Das Verlangen der stolzen Lady

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Die zierliche Kate Medhurst hat ein gefährliches Geheimnis: Sie befehligt eine Piratencrew in der Karibik. Als sie an Bord des Schiffes von Captain Kit North genommen wird, einem furchtlosen Piratenjäger, sollte sie ihn hassen. Er ist ihr Todfeind! Doch das ist bei dem ebenso charmanten wie schneidigen Kapitän unmöglich...


  • Erscheinungstag 15.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729486
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Mai 1812, im Karibischen Meer

Das Meer schimmerte wie Seide, klar und türkisgrün, und darüber wölbte sich der Himmel in tiefem wolkenlosem Blau. Es war erst zehn Uhr am Morgen, doch die Sonne hatte schon ihre ganze Kraft entfaltet und erhitzte die Planken des kleinen amerikanischen Piratenschiffs Coyote.

Kate Medhurst spürte die Wärme unter ihren bloßen Füßen und war dankbar für das dunkle Sonnensegel, das einen Teil des Kommandodecks überspannte. Eine leichte Brise ließ die schwarzen Seidenbänder ihres Strohhuts flattern und schmiegte ihr die schwarzen Musselinröcke an die Beine. Ihre Aufmerksamkeit jedoch war nur auf eins gerichtet – auf das Schiff, das in Sicht kam und sich ihnen schnell näherte.

Ein Rabe krächzte – ein unheimlicher Ton und hier mitten im Golf von Mexiko ganz fehl am Platze.

„Ein Rabe auf dem Besanmast! Ein Omen – unser Glück wendet sich“, brummelte einer der Männer und machte ein abwehrendes Zeichen. Wie jeder hier auf dem Schoner kannte auch sie diesen Aberglauben. Sie hielt nichts von solchen Omen, spottete jedoch nicht, denn für die meisten Seeleute war Aberglaube etwas ganz Reales.

„Zum Guten, wenn ich richtig sehe, was da auf uns zukommt“, sagte sie. Durch das Fernrohr, das sie ans Auge hielt, folgte sie dem Kurs des großen Handelsschiffs mit dem schwarzen Rumpf.

Sie nahm das Teleskop herunter und wandte sich an Tobias, der neben ihr stand. Er war ein großer Mann, mehr als sechs Fuß, mit ledriger, von Sonne und Wind verwitterter Haut, höckeriger Nase und unter seinem Dreispitz hervorhängendem Haar. Mit seinem Äußeren und dem langen, mit Tressen versehenen Gehrock war Tobias das Muster eines Piratenkapitäns, und sein Wesen passte dazu.

„Ich sehe den Union Jack, aber ich finde den Namen nicht.“ Kate wandte sich nicht an Tobias, sondern an Sunny Jim, den kleinen, knorrigen alten Mann zu ihrer Linken und reichte ihm das Fernrohr. „Siehst du ihn?“ Sie runzelte die Stirn. Sie kannte den Namen jedes britischen Schiffes, das sie je angegriffen hatten.

Sunny Jim schaute noch düsterer als sonst und schüttelte den Kopf, während er das Fernglas pro forma an Tobias weiterreichte. „Noch nicht, Ma’am“

„Was heißt das schon?“, fragte Tobias, das Glas am Auge.

„Vielleicht nichts.“ Trotzdem irritierte es sie mehr als der große schwarze Vogel, der sie immer noch von der Mastspitze aus beobachtete.

Angesichts des Schiffes grinste Tobias breit und zeigte seine Zahnlücken. Sein goldener Ohrring glitzerte in der Sonne. „Hübsch“, zischte er.

„Zweifellos ein Nachzügler des Konvois der Handelsschiffe, die wir bei Sonnenaufgang entdeckt haben“, meinte Kate.

„Zurückgefallen, ganz allein, ohne den Schutz der Dreckskerle von der Royal Navy und ihren Fregatten.“ Sunny Jim verzog das Gesicht fast zu einem Lächeln. „Bei Neptun, die können wir doch nicht ganz allein da draußen lassen!“

„Ganz bestimmt nicht“, stimmte Tobias zu. „Schlitzen wir ihnen die englischen Hälse auf!“

„Hier gibt’s kein Halsaufschlitzen!“ Kate wechselte einen Blick mit Sunny Jim, dann sah sie Tobias scharf und mahnend an.

Tobias verzog verächtlich die Lippen. „Du bist zu weich mit ihnen.“

„Überhaupt nicht“, entgegnete sie. „Mach ihnen die Taschen leer und lass sie leben, damit sie schmerzhaft erfahren, dass die amerikanischen Gewässer genau das sind – nämlich amerikanisch!“

„Und wenn ich das anders sehe?“ Wütend und herausfordernd funkelte er sie an.

„Wieder einmal? Anscheinend siehst du das in letzter Zeit häufiger anders. Aber das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Streit. Wir klären das, wenn wir zurück in Tallaholm sind. Jetzt bist du auf meinem Schiff, unter meinem Kommando, und du tust, was ich sage.“

„Ach, ja? Wo doch so viele denken, dass ich der Kapitän der ‚Coyote‘ bin.“ Drohend trat er näher an sie heran.

„Und ob du gehorchst, du junger Hund“, kam es von Sunny Jim, leise, tödlich, gefährlich. Er zog seinen Säbel aus der Scheide. „Du solltest dich besser erinnern, Tobias Malhone, dass du ein Niemand bist, der nur eine Rolle spielt. Dieses Schiff hat nur einen echten Kapitän, und trotz deines aufgeputzten Rocks bist nicht du das. Wenn also der Captain sagt, es reicht, dann reicht es. Klar?“

Tobias nickte mürrisch und gab vorerst klein bei. „Wenn du es sagst, Captain.“ Er betonte den Titel leicht spöttisch.

„Ja, ich sage es.“ Mit festem Blick sah Kate ihm in die Augen. „Wirst du mir heute Schwierigkeiten machen, Tobias?“

Eine ganze Weile musterte er sie, dann sagte er: „Nein.“ Und voller Hohn: „Nicht heute.“

Sie verstand ihn genau. Heute nicht, doch ein anderes Mal. Was sie jedoch beide nicht wussten, war, dass es dazu nicht mehr kommen würde. „Dann also wieder an die Arbeit, die auf uns wartet. Die liegen tief im Wasser.“

„Voll beladen mit Waren“, sagte Sunny Jim.

