Das Versprechen des Diamanten (6-teilige Serie)

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IM TAL DER SEHNSUCHT

Boyd Blanchard ist ein Mann, der die Sehnsucht in Frauenherzen weckt: Sieht er doch blendend aus und residiert wie ein König auf Brooklands, einem Herrensitz in einem malerischen Tal. Auch Leona schwärmt für den erfolgreichen Millionär, seit sie zurückdenken kann. Immer war er ihr strahlender - aber unerreichbarer Held. Doch da geschieht das Unerwartete: Boyd beginnt, sie zu umwerben. Fast scheint es, als könnten sie zueinanderfinden. Gäbe es da nicht Boyds Vater, einen herrschsüchtigen Patriarchen, dem die in seinen Augen nicht standesgemäße Leona ein Dorn im Auge ist ...

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  • Erscheinungstag 12.09.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727307
  • Seitenanzahl 880
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Margaret Way, Rebecca Winters, Caroline Anderson, Trish Wylie, Raye Morgan, Shirley Jump

Das Versprechen des Diamanten (6-teilige Serie)

Margaret Way

Im Tal der Sehnsucht

IMPRESSUM

ROMANA erscheint im CORA Verlag GmbH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

© 2008 by Margaret Way. Pty., Ltd.
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe ROMANA
Band 1808 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Johannes Martin

Coverabbildung: GettyImages

Veröffentlicht im ePub Format im 12/2010 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-86295-097-3

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

1. KAPITEL

„Du weißt genau, dass ich nicht erwünscht bin, Schwesterherz. Sie laden mich nur aus Verpflichtung ein.“

Robbie hatte es sich mal wieder auf Leonas neuem Sofa gemütlich gemacht. Sein Kopf ruhte auf einem seidenen Kissen, die langen Beine ließ er lässig über die Armlehne baumeln.

Es war das alte Thema zwischen ihr und ihrem Stiefbruder, und sie musste wie immer vermitteln. „Das ist nicht wahr, Robbie“, widersprach sie fast automatisch, obwohl er der Wahrheit leider sehr nahe kam. „Du bist nett und für jede Party ein Gewinn. Außerdem gehörst du zu Boyds Poloteam, was immerhin einiges bedeutet, und du spielst sehr gut Tennis. Als Doppel sind wir beide unschlagbar. Wir besiegen sie alle.“

Sie alle – das waren die näheren und entfernteren Blanchard-Verwandten, von denen viele die Hausparty besuchen würden.

„Nur Boyd nicht“, stellte Robbie fest. „Über den kann man sich nur wundern. Führender Geschäftsmann mit ungewöhnlicher Intelligenz, Superathlet und notorischer Herzensbrecher … Was soll ein Mann sich sonst noch wünschen? Man könnte ihn als neuen James Bond einsetzen.“

„Vergiss Boyd!“ Leona warf ein Kissen nach Robbie. „Daniel Craig ist mir lieber.“ Wie gewöhnlich verbarg sie ihre Gefühle für Boyd, die tief in ihrem Herzen schlummerten. „Allerdings muss ich zugeben, dass er ziemlich perfekt ist.“

Robbie fing das Kissen geschickt auf und lachte. „Du liebst ihn nicht zufällig?“, fragte er mit einem herausfordernden Blick. Er war ein Meister der Intuition und hatte Leona schon oft überführt.

„Das würde einen Aufstand geben, nicht wahr?“ Sie hoffte, dass ihr heller Teint sich nicht zu verräterisch rot färbte. „Er ist mein Cousin zweiten Grades.“

„Nur um mehrere Ecken herum“, erinnerte Robbie sie. „Die Todesfälle, Scheidungen und Wiederverheiratungen bei den Blanchards sind nicht mehr zu zählen.“

Damit hatte er recht. Es fehlte in ihrer Familie nicht an glanzvollen Höhepunkten und echten Tragödien. Leona und Boyd hatten zum Beispiel beide die Mutter verloren – sie mit acht Jahren und er mit Mitte zwanzig. Bis dahin war seine Mutter, die schöne Alexa, Leonas Nenntante gewesen. Boyds Vater Rupert, Chef des Blanchard-Imperiums, hatte zwei Jahre später wieder geheiratet – keine nette, feinfühlige Frau in seinem Alter, wie die Familie gehofft hatte, sondern Virginia, eine geschiedene Society-Lady, die Tochter eines alten Freundes, der bei Blanchard im Vorstand saß. Sie war nur wenig älter als Boyd, Ruperts einziger Sohn und Erbe des Familienunternehmens.

Die Familie hatte mit Bestürzung auf die so schnell erfolgte neue Verbindung reagiert. Man rechnete damit, dass die Ehe mit einem heftigen Krach und einer gigantischen Abfindung enden würde, aber niemand sprach darüber – mit Ausnahme von Geraldine, Ruperts älterer unverheirateter Schwester. Sie konnte es sich erlauben, offen zu sein, jedoch ohne damit etwas zu ändern. Rupert hatte Virginia, die bei allen nur „Jinty“ hieß, ohne jede Rücksicht auf andere geheiratet. Er schrieb seine eigenen Gesetze, wie Jinty inzwischen auch.

„Übrigens sprechen wir nicht über Boyd, sondern über dich“, fuhr Leona fort. „Ich verstehe wirklich nicht, warum du dich fortwährend so kleinmachst.“

„Oh doch, das verstehst du“, seufzte Robbie. „Es fehlt mir an Selbstbewusstsein.“ Plötzlich war er wieder der unglückliche, rebellische sechsjährige Junge, den Leona vor vierzehn Jahren kennengelernt hatte. „Ich weiß einfach nicht, wer ich bin. Carlo, mein Vater, wollte nichts von mir wissen. Er hat sich nie um mich gekümmert. Dein Dad, mein Stiefvater, ist ein guter Mensch, ein Gentleman der alten Schule, kann aber auch nichts mit mir anfangen. Er hofft nur, dass ich nicht weiter abrutsche. Meine teure Mutter hat mich nie geliebt … keine Frage, warum nicht. Sie hat keinen Grund, stolz auf mich zu sein, und meine Ähnlichkeit mit Carlo erinnert sie ständig an ihre gescheiterte Ehe. Und ich bin kein Blanchard, auch nicht nach all den Jahren.“ Bitterkeit sprach aus den dunkel glänzenden Augen. „Ich bin ein Fremdkörper in eurer Mitte … der seelisch verkümmerte Adoptivsohn.“

Darauf wollte Leona sich nicht einlassen. „Bitte, Robbie, nicht schon wieder!“, stöhnte sie und ließ sich in einen Sessel fallen. Die ständige Sorge um Robbie und sein Wohlergehen belasteten sie sehr. „Musst du dich unbedingt so auf mein neues Sofa fläzen?“ Im Grunde störte es sie nicht, denn er war immer sehr gepflegt und gut gekleidet. Er duldete kein Stäubchen an sich und wusste trotz aller Klagen, wo sein Vorteil lag.

„Wie könnte ich anders?“, fragte er, ohne sich zu rühren. „Es ist so unglaublich bequem. Du hast wirklich Geschmack und bist überhaupt ein tolles Mädchen. Dein weiches Herz wird nur noch von deiner Schönheit übertroffen. Gott weiß, wie ich es ohne dich in dieser Familie ausgehalten hätte. Du bist meine große Schwester, meine Vertraute und mein guter Geist. Du allein bist nicht der Ansicht, dass einmal ein zweiter Carlo aus mir wird.“

„Das denkt keiner“, widersprach Leona entschieden.

„Oh doch“, beharrte er. „Sie warten nur darauf, dass ich den Beweis antrete. Wenn es nach der Familie ginge, könnte ich jederzeit unter einem Bus enden.“

„So darfst du nicht denken. Allerdings ist deine Spielsucht ein echtes Problem“, erinnerte sie ihn. „Du musst sie in den Griff bekommen.“

Sie brachte es nicht über sich, auch die Drogen zu erwähnen – nicht so kurz nach ihrer letzten Auseinandersetzung. Robbie trieb sich mit reichen Nichtstuern herum, die nur Spaß haben wollten, was Arbeit ausschloss. Wie viele seiner Altersgenossen hatte er mit Haschisch experimentiert, weiter war er ihrer Ansicht nach nicht gegangen – jedenfalls noch nicht. Wie sie selbst, trug er die Bürde des Namens Blanchard, der für hohes Ansehen, Macht und Reichtum stand, aber ebenso enormen Druck und Versuchungen mit sich brachte. Doch im Gegensatz zu ihr war Robbie nicht mit einem starken Charakter gewappnet.

Der einzige Mensch, dem er sich mitteilen konnte, war seine „große Schwester“. Die Worte „Stiefbruder“ und „Stiefschwester“ hatten sie schon vor Jahren aus ihrem Vokabular gestrichen. Es spielte keine Rolle, dass sie nicht blutsverwandt waren. Leonas Vater hatte Robbie gleich nach der Hochzeit mit dessen Mutter Delia adoptiert. Leute, die darüber nicht Bescheid wussten, äußerten häufig ihr Befremden über Leonas und Robbies mangelnde Ähnlichkeit. Robbie – eigentlich Roberto Giancarlo D’Angelo – glich seinem italienischen Vater, während Leona prachtvolles rotblondes Haar und eine zarte, fast durchscheinend wirkende Haut besaß.

Damit entsprach sie nicht Boyds persönlichem Geschmack. Er schätzte schicke, elegante Brünette mit überlangen Beinen und weiblichen Kurven, mit denen Leona so wenig aufwarten konnte wie ihr Bügelbrett.

Denk nicht an Boyd.

Ja, das war eine sinnvolle Mahnung. Es wäre besser, sich daran zu halten. Schon in Boyds Nähe zu sein bedeutete Gefahr.

„Ich gelobe Besserung“, unterbrach Robbie ihre unliebsamen Gedanken. „Wird in der Familie wieder über mich geredet? ‚Was macht denn eigentlich der gute Robbie?‘“ Die letzten Worte sprach er im Ton einer neugierigen und klatschsüchtigen Verwandten.

Es war tatsächlich viel über ihn geredet worden. Die ältere Generation war schockiert gewesen, und Delia hatte über die Verfehlungen ihres Sohns Krokodilstränen vergossen.

„Du darfst Boyd nicht vergessen“, warf Leona ein. „Ihm entgeht nichts. Er hat seine Augen und Ohren überall.“

„Und er hat Spione.“ Robbie lachte laut, als wäre das alles komisch und nicht bitterernst. Er tarnte sich mit Zynismus und scharfer Rhetorik, wenn sein Neid auf Boyd überhandnahm. „Warum auch nicht, wo aus Generationen von Multimillionären endlich Milliardäre geworden sind?“ Er ließ einen Arm über die Sofalehne hängen. „Das wäre der richtige Mann für dich.“

Sie verzog die Lippen. „Ich weiß nicht …“

„Tu bloß nicht so.“ Er grinste und richtete sich schwungvoll auf. Seine mühelosen, geschmeidigen Bewegungen verrieten den Turnchampion der Universität. „Vielleicht ist er ausersehen, dich zu erwecken.“

„Niemals!“, protestierte Leona ungewöhnlich heftig.

Robbie ließ sich nicht beirren. „Du tarnst dich meisterhaft, nur vergisst du dabei, wie gut ich dich kenne. Du bewunderst Boyd wie alle anderen … mich alten Esel eingeschlossen. Er hält mir ab und zu eine Strafpredigt, aber ich weiß, dass er es gut meint. Ich kann mich nun mal nicht mit ihm messen. Er ist der geborene Sieger, während man bei mir nur auf den endgültigen Zusammenbruch wartet. Kein Wunder, dass die Familie Boyd wie einen Helden verehrt. Er ist der begehrteste Junggeselle im ganzen Land. Alle Frauen schwärmen für ihn, dabei ist er noch nicht dreißig …“

„Ist er doch, seit einem Monat“, unterbrach Leona die Lobeshymne auf den Blanchard-Erben. Seine Tugenden so lückenlos aufgezählt zu bekommen war unerträglich.

„Ach ja? Dann war ich wohl zu seiner Geburtstagsparty nicht eingeladen.“

„Es gab keine Party. Boyd hatte viel zu viel zu tun.“

„Das mag sein.“ Bei aller Kritik war Robbie nie ungerecht. „Arbeit ist sein Leben, aber was hat er auch erreicht! Er könnte Rupert jeden Tag ablösen. Er und Jinty – nicht gerade mein weibliches Ideal, wie ich schon tausendmal betont habe – sind die Einzigen in der Familie, die den alten Rupert nicht fürchten. Nein, das stimmt nicht ganz.“ Er wurde nachdenklich. „Geraldine hat keine Angst vor ihm, und dich hat er geradezu in sein Herz geschlossen. Mich verachtet er nur.“

„Unsinn.“ Leona schüttelte den Kopf, obwohl sie Ruperts negative Meinung über Robbie kannte. „Er will dich in die Firma übernehmen, sobald du dein Studium abgeschlossen hast.“

Das sollte kein falscher Trost sein, denn Robbie war nicht dumm. Und ihm war klar, das wusste Leona, dass Rupert sie seit ihrer Kinderzeit besonders schätzte. So rau er auch mit anderen Menschen umging, ihr gegenüber hatte er sich immer gütig gezeigt – besonders seit dem tödlichen Reitunfall ihrer Mutter, der legendär schönen Serena.

Schon damals hatte der sechs Jahre ältere Boyd – gut aussehend, klug und schon mit vierzehn einen Meter achtzig groß – sie unter seine Fittiche genommen. Bei Festen und anderen Familientreffen war er ihr Ritter gewesen, und sie hatte ihn als solchen verehrt. Doch mit der Verehrung war es längst vorbei. Inzwischen beschäftigte er sie so nachhaltig, dass sie ihm kaum in die Augen sehen konnte. Er reizte und erregte sie. Es war eine Qual, ihm nah zu sein, aber sie konnte nicht von ihm lassen.

