Das Verlangen des Jägers

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Die Aufgabe des Jägers Caine ist klar gesteckt: Er soll Lenna, die Manifestation der Tarotkarte »Kraft«, vom Planeten der Menschen zurück in ihre magische Dimension verweisen. Doch als er ihr zum ersten Mal begegnet, kann Caine sein Begehren nach ihrer Nähe kaum zügeln. Um keinen Preis darf er sich seinem Verlangen ergeben, wenn er den Auftrag beenden will. Aber Lenna ist nicht nur unglaublich sexy, sondern auch verdammt stur, und weigert sich, sofort mit ihm zu gehen. Dabei ist Caine nicht der Einzige, der Jagd auf sie macht. Ihm bleibt nicht mehr viel Zeit, um Lenna vor den dunklen Mächten zu retten.

»Linda Howard verbindet heißen Sex, Emotionen und ergreifende Spannung.« Publishers Weekly

»Das Buch hat alles, was gute Unterhaltung braucht: den Kampf zwischen Gut und Böse, Spannung und Fantasy, Action, Humor und erotisches Dauerknistern zwischen den beiden Superhelden Lenna und Cain.« erotik-couch.de


  • Erscheinungstag 03.04.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768027
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Elijahs Nase lief. Er wischte sie am Bettlaken ab, obwohl er wusste, dass seiner Mom das nicht gefallen würde. Er war sauer auf sie, deshalb war es ihm egal. Es war sowieso ihre Schuld, dass er weinte. Und würde er nicht weinen, dann würde seine Nase auch nicht laufen. Die Unterlippe ein wenig vorgeschoben, schniefte er bedauernd und hoffte beinahe, dass noch mehr Rotz aus seiner Nase laufen würde, damit er sie noch einmal mit dem Laken putzen konnte.

Es war gemein von ihr, dass sie ihn ins Bett geschickt hatte. Er wollte mit Onkel Bobby spielen. Schließlich war morgen keine Schule. Sie hatten noch eine weitere Woche Weihnachtsferien, und Mom ließ ihn am Wochenende immer länger aufbleiben. Aber an diesem Tag hatte sie ihn noch vor seiner üblichen Schlafenszeit ins Bett geschickt, als Sammy vorbeigekommen war. Inzwischen war Sammy wieder gegangen. Stattdessen war nun Onkel Bobby da, aber sie erlaubte trotzdem nicht, dass er aufblieb. Dabei war er schon sieben, also kein Baby mehr. Es war einfach nicht fair!

Voller Empörung wischte er sich die Tränen aus den Augen. Onkel Bobby spielte immer mit ihm. Er legte sich auf den Boden und kämpfte mit Elijah. Außerdem brachte er Süßigkeiten mit und coole Sachen, mit denen man spielen konnte. Wenn Mom sich darüber aufregte, sagte er immer: »Aber Amber …« – so hieß Mom –, »ein Junge muss doch ein bisschen Spaß haben.« Dann zerzauste er Elijahs Haare und meinte: »Stimmt’s, Sohn?«

Es machte Elijah immer richtig glücklich, wenn Onkel Bobby ihn »Sohn« nannte. Das tat sonst keiner. Onkel Bobby hatte ihm sogar etwas zu Weihnachten geschenkt. Einen Captain America, einen ganz großen. Es war allerdings keine Puppe, sondern eine Actionfigur. Mädchen spielten mit Puppen, Jungs mit Actionfiguren.

Ein paar Mal hatte er seine Mom schon gefragt, wer sein richtiger Vater sei, aber sie hatte immer gemeint, dass sie ohne ihn besser dran wären. Sie hatte dabei immer richtig wütend ausgesehen, und deshalb traute er sich nicht mehr zu fragen, obwohl er seinen Dad eines Tages gerne einmal kennenlernen würde. Die anderen Jungs in seiner Klasse hatten alle einen Dad, auch wenn sie nicht immer im selben Haus lebten. Keiner von Moms anderen Freunden hatte ihn je »Sohn« genannt, so wie Onkel Bobby. Mom sagte, dass er nicht über die anderen Besucher sprechen dürfte, besonders dann nicht, wenn Onkel Bobby da war. Dabei mochte er Onkel Bobby viel lieber als diesen blöden Sammy. Sammy war nie nett zu ihm, und seine Mom schickte ihn immer nach oben zum Spielen, wenn Sammy da war. Er durfte dann nie herunterkommen, sonst würde sie ihm den Hintern versohlen. So etwas sagte sie nie, wenn Onkel Bobby kam.

Sammy war gerade erst hier gewesen, deshalb hatte Mom ihn überhaupt erst ins Bett geschickt. Aber Elijah hatte nicht geschlafen. Kaum hatte seine Mom das Zimmer verlassen, war er aufgestanden, hatte das Licht angeschaltet und mit seinen Transformers gespielt, die er gegen die Avengers kämpfen ließ. Eigentlich mochte er die Avengers lieber und ließ sie deshalb gewinnen, doch diesmal verlief das Spiel anders. Nach einem langen Kampf setzten die Transformers sich schließlich durch.

Sammy hatte ihm nicht einmal ein Weihnachtsgeschenk gekauft.

Dann war Sammy gegangen, und Onkel Bobby war kurz danach vorbeigekommen. Als Elijah seine Stimme gehört hatte, war er aufgeregt nach unten gelaufen. Sicher würde seine Mom ihn jetzt aufbleiben lassen. Doch stattdessen war sie wütend geworden und hatte ihn wieder ins Bett geschickt.

Er war so beschäftigt damit, wie ungerecht er behandelt worden war, dass er zunächst nicht auf den dumpfen Knall unten achtete. Erst beim zweiten Mal hob er den Kopf und lauschte angestrengt. Mom sollte besser nicht mit Onkel Bobby kämpfen, dachte er. Denn das tat er doch mit Onkel Bobby. Trotzdem, es hörte sich genau danach an, was er so ungerecht fand, dass er aus dem Bett hochschoss. Nun stand er da, in der Dunkelheit. Na ja, ganz dunkel war es nicht, weil das Nachtlicht schien, das aussah wie ein Basketball. Es war nie ganz dunkel in seinem Zimmer. Er hatte seiner Mom zwar gesagt, dass er schon zu groß für so etwas sei, aber in diesem Moment war er insgeheim froh, dass sie es ihm noch dagelassen hatte.

Jetzt hörte er Geräusche, die er nicht identifizieren konnte. Es klang wie ein Schrei, aber kein richtiger Schrei, sondern eher so, als würde jemand husten. Schließlich hörte er eindeutig, dass Glas zerbrach.

Sie kämpften tatsächlich miteinander! Hatten etwas zerbrochen. Er hatte noch nie etwas dabei kaputt gemacht!

Auf Zehenspitzen ging Elijah zur Tür, schob sie auf und lauschte wieder angestrengt. Aus dem Wohnzimmer fiel Licht in den Flur und auf die Treppe. Seine nackten Füße machten kein Geräusch, als er die Stufen hinunterschlich. Er würde nur kurz um die Ecke spähen, um nachzusehen, ob sie miteinander rangen. Und wenn ja, würde er … Er wusste nicht, was er dann tun würde. Vielleicht irgendetwas kaputt machen, um Mom zu zeigen, wie sauer er war.

Obwohl Weihnachten schon vorbei war, stand der Christbaum noch immer im Wohnzimmer, und die kleinen weißen Lämpchen leuchteten. Allerdings konnte er nur ein kleines Stück des Tannenbaums sehen, als er unten an der Treppe ankam. Doch der Baum gab ihm ein gutes Gefühl, als wäre es noch ein bisschen länger Weihnachten, auch wenn er wütend war, weil er nicht mit Onkel Bobby spielen durfte.

In diesem Moment hörte er ein hämmerndes Geräusch, als ob etwas auf den Boden geschlagen wurde. Elijah wusste, wie man sich lautlos anschlich, das hatte er im Fernsehen gesehen. Die Leute in den Filmen hielten sich immer nah an der Wand und rückten Stück für Stück näher. Da an der Wand jedoch ein Tisch stand, konnte er sich nicht auf diese Weise heranpirschen. Stattdessen krabbelte er auf Händen und Knien weiter vor. Vorsichtig schob er den Kopf um die Ecke, gerade nur so weit, dass er sehen konnte, was sie machten.