„Unsere liebsten Handelsschiffe.“ Sie wandte sich an Tobias. „Los geht’s. Erleichtern wir sie ein wenig um ihre Ladung, damit sie schneller vorankommen.“

„Aye, aye, Captain“, murmelte Tobias und dieses Mal nicht sarkastisch. Er grinste in sich hinein, dann sagte er laut zu den Männern, die schon bereitstanden. „Vorwärts, Leute, wir haben eine Verabredung mit einem englischen Handelsschiff.“

Begeistertes Geschrei stieg zum Himmel auf, ehe die kleine treue Mannschaft sich in die Arbeit stürzte. Kate verdrängte ihre Besorgnis wegen Tobias, der vorn auf dem Kommandodeck seine Stellung hielt, und gab von ihrem Platz ihre Befehle. Die schwarzen Segel wurden entrollt und blähten sich im Wind; das Schiff nahm Fahrt auf.

„Hisst die Flagge“, befahl Kate.

Sie lächelte, als die „Coyote“ auf ihre Beute zuschoss.

Kit Northcote – oder Captain North, wie er sich nun nannte –, schob das Fernrohr ineinander und steckte es in die Tasche seines abgeschabten ledernen Leibrocks. Den hatte einst ein Pirat getragen, nun trug ihn ein gänzlich anderer Mann – zäher, härter, gestählt, obwohl er immer noch mit dem schwarzen Hemd bekleidet war, den schäbigen Wildlederhosen und den hohen Stiefeln.

„Sie kommen.“ Sein Blick war auf das ferne Schiff geheftet.

„Ist es La Voile?“, fragte sein Freund, der Reverend Dr. Gabriel Gunner.

„Der Rumpf ist schwarz-braun gestreift, das Segel schwarz, und sie haben das Sternenbanner und La Voiles eigene Flagge gehisst.“

„Ein Totenkopf mit dem Mund in Form eines liegenden Säbels, rot, mit tropfendem Blut. Er hat eine künstlerische Ader, das muss man ihm lassen.“

„Viel mehr werde ich ihm nicht lassen, wenn er hier ankommt.“

Gunner lachte. „Der Kapitän wird die hübsche kleine Überraschung erleben, die er verdient. Glaubt er, er kann auf Dauer die britischen Handelsschiffe angreifen und damit durchkommen?“

„Das glaubt er wohl wirklich. Weißt du, dass man La Voile anlastet, ganz allein den britischen Transatlantikhandel um fast zwanzig Prozent verringert zu haben?“

„Wie kann das sein? Ist das überhaupt möglich?“, fragte Gunner. Er war groß und erstaunlich schmächtig für einen Mann, der viele Jahre auf See zugebracht hatte. Er hatte lange knochige Finger, die das Gebetbuch ebenso präzise handhaben konnten wie Skalpell und Säbel.

„La Voile wird protegiert von einem mächtigen Piratenpaar sowie einem hohen Beamten, der gegenüber seinem illegalen Tun ein Auge zudrückt. Er hat nur ein Schiff und eine kleine loyale Mannschaft, also niedrige Kosten. Er schlägt rasch und unbarmherzig zu, nimmt sich von der Ladung, was er will, und lässt Kaufleute und Mannschaft unversehrt – ein ganz neues Konzept für einen Piraten. Er ist gerissen. Gerissen genug, sich nur einfache Ziele auszusuchen. Er überlässt die großen, unter Begleitschutz fahrenden Schiffe anderen. Gerissen genug, um sich den unvermeidlichen Nachzügler auszusuchen, den es bei jedem Konvoi gibt. Und gerissen genug, sich nicht erwischen zu lassen, so sehr sich unsere Königlichen Marine anstrengt.“

„Zu unserem Glück!“

„Aber ja“, stimmte Kit zu und dachte an die astronomische Summe, die sie für diese Aktion bekommen würden.

Inzwischen war La Voiles Schiff ein gutes Stück näher gekommen. „Du meine Güte, die sind aber auch schnell!“, sprach Gunner aus, was Kit dachte.

„Fast so schnell wie wir.“

Gunner lächelte. „Fangen wir ihn tot oder lebendig?“

„Lebendig. Dann ist die Prämie höher. Die Admiralität will ein Exempel statuieren und ihn an den Galgen bringen. Geh also mit diesem speziellen amerikanischen Piraten sanft um, Reverend.“

Die beiden Männer tauschten ein schiefes, verständnissinniges Lächeln.

Am Heck flatterte die britische Flagge mit ihren leuchtenden Farben in der karibischen Sonne.

„Ist alles bereit?“, fragte Kit.

„Ganz, wie du es erklärt hast.“

Kit nickte, zog das Fernrohr erneut hervor und musterte die sich nähernde „Coyote“.

„Interessant“, murmelte er, die drei Gestalten ins Auge fassend, die unter dem schwarzen Sonnensegel auf dem Kommandodeck standen. „Sie scheinen sich wegen einer Frau zu streiten.“

„Eine Frau?“ Ungläubig verzog Gunner das Gesicht.

„Und dazu eine sehr ansehnliche!“

„Eine Geisel?“

„Sie ist weder gefesselt noch geknebelt.“

„Entführt!“

„Schon eher“, meinte Kit. Der größere Pirat nahm der Frau gegenüber eindeutig eine drohende Haltung ein. Das Sonnenlicht ließ die halb gezogenen Säbel der beiden Männer aufblitzen.

„Ist einer von ihnen La Voile?“

„Ich glaube. Sieh selbst.“ Er reichte Gunner das Fernrohr.

„Um wie viel verringert sich das Kopfgeld, wenn wir ihn tot abliefern?“

„Um einiges.“

„Du überzeugst mich, trotzdem würde ich eine persönlichere, blutigere Herangehensweise vorziehen“, knurrte der Reverend. „Ich kann es kaum erwarten, dass La Voile uns in die Falle geht.“

Als sie den Kapitän des Handelsschiffs erblickte, lief Kate zum ersten Mal ein ahnungsvoller Schauer über den Rücken. An dem dunklen, unbeirrten, konzentrierten Blick seiner Augen war etwas, das sie an das entnervende Starren des Raben erinnerte, der vorhin auf dem Besanmast gesessen hatte. Sie verdrängte den absurden Gedanken und versuchte, die Beklemmung zu ignorieren, die wie ein böser Hauch über ihr hing. Es ist ein Beutezug wie jeder andere, sagte sie sich, dennoch hielt sie erneut nach Bordkanonen Ausschau, obwohl ihr der Blick durch das Fernrohr schon gezeigt hatte, dass es keine gab.