Ihr ganzes Wesen geriet durcheinander, wenn es um Boyd ging. Er machte sie unsicher und jagte ihr Angst ein. Mit einem einzigen Blick konnte er verletzen und gleichzeitig heilen. Wie durchdringend und wie schön diese herrlichen blauen Augen waren! Sie erschreckten sie, doch manchmal drückten sie auch heimliche Anerkennung aus. Dann fühlte sie sich attraktiv, äußerlich und innerlich. Bei anderen Gelegenheiten kränkte Boyd sie wiederum mit kühlen oder scharfen Bemerkungen. Das genügte ihr, um sich klarzumachen, wie wenig eine dauerhafte Verbindung zwischen ihnen beiden infrage kam.

„Ob sie mich eingeladen haben, um mich besser kontrollieren zu können?“, überlegte Robbie laut.

Leona schob ihre Grübeleien beiseite und lächelte. „Wir stehen alle unter ständiger Beobachtung.“

„Als verkehrten wir bei Hofe“, bemerkte er bissig. „Dich halten sie wenigstens für die kluge, begabte junge Frau, die du bist. Deine natürliche Schönheit hilft dir dabei, und du hast die wunderbare Gabe, mit allen Menschen gleich gut auszukommen.“

„Nur nicht mit Boyd.“ Das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen, aber Robbie quittierte das Geständnis mit einem gutmütigen Lachen.

„Den Grund dafür kann ich mir denken. Warum reibt ihr euch ständig aneinander? Ist das verabredet? Macht ihr anderen etwas vor?“

„Das wäre zu verrückt.“ Sie sagte das so betont leichthin, als sei jeder Gedanke an eine heimliche Liebe zwischen Boyd und ihr geradezu lächerlich. „Wir reizen uns gegenseitig … das ist alles.“

Andere Erklärungen waren nicht von ihr zu bekommen. Leona war geübt darin, keine weiteren zuzulassen, obwohl sie ständig in ihrem Bewusstsein lauerten.

„Ich finde, ihr passt ausgezeichnet zusammen“, fuhr Robbie fort, als würde er ernsthaft über die Sache nachdenken. „Boyd braucht eine Frau mit flammend rotem Haar. Du würdest ihm unbedingt gewachsen sein. Nun … ich sollte lieber gehen.“

„Hoffentlich nicht zum Pferderennen.“ Leona stand auf.

Trotz seines südländischen Teints wurde Robbie rot. „Kein Grund zur Aufregung, Schwesterchen“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Deborah und ich treffen uns mit Roy Barrington und seiner Clique … nur für einen vergnügten Nachmittag, damit die Mädchen sich schick machen können. Warum kommst du nicht mit? Ruperts Zweijähriger muss einfach gewinnen. Soll ich ein paar Dollar für dich setzen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe nie die leiseste Versuchung verspürt zu wetten oder zu spielen“, sagte sie ernst. „Jedenfalls nicht um Geld. Ich lasse meinen Verstand arbeiten. Mit Geld wieder Geld zu machen, das ist etwas für Leute wie Rupert.“ Sie küsste ihren Bruder zärtlich auf die Wange, er war kaum größer als sie. „Du solltest dich mit dem begnügen, was du hast.“

Robbie erhielt regelmäßige finanzielle Zuwendungen von ihrem Vater, aber er konnte nicht damit wirtschaften und musste sich oft Geld von ihr borgen. Natürlich versprach er immer, es zurückzugeben. Manchmal tat er das, meistens allerdings nicht.

Leona begleitete ihn zur Wohnungstür. Die Familie hatte ihr das Apartment zum einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt – als Zeichen der Anerkennung für ihr tadelloses Benehmen, das dem Namen Blanchard zur Ehre gereichte. Von ihrem Wohnzimmer aus konnte man einen fantastischen Blick auf den Hafen von Sydney genießen. Sie selbst hätte sich eine so luxuriöse Wohnung niemals leisten können, trotz ihrer kürzlich erfolgten Beförderung zu Beatrice Caldwells persönlicher Assistentin, mit der eine erhebliche Gehaltserhöhung einherging. Beatrice war ein leuchtender Stern am Modehimmel und leitende Direktorin von Blanchard-Fashion.

„Sie verdienen die Beförderung, mein Kind“, hatte Beatrice gesagt. „Sie haben wie ich den richtigen Blick.“ Aus dem Mund der selbstherrlichen und selten zufriedenen Chefin war das ein hohes Lob.

„Du kommst also zu der Party, Robbie?“ Leona wollte unbedingt sichergehen. „Man erwartet eine Antwort von dir.“ Gutes Benehmen zählte bei den Blanchards zu den höchsten Tugenden.

Naturalmente!“ Es klang, als ahmte er seinen italienischen Vater nach. „Aber nur deinetwegen. Das kannst du mir glauben.“

„Mach keine unnötigen Schwierigkeiten.“ Sie umarmte ihn auf ihre schwesterliche Weise, in der etwas Beschützendes lag.

„Vielleicht wäre ich umgänglicher, wenn Carlo mich nicht verlassen hätte“, sagte Robbie. „Aber er konnte nicht schnell genug nach Italien zurückkehren, um wieder zu heiraten und noch mehr Kinder zu bekommen.“

„Hoffentlich ist er ihnen ein besserer Vater als dir.“

Ihre Stimme klang hart. War es ein Wunder, dass sie so starkes Mitgefühl mit ihm hatte? Sie wusste nur allzu gut, wie leer er sich innerlich fühlte. Delia schien nichts für ihren einzigen Sohn zu empfinden, so unglaublich das auch war. Vielleicht hätte er blond und blauäugig sein müssen wie sie selbst, doch mit dem dunklen Haar und den feurigen Augen erinnerte er sie immer nur an Carlo D’Angelo. Der hatte während all der Jahre keinen Versuch unternommen, Kontakt mit seinem ältesten Sohn aufzunehmen – geschweige denn, ihn einzuladen, damit er seine Halbgeschwister kennenlernen konnte.

„Er ist der eigentliche Verlierer“, versuchte Leona ihren Bruder zu trösten. „Du musst an dich selbst glauben … wie ich.“ Sie legte eine Hand auf seinen Arm und fühlte eine innere Spannung, die Robbie offenbar vor ihr verbergen wollte. „Ist alles in Ordnung? Du verschweigst mir doch nichts?“

„Alles in bester Ordnung.“ Er lachte kurz auf. „Dann sehen wir uns also am nächsten Wochenende auf Brooklands.“

Leona lächelte. „Vergiss deinen Tennisschläger nicht. Wir werden sie besiegen – wie immer!“

„Es macht Spaß, die anderen zu schlagen, nicht wahr?“

„Großen Spaß.“

Wenn doch alles andere genauso viel Spaß machen würde, dachte Robbie unglücklich, während er zum Lift trottete. Die Angst schnürte ihm mehr und mehr die Kehle zu. Leona war ein Schatz. Er liebte sie aufrichtig, wie keinen anderen Menschen auf der Welt, aber er hatte es nicht über sich gebracht, sie noch einmal um Geld zu bitten. Viel zu viel hatte er sich schon von ihr geliehen und noch lange nicht alles zurückgezahlt. Dabei brauchte er dringend mehr Geld. Die Leute, mit denen er sich eingelassen hatte, setzten ihn zunehmend unter Druck. Das waren Strolche, die sich ungeschoren in den höchsten Gesellschaftskreisen bewegten. Nicht auszudenken, was ihn erwartete, wenn er sie nicht zufriedenstellen oder zumindest hinhalten konnte.

Robbie hatte das beklemmende Gefühl, dass seine selbst gestellte Falle bald zuschnappen würde. Leona hatte recht. Er war im Begriff, sich durch seine Spielsucht – noch ein schlechtes Erbteil seines Vaters – zu ruinieren. Aber Blazeaway, Ruperts vielversprechendes zweijähriges Rennpferd, musste heute Nachmittag einfach gewinnen. Er würde die letzten Scheine, die er noch in der Tasche hatte, auf ihn setzen.

Mit dieser vermeintlichen Aussicht auf einen Gewinn verdrängte Robbie seine Sorgen und begann, heiter vor sich hin zu pfeifen, um bei Laune zu bleiben.

2. KAPITEL

Am folgenden Samstag beschloss Leona, die übrigen Familienmitglieder vorausfahren zu lassen, bevor sie selbst nach Brooklands, dem berühmten Landsitz der Blanchards, aufbrach. Einerseits konnte sie es kaum erwarten, das Haus und die prächtigen Gartenanlagen wiederzusehen. Andererseits versetzte sie die Aussicht auf eine Begegnung mit Boyd seelisch und körperlich in Unruhe.

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte. In Wirklichkeit waren es nur gut vier Wochen, die er geschäftlich im Ausland verbracht hatte. Rupert war jetzt über sechzig und konnte es sich mit einem so brillanten Nachfolger leisten, mehr Zeit auf Brooklands zu verbringen. Das bedeutete für Boyd einen gewaltigen Machtzuwachs, jedoch auch mehr Verantwortung, was für ihn nicht leicht war.

Allerdings war er ein Mann, der mit der Macht umzugehen wusste. Die Rolle war ihm auf den Leib geschrieben. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, dass er nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten oder eine so verantwortungsvolle Aufgabe von sich weisen würde. Das war nicht seine Art. Mit dem von seinem Großvater geerbten Vermögen hätte er sich jederzeit selbstständig machen und sein Leben genießen können, aber der Wille und die Begabung zur Leitung eines solchen Geschäftsimperiums hatten sich schon früh bei ihm gezeigt. Zur großen Erleichterung der Familie lag sein ganzer Ehrgeiz darin, die Erfolgsgeschichte der Blanchards fortzusetzen.

Alles, was Boyd anpackt, verrät seine Begabung und Entschlusskraft, dachte Leona, während sie ihre Aufmerksamkeit weiter auf die Straße richtete. Er war mehr als Ruperts würdiger Nachfolger, er übertraf ihn noch bei Weitem. Dabei half ihm der Schliff, den er von seiner Mutter Alexa bekommen hatte. Gerade dreißig geworden, befand er sich auf dem Gipfel seiner Karriere und stellte alles, was vor ihm geleistet worden war, in den Schatten. Man liebte, schätzte und respektierte ihn, während sein Vater eher gefürchtet wurde.

Es wunderte Leona immer wieder, dass ausgerechnet der tyrannische Rupert eine so große Zuneigung zu ihr empfand. Bei der Beerdigung ihrer Mutter war er fast zusammengebrochen, während er die Beisetzung seiner eigenen Frau später mit unbewegter Miene verfolgt hatte. Auch die sonst so beherrschte Alexa, eine enge Freundin ihrer Mutter, war in Tränen aufgelöst gewesen. Leona, damals ein trauriges, verstörtes Kind, konnte sich noch gut daran erinnern.

Serena Blanchard, eine ausgezeichnete Reiterin, war beim Sprung über eine alte Mauer am oberen Ende des Brookland-Sees unglücklich gestürzt und dabei ums Leben gekommen. Sie hatte die Mauer häufig problemlos übersprungen, aber dieses eine Mal war es schiefgegangen. Später fand man heraus, dass sich das Pferd mit einem Huf in einer Efeuranke verfangen hatte, die die Mauer überwucherte.

Sechzehn Jahre ist sie nun schon tot, dachte Leona traurig. Sechzehn Jahre lebte sie bereits ohne Mutter. Sie erinnerte sich noch, dass Serena sich damals zu ihr hinuntergebeugt und sie geküsst hatte, bevor sie aufgebrochen war.

„Ich bleibe nicht lange fort, mein Liebling. Wenn ich zurück bin, gehen wir alle zusammen schwimmen.“

Sie hatte nicht wissen können, dass sie nicht zurückkommen würde – zumindest nicht lebend.

Serenas Tod hatte die ganze Familie getroffen. Sie war so tief betrauert worden, dass für ihre Nachfolgerin Delia, Paul Blanchards zweite Frau, kaum Liebe übrig geblieben war. Wer hätte Serena auch ersetzen können? Am wenigsten Delia, die den trauernden Paul überrumpelt und ihm ihren kleinen Sohn aufgehalst hatte. Bin ich deshalb bei den Blanchards so beliebt?, fragte sich Leona. Sie gehörte nicht zum Hauptzweig der Familie, aber sie war das Ebenbild ihrer Mutter und genoss wohl deshalb besondere Gunst.

Die hohen schmiedeeisernen Torflügel zu Beginn der über eine Meile langen Auffahrt zum Herrenhaus standen offen. Prächtige Bäume von gewaltiger Höhe säumten sie an beiden Seiten und stießen in ihren Kronen mit den äußeren Zweigen so dicht zusammen, dass sie einen geheimnisvollen goldgrünen Tunnel bildeten.

Minuten später fuhr Leona aus dem Tunnel heraus über die gewölbte Steinbrücke, die den grün schimmernden See überspannte. Er wurde von einem unterirdischen Fluss gespeist, war stellenweise sehr tief und erstreckte sich über mehr als einen Hektar. Hier und dort ragten kleine Inseln aus dem Wasser, auf denen Wildenten und andere Wasservögel nisteten. Gerade glitt eine Schar schwarzer Schwäne unter der Brücke hindurch. Die ruhige, glasklare Wasserfläche, getupft von silbernen Funken, war am Ufer dicht mit weißen Lilien bewachsen, zwischen die sich violette japanische Iris mischten.

Oberhalb des Sees stand das Haus. Es war im Stil eines englischen Herrenhauses erbaut und immer wieder erweitert worden, sodass es inzwischen fast wie ein Schloss wirkte. Eine riesige Rasenfläche mit üppig bepflanzten Beeten dehnte sich vor dem Haus aus.

Als Kind hatte Leona einmal die Zimmer gezählt – es waren zweiunddreißig, einschließlich des großen Ballsaals, wo im Lauf der Jahre viele Familienfeste und Wohltätigkeitsveranstaltungen stattgefunden hatten. Alexa hatte die jährliche Gartenparty zu einem gesellschaftlichen Ereignis ersten Ranges gemacht, worin Jinty ihr leider nicht nacheiferte. Die Gärten von Brooklands waren ideal dafür.