Verwirrt starrte er zu den beiden hinüber. Ob sie wirklich miteinander rangen, konnte er nicht sagen. Mom lag flach mit dem Rücken auf dem Boden. Ihre Absätze, die sie langsam immer wieder gegen den Boden schlug, verursachten das klackernde Geräusch. Onkel Bobby saß auf ihr. Seine Hände lagen um ihren Hals, und es sah aus, als würde er sie schütteln. Moms Gesicht hatte eine seltsame dunkle Farbe angenommen, so seltsam, dass er zuerst überlegte, ob es tatsächlich seine Mom war. Was war los mit ihr? Ihr Kopf bewegte sich zur Seite, und sie sah ihn. Zumindest glaubte er, dass sie ihn sah, doch sie sagte kein einziges Wort.

Sie umklammerte Onkel Bobbys Handgelenke, doch dann löste sie den Griff und versuchte, gegen seine Arme zu schlagen, traf ihn aber nicht richtig. Schließlich ließ sie die Hände kraftlos sinken. Ihre Beine bewegten sich langsamer, immer langsamer, dann war es nur noch ein Fuß, der auf den Boden klopfte, leiser und leiser. Schließlich hörte das Geräusch auf, ihr Fuß bewegte sich nicht mehr. Ihre Zunge hing ein kleines Stück aus dem Mund, und ihre Augen …

Ihre Augen sahen aus wie die von seinem Hund Bosco, als das Tier letztes Jahr von einem Auto angefahren worden war. Sie waren geöffnet, aber sie sahen nichts mehr.

Elijah wusste, was »tot« hieß. Bosco war tot.

Onkel Bobby atmete schwer, und Schweiß lief ihm übers Gesicht. Er sah richtig wütend aus, wie er die Lippen schürzte, seine Augen waren nur noch schmale Schlitze. Er hörte nicht auf, Moms Hals zuzudrücken. Schlug ihren Kopf auf den Boden, zweimal.

Mom war tot.

Onkel Bobby hatte ihr wehgetan, und Mom war tot.

Schiere Panik erfasste Elijah. Was sollte er ohne Mom machen? Er wollte, dass sie aufstand und lachte und sagte, dass sie nur Spaß gemacht hätte. Er wollte, dass sie ihn besonders fest in ihre Arme nahm, so wie sie es manchmal tat. Und er musste dann immer lachen, wenn sie ihn dabei hin und her schwang. Seine Mom konnte einfach nicht tot sein.

Doch sie war es.

Er wollte ihre toten Augen nicht länger sehen. Obwohl er sich vor Schreck kaum bewegen konnte, kroch er langsam auf Händen und Knien rückwärts, ohne zu wissen, wohin. Eigentlich hatte er nach oben laufen und sich in seinem Zimmer verstecken wollen. Doch plötzlich spürte er eine kalte Fliese unter seinen Händen und wusste, dass er sich in der Küche befand. Das Licht war zwar ausgeschaltet, aber die kleinen elektrischen Uhren an der Mikrowelle und dem Herd leuchteten, sodass er ein bisschen sehen konnte. Völlig verwirrt sah er sich um. Was sollte er hier? Ob er sich in sein Schlafzimmer schleichen könnte?

Plötzlich fiel ein Schatten auf die Fliesen, und Onkel Bobbys schwere Schritte waren zu hören. Er war aus dem Wohnzimmer gekommen und ging nun die Treppe hinauf.

Elijah hätte beinahe entsetzt aufgeschrien und presste die Lippen fest zusammen, damit kein Ton herauskommen konnte. Er hörte sich selbst atmen. Ob Onkel Bobby ihn auch atmen hören konnte? Würde er seine großen Hände um Elijahs Hals legen und zudrücken und ihn schütteln, so wie er es bei Mom getan hatte?

Er konnte nicht nach oben gehen, denn Onkel Bobby war dort. Also musste er wegrennen und sich verstecken; richtig gut verstecken, sonst würde Onkel Bobby ihn finden. Und dann wären seine Augen genauso tot wie die von Mom und Bosco.

Tot.

Mom war tot.

Elijahs Brust hob und senkte sich, doch er würde nicht weinen. Er musste ganz still sein und mutig und sehr schnell. So wie Captain America.

Er richtete sich auf und kroch zur Küchentür. Dann stellte er sich auf die Zehenspitzen, um den Türriegel erreichen zu können, den Mom immer zumachte, sobald es dunkel wurde. Langsam schob er ihn zurück. Er hörte ein metallisches Klicken und erstarrte. Doch er wagte es nicht, sich umzudrehen, denn Onkel Bobby könnte ihn gehört haben und sich ihn schnappen. Doch nichts geschah. Mit zitternden Fingern drehte er den Knauf um. So leise wie möglich öffnete er die Tür. Kalte Luft drang durch den schmalen Spalt. Da er dünn war, das hatte Mom jedenfalls immer gesagt, musste er die Tür nicht weit aufschieben. Er schlüpfte hinaus. Der kalte Betonboden auf der Veranda schmerzte an seinen nackten Füßen, doch er konnte nicht wieder zurück ins Haus gehen. Also schoss er über die Terrasse nach hinten in den Garten.

Elijah rannte. Das Gras, steif vor Frost, kratzte, und seine Füße waren jetzt ganz kalt, aber er würde nicht stehen bleiben. Er konnte nicht zurück. Konnte und würde nicht zurückgehen. Sein Herz schlug so schnell, dass seine Brust wehtat. Beinahe glaubte er, sie würde explodieren von all den Tränen, die sich in ihm angesammelt hatten. Doch er hielt sie zurück. Captain America, dachte er verzweifelt. Captain America würde auch nicht weinen.

Statt an das zu denken, was er eben gesehen hatte, konzentrierte er sich auf den Weg. Es war dunkel, und er hatte Angst. Noch nie war er im Dunklen draußen gewesen, denn seine Mom hatte das nicht erlaubt. Doch er kannte sich in dieser Gegend aus, selbst im spärlichen Abendlicht. Er rannte durch Miss Sallys Garten hinten an dem Beet vorbei, wo sonst ihre blöden Blumen standen, die jedoch in der Kälte erfroren waren. Sie schimpfte immer mit ihm, wenn sein Ball in ihren Blumen landete. Wahrscheinlich war sie zu Hause, aber er wollte nicht an ihre Terrassentür klopfen oder vorne an der Haustür klingeln. Im Haus war es dunkel. Vielleicht schlief sie schon. Sonst hätte sie ihn bestimmt wieder angeschrien.

Außerdem wusste er, wohin er gehen musste. Durch diesen Garten und dann quer rüber zum Bürgersteig, weil das Grundstück der alten Leute, die im Nachbarhaus lebten, eingezäunt war. Sie hatten einen Hund, und Elijah fragte sich, ob der anfangen würde zu bellen. Aber das Tier gab keinen Laut von sich. Als er über die Straße rannte, sah er sich nach links und rechts um. Ein paar Weihnachtslichter brannten noch, aber die meisten Häuser lagen im Dunkeln. Er war sicher, dass niemand ihn gesehen hatte.

Erst als Elijah an einer Straßenlaterne vorbeilief, fiel ihm ein, dass Onkel Bobby vielleicht schon nach ihm suchte. Er wollte nicht, dass Onkel Bobby ihn fand, vor allem nicht hier in der Dunkelheit.

Vielleicht hätte er doch an Miss Sallys Tür klopfen sollen.

Seine Panik trieb ihn dazu, noch schneller zu rennen. Noch ein paar Schritte, dann wäre er wieder dort, wo es dunkel war. Er fühlte sich sicherer im Schatten, weil ihn dort niemand sehen konnte. Elijah rannte hinüber zu einem Vorgarten, den er sehr gut kannte. Dann lief er um die unbeleuchteten Ecken des zweistöckigen Hauses herum, das fast so aussah wie das, in dem er wohnte. Schließlich öffnete er das Törchen, das in den hinteren Garten führte. Er ließ es erst offen, ging dann aber wieder zurück, um es zu schließen. Seine kalten Finger zitterten, als er den Riegel vorschob.