„Nicht eine Kanone zu sehen.“ Tobias’ Worte waren ein Widerhall ihrer Gedanken. „Keine Spur von Widerstand. Sie ergeben sich genau wie die anderen britischen Memmen! Würden sie uns bloß nur ein einziges Mal einen richtigen Kampf liefern!“ Er spuckte angewidert aus.

„Unbewaffnet und angesichts unserer auf sie gerichteten Kanonen? Sei nicht albern, Tobias. Wir sollten dankbar sein, dass sie vernünftig genug sind, es uns leicht zu machen.“

Diese Wirkung hatten die Kanonen der „Coyote“ stets auf die britischen Handelsschiffe, die Kate auswählte. Jedes Mal ließ man den Piraten ungehindert herankommen, bis die Enterhaken in die Bordwand schlugen und die Gehplanken ausgelegt werden konnten. Diese Besatzung machte keine Ausnahme.

Ihre Leute folgten der üblichen Routine; sie waren so geübt darin, dass sie das Manöver im Schlaf hätten ausführen können. Kate beobachtete, wie ihre Mannschaft das Schiff enterte. Einige blieben an Deck, um die englischen Seeleute in Schach zu halten, während die anderen im Laderaum verschwanden, wo die Beute wartete. Sie brauchten nur auszuwählen, was sie mitnehmen wollten, und dann konnte die „Coyote“ davonsegeln. Wie stets. Kinderleicht. Dennoch empfand Kate abermals jene befremdliche Vorahnung und Sorge, stärker als zuvor.

Sie ließ den Blick über das Deck schweifen, fand jedoch nichts Ungewöhnliches, wandte sich dann wieder dem Kapitän des Handelsschiffs zu. Etwas war an ihm, etwas, aus dem sie nicht so recht klug wurde. Sie musterte ihn eindringlicher. Er war schlank und doch hatte er jenes kraftvollen Äußere, wie Jahre harter Arbeit es bewirkten. Sie sah es an seinen breiten, von dem abgeschabten Leibrock umspannten Schultern, an seiner ganzen Haltung. Hohe Wangenknochen und eine wie gemeißelte Kinnlinie ließen sein Gesicht markant wirken.

Sein Haar war dunkel, und seine Haut von der tiefgoldenen Bräune eines Mannes, der viele Jahre auf See verbracht hatte. Unter dem Rock trug er Hemd und Halstuch, schwarz wie bei den Piraten. Raulederne Hosen schmiegten sich eng an muskulöse Schenkel, und seine hohen Stiefel waren ehemals braun, nun jedoch von Sonne und Salz völlig ausgeblichen. Die lange Säbelscheide an seiner linken Seite war leer, seine Waffe lag bei den anderen, die ihre Leute ihm und seiner Mannschaft abgenommen hatten. Der junge John Rishley hielt dem Mann die Spitze seines Säbels an die Brust. Obwohl John sich mittlerweile als wertvolles Mitglied der „Coyote“ erwiesen hatte, wünschte Kate, Tobias hätte einen älteren, erfahreneren Mann ausgewählt, um den Kapitän des Handelsschiffs in Schach zu halten.

Für all diese Beobachtungen und Überlegungen brauchte sie nur wenige Momente, ehe ihr Blick wieder zu den Augen des Mannes zurückkehrte – dunkle Augen, Augen, die den ihren nicht auswichen. Abermals rann ihr ein Schauer über die Haut. Sie schaute nicht fort, denn diese Augen ließen alle Alarmglocken in ihr klingeln. Irgendetwas war damit. Was nur …? Während sie noch tief in sie hineinsah, wusste sie es plötzlich. Er wirkte nicht wie ein Mann, der um sein Leben oder seine Einkünfte fürchtete. Es war nicht eine Spur von Furcht an ihm. Seine Haltung war entspannt und lässig. Zu lässig. Eine Aura stiller, beinahe unnatürlicher Ruhe, die sie selbst über die Entfernung zwischen ihnen spürte – er auf dem Deck des Handelsschiffs, sie, die ihn unter dem Sonnensegel hervor beobachtete. Was sie in dem entschlossenen, festen Blick las, war kalte, harte, reale Gefahr. Sie blickte zu Tobias.

„Da stimmt etwas nicht, ruf die Männer zurück!“

„Was? Verflucht, Weib, da ist nichts!“ Ungläubig sah Tobias sie an, als wäre sie verrückt geworden.

„Mach’s einfach!“, drängte sie.

Wütend funkelte er sie an, gab aber widerwillig das Kommando.

Doch zu spät. In diesem kurzen Augenblick änderte sich alles. Es geschah so schnell, dass sie nichts mehr tun konnte. In der einen Minute war auf dem Handelsschiff alles ruhig. Wie gewohnt. In der nächsten brach die Hölle los. Die Briten hatten Waffen – und eine solche Menge, wie sie sie noch nie auf einem Handelsschoner gesehen hatte. Sie kämpften hart und entschlossen und so meisterlich, dass die Mannschaft der „Coyote“ nicht mithalten konnte. Es war schneller vorbei, als es begonnen hatte. Innerhalb einer Minute lagen ihre Leute lang auf ihren Bäuchen auf dem Deck; alle, außer dem jungen Rishley, den der fremde Kapitän an den Haaren gepackt hatte und wie einen Schild vor sich hielt. Plötzlich blitzte ein Säbel in seiner Hand, dessen mörderische Klinge sich gegen die Kehle des Jungen drückte.

„Guter Gott“, flüsterte Kate entsetzt.

Im gleichen Moment tauchten die englischen Matrosen aus den Laderäumen auf und führten die Männer, die dort die Waren hatten an sich bringen wollen, gefesselt und geknebelt vor sich her.

Nie zuvor hatte Kate sich in einer solchen Lage befunden. Ihre Gedanken rasten, hektisch sah sie umher, suchte einen Ausweg. Doch es gab keinen, nicht solange der Kapitän John Rishley als Geisel hielt.