Mit Alexa kann sich niemand messen, welche Tragödie, dass sie so jung gestorben ist!, dachte Leona. Sie fragte sich immer noch, ob Alexa in ihrer Ehe glücklich gewesen war. Natürlich war dieses heikle Thema nie berührt worden, und in der Öffentlichkeit hatten Rupert und Alexa das perfekte Paar gespielt. Leona musste erst erwachsen werden, um die Fremdheit zu spüren, die zwischen beiden herrschte. Im Grunde waren sie getrennte Wege gegangen. Alexa hatte sich um ihren geliebten Sohn gekümmert und ihre beachtliche Energie für die Haushaltsführung und die vielen wohltätigen Einrichtungen eingesetzt, die ihr am Herzen lagen.

Wenn eine solche Frau nach der Heirat nicht glücklich wurde, konnte man, so fand Leona, alle romantischen Gefühle vergessen. Die Ehe war eben doch ein großes Risiko.

Wasser spielte auf Brooklands eine große Rolle. Die zahlreichen Bäche, die sich mitunter zu kleinen Flüssen erweiterten, hatten ihm sogar seinen Namen gegeben: Brooklands – Land der Bäche.

Rechts der Auffahrt lagen in einiger Entfernung die drei Poloplätze, die ein enormes Terrain einnahmen, wenn man bedachte, dass jeder Platz die Größe von zehn Fußballfeldern umfasste. Zwischen den Plätzen waren einheimische und exotische Bäume gepflanzt worden, die ineinanderwuchsen und kühlen Schatten spendeten. Die eigentlichen Gartenanlagen hatte ein berühmter Landschaftsarchitekt entworfen, den Boyds Urgroßeltern engagiert hatten. Rupert ließ später die Poloplätze anlegen, um seinen Lieblingssport auf eigenem Grund und Boden ausüben zu können.

Er war seinerzeit ein ausgezeichneter Polospieler gewesen, überließ es inzwischen aber seinem Sohn, diese Tradition fortzusetzen. Boyd empfand den gefährlichen, temporeichen Sport als echte Entspannung.

Für Sonntagnachmittag war ein Spiel mit einer befreundeten Mannschaft geplant. Obwohl Boyd zu den besten Spielern zählte, zitterte Leona regelmäßig bei dem Gedanken, ihm könnte etwas zustoßen. Polo war ein schnelles, hartes Spiel, aber auch eine Augenweide für die Zuschauer – vor allem, wenn sie Pferdeliebhaber waren.

Der bloße Gedanke an Boyd genügte, um Leona in Aufregung zu versetzen. Ihr Herz begann schneller zu klopfen. Warum fiel es ihr so schwer, ihre Teenagergefühle für ihn zu überwinden? Sie würde sich noch das Wochenende verderben!

Boyd. Schon der Name hatte es ihr angetan, obwohl sie das nicht wollte. Es war nicht richtig, und sie erschrak vor der Stärke ihrer eigenen Gefühle. Ob jemand ahnte, wie schwer es ihr fiel, sich in Boyds Nähe normal zu benehmen? Vielleicht Robbie mit seinem ungewöhnlichen Einfühlungsvermögen.

Sie war jetzt vierundzwanzig. Wurde es da nicht höchste Zeit, mit der Schwärmerei für Boyd aufzuhören und sich anderen Männern zuzuwenden? Bewerber gab es einige. Der Name Blanchard erhöhte ihre Chancen, obwohl sie keine reiche Erbin war. Sie gehörte zu den Arbeitsbienen, und es quälte sie mehr und mehr, unter einer Art Bann zu stehen, der sich durchaus mit Robbies unseliger Spielleidenschaft vergleichen ließ.

Ob Boyd noch mit Ally McNair ausgeht?, überlegte Leona. Ally war hübsch und immer gut aufgelegt. Vor ihr hatte es Zoe Renshaw gegeben, vor Zoe Jemma Stirling und davor Holly Campbell. Leona hatte sie nicht gemocht, denn Holly war ein übler Snob. Und dann war da noch Chloe Compton, die ein Vermögen erben würde und daher Ruperts Favoritin war.

Sie war in der Familie allgemein beliebt – auch bei Leona. Rupert hatte sich förmlich überschlagen, um Chloe zu ermutigen, denn Boyd wurde von hübschen Mädchen regelrecht verfolgt. Einige, wie Ally oder Chloe, gehörten nach einer Weile zum festen Stamm, aber Boyd hatte keine Eile, sich festzulegen. Er war, um es mit Robbies Worten zu sagen, ein Workaholic. Leona hätte es weniger drastisch ausgedrückt, denn sie arbeitete selbst hart.

Bea hatte sie nicht etwa befördert, weil sie zur Blanchard-Familie gehörte, sondern weil sie gut war. Obwohl die meisten Kenner der einheimischen Modebranche ihr Leben für den Job gegeben hätten, hielt man Beatrice Caldwell bei Blanchard-Fashion für unerträglich schwierig. Manchmal gab sie sich kälter als ein Eisberg, im Großen und Ganzen kam Leona allerdings gut mit ihr aus und bewunderte sie aufrichtig. Bea besaß enormen Einfluss in der Modewelt und hörte nur auf sich selbst. Insgeheim hoffte Leona, dass sie irgendwann weit genug sein würde, um Bea abzulösen.

Jinty machte eine große Szene aus der Begrüßung. „Wie reizend, dich wieder bei uns zu haben“, flötete sie, nachdem sie Leona heuchlerisch umarmt und auf die Wangen geküsst hatte. „Und wie immer bist du perfekt angezogen.“ Sie musterte sie von oben bis unten. „Du weißt eben, worum es bei der Mode geht, und dann deine Figur … Was würde ich dafür tun, so schlank zu sein.“

„Du könntest den Champagner aufgeben.“ Leona lächelte spöttisch, denn sie wusste, dass Jintys Sympathie nicht echt war. Alles war Täuschung bei der attraktiven, vollbusigen Jinty – auch ihre Zuneigung zu ihrem Mann.

Sekunden später wurde Leona wie ein lästiges Insekt davongescheucht, denn Jinty wandte sich mit leuchtenden Augen zur Tür. Der Erwartete konnte nur Boyd sein. Boyd ist interessanter, als ich es jemals sein werde, dachte Leona. Boyd – der Superstar der Familie. Er musste Sydney kurz nach ihr verlassen haben.

Als würde sie von einer unsichtbaren Hand geschoben, lief sie die geschwungene Freitreppe zum ersten Stock hinauf. Sie war noch nicht bereit, ihm zu begegnen. Vielleicht würde sie es nie sein.

Man hatte ihr dasselbe Zimmer gegeben, das sie immer bewohnte. Es hatte Zugang zu einem eigenen Badezimmer und einem kleinen Salon und war eher eine Suite. Früher hatte sie sich hier wohlgefühlt, bis Jinty als neue Hausherrin auf den Einfall gekommen war, alles nach ihrem eigenen Geschmack zu verändern. In den unteren Räumen hatte Rupert ihrer Renoviersucht Einhalt geboten, aber im ersten Stock hatte er ihr freie Hand gelassen.

Jinty war wie eine Besessene ans Werk gegangen. Nach Ansicht der Familie hatte sie ein Chaos angerichtet, das sich dank unbegrenzter finanzieller Mittel immer weiter ausbreitete. Am Ende war von der früheren Eleganz und ländlichen Gemütlichkeit wenig übrig geblieben. Jetzt war alles übertrieben pompös. Auch Leonas ehemals geräumiges, helles Schlafzimmer zeugte von Jintys Vorliebe für barocke Pracht. Vergoldete Stuckaturen, vergoldete Möbel, goldgerahmte Bilder, Damast- und Seidenstoffe – Leona hätte sich nicht gewundert, eines Tages in dem runden Goldspiegel das Gesicht der Königin Marie Antoinette zu erblicken. Was an Stil verloren gegangen war, hatte man durch Überfluss ersetzt. Geld spielte keine Rolle, und Jinty hatte keine Hemmungen, es großzügig auszugeben.

Ein leises Klopfen an der Tür ließ Leona aufhorchen. Auf ihr „herein“ trat Eddie ein, der langjährige Hausdiener, ein großer, freundlicher Mann mit Händen wie Pranken und dichtem roten Haar, das inzwischen von weißen Strähnen durchzogen war. Er brachte ihre Koffer und ihre kleine Reisetasche.

„Wo soll ich das Gepäck hinstellen, Miss?“, erkundigte er sich.

„Neben das Bett, Eddie … vielen Dank. Geht es Ihnen gut?“

„Ich kann nicht klagen, Miss … abgesehen von meinem Ischias, der mich regelmäßig plagt. Immerhin gehe ich auf die sechzig zu.“ Eddie stellte das Gepäck ab und sah sich dann mit der ratlosen Verwunderung um, die Jintys innenarchitektonische Bemühungen bei den meisten Betrachtern auslösten.

„Tatsächlich? Ich hätte auf gerade fünfzig getippt“, antwortete Leona, ohne damit zu übertreiben. „Habe ich eben Boyd ankommen hören?“

„Allerdings, und er wurde sehnsüchtig von seiner Stiefmutter erwartet.“ Wie immer vertraute Eddie auf Leonas Diskretion, was in diesem Fall überflüssig war. Jintys Vorliebe für Boyd war längst kein Geheimnis mehr. „Mrs. Blanchards Schwester Tonya ist ebenfalls hier.“

„Oh nein!“ Leona sah Eddie bestürzt an. „Nicht Tonya!“

„Jemand muss es für eine gute Idee gehalten haben, sie einzuladen“, bestätigte Eddie mit schiefem Lächeln. Tonya war ein anspruchsvoller und wenig beliebter Gast auf Brooklands.

Boyds Idee kann es nicht gewesen sein, überlegte Leona. Sie hatte einmal gelauscht, als er nach einer missglückten Dinnerparty, für die er Tonyas unerhörte Taktlosigkeit verantwortlich machte, seinem Vater mitgeteilt hatte, dass er Tonya nicht mehr auf Brooklands zu sehen wünsche.

Tonyas gemeine Art, Gerüchte zu streuen und falsche Informationen zu verbreiten, sorgte stets für Missstimmung. Als Jintys Schwester räumte sie sich selbst das Recht ein, wie die Hausherrin aufzutreten und das Personal herumzuscheuchen. Abgesehen davon, machte sie keinen Hehl aus ihrer Zuneigung zu Boyd. Sie bildete sich ein, ihn für sich gewinnen zu können – eine Illusion, in der sie von niemandem bestärkt wurde. Selbst Jinty fand sie so unerträglich wie alle anderen.

Wer hatte Tonya dann eingeladen? Leona erschrak, als ihr Rupert einfiel. Boyds Vater konnte boshaft sein, wenn er wollte, und er musste beweisen, dass er immer noch der Herr im Haus war. Obwohl Rupert seinen Sohn als Nachfolger in den Himmel hob, blieb ihr Verhältnis insgeheim angespannt. Vielleicht stand Alexa immer noch zwischen ihnen, vielleicht war Rupert auch eifersüchtig auf Boyds überragende Fähigkeiten. Einerseits war er ungemein stolz auf seinen Sohn, andererseits sah er ständig den überlegenen Rivalen in ihm.

Er ist viel zu geltungssüchtig, dachte Leona bedrückt, und diese Eigenschaft fehlt Boyd.

Für alle bereits eingetroffenen Familienmitglieder stand ein Lunchbuffet im Kleinen Speisezimmer bereit. Als Leona eintrat, fiel helles Sonnenlicht durch die hohen Fenster, die einen herrlichen Blick auf die hinteren Gärten boten. Man konnte auch auf der Terrasse essen, aber im Kleinen Speisezimmer war so viel Glas verbaut worden, dass die Gäste den Eindruck hatten, im Freien zu sein.

Neben einer Sammlung kostbarer gerahmter Blumendrucke fielen vor allem die Esstische auf – runde Glasplatten, die auf geschnitzten Holzfüßen ruhten, gefertigt auf den Philippinen. Jeweils acht Personen konnten auf dazu passenden gepolsterten Rattanstühlen bequem daran Platz nehmen. Das Ganze war eine Idee von Alexa, die diese lockere Form des Buffets der strengen langen Tafel im Großen Speisezimmer vorgezogen hatte.

Leona war hungrig. Sie hatte gegen sieben Uhr morgens nur etwas Joghurt und Obst zu sich genommen, obwohl sie in der glücklichen Lage war, mit Appetit essen zu können, ohne ein Gramm zuzunehmen. Trotzdem achtete sie peinlich genau auf ihre Ernährung. Dunkle edelbittere Schokolade war ihre einzige Schwäche, und auch hier hielt sie sich weitgehend an ihr Neujahrsgelübde – jeden Tag nur ein einziges köstliches sündhaftes Stück zu essen.

Etwa zehn Familienmitglieder waren schon vor ihr eingetroffen, hatten sich selbst bedient und anschließend um die Tische verteilt. Das Buffet, an dem das Küchenpersonal laufend für Nachschub sorgte, war so üppig, dass das beste Hotel von Sydney kaum mitgehalten hätte, und für einen Moment musste Leona an die Millionen von Hungernden in der ganzen Welt denken.

„Hallo, Leona, da bist du ja!“, rief man ihr von allen Seiten entgegen. Es war ein angenehmes Gefühl, bei anderen beliebt zu sein, vor allem, wenn man sie – zum überwiegenden Teil – selbst gernhatte.

Geraldine – ebenfalls ein Modefreak, wenn auch von der exzentrischen Art – trug einen atemberaubenden roten Hut. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und kam mit ausgestreckten Armen auf Leona zu.

„Siehst du wieder bezaubernd aus, Darling!“ Sie tauschten Wangenküsse, die zum Glück ehrlich gemeint waren, dann musterte Geraldine Leona mit ihren klugen grauen Augen. „Welche Freude, dich wiederzusehen. Du wirst deiner lieben Mutter mit jedem Tag ähnlicher. Komm, setz dich an meinen Tisch. Ich will alles von dir hören.“

Leona lächelte. „Lass mich nur vorher etwas zu essen holen.“

„Ja, tu das“, tönte es bissig hinter ihr. Das konnte nur Tonya sein. „Du bist krankhaft dünn. Isst du auch genug?“

„Halt bloß den Mund, Tonya!“ Wenn Geraldine wollte, konnte sie so schroff sein wie ihr Bruder Rupert.