Er rannte zur Hintertür, die in die Küche führte, genauso wie bei ihm zu Hause. Zitternd vor Kälte versuchte er, den Knauf umzudrehen. Doch die Tür war versperrt, und er wimmerte vor Angst. Dann fiel ihm die Hundeklappe ein. Zacks Hund Cookie zwar ziemlich groß, zwar nicht der größte Hund in dieser Gegend, aber auch kein kleiner Kläffer. Vielleicht könnte er durch die Hundeklappe kriechen.

Elijah ging auf Hände und Knie und stieß gegen die dicke Plastiktür. Vielleicht war Cookie doch nicht so groß, wie er gedacht hatte, denn die Öffnung erschien ihm schrecklich eng. Er steckte den Kopf durch die Tür, und warme Luft schlug ihm entgegen. Er schluchzte auf, weil er gleichzeitig erleichtert, voller Angst und verwirrt war. Dann schob er eine Schulter nach der anderen vor, drehte sich ein kleines Stück seitlich und zwängte sich durch die Tür, wobei er sich die Seite ein wenig aufschürfte. Schließlich plumpste er in die warme Küche. Er rollte sich über den Fliesenboden, um der Kälte, der dunklen Nacht und Onkel Bobby zu entkommen.

Die Dunkelheit und die Stille im Haus machten ihm Angst. Zack war mit seiner Familie übers Wochenende weggefahren, um mit seiner Granny noch einmal Weihnachten zu feiern. Cookie war währenddessen in einer Hundetagesbetreuung, wie Zacks Mom es genannt hatte. Elijah setzte sich auf den Boden und umklammerte seine Knie. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er allein in einem Haus war, das jemand anderem gehörte. Wenigstens … ja, wenigstens war er hier sicher. Denn Onkel Bobby war zu groß, um durch die Hundeklappe zu passen.

Seine Lippen zitterten, als ihm wieder vor Augen stand, was zu Hause passiert war. Es ergab keinen Sinn, aber er wusste, dass er es nicht geträumt hatte. Onkel Bobby war so wütend gewesen. Und seine Mom … Tränen traten Elijah in die Augen. Mom war tot. Er wollte seine Mom wiederhaben, aber ebenfalls tot sein, das wollte er nicht.

Als sich der rote Schleier vor Senator Robert Markhams Augen lichtete und die glühend heiße Wut genügend abgekühlt war, dass er wieder klar denken konnte, sah er auf seine Hände hinunter, die immer noch um Ambers Kehle lagen. Er war völlig benommen, alles fühlte sich so unwirklich an, und im ersten Moment war ihm gar nicht klar, dass es seine eigenen Hände waren. Aber sie mussten ihm gehören, weil sie sich an seinen Armen befanden. Alles war so irreal. Er konnte nicht glauben, was er sah. Er musste sich darauf konzentrieren, sich zu bewegen, sich zwingen, seine Finger zu lockern. Benommen starrte er auf die dunkelroten Flecken an Ambers Hals.

Rittlings saß er auf ihr am Boden. Er konnte sich nicht erinnern, wie sie in diese Lage geraten waren. Das Letzte, was er noch genau wusste, war, dass sie ihm ins Gesicht gespuckt hatte und er außer sich vor Wut gewesen war.

Sie war tot. Die Augen aufgerissen, ihr Blick leer, und ihre Zungenspitze hing ein kleines Stück heraus. Er hatte sie umgebracht.

Als der Schock einsetzte und seinen ganzen Körper erfasste, als hätte man ihm einen Schlag verpasst, sackte er zur Seite. Mit einem dumpfen Geräusch landete er auf dem Boden. Dann saß er da und starrte benommen auf Ambers Leiche, während er versuchte zu verstehen, was passiert war.

Der erste zusammenhängende Gedanke, der ihm kam, war: Was soll ich jetzt tun?

Wobei die eigentliche Frage lautete, wie er mit dem davonkommen könnte, was er getan hatte.

Er hatte seine Geliebte umgebracht, doch dass sie tot war, bedauerte er nicht im Geringsten. Er befürchtete nur, dass jemand herausfinden könnte, was passiert war. Hektisch blickte er sich um, als könnte er in dem umgekippten Beistelltisch, den Glasscherben vom zerbrochenen Bilderrahmen oder dem Handy, das halb unter der Couch verborgen lag, die Lösung seines Problems finden.

Roberts Hand zitterte, als er sie ausstreckte und das Handy aufhob. Ohne das Smartphone wäre all das nicht passiert. Amber würde immer noch ihren anderen Liebhaber ficken, und die beiden würden über ihn lachen, weil er so idiotisch war, sich einzubilden, eine so hübsche Frau wie Amber könnte sich etwas aus ihm machen. Doch dieses Arschloch hatte sein Mobiltelefon vergessen. Auf dem befand sich ein Video, das er von sich und Amber beim Sex gemacht hatte. Sie lachten über Robert, weil er so naiv war, ihr dieses Haus zur Verfügung zu stellen. Amber nannte ihn »KS«, und ihr Liebhaber lachte wie eine Hyäne, als sie ihm erklärte, dass es »kleiner Schwanz« bedeutete.

Er konnte das alles gar nicht fassen. Der Abend hatte so ruhig begonnen. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, bei ihr vorbeizufahren, sich aber in letzter Minute spontan dazu entschlossen, es doch zu tun, um ein paar Stunden mit ihr zu verbringen. Denn in der Weihnachtszeit war es schwer, von der Familie wegzukommen. Verdammte Feiertage, er hasste sie. Er war später angekommen als üblich, jedenfalls so spät, dass Elijah bereits im Bett gelegen hatte. Doch als er »Onkel Bobby« unten gehört hatte, war der Kleine wieder aufgestanden. Es hatte dem Jungen gar nicht gefallen, dass er von Amber wieder nach oben geschickt worden war. Im Nachhinein war Robert klar, dass sie befürchtet hatte, der Junge könnte etwas über den Besucher verraten, der vor ihm da gewesen war. Diese Schlampe – anders konnte er sie nach diesem Video nicht bezeichnen – hatte sich entschuldigt, weil sie ins Bad musste. Vermutlich wollte sie sich waschen, weil sie mit dem Typen Sex gehabt hatte, der kurz zuvor gegangen war.

Diese Vorstellung brannte nun wie Säure in ihm, doch anfangs hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht. Er hatte einfach vor dem Fernseher gesessen und durch die Sender gezappt. Bis er zur Seite geblickt und eine Ecke des Handys entdeckt hatte, das zwischen einem Kissen und der Armlehne der Couch verborgen gelegen hatte.

Er zog es heraus und starrte das Ding neugierig an. Er wusste, dass es sich nicht um Ambers Smartphone handelte, denn sie besaß ein Android mit geblümtem Gehäuse. Dieses jedoch war ein iPhone mit einer robusten schwarzen Hülle, die sich Leute zulegten, um ihr Handy vor unsanfter Behandlung zu schützen. Er drückte auf die Home-Taste. Der Bildschirm leuchtete auf und lud ihn dazu ein fortzufahren. Er tat es und rechnete damit, dass die Aufforderung erschien, den Sicherheitscode einzugeben. Stattdessen tauchte die normale Maske auf. Wem auch immer dieses Handy gehörte, er hatte es nicht gesichert.

Er verspürte den Reiz des Verbotenen. Ein entsperrtes Handy zu finden war genauso, als würde man in der Dunkelheit durch das Schlafzimmerfenster einer anderen Person spähen. Als Erstes checkte er die SMS, und die letzten Kurznachrichten leuchteten auf.

Bist du zu Hause, Baby?

Ja, hatte Amber geantwortet.

Kommt der alte Sack heute Abend?

Nein, bin allein.

Bin in 30 Minuten da.

Die Kurznachrichten stammten aus den frühen Abendstunden. Robert hatte darauf gestarrt, und kalte Wut war in ihm hochgestiegen. Er war nicht schwer von Begriff. Offensichtlich war er mit dem »alten Sack« gemeint. Und wem auch immer dieses Handy gehörte, er nannte Amber »Baby«.