Der Junge war siebzehn. Kate kannte seine Mutter, seine ganze Familie. Und sie hatte geschworen, sie würde ihn sicher wieder heim nach Tallaholm bringen. Nun weckte der Anblick der Klinge an seiner Kehle düstere, schreckliche Erinnerungen in ihr, die sie vor Angst beinahe lähmten.

Der Fremde trieb John vor sich her auf die „Coyote“, über eben die Planke, die ihre eigene Mannschaft kurz zuvor völlig arglos überquert hatte. Den beiden folgte ein schlaksiger blonder Mensch, der wie ein Geistlicher gekleidet war.

„Seit wann bist du nicht nur Pirat, sondern verschleppst auch Frauen, La Voile?“

Der Kapitän des Handelsschiffs fixierte Tobias. Sein englischer Akzent klang ihr fremd in den Ohren, doch selbst sie hörte, dass sein Tonfall der eines gebildeten Mannes war. Seine Stimme klang ausdruckslos.

Sie denken, er hat mich entführt? Schon öffnete sie den Mund, wollte sich zu ihrer Verantwortung bekennen, denn alles an ihm sprach dafür, dass er ihr Schiff samt ihren Leuten nicht einfach davonsegeln lassen würde. Die Lage war ernst. Die Maskerade war vorbei.

Doch Tobias trat vor. „Wer zum Teufel sind Sie, dass Sie mir Fragen stellen?“, knurrte er und übernahm die Rolle des Kapitäns, der zu sein er langsam selbst glaubte.

Unter ihren und Tobias’ und Sunny Jims Blicken flog der Rabe von der höchsten Mastspitze hinab und landete sanft auf der Schulter des englischen Kapitäns. Der zuckte nicht mit der Wimper. Der Vogel saß dort ganz vergnügt, als wäre es sein gewohnter Platz, und putzte sich das Gefieder, das im Sonnenlicht blauschwarz schimmerte.

Kate stockte der Atem. Ihr Herzschlag setzte kurz aus und begann dann zu rasen. Ihr wurde ganz übel. Also war er nicht der Kapitän eines Handelsschiffs. Sie wusste, wer er war. Sie hätte es auf den ersten Blick wissen müssen.

„Er ist der, den sie North nennen“, presste sie hervor. Denn sie wusste genau, was es mit dem Mann, der da vor ihnen stand, auf sich hatte – und was es für ihre Mannschaft und für sie selbst bedeutete.

„Gott helfe uns!“, flüsterte Sunny Jim, der neben ihr stand.

Sie hörte das Murmeln, das sich unter ihren Leuten ausbreitete, sah deren Schrecken und hörte, wie jemand leise zu beten begann.

In der Tat, nur Gott konnte ihnen helfen.

Jene dunklen Augen richteten sich auf sie. Nun, da Kate wusste, wer er war, hätte sie dem intensiven Blick nicht standhalten müssen, doch das verbot ihr der Stolz.

„Zu Diensten, Ma’am“, sagte er und schenkte ihr eine knappe Verbeugung, eigentlich nur ein kurzes Nicken, ehe er sich Tobias zukehrte. „Lassen Sie die Frau gehen.“

Tobias lachte. „Sie können sie haben … wenn Sie mein Schiff verlassen.“

„Ich werde Ihr Schiff verlassen.“ North lächelte, und dieses Lächeln war kälter und schärfer als bei anderen Männern ein eisiger Blick. „Sie sind der Pirat La Voile?“

„Ich bin La Voile, ganz recht.“

„Gut. Ich nähme nicht gerne den falschen Mann mit.“

„Zum Teufel, ich komme nicht mit Ihnen!“

North drückte die Klinge fester gegen Rishleys Hals. „Möchten Sie zusehen, wie ich ihm die Kehle aufschlitze? Oder ergeben Sie sich, um ihn zu schonen?“

Kate presste eine Hand auf ihren Mund, sonst hätte sie aufgeschrien.

Ihr Herz hämmerte stürmisch, und vor Furcht und Entsetzen und Wut war ihr ganz übel. Während ihre Hand hinter den Falten ihres Rockes den langen Dolch fester umspannte, spürte sie, wie Sunny Jim ihr Handgelenk umklammerte.

„Nicht!“, flüsterte er scharf. „Lass ihn glauben, dass du entführt wurdest. Es steht zu viel auf dem Spiel, Katie.“ Dass der alte Mann versehentlich ihren Namen aus Kindertagen benutzte, zeigte, wie ernst die Lage war. Vielsagend sah er sie an und erinnerte sie so daran, wie viel tatsächlich auf dem Spiel stand, sowohl hier wie auch daheim in Tallaholm.

„Na, los, tu’s doch.“ Tobias schüttelte breit grinsend den Kopf, seine Miene zeigte eine seltsame Erregung. Er senkte den Blick auf seinen langen Säbel. Dann plötzlich rannte er, die Waffe tollkühn schwingend, auf North zu und schrie: „Aber ich werde mich nie ergeben, du englischer Hund!“

„Nein!“, schrie Kate entsetzt.

Es geschah so schnell, dass sie kaum wusste, wie. Blitzschnell wurde Rishley unversehrt einem Briten in die Arme gestoßen, und ein einziger Streich von Norths Klinge fällte Tobias. Sie sah den roten Fleck auf seiner Brust und das sich unter ihm auf den Planken ausbreitende Blut.

Der Schock raubte ihr die Sprache.

Betäubende Stille folgte. Die Zeit schien sich zu dehnen.

Niemand regte sich.

Niemand sprach.

Kate konnte nicht fortschauen. Eiskalt rann ihr das Blut durch die Adern. Tobias’ weit offene Augen starrten leer und blicklos empor.

Der Geistliche, der Norths erster Offizier zu sein schien, schritt zu dem Leichnam, hockte sich daneben und legte zwei Finger an dessen Hals.

„Mausetot“, verkündete er, schloss ihm sanft die Augen und murmelte ein Gebet, ehe er sich wieder aufrichtete. „Sehr schade. Aber wir nehmen ihn trotzdem mit.“

North nickte.

Ungläubig, von Grauen erfasst, sah Kate zu, wie zwei Matrosen den Leichnam aufhoben.