„Ich soll den Mund halten? Was fällt dir ein!“ Tonya tat empört, sagte aber nichts mehr, weil plötzlich Spannung in der Luft hing.

Boyd hatte den Raum betreten, der Mann, der nach Leonas Ansicht jedes Frauenherz brechen musste.

Du, meine große Liebe.

Die Worte kamen wie von selbst, aus den Tiefen ihrer Seele, wo sich die Wahrheit nicht verheimlichen ließ. Leona konnte nicht verhindern, dass sie plötzlich da waren. Sie konnte nur verhindern, dass sie über ihre Lippen kamen. Weder durfte Boyd, der viel zu hoch über ihr stand, sie jemals hören noch Rupert, der eigene Pläne für seinen Kronprinzen hatte. Sie konnte nicht anders, als Boyd ihr Herz zu schenken. Dass er ihre Liebe erwidern würde, war ein unerfüllbarer Traum.

Trotzdem konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden. Niemand konnte das. Er war groß, athletisch gebaut, sonnengebräunt von den Tagen auf seiner Segeljacht, hatte dichtes schwarzes Haar, das die edle Stirn frei ließ, und faszinierend schöne Augen, deren tiefes Blau an die kostbarsten Saphire der Kronjuwelen erinnerte. Allein schon die Augen, die er von seiner Mutter geerbt hatte, zeichneten ihn vor allen anderen aus.

Das angespannte Schweigen schien endlos zu dauern. Leona empfand es als ungeheuer schmeichelhaft, aber Boyd nahm es gelassen hin – wie einen gewohnten Tribut.

Nein, korrigierte sie sich gleich darauf. Boyd versuchte niemals, Aufmerksamkeit zu erregen. Wahrscheinlich nahm er die Reaktion auf sein Erscheinen gar nicht wahr. Man hätte ihn für einen mittelalterlichen Prinzen halten können, der nach der Jagd heimkehrte und von einer bewundernden Menge empfangen wurde – wie es ihm gebührte.

Leona spannte sich an. Rebellierte sie gegen diesen Auftritt? Ein bisschen vielleicht. Boyd mit allen anderen öffentlich zu huldigen war nicht nach ihrem Geschmack. Es gefiel ihr besser, sich als Einzige nicht beeindrucken zu lassen und sich so von ihm zu distanzieren. Mit diesem Widerspruch lebte sie nun schon seit Jahren. Hinter der Maske des Unbeteiligtseins, hinter wechselnden Strategien und ausgeklügelten Ablenkungsmanövern, die sie zu ihrem Selbstschutz entwickelt hatte, verzehrte sie sich unausgesetzt nach seinem Anblick.

Wo du bist, will ich auch sein.

Woher kannte sie diese Worte? Sicher aus einem wunderschönen Lied. Wie gut sie doch passten!

Boyd lächelte und hob lässig eine Hand. „Hallo zusammen!“

„Schön, dass du kommst!“, klang es im Chor zurück.

„Wir erwarten für morgen ein rassiges Spiel!“ Das kam von einem Großonkel. Die Familie stellte die hingebungsvollsten Zuschauer bei Boyds Lieblingssport.

Tonya benutzte den Moment, um zu Boyd hinzugehen und besitzergreifend eine Hand auf seinen Arm zu legen. Sie war eine kleine, zierliche Blondine und trotz ihrer scharfen Gesichtszüge auf ihre Weise anziehend. Selbst mit ihren zehn Zentimeter hohen Absätzen wirkte sie neben Boyd wie ein Püppchen.

„So eine Frechheit“, murmelte Geraldine und griff nach Leonas Arm. „Weiß sie nicht, wie sehr sie ihn irritiert?“

„Wer hat sie eigentlich eingeladen?“, fragte Leona zurück und zog behutsam ihren Arm zurück.

„Mein Bruder natürlich“, antwortete Geraldine und bestätigte damit Leonas Verdacht. „Er ist immer noch der alte Tyrann und streut gern Sand ins Getriebe. Wir wissen doch alle, wer die Richtige für Boyd ist.“

Die Richtige für Boyd?

Leonas Stimmung sank auf den Nullpunkt. „Meinst du Chloe Compton?“

„Um Himmels willen, nein!“ Geraldine sah sie fast zornig an. „Hol dir endlich etwas zu essen, und komm dann zu mir zurück. Dürfen wir deinen Stiefbruder auch noch erwarten?“

„Man hat ihn eingeladen. Außerdem gehört er zu Boyds Poloteam.“

„Schon gut, mein Kind. Ich kenne deine Loyalität und bewundere sie.“ Geraldine nickte so heftig, dass der kleine Federbusch auf ihrem Hut zu tanzen begann. „Übrigens mag ich Roberto, obwohl er die Anlage zum Gauner hat. Sein Vater besaß auch diesen gefährlichen Charme. Was für ein mieser Kerl … einfach zu verschwinden und seinen Jungen alleinzulassen. Da konnte ja kein Engel aus ihm werden!“

Besser kann man es nicht ausdrücken, dachte Leona.

3. KAPITEL

„Wie geht’s, Flower Face?“

Wieder diese Enge in der Brust. Diese fieberhafte Hitze im Blut. Diese Trockenheit im Mund … Wie immer versagten alle ihre Strategien. Sie war zu hellhörig geworden, um dem gefährlichen Zauber seiner Stimme nicht zu erliegen.

Es war selten geworden, dass er sie mit diesem Kosenamen anredete: Flower Face – Blumengesicht. Wenn er es tat, durchlief sie ein wohliger Schauer, als hätte er ihren nackten Körper hauchzart gestreichelt. „Flower Face“ stammte aus ihrer Kinderzeit, als er sie wie ein verlorenes, flaumweiches Küken gehütet hatte.

Leona nahm sich zusammen, was ihr seltsamerweise gelang. Sie hob den Kopf und sah Boyd ins Gesicht – mehrere Sekunden, ohne seinem Blick auszuweichen. Ein Lächeln bekam sie nicht zustande, dazu war sie zu aufgeregt und verwirrt. Sie wusste nicht, wie kristallklar sich das Grün ihrer Augen von ihrer hellen Porzellanhaut und dem rotblonden Haar abhob, das ihr in schimmernden Locken bis über die Schultern fiel.

Endlich senkte sie doch den Blick und konzentrierte sich auf Boyds elegantes blauweiß gestreiftes Baumwollhemd. Er hatte die obersten Knöpfe geöffnet und die Ärmel bis zum Ellbogen aufgekrempelt. Sie konnte seine gebräunte Haut und den Ansatz des Brusthaars erkennen. Doch seine körperlichen Vorzüge, seine Größe und sein gutes Aussehen, waren nicht der einzige Grund für seine ungewöhnlich starke sinnliche Ausstrahlung. Leona kannte andere attraktive junge Männer, die sich sehr um sie bemühten – neben ihm wirkten sie wie Schuljungen.

„Wenn dir das Hemd nicht gefällt, kann ich ein anderes anziehen“, sagte er.

Sie hätte sich am liebsten geohrfeigt. „Im Gegenteil, es gefällt mir sogar sehr gut. Helmut Lang, nicht wahr?“

„Du musst es ja wissen. Du bist die Modeexpertin in der Familie.“

„Tu bloß nicht so“, spottete sie. „Schließlich hat ‚Icon‘ dich in seiner vorletzten Ausgabe als einen der bestangezogenen Männer des Landes bezeichnet.“

Boyd spielte den Unwissenden. „Du hast die Ausgabe gelesen?“

Leona ignorierte den Seitenhieb. „Wie ist deine Reise verlaufen? War sie ein Erfolg?“ Gott sei Dank konnte sie wieder zusammenhängend sprechen!

Er wurde sofort ernst. „In mehrerer Hinsicht. Ich habe neue Verträge abgeschlossen und alte gekündigt. Unsere Firma steht gut da, aber heutzutage trügt der Schein oft. Es ist gefährlich, da draußen in der Welt, und die Gefahren nehmen zu.“

„Das weiß ich. Der Terrorismus wächst, und mit ihm die Leiden.“ Sie verschwieg, welche Angst sie ausstand, wenn Boyd auf einer seiner vielen Reisen im Ausland unterwegs war. Nicht weniger bangte sie um sich und Bea, wenn sie in ein Flugzeug stiegen, um eine ausländische Modemesse zu besuchen und für Blanchard-Fashion einzukaufen.

Boyd nickte. Er bewunderte noch eine Weile Leonas Haar, in dem sich die Sonnenstrahlen fingen, und deutete dann auf das Buffet. „Worauf hast du Appetit?“

„Auf dasselbe wie du“, antwortete sie mechanisch. Sie hatten tatsächlich vieles gemeinsam. Sie liebten Pferde und das Landleben. Beim Essen bevorzugten sie das Gleiche und waren bei Musik, Büchern und Filmen fast immer derselben Meinung. Nicht zuletzt verbanden sie die Liebe zu Brooklands und die tiefe Befriedigung, die sie in ihrer erfolgreichen Arbeit fanden.

Boyd lächelte. „Dann lass mich etwas zusammenstellen. Ich weiß ja, was dir schmeckt. Setz dich wieder zu Gerri, und halt mir den Platz an deiner anderen Seite frei.“

Leona sah sich um. Die Gäste hatten sich an verschiedene Tische verteilt und waren bester Stimmung. „Wenn Tonya dir nun zuwinkt?“ Genau das tat sie in diesem Moment, um Boyds Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Erstaunlicherweise verzichtete sie darauf, laut mit ihrem Besteck auf den Tisch zu klopfen.

„Sie gibt nicht auf, wie?“ Boyd kümmerte sich nicht um die indiskrete Aufforderung. „Aber den Familienfrieden soll sie nicht stören. Bitte tu, was ich gesagt habe. Ich bekomme dich so selten zu sehen.“

Dem bestimmten Ton fehlte jede Überheblichkeit, und Leona hatte ihre Scheu inzwischen so weit verloren, dass sie herausfordernd fragte: „Ist das ein Befehl?“

Ein Blick von ihm genügte, um diesen Übermut sofort zu bedauern. „Weißt du was, Flower Face?“, fragte er. „Du hast eine richtige Kunst darin entwickelt, gegen mich zu sein.“

„Vielleicht bin ich eine geborene Rebellin.“

„Wie könnte es anders sein bei jemandem mit so prachtvollem roten Haar?“ Boyd trat an den Buffetttisch und nahm sich zwei Teller. „Da fällt mir ein … Hättest du Lust, heute Nachmittag mit mir auszureiten?“

Das Angebot kam so unerwartet, dass Leona vor Überraschung keine Antwort einfiel.

„Nun?“ Er musterte sie von der Seite. Wie entzückend sie aussah in dem hübschen Sommerkleid – jung, unschuldig und unglaublich sexy! Sie war sich dessen nicht bewusst und hatte nun sogar die Sprache verloren.

„Ich sollte mich um Robbie kümmern“, brachte sie mühsam heraus und ärgerte sich darüber, wie unsicher ihre Stimme klang. Warum sah Boyd sie so an? Was immer er sich dabei dachte – es war äußerst beunruhigend.

Zum Glück wandte er sich wieder dem Buffet zu. „Ist er aus dem Alter nicht heraus?“

„Er bleibt trotzdem mein kleiner Bruder.“

„Dann wird es höchste Zeit, dass er auf eigenen Füßen steht. Dieses Mein-kleiner-Bruder-Getue dauert schon lange genug.“

„Und gefällt dir offensichtlich nicht.“ Leona beugte sich vor und dämpfte ihre Stimme, denn sie wurden inzwischen beobachtet – vor allem von Tonya.

Boyd sprach ebenfalls leiser, aber nicht weniger eindringlich. „Er nutzt dich aus, und das gefällt mir nicht. Ich weiß, dass er dich liebt, doch das macht dich zu verwundbar. Ich habe beschlossen, an diesem Wochenende mal ein Wörtchen mit ihm zu reden.“

Großer Gott! Leona stockte der Atem. Was hatte Robbie nun wieder angestellt? „Sei nachsichtig mit ihm“, bat sie und merkte zu spät, dass sie damit ihre eigenen Sorgen verraten hatte.

„Bin ich das nicht immer gewesen?“ Es fiel Boyd nicht leicht, bei ihrem flehenden Gesichtsausdruck hart zu bleiben. Sie wirkte dadurch nur umso bezaubernder, aber es war höchste Zeit, Robbie zur Räson zu bringen, bevor er endgültig unter die Räder kam. Boyd hatte erfahren, in welche ausweglose Situation der Junge durch seine Spielleidenschaft geraten war. Er machte sogar Geschäfte mit einem üblen Kerl, den man der Geldwäscherei verdächtigte. Das musste endgültig aufhören.

„Ich wollte in Richtung Mount Garnet reiten“, fuhr Boyd fort und ließ das unangenehme Thema damit fallen. „Du hast doch Reitzeug mitgebracht?“

Leona hatte kaum zugehört, sondern nur überlegt, was er über Robbie wusste. Dass er spielte und wettete, sicher, aber wie stand es mit den Drogen? Oder war da noch etwas? Robbie konnte wirklich nett sein, vor allem zu ihr, doch es fehlte ihm an Charakter. Das war, wie sie wusste, auch für Boyd kein Geheimnis.

„Du zitterst ja“, stellte er besorgt fest. Dabei legte er eine Hand auf ihren bloßen Arm und strich mit dem Daumen sanft über ihre weiche Haut.

Sofort erglühte sie am ganzen Körper. Ihr Blut pulsierte schneller, und das Zittern nahm zu. „Ich reite gern mit dir aus“, sagte sie gepresst.

„Weißt du noch, wann wir zum letzten Mal alleine ausgeritten sind?“

Ob sie sehr rot geworden war? Sie ritten beide, seit sie denken konnte, und hatten es beide zu einer gewissen Vollkommenheit gebracht. Aber an ihren letzten gemeinsamen Ausritt konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern.