Schnell scrollte er durch die anderen Nachrichten und fand noch weitere an und von Amber. Der anzügliche Tonfall der Nachrichten sprach Bände. Sie hatte ihn die ganze Zeit betrogen. Obwohl er vor Wut zitterte, versuchte er, sich zusammenzureißen. Schließlich war er verheiratet und Senator von Georgia. Sollte Amber wütend werden, könnte sie seiner Karriere erheblich schaden. Schließlich hatte er Ambitionen, Ziele, all das könnte sie zerstören.

Er wollte wissen, wer dieses Arschloch war und wie der Typ aussah. Robert liebte Amber nicht – das wäre idiotisch, denn sie war lediglich ein junges heißes Stück. Doch sollte der Typ ebenfalls verheiratet sein und sich trotzdem an sie herangemacht haben, könnte Robert das vielleicht für sich nutzen, um sie davon abzuhalten, einen Aufstand zu machen.

Als Nächstes sah er sich all die Fotos an. Die meisten waren Selfies, die der Typ gemacht hatte, andere zeigten, wie er mit seinen Freunden herumblödelte, und auf einigen war auch Amber zu sehen. Er schien in Ambers Alter zu sein, hatte dunkle Haare, war eher schmal und trug auf manchen Fotos ein blaues Hemd mit dem Logo einer Autoreparaturwerkstatt über der linken Brusttasche. Also gut, er hatte zwar keine Ahnung, wie der Typ hieß, aber zumindest wusste er jetzt, wo er arbeitete.

Es gab auch ein paar Videos, und er rief das aktuellste auf.

Es zeigte den Kerl, wie er mit Amber vögelte, hier auf der Couch. Ihre Stimmen waren deutlich über den Handylautsprecher zu hören:

»Gefällt es dir? Kann der alte Sack dich genauso ficken? Kann er?«

»Sein Schwanz ist zu klein«, hatte Amber lachend erwidert.

Es folgten noch weitere Beleidigungen, noch mehr Lachen. In seinen Ohren begann es zu klingeln, und er hatte das seltsame Gefühl, als würde er neben sich stehen. Keiner sollte es wagen, sich so über ihn lustig zu machen wie sie. Er war Senator Robert Markham, der Vorsitzende des Haushaltsausschusses. Der mächtigste Mann in der Hauptstadt von Georgia. Denn wer die Kontrolle über das Geld hatte, beherrschte alles. Und da wagten es die beiden, über ihn zu lachen, als wäre er ein Niemand.

In dem Moment hatte sich Amber von der Seite auf ihn gestürzt und ihm das Handy aus der Hand gerissen, hatte auf ihn eingeschlagen, ins Gesicht, gegen die Schläfe. Ohne zu schreien, wahrscheinlich wegen des Jungen, der oben schlief. Doch sie hatte ihm zwischen zusammengebissenen Zähnen Beleidigungen entgegengespuckt, ihr hübsches Gesicht rot und verzerrt vor Wut, als wäre sie diejenige, die beleidigt worden war, die man betrogen hatte.

Dann spuckte sie ihm ins Gesicht. Ohne nachzudenken, schlug er zu. Sie stürzte gegen die Tischleuchte, und ein Foto von ihr und dem Kind fiel zu Boden. Das war das Letzte, an das er sich klar erinnern konnte. Er wollte nur, dass sie endlich den Mund hielt, dass sie für all die Gemeinheiten zahlte und weil sie ihn zum Idioten gemacht hatte. Er hörte nur das Klingeln in seinen Ohren, und ein Gewirr von Schnappschüssen schwirrte ihm durch den Kopf: eingefrorene Bilder von ihrem Gesicht, das seltsam violett aussah, ein scharfer Schmerz in seinen Handgelenken, ihre Finger, die sich in seine Haut krallten.

Benommen saß er ein paar Sekunden neben ihrer Leiche, doch sie fühlten sich wie Stunden an. Bis er plötzlich ein Gefühl der Dringlichkeit verspürte.

Er musste etwas unternehmen.

Keiner wusste, dass er hier war, außer dem Jungen. Elijah war erst sieben und kannte nicht einmal Roberts vollständigen Namen, sondern nannte ihn einfach nur »Onkel Bobby«. Doch ein ordentlicher Cop würde sicher auf die Idee kommen, dass Bobby die Koseform von Robert war. Und möglicherweise hatte ein Nachbar das eine oder andere Mal gesehen, wie er in Ambers Einfahrt fuhr, obwohl er immer darauf geachtet hatte, seinen Wagen in ihre Garage zu stellen. Allerdings könnte es durchaus sein, dass irgendjemand mit seinem verdammten Handy ein Foto gemacht hatte, auf dem sein Wagen im Hintergrund zu sehen war. Das wäre Pech, aber so etwas passierte nun einmal.

Offenbar gab es noch andere Wagen, die in Ambers Einfahrt geparkt hatten. Eines war früher an diesem Abend hier gewesen, und wahrscheinlich hatte es jemand gesehen, weil es noch nicht dunkel gewesen war. Für ihn wäre das ein Glücksfall, für den anderen Typen jedoch Pech.

Das Problem war jedoch das Kind, und um Probleme musste man sich kümmern. Das hatte er gelernt, als er die Karriereleiter als Politiker hochgeklettert war. Wenn er den nächsten Schritt schaffen wollte – das Amt des Gouverneurs –, dann musste er sich mit diesem Problem befassen.

Was er irgendwie bedauerte, denn das Kind war ein süßer kleiner Junge. Aber Elijah war nicht sein Kind, und er bezweifelte, dass Amber überhaupt gewusst hatte, wer der Vater war.

Er musste das Ganze genau durchdenken und jede Kleinigkeit berücksichtigen. Doch das Wichtigste war, dass er sich jetzt erst einmal um den Jungen kümmerte.

Leise stand er auf und stieg die Treppe hinauf. Er überlegte, wie er es anstellen sollte, doch das Einzige, was ihm einfiel, war, ihn ebenfalls zu erwürgen. Vielleicht würde er aber einfach nur ein Kissen auf das Gesicht des schlafenden Kindes drücken und es so ersticken. Das erschien ihm nicht nur freundlicher, sondern auf diese Weise würde er vermutlich auch keine Fingerabdrücke hinterlassen. Und es war auch gut, dass er noch nie in dem Zimmer des Jungen gewesen war. Trotzdem wusste er, wo es lag. Denn jedes Mal wenn Amber ihn in ihr Schlafzimmer mitgenommen hatte, hatte sie dafür gesorgt, dass Elijahs Tür geschlossen war.

Während all dieser Überlegungen zog er sein Hemd aus der Hose, um sich den Stoff des Saums um die Hand zu wickeln, bevor er die Tür öffnete.

Ein Nachtlicht brannte, sodass es nicht völlig dunkel war im Zimmer. Leise schlich Robert zu dem zerwühlten Bett, dann blieb er überrascht stehen und blinzelte. Das Bett war leer. Der Junge war nicht da.

Hastig blickte er sich um. Überall lagen Kleidungsstücke und Spielsachen herum, aber das war’s. Wieder mit dem Hemdzipfel um seine Hand schaltete er das Licht an.

Das Kind war definitiv verschwunden. Er sah unter dem Bett nach und im Schrank. Vielleicht hatte Elijah geschmollt, als er wieder ins Bett geschickt worden war, hatte sich dann versteckt und war eingeschlafen.

Nichts! Mist!

Robert machte das Licht wieder aus. Na schön, vielleicht hatte er aufs Klo gehen müssen. Doch das Bad lag direkt gegenüber auf der anderen Seite des Flurs. Die Tür stand offen, und das Licht war ausgeschaltet. Trotzdem sah er nach, sollte das Kind sich in der Badewanne versteckt haben. Was nicht der Fall war.

Vielleicht steckte er in Ambers Zimmer?

Leer.

Robert ging von einem Zimmer zum anderen, während Angst in ihm aufstieg. Er musste dieses verdammte Kind finden. Wo zum Teufel konnte der Junge stecken?

So leise wie möglich ging er wieder nach unten, während er auf jede kleinste Bewegung im Augenwinkel achtete. Amber lag noch immer im Wohnzimmer, so wie er sie zurückgelassen hatte. Mit leerem Blick.