North schaute bedeutsam auf Sunny Jims Hand, mit der er immer noch Kate festhielt. „Übergib sie uns.“

„Und wenn nicht?“, fragte der alte Mann. Er hielt sie sehr sacht, so wild er sich auch nach außen gebärdete.

Kalt glitt Norths Blick über Tobias’ leblosen Körper, eher er Sunny Jim erneut ansah. „Dann töten wir euch bis zum letzten Mann.“

Das bezweifelte Kate ebenso wenig wie die anderen. Jeder, der in diesen Gewässern segelte, hatte Geschichten von North, dem Piratenjäger, gehört.

Verstohlen fragend, schaute Jim zu Kate. Er würde bis zum Tod für sie kämpfen – sie alle würden das –, doch das durfte sie nicht zulassen. Diese Männer hatten ihr stets treu gedient.

„Ich bin nicht das Leben auch nur eines dieser Männer wert, und schon gar nicht dreißig Leben“, antwortet sie. „Das verstehen Sie doch gewiss?“

Aber Sunny Jim sah sehr störrisch drein. Er hatte schon ihren Großvater und Vater gekannt und war nicht der Mann, der sich einfach aus dem Staub machte.

„Gebt uns die Frau, dann lassen wir euch ungeschoren“, sagte North.

„Meint ihr, wir glauben das?“, rief Sunny Jim höhnisch.

„Solltet ihr besser, es ist die Wahrheit. Ich bin weder an dem Schiff noch an seiner Mannschaft als Beute interessiert. Mein Auftrag ist nur, La Voile zu fangen.“

Sie spürte, dass ihre Leute Hoffnung schöpften. Sie wollten North nur zu gern glauben. Das wusste sie, denn ihr ging es ebenso. Aber eigentlich konnte man ihm nicht vertrauen. Wenn ihm danach ist, kann er die Männer sowieso alle töten und mich trotzdem mitnehmen, dachte Kate.

Das wusste auch Sunny Jim, war aber immer noch unentschlossen.

„Du musst mich ihm überlassen“, sagte sie gespielt flehend, obwohl es doch in Wahrheit der Befehl war, den er brauchte.

Er nickte und sah sie mit seinen sanften alten Augen an, in denen Einverständnis und Salut gleichermaßen zu erkennen waren. „Wenn Sie sie so unbedingt wollen, nehmen Sie sie. Und beten wir, dass Sie nicht lügen, Captain North.“ Er spielte seine Rolle gut, indem er sie mit einem heftigen Stoß North entgegenschleuderte.

Kate stolperte und wäre beinahe gefallen, doch North fing sie auf und zog sie mit einer einzigen Bewegung hinter seinen Rücken

„Ah, ich lüge nicht, Mr. Pirat. Nur keine Angst“, sagte er kühl. Sie hörte die Ironie in seinem Tonfall.

Seine Stimme klang jedoch ernst, als er den Geistlichen ansah und befahl: „Bringen Sie die Dame in Sicherheit, Reverend Dr. Gunner.“

Der Mann winkte ihr voranzugehen, und ihr blieb nichts übrig, als ihm zu folgen, den Schutz der „Coyote“ zurückzulassen und gespielt willig die Planke zu überqueren, die ihre Welt von der seinen trennte.

Auf dem britischen Schoner stand Kate an der Reling und klammerte sich so fest daran, dass ihre Finger schmerzten. Sie beobachtete North und fragte sich, was noch kommen würde.

Die Männer, die auf Norths Schiff gefangen worden waren, wurden über die Planke zurück zur „Coyote“ gebracht. Kniend mussten sie sich dort alle aufreihen, die meisten immer noch gefesselt und geknebelt. Kate verspürte Übelkeit, eisige Furcht hatte sie erfasst. Sie konnte den Blick nicht vom Deck ihres Schiffes abwenden.

„Wird er sie töten?“, fragte sie den Geistlichen.

„North lügt nicht. Er wird ihnen nicht das Leben nehmen, Ma’am.“

Doch Kate konnte ihm einfach nicht trauen.

North hob die Hand, in der er den Säbel hielt.

Ihr Herzschlag setzte aus.

Doch er vergoss kein Blut, wie sie insgeheim gefürchtet hatte, sondern hielt sein Wort. Er schob den Säbel in die Scheide und kehrte zu seinem eigenen Schiff zurück. In weniger als einer Minute waren die beiden Schoner getrennt, nachdem die Planke samt der teuren Enterhaken im Meer gelandet waren.

Während Norths Schiff sorgfältig von der „Coyote“ fort manövriert wurde, löste Kate ihren Blick nicht von dem Sunny Jims, keiner von ihnen wagte es, auch das kleinste Zeichen zu geben. Hinter sich hörte sie das Knarren der Takelage, das Knattern der sich blähenden Segel und die Geräusche geschäftig werkelnder Männer. Und vor ihr verbreiterte sich der Abstand drastisch, da Norths Schiff Fahrt aufnahm.

Ihr war bewusst, dass North und der Geistliche sich irgendwo hinter ihr befanden, doch sie sah sich nicht um. Sie stand einfach da, während der Wind die Segel blähte, das Schiff antrieb und die „Coyote“ weiter und weiter zurückließ.

Bis schließlich ein Schatten über sie fiel und sie wusste, dass North neben ihr an der Reling stand.

Ein Augenblick. Ein tiefer Atemzug.

Zwei Augenblicke. Sie schluckte und verbarg ihre Gefühle.

Erst dann wandte sie sich dem Mann zu, der der berüchtigte Piratenjäger North war.

Mit einer Ruhe und Gelassenheit, die ihre Anspannung verstärkte, schauten diese dunklen Augen direkt in die ihren.

„North. Captain Kit North“, stellte er sich unnötigerweise vor. „Mit dem Auftrag der britischen Admiralität, den Piraten La Voile gefangen zu nehmen.“

Unmerklich zögerte Kate, dann sagte sie: „Mrs. Kate Medhurst.“ Sie benutzte ihren richtigen Namen, denn sie wusste, der würde ihm nichts sagen, und eine erfolgreiche Täuschung gelang am besten, wenn man so nah wie möglich bei der Wahrheit blieb.

Er ergriff ihre Hand, und allein seine Finger zu spüren ließ sie leicht erzittern.