„Es wundert mich, dass du es vergessen hast, Leona“, sagte er lachend. Oh, wie sie sein Lachen und seine Stimme liebte! Wenn er ihren Namen aussprach, bekam sie buchstäblich weiche Knie. „Du sagtest damals, du könntest mich nur unversöhnlich hassen.“

Hatte er nicht begriffen, dass sie das lediglich behauptet hatte, um sich gegen seine magische Anziehungskraft zu wehren? Wenn ja, ließ er sie jetzt absichtlich zappeln.

„Ich hasse dich nicht“, sagte sie ernst. „Ich fühle nur eine gewisse Spannung zwischen uns … und du spürst sie gewiss auch. Ich bin nicht dumm.“

Du bist der Himmel für mich. Wenn du mich berührst, vergesse ich alles … sogar mich selbst.

Boyd nickte. „Ich spüre, dass du temperamentvoller wirst, wenn wir zusammen sind … oder auch gegen mich aufbegehrst, wie du willst. Das fing an, als du etwa sechzehn warst. Bis dahin warst du einfach nur süß.“

Du meinst, ich war deine kleine Sklavin.

„Man nennt das Erwachsenwerden“, erwiderte Leona ruhig. „In dem Alter findet man zu sich selbst. Ich gebe allerdings zu, dass du mich manchmal wütend machst. Du bist so unglaublich …“

„Ja?“, drängte er.

„So unglaublich überlegen. Das Familienidol, dem jeder huldigt. Du machst dich über mich lustig, als wäre ich …“

„Blödsinn!“, unterbrach er sie. „Warum sträubst du dich so, meine Frage zu beantworten? Neuerdings weichst du mir nur noch aus, und das macht mich traurig. Was dich ärgert, ist nicht irgendeine vermeintliche Überlegenheit, sondern etwas ganz anderes. Und was das Lustigmachen betrifft, so ist es eher andersherum. Ich sehe es in deinen Augen, höre es an deiner Stimme …“

„Boyd, alle beobachten uns“, warnte sie ihn hastig.

„Na, wenn schon, jeder weiß, dass es zwischen uns knistert.“

„Wie kannst du behaupten, dass ich dir ausweiche?“ Leona kostete ihren kleinen Triumph aus. „Ich habe eben gerade versprochen, mit dir auszureiten.“ Plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Wir reiten doch zu zweit … oder in Gesellschaft?“

„In Zweiergesellschaft“, antwortete er. „Ich möchte mit dir allein sein. Die übrige Familie kümmert mich nicht.“

„Einverstanden.“ Sie wandte sich ab.

„Damals liebtest du mich“, klang es sehr leise hinter ihr her.

Wie angewurzelt blieb sie stehen. Oh, wie recht er hatte! Am liebsten hätte sie sich ihm an die Brust geworfen, ihn umarmt und nie wieder losgelassen. Er hätte die Arme um sie gelegt und sie geküsst. Dann hätte sie das Bewusstsein verloren, oder vielleicht wäre ihre Seele in seine übergegangen.

Doch das alles durfte nicht sein. Stattdessen ging sie langsam zu ihm zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen, um seinem geliebten, gefürchteten Gesicht ganz nah zu sein, und flüsterte: „Jetzt nicht mehr.“

In der Verstellung lag Sicherheit. Es war tausendmal besser, sicher als verzweifelt zu sein.

Über eine Stunde ritten sie durch eine Landschaft, die Leona nie schöner erschienen war. Von der Ostküste bis weit ins Outback hinein hatte Regen die trockene Erde durchtränkt und über Nacht zu neuem Leben erweckt. Das Licht schimmerte golden durch die Bäume, frische Blumen bedeckten verschwenderisch den Boden, und zahllose süße Düfte hingen in der Luft.

So selbstverständlich neben Boyd her zu reiten war köstlicher, als es sich beschreiben ließ. Leona würde die Erinnerung daran für immer festhalten: an seinen Anblick, an die Vertrautheit, in die sich aufregende Fremdheit mischte, an das geliebte Profil mit der ausgeprägten Kinnpartie. Kein Zweifel, mit ihm war ein Traum wahr geworden.

Nachdem sie einige Zeit freies, sonniges Gelände durchquert hatten, kamen sie an einen der vielen Bäche, die Brooklands durchzogen. Unter den Bäumen, die seinem Lauf folgten, wandte Boyd sich lächelnd zu ihr. „Gefällt es dir?“ Selbst im Halbschatten, unter dem frech zur Seite geneigten hellgrauen Hut versprühten seine blauen Augen ihr Feuer. Und Reitkleidung stand Boyd besonders gut.

„Ich genieße jede Sekunde“, schwärmte Leona unbekümmert, „schon wegen des vielen Wassers. Man sieht und hört es fast überall.“

„Ja, das ist der besondere Reiz von Brooklands.“ Er sah amüsiert in ihr strahlendes Gesicht. „Im Sattel fühlst du dich offenbar nicht von mir bedroht.“

Sie lachte. Die Zügel der schnellen, absolut trittsicheren arabischen Stute, die sie ritt, lagen locker in ihrer Hand. „Ich könnte dir ja jederzeit davongaloppieren.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Allerdings hast du nie etwas getan, wodurch ich mich hätte bedroht fühlen können.“

„Ich glaube doch.“

Er sagte das so eigenartig, dass Leona betroffen zur Seite sah.

„Das klingt, als würde es dir etwas ausmachen.“

„Natürlich macht es mir etwas aus.“

„Das spricht für dich.“ Sie fühlte sich plötzlich unsicher, fast ein wenig schwindlig. „Dann weißt du wenigstens, dass bei mir nicht alles nach deinem Willen geht.“

Boyd beugte sich vor, um seinem Braunen die Mähne zu kraulen. „Glaubst du, ich will dir meinen Willen aufzwingen?“

„Manchmal fürchte ich mich sogar vor dir.“

„So ein Unsinn!“, fuhr er auf.

„Nein“, beharrte Leona. Ihre Wangen glühten, und das Atmen fiel ihr schwer. Fast wäre sie in Tränen ausgebrochen, so nah ging ihr alles. Wie sollte sie einem Mann wie Boyd da gewachsen sein?

„Dann werde deutlicher“, forderte er sie auf. „Wovor hast du Angst?“

„Vor allem“, entfuhr es ihr, „aber darum musst du dich nicht kümmern. Du kannst nichts dafür, dass du so bist.“

Trotz der angenehmen Kühle, die am Bach herrschte, rannen Leona einige Schweißtropfen in den Ausschnitt. Sie musste dieses Gespräch beenden, bevor sie von ihren Gefühlen überwältigt wurde. Das wäre ein unverzeihlicher Fehler gewesen.

„Vielleicht wolltest du dich einfach nur schützen“, sagte Boyd, als hätte er damit die Lösung gefunden. Ein Sonnenstrahl huschte über sein Gesicht, das ungewöhnlich ernst war. Fast wirkte er ein wenig verunsichert.

„Wovor?“, fragte sie und merkte, dass ihre Stimme zitterte. Er betrachtete sie nachdenklich. „Weißt du noch, wie du mich als Kind mit deinen vielen Fragen bombardiert hast?“

Leonas Augen leuchteten auf. „Seltsamerweise hast du sie meistens beantwortet.“

„Du warst so neugierig und wolltest alles wissen. Schon als Kind hast du viel gelesen.“

„Das lag wahrscheinlich daran, dass ich nach Mums Tod so einsam war.“ Sie seufzte leise. „Manchmal höre ich sie rufen, wenn ich am See spazieren gehe.“

Das überraschte Boyd nicht. Wenn er den kleinen Marmortempel an einer abgelegenen Uferstelle besuchte, hatte er sich auch manchmal eingebildet, seine Mutter zwischen den Säulen zu erkennen.

„Menschen, die wir geliebt haben, bleiben für immer bei uns“, sagte er leise, um Leona zu trösten. „Das gilt auch für meine Mutter.“

„Die schöne Alexa. Sie war immer so gut zu mir.“ Leona seufzte wieder, als wäre sie immer noch das kleine traurige Mädchen. „Nach Mums Unfall wollte ich nie mehr auf meinem Pony reiten, bis du mir klarmachtest, dass sie das nicht gewollt hätte. Mum liebte Pferde und ritt für ihr Leben gern. Du hast mich davon überzeugt, dass überall Gefahren lauern, die uns aber nicht davon abhalten dürfen weiterzuleben und unsern Wünschen zu folgen.“

„Dann war ich wenigstens zu etwas nutze“, stellte er ironisch fest.

„Ja, das warst du … und bist es noch.“ Sie wurde sich seiner Nähe und der Einsamkeit, die sie beide umgab, immer bewusster. Warum war sie bloß so verkrampft? Warum, um Himmels willen, konnte sie sich nicht entspannen? Weil der Erbe des Blanchard-Vermögens für sie unerreichbar war? Vielleicht sollte sie endlich akzeptieren, dass Boyd und sie in zwei verschiedenen Welten lebten.

Das Schweigen wurde lastender und vieldeutiger. Irgendwann musste sich die Spannung lösen, die sie immer stärker zueinanderzog. Leona wusste, wie gut Boyd sie kannte – besser als jeder andere. Tränen traten ihr in die Augen.

Warum konnten sie nicht immer so zusammen sein? Warum konnte sich ihr Verhältnis nicht so entwickeln, wie sie es sich wünschte?

Nein, das war unmöglich. Die Menschen würden es nicht zulassen, und deshalb verschloss sie ihren sehnlichsten Wunsch tief in ihrem Herzen. Es war so leicht, sich irgendetwas vorzugaukeln, das nie geschehen würde. Die Entfernung zwischen ihr und Boyd war einfach zu groß.

„Was hältst du von einem Wettritt?“, fragte sie plötzlich. „Bis zur Ruine?“ Dabei handelte es sich um keine echte Ruine, sondern um eine ungewöhnliche Felsformation, die aussah wie eine verfallene Burg.

„Du kannst mich doch nicht schlagen, Flower Face.“ Boyd richtete sich aus seiner lässigen Haltung auf.

„Ich will es wenigstens versuchen.“ Sie wendete ihr Pferd und trieb es zum Galopp an. Erschrockene Elstern flogen zeternd auf, und eine Schar wilder Tauben erhob sich in den tiefblauen Himmel.

Boyd ließ ihr einen kleinen Vorsprung. Leona wusste das und überlegte, ob sie sich durch ihre abrupte Flucht nicht verraten hatte. Warum konnte sie mit ihren Gefühlen nicht besser umgehen? War der frühe Tod ihrer Mutter daran schuld? Oder der Verlust ihres Vaters, der sich vor Kummer ganz in seine eigene Welt zurückgezogen hatte? Delia war nie in die Rolle einer Ersatzmutter hineingewachsen. Sie wurde ja nicht mal mit ihrem eigenen Sohn fertig!

Leona jagte so schnell dahin, als wären – wie in alten Wildwestfilmen – Indianer oder Banditen hinter ihr her. Wie lange würde es noch dauern, bis Boyd sie eingeholt hatte? Links tauchte ein Gehölz von Pappeln auf, deren Laub sich im Herbst so wunderbar gelb färbte. Rechts standen chinesische Ulmen, die schon im Frühling mit weißlich grünen Flügelfrüchten bedeckt waren. Dahinter erstreckte sich ein Eukalyptuswald.

Sie wählte den kürzesten Weg zur Ruine, der durch beinahe unberührtes Gelände führte. Als vor ihr eine alte Steinmauer auftauchte, ließ sie sich nicht abschrecken. Die Mauer war von hellgrünen Ranken mit schönen malvenfarbenen Trompetenblüten überzogen. Ein Sprung darüber schien Leona nicht besonders riskant, denn ihre Stute Fatima war geübt im Springen und scheute nie. Und auch sie selbst hatte schon weit höhere Hindernisse überwunden. Ihre Mutter war zwar bei einem ähnlichen Sprung ums Leben gekommen, aber alle hatten bestätigt, dass es ein unglücklicher Unfall und kein Fehler der Reiterin gewesen war.

Fatima flog buchstäblich über die Mauer. Leona stieß einen hellen Schrei aus, obwohl ihr inzwischen der Atem knapp und die Brust eng wurden. Vor ihr tauchte ihr Ziel auf. Sie hatte gewusst, dass sie Boyd schlagen würde. Was für ein Triumph! Schon bei dem Gedanken jubelte sie innerlich auf.

Auch Boyd hatte die Mauer gesehen. Als er begriff, dass Leona wirklich springen würde, stockte ihm der Atem. Wie bei einem Déjà-vu sah er wieder Serenas Unfall vor sich. Unwillkürlich schloss er die Augen und öffnete sie erst wieder, als er Leonas Schrei hörte.

„Tut mir leid, bester Boyd, ich habe dich geschlagen.“ Sie riss ihren Hut vom Kopf und warf ihn hoch in die Luft, um ihren Sieg zu feiern. „Du bist mir doch nicht etwa böse?“

Boyd stieg ab und kam mit zornigem Gesicht auf sie zu. „Warum gehst du so ein Risiko ein?“, fragte er scharf und zug sie aus dem Sattel.

„Das würde ich nie tun“, verteidigte sie sich. „Risiko? Sei nicht albern.“ Das war der Boyd, vor dem sie sich nicht zu fürchten brauchte. Er sorgte sich um sie und würde ihr niemals wehtun. „Du brauchst dich nicht aufzuregen. Ich bin nie leichtsinnig.“

Seine Augen funkelten wie dunkle Saphire. „Das war deine Mutter auch nicht.“

Plötzlich war auch in ihr die Vergangenheit wieder lebendig. Sie erinnerte sich, welches Entsetzen Serenas tragischer Tod ausgelöst hatte. Ihr Vater war wie versteinert gewesen, Alexa hatte Ströme von Tränen vergossen, und Geraldine hatte sie tröstend in die Arme genommen. Mit dem Leben, das sie bis dahin geführt hatten, war es schlagartig vorbei gewesen.