Er überprüfte das Bad im Erdgeschoss, danach den Waschraum und das Esszimmer. Schließlich ging er in die Küche und spürte dort sofort den kalten Luftzug. Er drehte das Licht an und sah sich um. Schließlich fiel sein Blick auf die Hintertür. Sie stand ein kleines Stück offen, und die kühle Nachtluft drang durch den Spalt.

Schnell machte er das Licht wieder aus. Sein Blut fühlte sich an wie Eis, und blankes Entsetzen erfasste ihn. Der Junge hatte gesehen, wie er Amber getötet hatte, und war zum Nachbarhaus gerannt, um Hilfe zu holen. Die Cops waren sicher schon auf dem Weg hierher. Er musste verschwinden, und zwar schnell. Aber was, wenn der Nachbar draußen stand und auf ihn wartete, vielleicht sogar mit einer Pistole in der Hand? Schließlich waren sie in Georgia, hier hatte wahrscheinlich jeder eine Waffe.

Aber er konnte nicht einfach wie ein Idiot hier herumstehen; er musste etwas tun.

Mit der Schuhspitze schob er die Hintertür noch weiter auf und schlüpfte in den Garten. Dann blieb er in der Kälte und Dunkelheit stehen und lauschte auf ein Schniefen, ein ungewöhnliches Geräusch – irgendetwas. Lawrenceville war eine hübsche kleine Vorstadt. Die Häuser standen ziemlich nahe nebeneinander, doch hin und wieder gab es dazwischen ein baumbestandenes Grundstück, das ein wenig Spielraum bot. Dass jemand an einem Freitagabend so spät noch wach war, wäre nicht ungewöhnlich. Aber vielleicht waren die Leute hier auch zu müde von dem ganzen Feiertagsrummel, denn er konnte nirgendwo in den Häusern um sich herum ein Licht entdecken.

Sein Herz hämmerte, während er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Falls der Junge zu dem Nachbarn direkt nebenan gelaufen war, müssten dort Lichter brennen. Man müsste Stimmen hören, vielleicht sogar Sirenen, wenn die Cops schon auf dem Weg hierher waren. Aber die Nacht war still. Keine Stimmen, keine Sirenen. Hinter den Häusern standen Bäume. Wenn der Junge dorthin gelaufen war, hätte Robert keine Chance, ihn zu finden.

Aber warum sollte Elijah das tun? Schließlich war er ein kleines Kind und würde doch eher bei anderen Leuten Hilfe suchen. Oder nicht?

Robert hielt sich im Schatten. Er spürte die beißende Kälte, als er zur Vorderseite des Hauses schlich, sich neben einen Busch kauerte und die Straße hinauf und hinab sah. Jetzt entdeckte er hier und da ein paar Lichter, aber auch in diesen Häusern war es immer noch still. Ein paar hatten ihre Weihnachtsbeleuchtung eingeschaltet. Das war alles, was er entdecken konnte. Keine Anzeichen von Aktivität, keine ungewöhnlichen Geräusche, keine Hunde, die bellten, keine Lichter, die auf der Veranda angingen, und immer noch keine Sirenen.

Der Junge musste irgendwo untergetaucht sein und hatte keine Hilfe gesucht, warum auch immer. Wer zum Teufel wusste schon, was in den Köpfen von Kindern vor sich ging.

Und was sollte er jetzt unternehmen?

Sein erster Gedanke war: die Leiche loswerden. Es gab kein Blut. Er könnte das zerbrochene Glas aufkehren, die Möbel wieder an ihren Platz stellen, Ambers Leiche mitnehmen und sie irgendwohin bringen. Je länger es dauerte, sie zu finden, desto weniger Spuren würde es geben. Es gab viele Seen und Flüsse in der Gegend, auch bewaldetes Gebiet. Er musste sich etwas einfallen lassen, vielleicht würde er sogar in einen anderen Bezirk fahren und sie dort abladen.

Die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf. Er musste alles abwischen, was er berührt hatte. Er musste Ambers Handy und ihre Handtasche mitnehmen, damit es so aussah, als wäre sie irgendwohin gegangen. Ja, und er musste die Batterie aus dem Handy nehmen, damit man es nicht per GPS orten könnte. Und das Smartphone des anderen Typen mitnehmen und ebenfalls die Batterie herausnehmen. Aber er würde das Handy neben Ambers Leiche legen oder zumindest in die Nähe. Sollte man es je finden, wäre das ein Grund für die Cops, nach dem anderen Kerl zu suchen. Deshalb musste er die Batterie drin lassen, damit es so aussah, als hätte der Typ es aus Versehen fallen gelassen, es verloren.

Eins nach dem anderen: Als Erstes musste er Ambers Leiche aus dem Haus schaffen, bevor die Cops auftauchten.

2. Kapitel

Elijah kroch zum Küchentisch. Seine Hände und sein Gesicht prickelten vor Kälte, und seine Füße waren so eisig, dass es wehtat. Vielleicht könnte er sich unter dem Tisch verstecken und dort bleiben, bis Zack und seine Eltern wieder nach Hause kamen. Aber wie lange würden sie bei Zacks Oma bleiben? Zwei Tage? Drei?

Ob Onkel Bobby wusste, dass Elijah und Zack beste Freunde waren? Wusste er, wo Zack wohnte? Würde er hierherkommen?

Der Gedanke machte ihm entsetzliche Angst, aber er wusste nicht, was er tun oder wohin er sonst gehen sollte. Außerdem war ihm kalt, und er konnte nirgendwo anders mehr hinlaufen. Er kauerte sich neben dem Tisch zusammen und versuchte, seine Füße zu wärmen, indem er erst die Zehen des einen Fußes unter den Saum seiner Pyjamahose steckte, dann die Zehen des anderen Fußes, immer abwechselnd. Es dauerte eine Weile, bevor seine Zehen sich wieder warm anfühlten und der Schmerz allmählich nachließ.

Was sollte er jetzt machen? Ein Polizist hatte seiner Klasse vor einiger Zeit einen Besuch abgestattet, zu Anfang des Schuljahres. Elijah war damals noch neu in der Klasse gewesen. Er hatte gewusst, dass Zack in der gleichen Straße wohnte wie er selbst, aber sie waren noch keine besten Freunde gewesen. Der Polizist hatte viel erzählt, aber an was Elijah sich jetzt noch genau erinnerte, war die Nummer 911. Jeder wusste, dass er bei einem Notfall die 911 anrufen musste, selbst kleine Kinder. Mom hatte ihm das schon vor langer Zeit beigebracht, also hatte er keinen Polizisten gebraucht, der ihm das sagte.

Vorsichtig stand er auf und spähte aus dem Fenster, um nachzusehen, ob Onkel Bobby draußen war und nach ihm suchte. Da er niemanden entdecken konnte, bewegte er sich vom Küchentisch weg. Wo war wohl das Telefon von Zacks Mom? Er hatte sie immer nur mit einem Handy telefonieren sehen, aber das hieß nicht, dass sie nicht auch ein großes Telefon hatte, so wie Miss Sally. Elijah sah sich in der Küche um, dann ging er ins Esszimmer und weiter ins Wohnzimmer. Nichts. Es gefiel ihm nicht, dass es dunkel war, weil er nicht richtig erkennen konnte, ob sich irgendwo ein Telefon befand oder nicht. Ein paar Mal überlegte er, das Licht anzuschalten, doch jedes Mal wenn er die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte, schreckte er wieder zurück. Wenn er das Licht anmachte, könnte Onkel Bobby es vielleicht sehen und würde kommen, um ihn umzubringen.

Er wollte nicht, dass Onkel Bobby ihn je wieder seinen »Sohn« nannte. Er war nicht Onkel Bobbys Sohn, und er wollte auch nicht mehr, dass sie Freunde waren. Er wollte seine Mom, aber Onkel Bobby hatte sie getötet.