„Ihnen ist kalt, Mrs. Medhurst, nun, da wir Fahrt aufnehmen.“

Wie abscheulich, dass er diese winzige Schwäche bemerkt hatte! „Ein wenig“, gab sie zu, obwohl es nicht der Wind war, der sie erschauern ließ.

Ehe sie ihn aufhalten konnte, hatte er seinen Rock ausgezogen und ihn ihr um die Schultern gelegt.

Seine Wärme haftete noch daran, und allzu stark nahm sie seinen Duft wahr – Leder und Seife, Sonne und Mann. Er umfing sie, hüllte sie ein. Vermittelte eine Nähe, einer intimen Geste gleich, die sie mit keinem Mann teilen wollte und mit ihm schon gar nicht. Es juckte sie in den Fingern, den Rock abzuwerfen, ihm vor die Füße zu schleudern, diesem stattlichen Engländer mit dem harten Blick, der in mehr Dingen ihr Feind war, als für ihn vorstellbar. Doch natürlich konnte sie sich solche Gefühlsausbrüche nicht leisten und hielt sich so sorgsam im Zaum wie eh und je.

„Danke“, sagte sie ernst.

„Bei uns sind Sie sicher.“

Sicher? Welche Ironie! Sie hätte gelacht, wäre die Lage nicht so fatal. „Obwohl ich Amerikanerin bin? Und zwischen unseren beiden Ländern …“, sie zögerte, „… Unstimmigkeit herrscht?“

„Trotz alledem.“ Ein kaum merkliches Lächeln stahl sich um den harten Mund. „Sie sind auf der ‚Raven‘ willkommen, Mrs. Kate Medhurst.“

„Die ‚Raven‘“, sagte sie leise. Natürlich!

„So heißt das Schiff.“

Ach, hätte sie den Namen nur gesehen, sie wäre ganz entschieden anders vorgegangen!

„Auf der ‚Coyote‘ hörte ich, Ihr Schiff hätte keinen Namen getragen.“

„Den sollte La Voile auch nicht sehen.“

„Es war eine Falle“, murmelte sie langsam, ihr fröstelte ob seiner eiskalten Berechnung.

North lächelte. „Der Name hätte ihn abgeschreckt.“

„Ja“, pflichtete sie ihm bei. „Ganz gewiss. Warum nur La Voile und nicht auch das Schiff samt der Mannschaft? Warum lassen Sie den größeren Teil der Beute zurück?“

„Sie interessiert mich nicht. Mein Auftrag ist, La Voile dingfest zu machen und nur ihn.“

„Mir war nicht bewusst, dass er den Briten so wichtig ist. Verglichen mit Jean Lafitte ist er doch sicher nur ein kleiner Fisch?“

„Groß genug und mit dem Potenzial, eine antibritische Leitfigur zu werden, viel eher als Lafitte. Die Admiralität will das Haupt der Bewegung entfernen, sodass der Rest ein Bild der Führungslosigkeit und Machtlosigkeit ergibt. Mit einem Mann wird man außerdem besser fertig als mit einer ganzen Mannschaft. Und ein Schiff muss manövriert werden.“

„Das mag sein.“

Einen Moment noch hielt sie seinem Blick stand, schaute der Gefahr ins Auge und sah die erbarmungslose, dunkle, unfehlbare Kraft darin. Sie schluckte.

Der Augenblick schien endlos.

„Reverend Dr. Gunner wird Sie zu einer Kabine unter Deck geleiten, wo Sie ruhen können. Wenn Sie mich nun entschuldigen …“

Sie schlüpfte aus seinem Leibrock, froh, ihn zurückgeben zu können.

Kurz neigte North den Kopf, dann entfernte er sich, um zu seinen Leuten zu sprechen.

Kate spürte, wie ihre Anspannung nachließ, langsam stieß sie den Atem aus. Ihr war nicht bewusst, dass sie die Luft angehalten hatte.

„Mrs. Medhurst … Ma’am.“ Der Reverend trat neben sie.

Ein letzter sehnsüchtiger, hoffender Blick hinaus über das Meer, wo die „Coyote“ und damit ihre Sicherheit nur noch ein winziger Umriss am Horizont war.

Der Geistliche sah, wohin ihr Blick sich richtete, und missdeutete ihn. „Bei uns sind Sie wirklich sicher.“

„Das beteuerte Captain North auch.“ Doch wenn North klar würde, wer sie tatsächlich war, was sie war … nämlich Captain Le Voile, als den sie sich immer gesehen hatte. Nur ein feiner Unterschied zu La Voile, doch für sie so wichtig. Le Voile oder La Voile … für Captain North spielte es keine Rolle. So oder so war sie der Piratenkapitän der „Coyote“, den er suchte.

Bei uns sind Sie wirklich sicher.

Kate lächelte spöttisch. Denn wo könnte es gefährlicher sein als hier auf der „Raven“ mit dem todbringenden britischen Piratenjäger, der ausgeschickt worden war, sie zu fangen.

Ein ernüchternder Gedanke.

Sie verdrängte ihn hastig und folgte Reverend Gunner unter Deck.

2. KAPITEL

Ich habe sie in meine Kabine gebracht. Ich schlafe dann an Deck bei den Männern.“ Gunner saß entspannt in der Kapitänskajüte auf einem schlichten hölzernen Stuhl. Er zog eine silberne Taschenflasche hervor, öffnete sie und bot sie Kit der Form halber an. Beide wussten sie, dass er ablehnen würde.

„Du weißt, da in dem Winkel ist eine Koje, da kannst du gerne schlafen.“ Kit nahm seinen Platz hinter dem einfachen Schreibtisch aus Mahagoniholz ein.

„Meinst du, ich käme nicht mit einer Hängematte zurecht?“ Gunner nahm einen Schluck Brandy.

„So etwas verlernt man nicht.“ Kit dachte an die vergangenen Jahre und was sie ihnen beiden beschert hatten.