„Es war so ein schöner Ritt.“ Leona wollte keinen Streit aufkommen lassen. „Verdirb ihn uns nicht nachträglich.“

„Verderben?“ Boyd merkte, dass er nahe dran war, die Beherrschung zu verlieren, was sonst niemals geschah. „Warum hast du diese blöde Mauer übersprungen? Du hättest dir das Genick brechen können!“

Diesen Vorwurf hatte sie nicht verdient. „Sie war niedrig“, rechtfertigte sie sich hitzig. „Ich habe schon höhere Hindernisse übersprungen.“

„Nicht mit einem so kleinen Pferd wie Fatima.“

Leona sah ihn verständnislos an. „Fatima mag nicht das größte Pferd im Stall sein“, gab sie zu, „aber ich liebe sie, und sie hat einen sicheren Gang. Wer zum Teufel bist du, dass du mir Vorschriften machst? Wie kommst du dazu, über mich zu bestimmen? Kein Wunder, dass ich dich nicht mag und seit Jahren mit dir streite. Kein Wunder …“

Sie hatte sich in Rage geredet und kaum noch auf Boyd geachtet. Umso überraschender kam seine Reaktion. Er riss sie in einer wütenden Gefühlswallung an sich, legte einen Arm um sie und drückte ihr Kinn unsanft nach oben. „Hör endlich auf, von deiner Abneigung und deiner Furcht zu faseln!“, donnerte er. „Du machst mich krank damit.“

Sie schrie leise auf. „Ich habe mich schon gefragt, wann du es endlich zugeben würdest“, keuchte sie. Boyd war ihr so nah, dass sie kaum noch klar denken konnte. Sie wusste nur noch eines – sie war ihm hoffnungslos ausgeliefert „Lass mich gefälligst los, du brutaler Kerl!“

Noch während sie das sagte, erschrak Leona vor sich selbst. Boyd ein brutaler Kerl? Warum konnte sie nicht herausschreien: Ich liebe dich! Warum musste sie das Geständnis ewig für sich behalten? Was für eine unerträgliche Qual!

„Sei froh, dass ich nicht brutal bin“, erwiderte er lachend, ohne dass sich sein Zorn dadurch milderte. „Ich lasse dich erst los, wenn ich dir eine Lektion erteilt habe … du brauchst dich gar nicht so zu wehren. Ich bin viel zu nachsichtig mit dir gewesen und habe deine Sticheleien viel zu lange geduldet. Wann gibst du endlich Ruhe?“

Wie sollte sie in Sekunden die Wand einreißen, die sie so mühsam zwischen ihnen beiden errichtet hatte? „Niemals!“, schrie sie außer sich, ohne zu erkennen, wie aufreizend herausfordernd sie wirkte. Damit war ihr Schicksal besiegelt.

Boyd drückte sie noch fester an sich und küsste ihre zarten, fein geschwungenen Lippen. In diesem Moment kam er sich tatsächlich wie ein Urmensch vor. Er hätte Leona auf die Arme nehmen und in seine Höhle tragen können. Manchmal machte sie ihn einfach verrückt.

Die Wirkung auf Leona war genauso heftig. Hatte sie nicht im Stillen geahnt, dass es so kommen würde? Sie war hier mit dem Mann, den sie liebte – und zwischendurch immer wieder hasste, weil er sie unweigerlich aus der Fassung brachte.

Sie konnte sich nicht rühren, war wie gebannt von der Nähe des Mannes, den sie heimlich liebte. Noch nie war sie in einen solchen Sinnestaumel geraten. Die Erde schien unter ihr zu beben.

Boyd vergrub beide Hände in ihren rotblonden Locken. „Ich habe es so satt, dass du gegen mich kämpfst“, stöhnte er.

Leonas Beine drohten nachzugeben. Hätte er sie nicht so unbarmherzig festgehalten, wäre sie wahrscheinlich vor ihm zu Boden gesunken.

„Mach deinen Mund auf“, befahl er. „Ich will dich schmecken.“

Es war ein Augenblick wilder, sinnlicher Lust, die Leona den Atem nahm. Verzweifelt presste sie die Lippen zusammen – vergebens.

Um nicht im Meer ihrer Gefühle unterzugehen, schloss sie die Augen und ließ sich von den Wellen tragen.

Boyd küsste sie wild und begierig. Und dann geschah etwas, das Leona eben noch für unmöglich gehalten hatte. Sie erwiderte den Kuss genauso leidenschaftlich und ungehemmt. Sie fühlte nur noch heißes, unstillbares Verlangen. Es war schrecklich und zugleich wundervoll. Wollüstig und göttlich.

Um etwas mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen, schob sie ein Knie zwischen seine Beine und spürte seine volle Erregung. Und sie war der Grund dafür!

Sekunden später ließ Boyd sie los. Stieß sie so heftig zurück, dass sie strauchelte und rückwärts in das dichte honiggelbe Gras fiel, das die Felsen umwucherte.

„Ich kann nicht glauben, was du eben getan hast.“ Sie rang nach Atem und rieb sich mit beiden Händen ihre Schläfen.

„Es ist geschehen“, sagte er ebenso atemlos.

„Und war widerlich!“ Was für eine unerhörte Lüge, und doch kam sie ihr über die Lippen.

„Lüg mich nicht an!“, warnte er sie. „Das funktioniert nicht.“ Einen Augenblick lang musterte er sie forschend, dann half er ihr auf.

Sie sah ihn mit weit geöffneten Augen an. „Ich muss lügen“, beteuerte sie. Die Wahrheit hätte das fatale Wort „Liebe“ eingeschlossen. „Begreifst du das nicht? Wir sind Cousin und Cousine. Wir stammen aus derselben Familie.“

Boyd lachte rau. „Cousin und Cousine zweiten Grades.

Nicht einmal das, wenn du bedenkst, dass dein Großvater und mein Großonkel nur Halbbrüder waren.“

„Was ändert das schon?“ Nie hätte sie sich zwischen Boyd und seine Familie gedrängt. Rupert erhoffte sich eine Verbindung mit Chloe Compton, die ein großes Erbe erwartete. Wie konnte sie sich gegen den Willen des übermächtigen Rupert stellen? Damit würde sie niemals durchkommen.

„Eine ganze Menge.“ Boyd wusste, dass sie an die Pläne seines Vaters dachte, an die er sich niemals halten würde. Er war und blieb sein eigener Herr.

„Dann glaubst du wohl, dass es eine Ehre für mich war, von dir geküsst zu werden?“ Leona redete einfach drauflos. Sie wusste nicht mal genau, was sie sagte und ob es überhaupt einen Sinn ergab.

„Du hast mich genauso leidenschaftlich geküsst. Ich habe allerdings keinen Augenblick angenommen, dass du dazu stehen würdest“, sagte er bitter.

Wie sollte sie ihre brennende Sehnsucht nur weiter verstecken? Sie war eine Frau aus Fleisch und Blut – kein Eiszapfen. Trotzdem gelang ihr die Verstellung, das erkannte sie an Boyds Blick. Er wartete auf etwas Entscheidendes, das von ihr kommen musste, aber sie war zu erregt, um klar denken zu können. Sie hatte die Situation herbeigeführt und beherrschte sie nicht mehr.

In ihrer Hilflosigkeit konzentrierte sich Leona auf ein paar etwas entfernt stehende Bäume. „Lass uns ehrlich sein“, sagte sie. „Ich habe zornig reagiert.“ Wenn sie es so hinstellte, war sie sicher. Zorn lenkte von ihren wahren Gefühlen ab und passte zu ihrem üblichen Verhalten.

„Ach ja?“ Boyd machte ein höhnisches Gesicht. „Warum läufst du dann nicht wieder weg?“

In ihrer Verwirrung tappte sie in die Falle. „Vor wem sollte ich denn weglaufen?“

„Das wissen wir beide ganz genau.“

Mehr denn je spürte Leona die Macht seiner blauen Augen, die fast einen violetten Schimmer angenommen hatten. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr war, als würde sie im Strudel ihres Verlangens untergehen.

Boyd erkannte ihre Zerrissenheit und empfand Mitleid mit ihr. „Komm schon her“, murmelte er und zog sie an seine Brust, als wäre sie noch das kleine Mädchen von damals. „Lass uns heimkehren.“

Gab er sich geschlagen? Fast klang es so, obwohl es nicht zu ihm passte. In diesem Augenblick zählte nur, dass er ihr half und damit seine alte Zuneigung bewies. Leona war ihm dankbar dafür. Zuneigung war erlaubt. Dagegen konnte auch die Familie nichts sagen.

Sie hob den Kopf und sah ihn voller Vertrauen an. „Hast du mich nur aus einer Laune heraus geküsst?“ Wenn er jetzt Ja sagte, könnte sie nicht weiterleben.

„Wenn es eine Laune war, muss ich das Wort in Zukunft anders gebrauchen“, antwortete er ernst.

„Ich habe wirklich manchmal Angst.“ Sie versuchte, ihr Verhalten zu erklären. Ohne Mutter, der Vater vor Trauer in sich gekehrt, hatte sie lernen müssen, alles für sich zu behalten. Natürlich durfte sie Boyd bewundern. Er war der Star der Familie, zu der sie weitläufig gehörte. Eine romantische Affäre würde dagegen große Probleme mit sich bringen. Vielleicht würde sie sogar ihren Job verlieren, wenn Bea sie nicht schützen konnte.

Sie brauchte vor allem Zeit, um gründlich über alles nachzudenken. Boyd und sie hatten so leidenschaftlich aufeinander reagiert, als müssten sie lange Versäumtes nachholen. Würde das so weitergehen? Würden die Sehnsucht und mit ihr die Verzweiflung noch zunehmen?

„Mein armes Mädchen.“ Boyd schien etwas von ihrer Not zu ahnen. „Komm.“ Das war wieder der sanft überredende Ton. „Wir wollen nach Hause.“

Er half ihr in den Sattel und pfiff seinem Braunen, der etwas abseits graste, während Fatima regungslos stehen geblieben war, als hätte sie dem Gespräch gelauscht.

Die Geheimnisse des Herzens, dachte Boyd. Es wurde Zeit, einige von ihnen zu offenbaren. Etwa seine Gefühle für Leona, die ihn schon lange mit ihr verbanden …

4. KAPITEL

„He, da bist du ja! Ich habe überall nach dir gesucht.“ Robbie kam durch den langen Korridor des Westflügels auf Leona zu. Er schien ganz durcheinander zu sein. „Bist du ausgeritten?“

„Du weißt doch, wie gern ich reite.“ Sie versuchte aus alter Gewohnheit, seine Stimmung zu erraten. „Wann bist du angekommen?“

„Vor etwa einer Stunde. Ich hatte gehofft, wir würden zusammen Tennis spielen.“

„Was spricht dagegen?“ Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es würde noch stundenlang hell sein, und körperliche Anstrengung war sicher Balsam für ihre angespannten Nerven. „Ist alles in Ordnung?“ Sie sah ihm direkt in die dunklen Augen. Sollte sie ihn vor Boyds Strafpredigt warnen? Nein, besser noch nicht.

„Jetzt bist du ja da.“ Robbie zuckte lässig die Schultern. „Ohne dich bin ich auf Brooklands verloren.“

„Ist das der einzige Grund für deine Nervosität?“

„Es geht mir gut … ehrlich.“ Das klang fast beleidigt. „Ich hatte das Pech, Tonya über den Weg zu laufen. Die Frau ist wirklich unmöglich. Und Jinty sprüht vor guter Laune. Sie hat mich umarmt, als wäre ich ihr Lieblingsneffe. Rupert war ebenfalls überglücklich, mich wiederzusehen. Wo ist Boyd? Er lässt sich nirgendwo blicken.“

„Wir sind zusammen ausgeritten“, antwortete Leona betont gleichgültig, was ihr nicht leichtfiel. Dabei setzte sie den Weg zu ihrem Zimmer fort.

„Tatsächlich?“ Robbie folgte ihr auf dem Fuß. „Dann kommt ihr euch endlich näher?“

Sie ging unverdrossen weiter. „Nicht dass ich wüsste.“

„Obwohl du sein Schmusekätzchen bist?“

„Ich habe mich immer als sein verlorenes Küken betrachtet“, erklärte sie lachend.

„Aber, Leona … Schatz. Du bemühst dich doch ständig um seine Gunst.“ Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Ich übrigens auch, wenn du es genau wissen willst. Muss ich heute Abend im Smoking erscheinen?“

„Unbedingt.“

„Ich wette, du hast ein fantastisches Kleid mitgebracht.“ Robbie war stolz auf seine schöne Schwester. Niemand sonst hatte so wundervolles Haar, so schimmernde Haut und so strahlende Augen. Sie war einfach ein Traum.

„Ein Kleid, wie es kein zweites gibt“, scherzte Leona. In Wahrheit hatte sie zwei zur Auswahl mitgebracht. Nur deinetwegen, Boyd. Nur für dich. „Hör zu, ich dusche schnell. Der Ritt war anstrengend. Du kannst dich inzwischen umziehen, und wir treffen uns in zwanzig Minuten am Tennisplatz.“

„Du bist ein Engel.“ Robbie umarmte sie. Sein Temperament und seine Herzlichkeit verrieten immer wieder den Südländer. „Soll ich Simon und seine Freundin bitten mitzuspielen? Sie wollen demnächst ihre Verlobung bekannt geben.“ Simon war ein entfernter Cousin und arbeitete auch im Unternehmen der Blanchards.

Leona nickte. „Gute Idee. Emma ist wirklich nett.“

„Und ihre Familie besitzt eine der größten Schaffarmen“, ergänzte Robbie bissig. „Diese Kleinigkeit wollen wir nicht vergessen.“

„Nun ja.“ Leona zuckte die Schultern. „Geld heiratet eben meistens Geld.“

„Und Macht erzeugt Macht. Wirklich beneidenswert! Heutzutage bekommt eine Frau bei der Scheidung das halbe Vermögen des Mannes. Warum soll sie da nicht auch eine anständige Mitgift mitbringen, wie es früher üblich war? Deshalb will der alte Rupert doch Boyd mit Chloe verkuppeln.“

„Robbie!“, wies Leona ihn harsch zurecht.

