtlich verspätet?“

„Nur zu gut weiß ich, wie viel Sie für das Fest getan haben – im Gegensatz zu manchen Leuten, die sich einfach nur amüsieren.“

„Einige Menschen leben, um zu arbeiten, andere werden geboren, um ...“

„Um dem Müßiggang zu frönen?“ Ralph hob die Brauen. „Nun, sei es, wie es sei, Sie sind hier, und das freut mich.“

„Mich auch.“

Isabel schaute sich wieder um, genoss die heitere festliche Stimmung, bis ihr etwas Seltsames auffiel – oder eher jemand. In einer schattigen Ecke des Platzes stand ein Fremder, der ihre Schwester anstarrte. Woher kam er? Und was hatte ihn nach St. Jean de Cole geführt?

„Wissen Sie, wer der Mann da drüben ist, Ralph?“

Er spähte über seine Schulter und kniff die Augen zusammen. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat er irgendwo gehört, was für fabelhafte Feste man hier erlebt. Kommen Sie, setzen wir uns zu Heloise und den anderen.“

„Gehen Sie nur, ich bleibe noch ein bisschen hier.“

Sie schlenderte zum überdachten Bereich. Unterwegs nahm sie sich einen saftigen Apfel. Während sie ihn verspeiste, ließ sie den Fremden nicht aus den Augen. Irgendetwas an ihm erschien ihr seltsam vertraut, obwohl sie sicher war, dass sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Neugierig beobachtete sie, wie er mit einem kahlköpfigen alten Mann sprach, der ihn mit ihren Eltern bekannt machte.

Was um alles in der Welt beabsichtigte der attraktive Neuankömmling? Wieso wirkte er so missmutig? Möglichst unauffällig näherte sie sich. Was erörtert wurde, musste bedeutsam sein, denn die Eltern musterten den Mann beunruhigt. Noch erstaunlicher – hastig winkten sie Heloise heran.

Warum nicht mich? Nun, worum immer es sich handeln mochte, vermutlich hatte es nichts mit Isabel zu tun. Der Fremde redete mit Heloise, die sichtlich bestürzt eine Hand auf den Mund presste. Aber dann schien ihr zu gefallen, was er sagte.

Ah, noch ein Verehrer … Das erklärte alles.

Lächelnd schüttelte Isabel den Kopf. Also hatte sie sich völlig grundlos gesorgt, entschied sie und wollte davonwandern. Doch da erblickte sie etwas, das sie erstarren ließ.

Der Unbekannte zog eine Lederschnur aus dem Halsschnitt seiner Tunika. Daran baumelte ein rautenförmiges, mit Rubinen verziertes silbernes Schmuckstück, das Isabel sofort erkannte. Einen solchen Anhänger hatte sie vor zwölf Jahren jenem Jungen geschenkt, ihrem Lebensretter. Von diesem Juwel besaß sie ein Duplikat – ihr Familienerbstück, das sie in St. Jean de Cole niemals trug, weil sie ihre Identität geheim halten musste. Der Fremde, der gerade mit ihrer Schwester und ihren Adoptiveltern sprach, war womöglich Will Geraint. Oder ein Feind? Der ihm den Anhänger gestohlen hatte?

Nein, er musste es sein. Kein anderer Mann wusste, dass sie noch lebte, keiner könnte sie hier aufgespürt haben.

Trotzdem musste sie vorsichtig sein ...

Vielleicht wollte ihr Vater sie nach Hause holen – oder erneut zu ihrem Verlobten schicken, wie es damals geplant gewesen war.

Im zarten Alter von acht Jahren hätte sie zu diesem Verlobten reisen und bei seiner Familie aufwachsen sollen, bis sie alt genug gewesen wäre, um ihn zu heiraten. Nun, das war sie jetzt. Und der einzige Mann, der sie nach all den Jahren erkennen könnte, stand nur wenige Schritte von ihr entfernt. Falls er es wirklich ist ... So oder so, sie wusste nicht, ob er ein Freund oder ein Feind war.

Ihr Herz drängte sie, sofort festzustellen, ob er Will Geraint hieß, und ihn willkommen zu heißen. Denn sie würde niemals vergessen, was er für sie getan hatte. Aber das war keine gute Idee ...