„Ganz bestimmt nicht.“ Gunner grinste. „Man wird uns in den verfluchten Dingern begraben.“

Kit lächelte. „Zweifellos.“ Er stand auf und ging zu dem Fenster, das hinaus auf die See zeigte. „Wie geht es unserem Gast?“

„Ruht. Sie ist bemerkenswert widerstandsfähig. Die meisten Frauen würden in Ohnmacht fallen bei der leisesten Andeutung dessen, was sie durchgemacht hat. Aber vielleicht ist es ihr in all dem Schrecken noch gar nicht bewusst geworden. So etwas haben wir alle schon nach schlimmen Erlebnissen gesehen.“ Gunner trat zu seinem Freund und sah ihm bedeutungsvoll in die Augen. Beide erinnerten sie sich an die Schrecknisse des einen Jahres in jenem Höllenloch im Fernen Osten.

„Ist sie irgendwie körperlich verletzt?“

„Zumindest nicht sichtbar. Ich sagte ihr natürlich, dass ich Arzt bin, und fragte, ob sie meine Hilfe dahingehend benötigte, aber sie lehnte ab und behauptete, es gehe ihr gut.“

„Eine Frau allein mit einer ganzen Besatzung von Piraten … Wie gut kann es ihr gehen?“

Angewidert verzog Gunner den Mund. „Ich bin ziemlich froh, dass du La Voile getötet hast.“

„Ich nicht. In London würden sie ihn so oder so getötet haben.“ Und ihm wäre das zusätzliche Geld für die Auslieferung des lebendigen Piratenkapitäns willkommen gewesen.

„Immer das Geld.“

„Ja, immer das Geld“, pflichtete Kit ihm bei und dachte daran, was ihm dieser letzte Auftrag ermöglichen würde. All das Planen und Arbeiten und Knausern, bis das Ziel in Sicht war, und es wurde höchste Zeit. Er verdrängte den Gedanken vorerst. „Ich lasse die Koje für dich herrichten und Platz für deine Sachen schaffen. Und jetzt entschuldige, ich muss an die Arbeit.“

„Und immer Arbeit“, sagte Gunner.

„Keine Ruhe für den Sünder.“ Ja, dachte Kit sarkastisch, in der Tat keine Ruhe. Niemals. „La Voile ist tot, der Auftrag ist erledigt. Wir segeln zurück nach England und streichen unsere Prämie ein.“

„Und Mrs. Medhurst? Wir können in keinem amerikanischen Hafen anlegen. Wir würden uns mit den zahllosen französischen Freibeutern anlegen müssen, die die Küste verunsichern. Selbst die ‚Raven‘ mit all ihren Trümpfen wäre dem nicht gewachsen.“

Kit lächelte. „Wir setzen die Frau auf Antigua an Land, wenn wir Proviant aufnehmen. In Fort Berkeley wird man für ihre Heimkehr sorgen.“

„Guter Plan. Aber wir hatten so lange keine ehrbare Frau mehr unter uns, dass man nur Spekulationen darüber anstellen kann, wie sie unsere Heimreise angenehmer gestaltet hätte. Bestimmt hätten sich die Männer ihres besten Betragens erinnert.“

„Mein Freund“, sagte Kit trocken, „du warst zu lange fort von daheim.“

„Vielleicht.“ Lächelnd ging Gunner hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Kit kehrte an seinen Schreibtisch mit den Seekarten darauf zurück, doch ehe er sich auf die Navigation konzentrierte, dachte er erneut an Kate Medhurst mit ihren kühlen grauen Augen: stolz, taxierend, wachsam und mit jener ein wenig stacheligen Feindseligkeit unter der Oberfläche.

Die Unstimmigkeiten zwischen unseren Ländern. Die Floskel erheiterte ihn. Durch welche Umstände hatte eine Frau wie sie von Piraten entführt werden können? Und mehr noch, wie war es ihr auf deren Schiff ergangen? Denn trotz der Charakterstärke, die sie ausstrahlte, war sie doch keine kräftige Frau. Rein körperlich hätte sie keine Chance gehabt.

Vielleicht hatte Gunner recht, was La Voile betraf. Kit erinnerte sich, wie seine Klinge das Herz des Schurken durchbohrt hatte. Vielleicht war es den Verlust der zusätzlichen Goldguineen wert.

Er lächelte grimmig und wandte sich endlich den Seekarten zu.

Kate zwang sich, nicht länger in der kleinen Kabine, in der man sie untergebracht hatte, auf und ab zu laufen. Sie setzte sich an den schmalen Schreibtisch und befahl sich, die Panik zu unterdrücken, die sie körperlich wie geistig überrollt hatte. Sei ruhig. Denk nach.

Sie musterte die diversen Bücher auf dem an der Wand befestigten Bord. Medizinische Werke, Gebetbücher, eine Bibel. Auf der Tischplatte Papier, Feder und Tinte, ein kleines Federmesser. Vorsichtig berührte sie dessen Klinge mit dem Daumen. Es war rasiermesserscharf, potenziell eine nützliche Waffe, doch nichts im Verhältnis zu ihren eigenen. Die Holster, mit ledernen Gurten an ihre Schenkel geschnallt, und deren kostbarer Inhalt gaben ihr eine gewisse Zuversicht. Wenn es sein musste, würde sie, ohne zu zögern, Messer oder Pistole gegen North einsetzen. Allerdings nahm sie nicht an, dass es so weit kommen würde.

Die „Coyote“ würde sie zurückholen. Sie hätte es getan, wenn einer ihre Leute gefangen genommen worden wäre. Sich neu aufstellen, neu bewaffnen, Verfolgung außer Sichtweite und dann der rasche Angriff. So würde es auch Sunny Jim machen. Sie kannte ihre Männer. Sie würden sie nicht im Stich lassen.

Sie würden kommen, und es war entscheidend, dass sie vorbereitet war. Sie musste nur Ausschau halten, abwarten und nicht auffallen. Es würde nicht heute sein, vermutlich nicht einmal morgen, aber bald. Es war nur eine Frage der Zeit, dann würde sie wieder auf ihrem eigenen Schiff sein, vielleicht sogar mit Captain North als ihrem Gefangenen. Die Vorstellung entlockte ihr ein Lächeln. Die Brüder Lafitte, jene Männer, die beinahe sämtliche Aktionen der Schmuggler, Piraten und Freibeuter rund um Louisiana überwachten, würden gut für ihn zahlen. Wieder lächelte sie. Wenn North ausgeschaltet war, wäre die See für alle um einiges sicherer. Der Gedanke gab ihr Auftrieb.