„Ja, Schatz? Du darfst nicht vergessen, dass Leute mit viel Geld unter ständigem Druck stehen. Sie haben gewaltige Ausgaben. Häuser, Autos, Privatjets, Jachten, Unmengen von Personal … Für Rupert wären Boyd und Chloe das ideale Paar. Übrigens ist sie ein nettes Mädchen. Etwas melancholisch, aber jeder mag sie … sogar ich, der nicht viel von Frauen versteht. Zwei Vermögen sind eben besser als eins. Das sagt einem der gesunde Menschenverstand.“

„Dann sollte ich dich besser nicht daran erinnern, dass Annalisa ein Auge auf dich geworfen hat“, scherzte Leona. Annalisa, ein zartes, intelligentes Mädchen, gehörte zu Robbies Clique.

„Wirklich?“ Ein leichtes Rot überzog seine schmalen Wangen. „Wie könnte ich sie je darum bitten, auch nur mit mir auszugehen? Ich bin das schwarze Schaf der Familie.“

„Robbie“, warnte Leona. „Fang nicht wieder mit dem Unterlegenheitsquatsch an. Das ist alles Einbildung von dir. Du bist ein attraktiver junger Mann. Sie würde dir bestimmt keinen Korb geben.“

Statt zu antworten, stieß er mit dem Fuß gegen einen der zierlichen Rokokostühle, die im Korridor standen. „Hast du etwas von unseren Eltern gehört?“ Seine Stimme hatte wieder den üblichen spöttischen Ton. Paul und Delia Blanchard besuchten zurzeit London – teils aus geschäftlichen Gründen und teils zum Vergnügen. Sie wurden erst in ein paar Tagen zurückerwartet.

„Dad hat mich gestern Abend angerufen“, berichtete Leona, die wegen des kurzen Gesprächs noch immer beunruhigt war. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass ihr Vater einen einstudierten Text aufgesagt hatte. Möglicherweise war er in Delias Anwesenheit zu gehemmt gewesen, einen persönlichen Ton anzuschlagen.

Sie hätte schwören können, dass ihr Vater Delia nicht liebte. Aber er war ein Blanchard, gehörte also zur besseren Gesellschaft, und da war es unerlässlich, mit einer Ehefrau aufzutreten. Für diese Rolle war Delia bestens geeignet, und sie spielte sie gut. Was sie selbst bei dieser Heirat gewonnen hatte, lag auf der Hand: den Namen Blanchard, Vermögen und einen Vater für ihren Sohn.

„Um mich anzurufen, fehlte meiner lieben Mutter wohl die Zeit.“ Es war Robbie anzuhören, wie froh er darüber war.

„Mit mir hat sie auch nicht gesprochen.“

„Ach, Leona … wir armen verlassenen Kinder! Sind wir darum so empfindlich?“

„Vielleicht, aber ich lasse mich deswegen nicht unterkriegen. Das sollte auch für dich gelten. Es ist nicht leicht, zu den Superreichen zu gehören und doch ausgeschlossen zu sein.“

„Du bist nicht ausgeschlossen“, widersprach er. „Du wirst von der Horde akzeptiert. Das werde ich nie erleben.“

„Du hast viele gute Seiten.“ Leona öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. „Geh jetzt und zieh dich um. Wir treffen uns am Tennisplatz. Ob wir Simon und Emma schlagen?“

Robbie strahlte. „Na sicher!“ Er hatte seine gute Laune wiedergefunden.

Als die Geschwister nach ihrem triumphalen Sieg ins Haus zurückkehrten, waren alle Gäste eingetroffen. Im Großen Salon wurden Cocktails serviert, das Dinner war auf acht Uhr festgesetzt.

Leona liebte Festlichkeiten. Sie mochte Männer im Smoking und zog sich selbst gern hübsch an. Jinty und die ehrgeizige Tonya würden wieder miteinander wetteifern. Ihre Familienähnlichkeit ließ sich nicht übersehen. Sie waren beide blond und blauäugig, aber in der Figur unterschieden sie sich gewaltig. Während Jinty mit ihren üppigen Formen kokettierte, versuchte Tonya, durch extreme Schlankheit zu imponieren. Es war ein Kunststück, sie einmal beim Essen zu überraschen.

Nach einem ausgiebigen Bad machte sich Leona sorgfältig zurecht und musterte dann die beiden Kleider, die sie auf dem französischen Prunkbett ausgebreitet hatte. Das eine war aus jadegrünem Crêpe Georgette gefertigt und an der Taille mit einer imitierten Diamantbrosche verziert. Grün war nun einmal ihre Farbe, und das Kleid hatte Stil und wirkte dennoch sexy. Vielleicht zu sexy. Das andere bestand aus Chiffon und hatte einen ganz besonderen Farbton – nicht Pink und nicht Apricot, sondern eine raffinierte Mischung von beidem.

„Der Farbton ist wie für Sie gemacht, meine Liebe. Denken Sie nur an Ihr prachtvolles Haar! Das leichte, duftige Material kann auch nicht jede tragen, aber Sie können es. Greifen Sie zu. Ich schenke es Ihnen“, hatte Bea gesagt.

Das Kleid lag an den Hüften eng an und war einseitig mit Blumen bestickt. Der Mode entsprechend, war der Ausschnitt betont tief, und der weich fließende Rock berührte fast den Boden. Es handelte sich um echte Haute Couture und schrie förmlich danach, getragen zu werden.

Doch als was wollte sie erscheinen? Als Femme fatale oder Frühlingsnymphe? Am Ende entschied Leona sich für die Nymphe, die besser zu ihrem Typ passte. Da hatte Bea recht. Sexy genug war auch dieses Kleid, und sie wollte auf keinen Fall übertreiben.

Für Rupert war und blieb sie die „süße kleine Leona“, und für Boyd … Es war erst Stunden her, dass er sie geküsst hatte. Auch wenn er das nie wieder tat, würde sie sich bis an ihr Lebensende daran erinnern und davon zehren. Hieß es nicht immer, dass jeder Mensch nur einmal die große Liebe erleben durfte? Das war hoffentlich ein Irrtum.

Leona erregte Aufsehen, als sie auf ihren hochhackigen Sandaletten und von Chiffon umschmeichelt den Großen Salon betrat. Einer der vielen Cousins, Peter Blanchard, begrüßte sie sogar mit offener Bewunderung. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit. Er hatte sie oft ausgeführt, und sie mochte ihn sehr. Er sah gut aus, war intelligent und charmant. Außerdem hatte er mehrere akademische Titel erworben. Als Familienmitglied arbeitete er natürlich ebenfalls für das Unternehmen der Blanchards.

Leider konnte er sich in keiner Hinsicht mit Boyd messen. Noch während Peter sie begrüßte, spürte Leona den bohrenden Blick von der anderen Seite des Zimmers. Das Atmen wurde ihr schwer, und es kam ihr vor, als wäre das Chiffonkleid plötzlich durchsichtig geworden. Boyd stand mit seinem Vater vor dem weißen Marmorkamin, über dem ein wertvoller englischer Spiegel aus dem achtzehnten Jahrhundert hing. Beide Männer waren etwa gleich groß und strahlten dieselbe bezwingende Energie aus.

Im Sommerhalbjahr, wenn nicht geheizt wurde, stand eine große chinesische Porzellanvase voller Blumen und Zweige im Kamin. Heute Abend war sie mit Feuerlilien, langen Gräsern und Palmblättern dekoriert. Wie Leona nebenbei feststellte, passten die goldgefleckten Blüten farblich genau zu ihrem Kleid.

Geraldine saß auf einem der damastbezogenen Sofas und winkte sie zu sich. Sie trug Violett, ihre Lieblingsfarbe, die ideal mit ihren majestätischen Ohrgehängen aus Brillanten und Amethysten harmonierte. Tonya, stellte Leona fest, hatte sich halb abgewandt, als wäre ihr „Bühnenauftritt“ vollkommen uninteressant für sie. Sie hielt ein Champagnerglas in der Hand und sah in ihrem kurzen fuchsienroten Abendkleid sehr schick aus. Vor allem die weiblichen Gäste hatten sich mit ihrem Aussehen große Mühe gegeben. Nur Simons Freundin Emma trug ein schlichtes blaues Kleid – allerdings so natürlich und selbstsicher, dass es an ihrer Stellung in der Gesellschaft keinerlei Zweifel geben konnte.

Jinty hatte als Hausherrin den Vogel abgeschossen. Sie sticht alle anderen aus, dachte Leona, als die Gastgeberin auf sie zugeschwebt kam. Sie trug ein schulterfreies schwarzes Satinkleid, das ihren üppigen Busen fast zu stark betonte. Ihr volles blondes Haar war kunstvoll hochgesteckt, was auf einen eigens bestellten Meistercoiffeur schließen ließ. Alles war so berechnet, dass das Prunkstück, die berühmten Blanchard-Brillanten, voll zur Geltung kam.

Vielleicht würde sogar die Queen bei ihrem Anblick neidisch werden, überlegte Leona. Alle Stücke – Collier, Ohrgehänge und Armband – waren aus lupenreinen Diamanten gearbeitet. Die komplette Garnitur war seit der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert im Besitz der Familie. Ein Vorfahre hatte sie von einem südafrikanischen Milliardär gekauft, und sie stammten aus der berühmten Mine, deren Entdeckung noch auf Cecil Rhodes zurückging. Der Schmuck hatte also eine Geschichte.

Leona kannte die berühmten Diamanten. Das letzte Mal hatte Alexa sie anlässlich eines festlichen Balls angelegt. Jinty trug meistens nur die Ohrringe und manchmal das Armband. Mit dem Collier hatte sie sich bisher noch nicht gezeigt. Der Tradition gemäß durfte nur die Ehefrau des Familienoberhaupts den Schmuck tragen. Jinty konnte also nur vorübergehend damit paradieren, was ein Segen war. Falls sie sich von Rupert trennte, bekäme sie eine Abfindung in Millionenhöhe, aber die Blanchard-Diamanten müsste sie zurücklassen.

„Du siehst hinreißend aus“, sagte Leona, als Jinty sie begrüßte. Und das war nicht übertrieben.

„Vielen Dank, Liebes.“ Jinty freute sich über das Kompliment. „Mit den Diamanten komme ich mir wie eine Göttin vor.“

„Sie stehen dir fabelhaft.“

„Und du beweist wieder einmal deinen untadeligen Geschmack“, erwiderte Jinty großzügig. „Woher hast du das Kleid? Die Farbe ist wunderbar und passt ausgezeichnet zu deinem Haar.“

„Bea hat es ausgesucht“, gestand Leona.

Jinty schauderte. „Ich kann die Frau nicht ausstehen, obwohl ich weiß, dass sie ein Genie ist. Rupert duldet nicht die kleinste Kritik an ihr. Komm, du musst unbedingt ein Glas Champagner trinken.“ Sie drehte sich um und erblickte Boyd. „Ah, da kommt Boyd. Er hat schon daran gedacht.“

Er blieb vor ihnen stehen und reichte Leona ein Glas Champagner. „Ich muss dir wohl nicht sagen, wie bezaubernd du aussiehst“, meinte er.

„Das tut sie wirklich“, pflichtete Jinty ihm bei. „Wo steckt bloß dein Stiefbruder, Leona? Ohne ihn können wir nicht mit dem Dinner anfangen.“

„Keine Sorge. Wir haben noch reichlich Zeit.“ Boyd deutete in die Eingangshalle, wo man einen runden Tisch aufgestellt hatte, auf dem eine weitere chinesische Prunkvase mit Rosen, Gerbera, Schwertlilien und Farnblättern ihre volle Wirkung entfaltete. „Da kommt er ja schon.“

„Dieser Bummelant.“ Jinty fürchtete sich etwas vor Robbies scharfer Zunge und eilte davon, als hätte sie etwas Wichtiges zu erledigen.

„Willst du dich nicht setzen?“, fragte Boyd mit einem Blick auf das fragile Kristallglas in Leonas Hand.

„Geraldine hat mir einen Platz angeboten.“

„Gerri kann warten. Dieser Augenblick gehört mir.“ Er nahm ihren Arm, und Leona hatte den seltsamen Eindruck, dass alle Anwesenden ihn dabei beobachteten. Tonya zog die Augenbrauen hoch und warf Blicke wie vergiftete Pfeile. Sie will sich einfach nicht damit abfinden, dass Boyd so gut wie vergeben ist, dachte Leona. Weiter im Rennen zu bleiben und es mit Konkurrentinnen wie Chloe Compton aufzunehmen fand sie ziemlich verrückt, doch Tonya gab einfach nicht auf.

Robbie sah fabelhaft und sehr italienisch aus. Sein Smoking – natürlich von einem italienischen Schneider – saß wie angegossen.

„Entschuldigt, dass ich zu spät komme“, sagte er. „Es passiert mir selten, aber heute hatte ich Probleme mit der Fliege. Du siehst wunderbar aus, Schwesterchen.“ Er musterte sie mit Stolz und Bewunderung. „Nicht wahr, Boyd?“

Boyd lächelte. „Ich weiß nicht, ob ‚wunderbar‘ ausreicht. ‚Zauberhaft‘ scheint mir besser zu passen.“

Robbie entdeckte Jinty. „Allmächtiger!“, flüsterte er. „Trägt sie die Kronjuwelen aus dem Tower?“

„Das sind die Blanchard-Diamanten, mein Junge“, belehrte Boyd ihn. „Sie sind eine Klasse für sich.“

„Die Ohrringe müsstest du eigentlich kennen“, meinte Leona. „Jinty trägt sie am häufigsten.“

„Aber das Collier!“ Robbie war ganz benommen. „Ich kann mich kaum zurückhalten, es aus der Nähe zu betrachten. Allerdings weiß ich nicht, was dann passieren würde. Mit der lieben Jinty ist nicht zu spaßen. Sie könnte mir glatt eine runterhauen.“ Er wandte sich wieder an seine Schwester. „Jinty sieht toll aus, aber wenn ich mir vorstelle, du würdest die Diamanten tragen …“

„Nein, nein und nochmals nein!“ Leona schüttelte heftig den Kopf. Die Blanchard-Diamanten waren für Boyds zukünftige Ehefrau bestimmt. Sie selbst zu tragen konnte sie sich nicht vorstellen. Sie besaß nichts Vergleichbares, nur die kostbaren Ohrringe ihrer Mutter – zwei aus rosa Saphiren und Diamantsplittern gebildete Blüten, von denen zwei barocke Silberperlen herabhingen.