Und dann erriet sie, dass er Heloise für sie gehalten haben musste. Nun wurden Leute losgeschickt, die offenkundig Adela suchten. Wieso wurde sie dennoch übersehen? Obwohl ihr diese Menschen täglich über den Weg liefen? Weil sie völlig unbedeutend war? Welch eine bittere Erkenntnis ... Natürlich ahnte Will Geraint – wenn er es war – nichts von ihrer Anwesenheit. Isabel war immer noch so nebensächlich, so unsichtbar wie in ihrer Kindheit, als ihre richtige Familie sie kaum wahrgenommen hatte, insbesondere Papa.

Und jetzt? Weil er plötzlich wünschte, sie sollte gefunden werden und nach zwölf langen Jahren ihre Pflichten erfüllen, hieß das keineswegs, sie wäre ihm bedingungslosen Gehorsam schuldig, oder?

Ganz gewiss nicht ...

Keinesfalls wollte Isabel ihre kostbare Freiheit aufgeben. Noch wichtiger – sie fürchtete eine Konfrontation mit den Gefahren ihrer Vergangenheit. Sie hatte gehofft, die würde sie nicht einholen.

Und genau das war jetzt geschehen.

Wenn sie das Fest vorzeitig verließ, würde man es vielleicht merken, trotz ihrer Unauffälligkeit. Sie musste sich so benehmen wie üblich, kein Aufsehen erregen. Inständig flehte sie den Allmächtigen an, er möge dem Fremden klarmachen, sie wäre nicht hier, und ihn wegschicken.

Obzwar der Mann wahrscheinlich der Junge war, der damals ihr Leben gerettet hatte.

Will kniff frustriert in seinen Nasenrücken. Nicht schon wieder.

Offensichtlich war er in eine weitere Sackgasse geraten. Irgendetwas stimmte nicht in St. Jean de Cole. Genauso wenig wie in allen anderen Orten, in die er einer vagen Spur gefolgt war – wo jede junge Frau behauptet hatte, sie sei die vermisste Lady.

So wie das Mädchen, das jetzt vor ihm stand.

Wenn er es auch nicht genau erklären konnte – Heloise Meunier kam ihm irgendwie unecht vor.

Verdammt!

Nach der monatelangen Suche hatte er dieses kleine Dorf voller Zuversicht erreicht und geglaubt, hier würde er Lady Isabel de Clancey antreffen. Stattdessen rannte er gegen eine Wand an – eine sehr schöne, reizvolle. Aber eindeutig eine Wand.

„Verzeihen Sie – wenn Sie Lady Isabel sind, warum erinnern Sie sich nicht, was geschehen ist, als ich Sie damals gerettet habe?“

„So beschwerlich war das alles. Ich muss es verdrängt haben.“ Seufzend strich Heloise über ihre Stirn.

„Eigentlich müsste es grauenhaft gewesen sein, nicht nur beschwerlich.“ Will runzelte die Stirn. „Auf irgendwas müssen Sie sich besinnen.“

„Leider ist mein Gedächtnis sehr schlecht. Und wie Sie sagen – es war grauenhaft.“

„In der Tat“, murmelte er tonlos.

„Nur an Ihre Freundlichkeit erinnere ich mich. Sie waren so gütig, mich in die Abbaye aux Dames zu bringen. Ein paar Jahre später gelangte ich ins hiesige Kloster, dann zur Familie Meunier, die jetzt für mich sorgt.“

„Ich verstehe.“

„Doch ich wusste immer, Sie würden zurückkommen und mich holen, Messere. Weil ich etwas Besonderes bin!“, verkündete Heloise und ließ ihre langen Wimpern flattern. „Für mich gab es keinen Zweifel – eines Tages würde ich ein anderes Leben führen als dieses hier, das mir aufgezwungen wurde.“

Nein, zum Geier, sie konnte unmöglich das Mädchen sein, das Will immer noch in seiner Fantasie sah, sondern eine Angeberin. Wie alle anderen.