Tränen rannen aus seinen Augen, und seine Nase lief wieder. Er wischte mit seinem Pyjamaärmel unter seiner Nase entlang und hielt die Luft an, um sich vom Weinen abzuhalten. Als seine Brust schmerzte und er nicht länger die Luft anhalten konnte, stieß er sie schnell aus. Er hatte keine Zeit zum Weinen, sondern musste ein Telefon finden. Vielleicht gab es oben eins – ein großes Telefon oder vielleicht ein Handy, das sie dagelassen hatten. Er und Zack hatten über Miss Sallys großes altes Telefon gelacht, doch jetzt wäre er froh, wenn er so eins finden würde. Er ging zur Treppe und hielt sich am Geländer fest. Seine Mom hatte ihm immer gesagt, er solle sich festhalten, obwohl er es meistens vergaß. Aber jetzt wollte er das tun, was sie gesagt hatte, weil es ihm irgendwie das Gefühl gab, sie wäre noch da. Er stieg die Treppe hinauf, betrat mit seinen immer noch kalten Füßen eine Stufe nach der anderen.

Zacks Mom hatte überall Nachtlampen. Mit all diesen Lampen hatte er kein Problem zu erkennen, wohin er ging.

Hätte er ein eigenes Handy, dann hätte er bereits die 911 angerufen. Doch Mom hatte gesagt, er sei noch zu klein dafür und würde vielleicht eins bekommen, wenn er zwölf wurde. Zwölf! Bis dahin waren es noch fünf Jahre. Dann wäre er zu alt, um sich noch eins zu wünschen.

Im ersten Stock angekommen, ging er zunächst zu Zacks Zimmer. Er wusste zwar, dass es dort kein Telefon gab, aber er war schon oft in diesem Zimmer gewesen und kannte sich dort aus. Es war vertraut, tröstlich. Ein Stockbett stand an der Wand. Die Betten waren sorgfältig gemacht, was nicht immer so war. Zack hatte eine Spielzeugschachtel, eine Kommode, auf der eine Lampe stand, und einen Wäschekorb für schmutzige Sachen. Aber er konnte nicht hierbleiben. Es gab kein Telefon, obwohl er das auch schon vorher gewusst hatte. Er hatte sich nur wieder ein kleines bisschen glücklich fühlen wollen, und in Zacks Zimmer hatte er immer viel Spaß gehabt.

Dann ging er in Gracies Zimmer, das daneben lag. Gracie war schon alt, beinahe erwachsen. Sie war dreizehn und hatte ein Handy. Allerdings hatte sie es immer dabei, deshalb erwartete er nicht, dass es hier irgendwo herumlag. Er rümpfte die Nase. In dem Zimmer herrschte ein einziges Durcheinander. Er hatte gar nicht gewusst, dass Mädchen so unordentlich sein konnten, aber hier sah es schlimmer aus als normalerweise in Zacks Zimmer. Überall lag ihre Kleidung herum – am Boden, auf ihrem Bett, oder sie hing über den Möbeln. Sollte es hier ein Handy geben, würde er es nie finden.

Er seufzte schwer und trottete den Flur entlang. Das Schlafzimmer von Zacks Eltern war riesig. Es gab genug Platz für ein großes Bett, zwei Kommoden und ein Laufband, auf dem Kleidung hing. Und es gab eine Menge verrücktes altes Zeug, das überall herumstand. Er suchte die Nachttische und die beiden Kommoden ab und tastete mit der Hand die Oberflächen ab, wo die Nachtlichter nicht genug Licht spendeten. Es lag viel alter Plunder herum, aber kein Handy oder ein großes Telefon. Es gab Schachteln, kleine Lämpchen, muffig riechende Bücher, geschnitzte Tiere – einen Elefanten und einen Tiger –, selbst einen Globus, der sich drehte, wenn man ihn anstieß. Was er jetzt machte. Er leuchtete nicht auf wie der, den er zu Hause hatte.

Aber ein Telefon gab es nicht.

Was sollte er tun, wenn er nicht die 911 anrufen konnte? Sollte er einfach hierbleiben, bis Zack und seine Eltern wieder nach Hause kamen? In der Küche gab es bestimmt etwas zu essen. Vielleicht kam Onkel Bobby gar nicht auf die Idee, hier nach ihm zu suchen. Zacks Mom würde wissen, was zu tun war. Sie könnte mit ihrem Handy die 911 anrufen. Aber das könnte noch Tage dauern.

Einen Moment überlegte er, zu einem anderen Haus zu gehen. Miss Sally hatte ein Telefon. In den meisten Häusern gab es eins. Aber er wusste nicht, wo Onkel Bobby steckte. Ob er auf der Straße war oder direkt vor diesem Haus stand oder ob er immer noch bei Elijah zu Hause war … Allein bei dem Gedanken, dass Onkel Bobby ihn schnappen und er dann genauso tote Augen haben würde wie Mom und Bosco, wurde ihm wieder kalt. Nein, er würde dieses Haus nicht verlassen. Hier war er sicher.

Elijah ging wieder zurück in Zacks Zimmer. Er hatte in der Nacht zuvor hier geschlafen, und sie hätten sicher nichts dagegen, wenn er blieb, bis sie wieder nach Hause kamen. Er kletterte in das untere Stockbett – Zack schlief immer in dem oberen – und steckte die Füße unter die Decke. Sie waren fast nicht mehr kalt. Dann zog er die dicke Bettdecke bis zum Kinn hoch, zitterte noch einen Moment und schwelgte dann in der Wärme.

Er sollte schlafen. Würde er morgen Schule haben, hätte er schon lange schlafen müssen. Er wusste noch, wie sauer er auf Mom gewesen war, weil sie ihn nicht länger hatte aufbleiben lassen. Doch dann war er nach unten gegangen und hatte gesehen …

Nein, er wollte nicht daran denken.

Wieder fing er an zu zittern. Draußen frischte der Wind erneut auf und heulte wie Cookie, wenn der kleine Hund von nebenan ihn durch den Maschendrahtzaun ärgerte. Der Baum vor Zacks Fenster bewegte sich, und die Zweige kratzten an der Hauswand entlang. Dieses Fenster ging zur Straße. Wenn er hinaussehen würde, würde er dann Onkel Bobby entdecken? Der nach ihm suchte, seinen Namen rief …

Elijah sprang aus dem Bett und lief den Flur entlang zum Schlafzimmer von Zacks Eltern. Es ging nach hinten zum Garten raus. Hier gab es keinen Baum, der am Fenster kratzte.

Aber es gab Fenster. Fenster, durch die er hinaussehen konnte. Fenster, in die Onkel Bobby hineinsehen konnte.

Da ihm immer noch kalt war, nahm Elijah eine große Decke, die am Fußende des Bettes lag, und zog sie mit sich zum Kleiderschrank. Niemand würde ihn sehen, wenn er sich hier versteckte. Er öffnete die Tür und betrat den Raum, während er die weiche Decke mit sich zog. Es war ein großer Schrank, mit zwei Stangen, an denen Kleidung hing. Außerdem gab es Schachteln und Schuhe, die an den Wänden aufgereiht standen.

Als er die Tür schloss, hüllte ihn die Dunkelheit wie eine Decke ein. Hier gab es kein Nachtlicht, keinen Mond oder Straßenlaternen, die durch das Fenster schienen, weil es hier drinnen kein Fenster gab. Er konnte nicht hinaussehen. Und niemand konnte hineinsehen.

Zum ersten Mal – es kam ihm wie Stunden vor – fühlte Elijah sich sicher. Er legte sich auf den Boden und zog die Decke bis zum Kinn hoch. Er hätte auch ein Kissen mitnehmen sollen, hatte jedoch nicht daran gedacht. So gerne er auch eines gehabt hätte, wollte er das warme Plätzchen nicht verlassen, das er sich eingerichtet hatte.

Onkel Bobby würde ihn hier nicht finden, in der Dunkelheit, hinter einer verschlossenen Schranktür. Niemand würde ihn hier finden.

Elijah schlief. Er träumte.

Seine Scheinwerfer fingen die schräg fallenden weißen Körner ein, und Robert umklammerte das Lenkrad fester. Ein Graupelschauer war kaum besser als Schnee oder gefrierender Regen. In der Kälte und der Dunkelheit tickte die Uhr gnadenlos, und so ein garstiges Wetter war das Letzte, was er sich wünschte. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht wäre es bei solchem Wetter schwieriger, Ambers Leiche zu finden; außerdem würden mehr Spuren zerstört, und das war eindeutig ein Pluspunkt. Er hatte keine Ahnung, er wusste nur, dass dieser Tag genauso beschissen endete, wie er angefangen hatte.