Am Abend schützte sie Erschöpfung vor, um nicht am Dinner teilnehmen zu müssen, sondern aß, was man ihr hinunter in die Kabine geschickt hatte. Heute Nacht würde die „Coyote“ nicht kommen, und was North betraf … vor ihrem geistigen Auge waberte ein Bild von ihm, und sie verspürte ein seltsames Flattern in ihrem Magen. Ihm wieder gegenüberzutreten, würde sie bis morgen aufschieben.

Doch am nächsten Morgen war North nicht zu sehen. Reverend Gunner saß mit ihr beim Frühstück, und er bot ihr an, sie auf der „Raven“ herumzuführen. Kate nahm an, denn die Informationen würden für die „Coyote“ wie für alle anderen Piraten und Freibeuter von Nutzen sein.

„Mir ist aufgefallen, dass Captain North nicht beim Frühstück war.“

„North frühstückt nicht. Er ist ein Mann mit geringen Bedürfnissen. Er nimmt stets nur eine Mahlzeit am Tag ein.“

„Ein Mann von geringen Bedürfnissen … Was noch können Sie mir über den berühmten Captain North sagen?“

„Was möchten Sie sonst noch wissen?“ Erst sein forschender Blick ließ sie erkennen, wie ihre Frage geklungen hatte.

„Alles über dieses Schiff.“

Reverend Dr. Gunner tat ihr nur zu gern den Gefallen.

Die „Raven“ war größer als die „Coyote“, so auch das Unterdeck. Es gab kein Frachtgut, doch dafür Kanonen. Viel bessere als die, über die die „Coyote“ verfügte. So viel besser, dass ihr vor Schreck ganz kalt wurde. Zwei Reihen Kanonen, die üblichen, aber auch große Neunpfünder, ja, sogar Achtzehnpfünder, zwei davon im Bug, um noch den fliehenden Feind treffen zu können. Sie sah auch Langruder, ordentlich nebeneinander gelagert und bereit zum Einsatz, sodass sich ihr fast die Haare sträubten.

„Sie haben Ruder“, sagte sie schwach.

„Bei Flaute sind die manchmal ganz praktisch. Und wir haben genug Leute, sie auch zu bedienen.“ Gunner lächelte. „Sie geben zudem zusätzlichen Ballast, damit wir tief im Wasser liegen“, erklärte er. „Um die Illusion zu erzeugen, dass wir schwere Fracht mitführen.“

„Sie geben bewusst vor, ein Handelsschiff zu sein.“

„Captain Norths Idee. Er meinte, wenn man ein ganzes Meer nach La Voile absuchen muss, wäre es am einfachsten, ihn zu ködern. Er sagte, es werde funktionieren.“

„Was es tat.“ Wie kühl und schlau North sich das doch ausgerechnet hatte! Und wie leichtgläubig und naiv sie ihm in die Falle gegangen war! Es überlief sie kalt.

„Ja, in der Tat, Mrs. Medhurst.“ Gunners Lächeln war offen und natürlich. Er führte sie in einen Raum, in dem es zahlreiche ärztliche Instrumente gab, wie in einem Spital. Während er sprach, sah sie sich alles an, bis ihr Blick an einem großen versiegelten Fass hängen blieb. Jäh zeigte Gunners Ausdruck Mitgefühl. Rasch schlug er vor, nun hinauf auf das Oberdeck zu gehen, und bestätigte so ihren Verdacht bezüglich des makabren Inhalts dieses Behältnisses. Erleichtert folgte sie ihm die Stiege hinauf zu frischer Luft und hellem Sonnenschein. Aber die Erleichterung währte nicht lange.

North war schon an Deck und kümmerte sich um die morgendliche Navigation, sichtlich ein Mann, der in seine Aufgabe vertieft war. Auf seiner Schulter saß mit seinem bläulich schimmernden Gefieder der Rabe.

Heute Morgen trug North ein weißes Hemd; er war glatt rasiert und ohne Hut, Kate bemerkte, dass die Sonne rötliche Strähnen in sein dunkles Haar gebrannt hatte. Im klaren Morgenlicht hatten seine golden gebräunten Züge unleugbar eine harsche Schönheit. Doch auch eine Klapperschlange war schön; was nicht hieß, dass man sie deshalb mögen würde.

Dann bemerkte North sie, heftete seine allzu scharfsichtigen Augen in einer Art auf sie, dass ihr Magen sich verkrampfte und ihr die Handflächen feucht wurden.

Er nickte kurz und entgegenkommend, ohne jedoch zu lächeln. Tatsächlich war seine Miene ernst, streng beinahe. Und zu ihrer Erleichterung machte er auch keine Anstalten, sich ihr zu nähern, sondern wandte sich wieder seinen Messungen und Berechnungen zu.

„Machen Sie sich nichts daraus. So ist North zu allen“, meinte Gunner gutmütig. „Er gehört zu denen, die das Leben zu ernst nehmen und zu viel arbeiten.“

Während sie dem Geistlichen zum Heck des Schiffes folgte, spähte Kate hinaus auf den Ozean und sah in der Ferne nichts als die vertrauten Konturen einiger felsiger Inselchen.

Sie lehnte sich gegen die Reling und schaute hinaus auf das Meer. Es anzuschauen, sich darauf zu befinden, verfehlte nie, sie zu trösten. Ihr Blick fiel auf die großen Lettern mit dem Namen des Schiffes. Deutlich hoben sie sich in leuchtendem Weiß vom schwarzen Anstrich des Hecks ab: „Raven“.

„Als die Piraten sich näherten, war kein Name an dem Schiff.“ Fragend sah sie den Geistlichen an. „Ich bin mir ganz sicher, Sir.“ War sie sich dessen wirklich sicher? Hatte ein schwerer Fehler ihrerseits sie alle in diese Lage gebracht? „Wenigstens dachte ich, ich hätte nichts gesehen, und ich hielt wirklich Ausschau, um zu sehen, wer Sie waren.“

Autor

Margaret Mc Phee
<p>Margaret McPhee lebt mit ihrem Ehemann an der Westküste Schottlands. Ganz besonders stolz ist sie auf ihre Kaninchendame Gwinnie, die mit ihren acht Jahren eine alte Lady unter ihren Artgenossen ist. Als Wissenschaftlerin ausgebildet, hatte sie trotzdem immer eine romantische Ader. Ihrem Mann begegnete sie zum ersten Mal auf der...
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