Geistesabwesend schüttelte er den Kopf. O Gott, so müde war er nach der langen Reise, der vergeblichen Suche nach Lady Isabel. Der Auftrag, den er nur widerstrebend angenommen und der ihn letzten Endes auf seltsame Weise fasziniert hatte, forderte wegen langer Monate in der Sommerhitze seinen Tribut. Jeden Tag hatte er überlegt, warum er sich darauf eingelassen hatte. Nur wegen der Silberkiste bestimmt nicht ...

Dahinter steckte viel mehr. Letzten Endes hatte er die Überzeugung gewonnen, mit dieser Tortur würde er hauptsächlich sein schlechtes Gewissen besänftigen. Denn das quälte ihn, seit er gezwungen worden war, ein verängstigtes Kind in einem Kloster zurückzulassen. In den nächsten Jahren hatte er sehr oft an die Kleine gedacht und gehofft, sie wäre irgendwie am Leben geblieben, allen Widerständen zum Trotz.

So mühselig war die Suche gewesen. Neben dem ganzen Ungemach hatte er auch noch die Schmach einer Verfolgung erdulden müssen, von La Rochelle aus. Vermutlich war er von Rollestons Leuten beschattet worden.

Zur Hölle mit ihrer Unverschämtheit, wer immer sie sein mochten! Will hatte sie bald abgeschüttelt.

Nur ungern gab er eine Niederlage zu. Aber nun musste er sich wohl oder übel eingestehen, dass ihm die vermisste Erbin vermutlich entwischt war. Zuerst hatte er die Abbaye aux Dames besucht. In dieses Kloster hatte Pater Clement das Mädchen damals gebracht. Doch die Nonnen hatten keine Akten über Isabels Aufenthalt angelegt.

Danach war er mehreren falschen Fährten gefolgt, und die nach St. Jean de Cole war offenbar eine weitere.

„O ja, Cherie, du bist was Besonderes“, bestätigte die Mutter. „Deshalb nahmen wir dich zu uns – euch beide.“

Will zog die Brauen hoch. „Beide?“

„Ja, Heloise und Adela.“

Adela? So hieß Lady Isabel de Clanceys Mutter. Interessant ...

„Wo finde ich Adela, Madame Meunier?“, fragte er möglichst gleichmütig, um seine wachsende Aufregung zu verhehlen. „Nimmt Ihre andere Tochter nicht an diesem Fest teil?“

„Nun, ich glaube schon … Allerdings verschlechtert sich mein Augenlicht mit jedem Tag. Hast du deine Schwester gesehen, Heloise?“

„Nein, Mama, und ... Ich verstehe nicht, warum Sie Adela kennenlernen möchten, Messere.“

Statt ihr zu antworten, ließ Will seinen Blick über den dicht bevölkerten Marktplatz schweifen. Immer mehr Menschen fanden sich ein. Förmlich verbeugte er sich. „Ihnen allen wünsche ich einen angenehmen Abend. Und ich hoffe, wir werden unsere Unterhaltung morgen fortsetzen.“

„Darauf freue ich mich, Messere …“, begann Heloise.

Doch er ging bereits davon.

Adela ...? Könnte sie Lady Isabel de Clancey sein? Nur sein Wunschdenken ... Das wusste er. Aber er wollte diesen Auftrag endlich erledigen, in sein einsames Leben zurückkehren. Und dass diese Adela sich so nannte wie Isabels Mutter dürfte kein Zufall sein.

Gemächlich wanderte er weiter, erwiderte lächelnd die Grüße ehrerbietiger Dorfbewohner. Neben einem kleinen Mädchen, das an einer steinernen Säule lehnte, blieb er stehen. Eifrig klatschte das Kind im Takt der Musik, die erst seit Kurzem erklang, dann hielt es inne und starrte Will neugierig an.

„Hast du Adela gesehen, meine Kleine?“, erkundigte er sich. „Ihre Mutter weiß nicht, ob sie hierhergekommen ist.“

Kichernd nickte das Mädchen. „Natürlich ist sie da, dort drüben tanzt sie.“

Will schaute in die angezeigte Richtung. „Vielen Dank, kleine Miss.“

Mit schnelleren Schritten steuerte er das Tanzpodium an und postierte sich am Rand. Aufmerksam musterte er die jungen Frauen, die an ihm vorbeihüpften.