Er war mehr als eine halbe Stunde im Norden von Lawrenceville herumgefahren, war durch dunkle, enge Nebenstraßen gekurvt, bis er den alten Park erreichte, der sich neben der Straße erstreckte. Er hatte auf dem Kiesplatz geparkt, der von leeren Bierdosen und weggeworfenen Hamburger-Schachteln übersät war. Die zerbeulte Mülltonne war bis oben hin voll, als wäre sie schon lange nicht mehr geleert worden. In seinem Zustand, der fast an Panik grenzte, konnte er nicht mal sagen, ob das ein gutes Zeichen war; genauso wie er nicht wusste, ob ihm das schlechte Wetter zugutekam oder nicht. Ob das bedeutete, dass hier morgen jemand auftauchte? Und ihre Leiche sofort entdeckte? Das wäre schlecht.

Auf der anderen Seite würde er sie am liebsten oben auf der Mülltonne zurücklassen. Müll zu Müll, das passte doch. Er hätte es gerne getan, aber er verwarf die Idee.

Er schaltete den Motor des Wagens aus, damit seine Scheinwerfer ihn nicht verrieten, sollte zufällig jemand auf der Straße vorbeifahren. Obwohl es so spät – oder so früh – und bei dem zunehmend schlechten Wetter kaum oder fast gar keinen Verkehr gab. Dichte Wolken verdeckten die Sterne, und der peitschende Graupelschauer verschlechterte die Sicht noch weiter.

Eiskalter Wind fuhr in seine Anzugjacke, als er aus dem Wagen stieg, und er zog den Kopf ein, um sich vor den stechenden Eiskörnern zu schützen. Verdammt, war das kalt! Er drückte auf die Fernbedienung, um den Kofferraum zu öffnen. Zu spät fiel ihm ein, dass das Licht im Kofferraum automatisch anging, wenn der Deckel sich öffnete.

Leise fluchend lief er um den Wagen herum und beugte sich hinunter, um Ambers Leiche aus dem Kofferraum zu ziehen. Er hatte sie in eine Decke eingewickelt, um sie so besser transportieren zu können. Aber totes Gewicht blieb totes Gewicht. Wieder fluchte er leise, während er zog und zerrte, sich breitbeinig hinstellte und sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen stemmte, um das Bündel hochzuziehen und über den Rand des Kofferraums zu hieven.

Schwer atmend hatte er es endlich geschafft, sie herauszuziehen. Er beugte sich hinunter, legte sich das Bündel über die Schulter und versuchte mühsam, sich wieder aufzurichten. Verdammt, er war Politiker, keine Sportskanone, und er hätte nie damit gerechnet, einmal eine Leiche herumschleppen zu müssen.

Er blickte sich um. Immer noch war kein Auto in der Nähe, doch da er seine Scheinwerfer ausgeschaltet hatte, konnte er in der Dunkelheit so gut wie nichts erkennen. Sollte er es riskieren und Licht machen? Er konnte sie nicht einfach hier liegen lassen, obwohl er es gern getan hätte. Vielmehr musste er die Leiche so gut verstecken, dass man sie nicht gleich finden konnte. Er brauchte Zeit. Zeit, um Spuren zu verwischen. Zeit, um dieses kleine Arschloch von Elijah zu finden. Zeit, um einen Plan zu entwickeln und Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen.

Der Graupelschauer ließ langsam nach, und eine seltsame Stille lag über der Nacht. Dicke weiche Schneeflocken fielen langsam vom Himmel, und ihn überfiel wieder das Gefühl der Dringlichkeit. Schnee im Süden, das war eine Katastrophe, denn innerhalb kürzester Zeit würden sich die Straßen in Rutschbahnen aus Eis verwandeln. Er musste Ambers Leiche unbedingt loswerden und dann nach Hause fahren, bevor er irgendwo stecken blieb. Vor allem musste er sich noch eine Geschichte ausdenken, die seine Frau zufriedenstellte, obwohl ein heftiges Wortgefecht mit ihr im Moment seine kleinste Sorge war.

Er musste das Risiko eingehen und die Scheinwerfer einschalten, denn sonst könnte er nicht erkennen, wohin er lief. Dann würde er noch länger für diese Aktion benötigen, als er sich erlauben konnte. Der dicht fallende Schnee würde ihm etwas Deckung geben.

Fluchend und mit dem schweren Bündel auf seiner Schulter – so war es einfacher für ihn, als es abzulegen und dann wieder hochzuhieven – ging er um den Wagen herum zur Fahrertür. Er öffnete sie und drehte sich so herum, dass er den Schalter erreichen konnte, um die Scheinwerfer anzustellen. Zwei Lichtkegel erhellten die raue Landschaft und ließen die tanzenden, wirbelnden Schneeflocken funkeln. Jetzt beeilte er sich, um Amber über den Gehsteig an der übervollen Mülltonne vorbei über das Gras zu tragen. Irgendwo in den dunklen Wäldern, die hinter dem kleinen Park lagen, könnte er sie am besten verstecken. Am liebsten hätte er sie weiter weg von der Straße abgelegt, aber da der Schneefall immer dichter wurde und sich bereits eine weiße Schicht auf den abgestorbenen Blättern sammelte, durfte er nicht noch mehr Zeit verlieren.

Er war etwa neun Meter von der Mülltonne entfernt, als er in ein flaches Loch trat, das von Blättern verdeckt war. Er verlor das Gleichgewicht, und seine in die Decke gewickelte Last rutschte ihm von der Schulter.

»Mist!« Er starrte heftig schnaufend auf die Leiche. Trotz des eisigen Windes lief ihm der Schweiß über das Gesicht. Sie wieder hochzuheben und sich auf die Schulter zu hieven, würde er unmöglich schaffen; er hatte sie ja kaum aus dem Kofferraum heben können.

Nach nur kurzem Zögern beugte er sich hinunter, umfasste das eine Ende der Decke und begann das Bündel hinter sich her zu schleifen. Sollte er Spuren auf dem gefrorenen Boden hinterlassen, würde der Schnee sie bald verdecken.

Er schaffte es bis zu dem Wäldchen und blieb stehen, um nach Luft zu schnappen, während sein Atem in weißen Wölkchen in die Nachtluft stieg. Das Licht der Scheinwerfer half ihm auch nicht mehr viel, denn hier befand er sich nicht mehr in dessen Reichweite. Suchend blickte er sich um. Was er für einen dichten Wald gehalten hatte, war eher nur ein kaum mehr als zwanzig Meter breiter Baumbestand. Vielleicht wäre es besser, wenn er sie dahinter ablegte. Also nahm er die Mühe auf sich und zerrte seine Last ächzend und stöhnend vor Anstrengung weiter an den Bäumen vorbei, bis er sich plötzlich an einer steinigen Schlucht wiederfand, einer unebenen, rauen Spalte in der Erde.

Perfekt.

Er versuchte sie mit dem Fuß weiterzuschieben, doch selbst eine in eine Decke eingewickelte Leiche war nicht so einfach zu bewegen. Also bückte er sich und stieß mit aller Kraft gegen das Bündel. Endlich rollte es über die Kante hinunter in die Schlucht, fiel über Büsche und Felsbrocken, bis es in der dunklen Nacht und dem dichten Schnee aus seiner Sichtweite verschwand.

Es war geschafft – nur noch das Handy des Arschlochs.

Er zog es aus der Tasche und wollte es auf den Boden werfen, als wäre es unbemerkt heruntergefallen. Doch dann zögerte er. Das verfluchte Video hatte er gelöscht, genauso wie die Kurznachrichten, in denen er erwähnt wurde. Aber was, wenn sie nicht ganz gelöscht waren? Wenn die Cops sie doch noch irgendwie aufrufen könnten? Einer seiner Senatorenkollegen war einmal in eine peinliche Situation geraten, weil er geglaubt hatte, etwas Verfängliches gelöscht zu haben, nur um dann herauszufinden, dass man mit dem richtigen Programm immer noch Zugang zu dem Foto hatte.

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

So gerne er auch dieses Arschloch beschuldigen würde, durfte er das Risiko nicht eingehen.

Er fummelte in der Dunkelheit an dem Smartphone herum und versuchte, die Batterie herauszunehmen, doch er konnte das iPhone nicht öffnen. Zum Teufel, er bekam es nicht einmal aus dieser verdammten Hülle, besonders nicht hier, wo er kaum etwas sah. Er würde es mitnehmen … wohin auch immer. Und dann vielleicht aus dem Fenster werfen, wenn er über eine Brücke fuhr. Ja, das war eine gute Idee. Er würde es in einen Fluss werfen oder in einen See, um es loszuwerden. Dort würde es sicher niemand mehr finden.

Doch selbst wenn das Handy des Arschlochs verschwunden war, würde das Arschloch immer noch existieren. Der Kerl wusste, dass Amber sich mit einem anderen getroffen hatte, einem älteren Mann. Wusste er, wer Robert war? Könnte er der Polizei einen Hinweis auf ihn geben? Robert war klar, dass die Spurensicherung im wirklichen Leben nicht annähernd so beeindruckend war, wie im Fernsehen dargestellt. Aber könnte er alle Spuren von Amber auslöschen, wenn er den Kofferraum reinigte, oder würde man bei einer Suche noch irgendwo ein Haar, eine Faser oder eine Hautzelle finden …?

Robert hätte die Leiche der undankbaren Amber am liebsten vergessen und wäre davongegangen. Aber das konnte er nicht. Da waren noch das Arschloch und der Junge.

Er hatte Amber in einem Anfall von rasender Wut getötet, aber er war kein eiskalter Killer.

Glücklicherweise kannte er jemanden, auf den diese Bezeichnung zutraf.

Mit einem erstickten Schrei wachte Elijah auf und zitterte vor Entsetzen. Onkel Bobby hatte die Hände um seinen Hals gelegt, würgte ihn und starrte ihn mit toten Augen an. Der Traum – die Erinnerung war so frisch und real, dass er mit seinen dünnen Ärmchen in der Luft herumfuchtelte, um gegen das Schreckliche anzukämpfen, das gar nicht da war. Seine Fäuste verfingen sich in Stoff, der von ihm wegzutanzen schien, dann wieder zurückschwang und ihn einzufangen versuchte. Er schluchzte auf, versuchte wieder zu schreien, während er sich mit Armen und Beinen gegen die unsichtbare Bedrohung wehrte.

»Hilf mir!« Krächzend kamen die Worte aus seinem Mund, während er sich zur Seite warf. Er fiel auf etwas Hartes, Unebenes, doch es war so dunkel, dass er nichts sehen konnte. Er hörte sich selbst schluchzen und versuchte instinktiv, seine Panik zu unterdrücken. Wo war er? Was war passiert? Hatte er all das von Onkel Bobby und Mom nur geträumt, oder war es wirklich passiert?

Wieder erfasste ihn ein Gefühl von Panik, das er kurz hatte zurückdrängen können. »Hilf mir!«, schrie er, ein Flehen, dass ihm jemand, irgendjemand zu Hilfe kommen würde. Sein linker Arm schlug gegen etwas Weiches, das vornüberfiel, und in der Dunkelheit glaubte er, dass dieses Etwas und der Aufprall zu Onkel Bobby gehörten. Gellend schrie er auf, wieder und wieder, während er rückwärts kroch und verzweifelt versuchte, von Onkel Bobby wegzukommen.

Als er an ein Hindernis stieß, versuchte er in seiner Panik, sich einfach hindurchzuzwängen, nur um wegzukommen. Doch das Etwas, was auch immer es war, fiel um, diesmal mit einem lauten Knall. Irgendetwas flatterte um ihn herum wie ein Schwarm Vögel in der Dunkelheit und berührte sein Gesicht, seine Arme. Er hörte eine Art Rauschen, dann … Ruhe. Schweigen. Elijah wimmerte, weil er vor den Vögeln, die vielleicht hinter ihm her waren, fast genauso viel Angst hatte wie vor Onkel Bobby. Vögel? Wie konnten hier Vögel sein?

Er konnte nichts hören, das nach Onkel Bobby klang. Wenn Onkel Bobby atmete, hörte es sich immer so an, als sei seine Nase verstopft. Elijah konnte niemanden atmen hören. Vorsichtig streckte er die Hand aus – und fühlte nichts. Der Schrank – er war in dem Schrank. Jetzt erinnerte er sich wieder. Er wollte raus, aber wo war die Tür? Er konnte keine sehen. Vielleicht könnte er herumkrabbeln und den Spalt unter der Tür finden. Er legte seine Hand auf den Boden, doch statt Teppich spürte er eine Art Papier, das etwas dicker war als normales, und glatter.

Plötzlich war ihm ein bisschen komisch, als könnte er nicht mehr richtig Luft holen.

Weil er erst sieben war, weil er schreckliche Angst hatte und allein war, sagte er noch einmal: »Hilf mir.« Diesmal flüsterte er die Worte. Denn er war so müde, so verängstigt und allein, dass er nicht mehr schreien konnte.

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, als ein helles Licht ihn blendete. Entsetzt schrie er auf, kauerte sich zusammen, bedeckte den Kopf mit beiden Armen und presste die Lider so fest zusammen, wie er konnte. Eine Taschenlampe, dachte er. Es war eine Taschenlampe. Onkel Bobby mit einer Taschenlampe. Er hatte um Hilfe gerufen, und stattdessen war Onkel Bobby in seinem Versteck aufgetaucht. Wimmernd kroch er so weit wie möglich zurück und wartete darauf, was passieren würde.

Ein paar Sekunden vergingen. Nichts. Er konnte nichts hören. Langsam hob Elijah den Kopf und spähte vorsichtig in die Dunkelheit.

Es war keine Taschenlampe.

Niemand war da.

Die Schachtel, die er umgeworfen hatte, lag geöffnet auf der Seite, und das Licht kam aus der Schachtel und fiel auf einen Stoß von glatten, lustig aussehenden Karten, auf denen Zeichnungen waren. Die meisten Bilder stellten Menschen dar, aber es gab auch ein tolles Bild von einer Sonne, die aussah, als könnte es die Sonne aus einem der Transformer – Filme sein. Eine Karte lag oben auf dem verstreut herumliegenden Stoß und zeigte eine hübsche Frau und einen Löwen. Darüber stand ein Wort, das für ihn jedoch keinen Sinn ergab. Ein Wort, das er nicht kannte und das in schiefen, komischen Buchstaben geschrieben war. Es sah nicht einmal richtig aus wie ein Wort, sondern eher wie manche der Zeichnungen.

Dann verschwammen sie und veränderten sich, und die Zeilen sortierten sich neu. Er blinzelte, weil Worte nicht dazu gedacht waren, sich zu verändern. Langsam buchstabierte er: K-R-A-F-T. Kraft. Das war ein Wort, das er kannte. Er hatte es in einem Buch gesehen, das er gelesen hatte, um zu üben. Der Anzug des Iron Man verlieh ihm Superkräfte. Vielleicht verlieh der Löwe der hübschen Frau Kraft. Vielleicht war er ihr Haustier.

Er streckte die Hand aus, berührte die Karte und strich mit den Fingern über das Bild. Es war warm, als wäre die Frau, die darauf abgebildet war, lebendig. Sie war sehr hübsch, sogar noch hübscher als seine Mom. Als er an seine Mom dachte, erfasste ihn ein Gefühl großer Traurigkeit. Es war so überwältigend, dass er glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. »Hilf mir«, sagte er noch einmal, seine Stimme so leise und zittrig, dass man die Worte kaum hören konnte.

Das Bild auf der Karte schimmerte. Elijah zuckte zusammen, kroch rückwärts, bis er gegen die andere Seite des Schranks stieß, wo er sich so klein zusammenrollte, wie er konnte. Panisch sah er sich um und überlegte, was da gerade vor sich ging. Das komische Licht kam immer noch aus der Schachtel, und jetzt konnte er auch erkennen, dass er ein paar Sachen umgestoßen hatte: Schuhe, Handtaschen, ein Kästchen mit altem Schmuck, ein paar Pullover und Schals. Die Karten aus der erleuchteten Schachtel lagen überall verstreut herum.

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