War die Lady dabei, die er suchte? Er trat näher zum Podest, und da wurde er aufgefordert, sich am Tanz zu beteiligen, weil für die Estampie ein Mann fehlte. Sehr gut. Nun würde er jede einzelne der etwa fünfzehn Tänzerinnen unter die Lupe nehmen.

Heiliger Himmel!

Welch ein katastrophaler Entschluss, auf dem Fest zu bleiben! Isabel hätte fliehen sollen, sobald sie den Fremden entdeckt hatte. Und jetzt tanzten sie zusammen mit der fröhlichen Schar die Estampie. Keinesfalls durfte sie den Kopf heben. Wenn sie allen Blickkontakt vermied, würde er sich vielleicht schon bald entfernen. Aber wie sie durch ihre gesenkten Wimpern feststellte, ließ er sie kaum aus den Augen. Nichts an ihr schien ihm zu entgehen.

Nervös spürte sie brennende Röte in den Wangen, versuchte tapfer, die innere Anspannung zu überwinden, Gelassenheit zu heucheln. Sie nickte dem Mann sogar höflich zu. Dennoch wurde ihr seine Nähe viel zu eindringlich bewusst – seine Größe, die breiten Schultern, die machtvolle maskuline Ausstrahlung. Irgendetwas in ihm ließ eine neue Saite in ihrem Innern erklingen.

Während sie um ihn herumtanzte, bemerkte sie den sonderbaren Gegensatz zwischen seiner äußeren Erscheinung eines gestählten, erfahrenen Kriegers und seinen geschmeidigen Bewegungen im Gruppentanz. Gewiss war es am besten, wenn sie sich auf ihre rhythmischen Schritte konzentrierte, jeden eventuellen Hinweis auf ihre Identität unterließ und verschwand, sobald die Musik verstummte.

Allmählich wurde ihre Angst von Zorn verdrängt, weil der unerträgliche Mann sie unentwegt inspizierte. Sie wusste, sie dürfte ihm nicht erlauben, sie aus der Fassung zu bringen. Doch dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen. „Messere, es schickt sich nicht, wie Sie mich anstarren.“

„Verzeihen Sie, ich wusste nicht, dass es dafür eine schicklichere Methode gibt.“

Was für eine unverschämte Antwort ihr dieser Mann gab! Isabel blinzelte und erwog nur kurzfristig eine angemessene Revanche. Angesichts seines aggressiven Benehmens ermahnte sie sich zur Vorsicht. Sicher war es besser, ruhig zu bleiben und ihm eventuell nützliche Informationen zu entlocken.

„Sie stammen wohl nicht von hier?“, fragte sie in beiläufigem Ton.

„Nein.“ Er tanzte um sie herum, sie bewegten sich Rücken an Rücken, und der nächste Stampfschritt führte ihn zu einer anderen Partnerin. Bald gelangte er wieder zu Isabel. 

„Sind Sie in dieses Dorf gereist, um Ihre Tanzkunst zu verbessern, Messere?“ Wie unhöflich und taktlos sie war, wusste sie. Aber irgendwie musste sie das seltsame Unbehagen bekämpfen, das er weckte – ein verwirrendes, neuartiges Gefühl.

„Hier könnte ich gar nichts verbessern.“

„Sie sind sehr selbstbewusst.“ Um Isabels Bemerkung zu bestätigen, wechselte er seine Partnerinnen mit spielerischer Leichtigkeit, in eleganten Posen. Wann immer er mit ihr tanzte, drückte er ihre Hand, als wäre sie seine Favoritin.

Messere, Sie sind zu kühn!“, zischte sie, während sie anmutig an ihm vorbeischritt. „Und ich möchte Sie noch einmal bitten, mich nicht so dreist anzustarren!“

„Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht ärgern.“

„Wirklich nicht?“

„Keinesfalls!“, beteuerte er lächelnd.

Wie sie sich eingestehen musste, gefiel ihr dieses Lächeln, das ein plötzlicher humorvoller Glanz in seinen azurblauen Augen unterstrich.

Autor

Melissa Oliver
Mehr erfahren