„Du brauchst keine Diamanten, Flower Face“, beruhigte Boyd sie. „Ein einfacher Blumenkranz würde dir am besten stehen.“

Robbie sah ihn erstaunt an. „Das trifft es genau. Wie romantisch du sein kannst, Boyd! Kein Wunder, dass die Frauen dich lieben. Deine Worte sind Poesie.“

„Wenn es um Leona geht, meinst du wohl?“

Robbie überhörte die leise Ironie. „Du hast recht … wenn es um Leona geht.“ Er sah sich nach den Getränken um. „Hört mal, ich brauche unbedingt einen Martini.“

„Nur einen“, warnte Boyd und dachte an das Gespräch, das er morgen Vormittag mit ihm führen wollte. Robbie durfte auf keinen Fall so weitermachen wie bisher.

5. KAPITEL

Um acht Uhr waren alle an der langen Tafel im Speisezimmer versammelt – genau vierundzwanzig Familienmitglieder, die sich in der luxuriösen Umgebung wie zu Hause fühlten.

Es gehörte zu Jintys Pflichten, für eine exzellente Bewirtung zu sorgen. Rupert erwartete das von ihr, und da Geld keine Rolle spielte, hatte sie die besten Fachkräfte engagiert. Nur einige ältere Familienmitglieder beschwerten sich hinter vorgehaltener Hand über Jintys ausgesprochene Vorliebe für exotische Gerichte.

Leona saß ein Stück rechts von der Mitte der Tafel neben Peter. Robbie und Geraldine hatten ihnen gegenüber Platz genommen. Boyd setzte sich neben Jinty, schräg gegenüber von Tonya. Jeder war nach der althergebrachten Rangordnung innerhalb der Familie platziert worden.

„Die Blumen hat ein Künstler dekoriert“, sagte Leona zu Peter und berührte sacht eine Rosenblüte.

„Jinty war es jedenfalls nicht“, pflichtete er ihr bei. „Ihre ersten Versuche in dieser Hinsicht sind kläglich gescheitert.“

Das stimmte. Leona war immer der Meinung gewesen, bei Blumen könne man nichts falsch machen, aber auch hier führte offenbar nicht jeder Weg zum Ziel. Es kam vor allem auf die Kombination der Farben an. Heute Abend standen in gleichmäßigen Abständen mit Efeu umwundene Glasvasen auf dem Tisch. Sie waren mit lachsfarbenen und weißen Rosen gefüllt, eine vollendete Ergänzung zu dem cremefarbenen Damasttischtuch, dem goldumrandeten Geschirr und den goldenen Serviettenringen. Das Arrangement war perfekt.

Der erste Gang wurde serviert: große Kammmuscheln auf asiatischem Risotto mit Zitronenscheiben und einer pikanten Soße. Leona fand nichts daran auszusetzen. Während sie an ihrem Weißweinglas nippte, fing sie Boyds Blick auf. Sie war wie gebannt. Wie leicht war es doch, sich in diesen tiefblauen Augen zu verlieren!

Peter berührte flüchtig ihren Arm. „Hörst du mir überhaupt zu?“

„Oh ja, natürlich.“ Sie nahm sich zusammen. „Du hast von deiner Reise in die Antarktis erzählt … und davon, wie sehr sie dich verändert hat.“

Er lächelte zufrieden. Die ganze Familie wusste von seiner Schwärmerei für Leona. „Die Antarktis ist fantastisch … eine Welt aus blendend weißem Eis. Es mag seltsam klingen, aber nur eine andere Landschaft hat bisher so stark auf mich gewirkt.“

„Du meinst sicher unser Outback mit seiner unendlichen Weite, seiner Mystik und großen Einsamkeit“, vermutete Leona.

„Gut geraten.“ Er legte kurz seine Hand auf ihre. „Beides hat eine magische Wirkung auf mich. Manchmal träume ich davon, ein Abenteurer und Entdecker zu sein“, fügte er etwas verlegen hinzu.

„Dafür hast du gelernt, mit riesigen Geldsummen umzugehen“, tröstete sie ihn.

„Zugegeben, das hat auch seinen Reiz. Ich warte schon ungeduldig auf das Polomatch morgen Nachmittag. Die Bewegung wird mir guttun. Du kommst doch und feuerst mich an?“

„Darauf kannst du aber Gift nehmen“, versicherte Leona lächelnd.

Der Hauptgang bestand aus Lammrücken im knusprigen Kräutermantel mit traditionellem Gemüse. Nur die überbackenen, mit Erbsen und Frühlingszwiebeln gefüllten jungen Gurken stellten eine Überraschung dar. Rund um den Tisch wurde angeregt geplaudert. Jinty unterhielt sich ausschließlich mit Boyd. Sie machte kein Hehl aus ihrer Vorliebe für ihn und kümmerte sich nicht um die wachsende Ungeduld ihrer Schwester.

Sogar Leona konnte von ihrem entfernten Platz aus sehen, wie nervös Tonya war. Auch Robbie entging das nicht, und er zwinkerte seiner Schwester über den Tisch hinweg zu. Sie wusste, was er damit sagen wollte: Wunderst du dich nicht, dass der alte Rupert das duldet?

Ruperts Nachsicht war tatsächlich schwer zu begreifen. Was mochte er davon halten, dass seine Frau ihren Stiefsohn so offensichtlich bevorzugte? Er konnte unangenehm werden, wenn ihn etwas ärgerte, und vielleicht musste sie ihr Verhalten mit einer heftigen Auseinandersetzung bezahlen. Andererseits wusste Rupert, dass Boyd ein brillanter Unterhalter war, dem die Frauen nur schwer widerstehen konnten. Wenn er so dachte, würde Jinty wahrscheinlich ungeschoren davonkommen.

Als Nachtisch standen zwei Süßspeisen zur Auswahl: Bitterschokoladentorte und Ruperts Lieblingsdessert – ein reich geschichteter Apfelauflauf mit Crème anglaise, einer Buttercreme mit leichtem Vanillegeschmack.

„Ich hoffe nicht, dass Rupert den Apfelauflauf regelmäßig isst“, flüsterte Peter. „Er hat Unmengen von Kalorien, und sieh nur … Rupert hört nicht auf, sich Creme auf den Teller zu häufen!“

„Er wird trotzdem ewig leben“, antwortete Leona ebenso leise. „Nur gute Menschen sterben jung.“

Nachdem sich die Gäste ausgiebig mit Mokka und Likör erfrischt hatten, kehrten sie in den Salon zurück, wo die Hausherrin sie musikalisch unterhalten wollte. Jinty war eine beachtliche Sängerin. Sie besaß einen angenehmen Mezzosopran, mit dem sie klassischen Blues vortrug, der durch Ella Fitzgerald oder Peggy Lee berühmt geworden war. Dazu begleitete sie sich selbst auf einem Steinway-Konzertflügel, dem Prunkstück des Salons.

„Klatsch nicht zu sehr“, bat Peter, bevor er sich mit Leona hinsetzte. Er war kein großer Musikfreund. „Sonst sitzen wir morgen noch hier.“

Aber wer Jinty kannte, wusste, dass sie ihr Programm genau im richtigen Moment beenden würde. Eine gute Stunde – mehr mutete sie ihren Zuhörern nicht zu. Es gab lebhaften Applaus, als sie sich majestätisch von der Klavierbank erhob und leicht verbeugte. Auf ihrem sonst hochmütigen Gesicht lag ein weicher Ausdruck, und die Blanchard-Diamanten versprühten ein Feuer, gegen das sogar die vier vergoldeten Kronleuchter verblassten.

„Was würde ich allein für die Ohrgehänge geben!“, flüsterte eine angeheiratete Verwandte hinter Leona. Vielleicht wollte sie ihren Ehemann damit anspornen, mehr Geld zu verdienen.

Es war ein besonders schöner Abend mit einem klaren, sternenübersäten Himmel. Einige Gäste waren auf die Terrasse getreten, um frische Luft zu schöpfen und die vielfältigen Empfindungen, die Jintys gefühlvoller Vortrag ausgelöst hatte, nachklingen zu lassen.

Bevor Leona ebenfalls hinausging, bemerkte sie gerade noch, dass Jinty ihren – sicherlich ziemlich schweren – Ohrschmuck abnahm und in eine vergoldete Deckelvase gleiten ließ. Die Vase gehörte zu einer kleinen Sammlung aus der berühmten Manufaktur von Limoges. Die teuren Stücke standen auf einem zierlichen runden Tischchen, dessen Platte von zwei vergoldeten Schwänen mit geneigten Hälsen getragen wurde.

Das war nachlässig von Jinty. Sträflich leichtsinnig. Was für eine Katastrophe, wenn ein Stück der Garnitur verloren ging! Natürlich vertraute Jinty sowohl den Gästen als auch den Angestellten, aber trotzdem … Nie im Leben wäre ich so unvorsichtig, dachte Leona. Rupert würde explodieren, falls die kostbaren Ohrringe plötzlich verschwunden wären. Verkaufen konnte man sie allerdings nicht – jedenfalls nicht auf dem offenen Markt. Das musste sich auch der dümmste Dieb sagen. Dazu waren die Blanchard-Diamanten viel zu berühmt.

Leona lief auf Jinty zu, um … ja, um was zu tun? Sie zurechtzuweisen oder wenigstens zu warnen? Damit würde sie bei der Herrin von Brooklands schlecht ankommen. Als Ruperts Ehefrau war sie Königin seines ganzen Reichs. Doch das schreckte Leona nicht. Sie eilte weiter – eine dahinfliehende, von Chiffon umspielte Frühlingsnymphe – und war schon bis zur Mitte des Zimmers gekommen, als jemand sie festhielt.

„Wohin so eilig?“

Leona fuhr herum. „Ach, du bist es, Boyd. Ich wollte … wollte gerade …“

„Heraus damit, Flower Face.“

Was sollte sie sagen? Jinty hat den diamantenen Ohrschmuck abgenommen und in eine der Limoges-Vasen gelegt. Ist der Platz nicht zu unsicher? Unmöglich. Jinty war blamiert, wenn Boyd davon erfuhr. Immerhin war die Diamantengarnitur für seine spätere Ehefrau bestimmt.

„Ich wollte nur etwas frische Luft schnappen“, versuchte Leona sich herauszureden, um Jinty nicht bloßzustellen.

„Hier drinnen?“, fragte Boyd spöttisch. „Du warst wohl auf der Flucht vor dem beharrlichen Peter. Du solltest den armen Kerl endlich von seiner Qual erlösen.“

„Ich bin für diese Qual nicht verantwortlich“, widersprach sie empört. „Was kann ich dafür, wenn Peter immer noch für mich schwärmt?“

Boyd lächelte. „Zum Schwärmen ist er eigentlich zu alt.

Er muss achtundzwanzig geworden sein.“

„Na und?“ Sie sah ihn feindselig an. „Es gibt Männer, die noch mit achtzig schwärmen können. Denk an Goethe, an Tolstoi oder nur an Großonkel William, der sich in eine zwanzigjährige Balletttänzerin verliebte. Mancher findet sogar noch mit neunzig im Pflegeheim seine große Liebe. Ich bin sicher …“

„Schon gut“, unterbrach er sie. „Lass uns hier nicht streiten. Ich hatte gehofft, wir könnten einen Augenblick allein sein.“

„Gehofft?“, wiederholte Leona herausfordernd. „So gut gefalle ich dir doch gar nicht.“

„Aber es gefällt mir, dich zu küssen.“ Boyd führte sie auf die Terrasse. „Wo hast du übrigens deine diesbezüglichen Fähigkeiten erworben?“

„Ich bin ein Naturtalent. Wusstest du das nicht?“ Sie winkte Geraldine, die mit mehreren Verwandten zusammenstand. Geraldine winkte zurück. Ihre grauen Augen blitzten vor Neugier.

„Ja, ja.“ Er seufzte gespielt. „Die Natur bleibt die beste Lehrmeisterin.“

„Genau wie bei dir. Du bist in jeder Weise …“

„Schnell … hier herüber!“ Er zog Leona hastig zur Seite.

„He!“, beschwerte sie sich, aber dann begriff sie. „Ah, du hast Tonya gesehen.“ Sie gab sich keine Mühe, ihre Schadenfreude zu verbergen. „Oder war es vielleicht Jinty? Sie ist dir wirklich sehr zugetan.“

Boyd steuerte auf einen von Kamelienbüschen gesäumten Weg zu, der unterhalb der Terrasse begann. „Ich wünschte, Jinty würde sich daran erinnern, dass sie eine glücklich verheiratete Frau ist“, sagte er bedrückt.

„Das macht sie nicht gegen deinen Charme immun“, erinnerte Leona ihn. „Abgesehen davon … ist sie wirklich so glücklich?“

Sie bewegten sich wie Schatten an den Büschen entlang.

Der Lichtschein vom Haus wurde immer schwächer, und bald schimmerten nur noch die Sterne durch die Baumkronen.

„Jinty weiß Geld zu schätzen“, meinte Boyd.

„Das tun die meisten Menschen.“ Leona sah das ganz nüchtern. „Sie bestreiten es und lieben das Geld umso mehr.“

„Bei Jinty kommt noch hinzu, dass Dad viel großzügiger sein kann als die meisten Ehemänner. Das war ihr von Anfang an bewusst.“

„Und wenn Rupert sagt: ‚Spring!‘ – dann muss sie springen.“ Schon der Gedanke war Leona zuwider.

„So steht es wohl im Vertrag“, bestätigte Boyd trocken.

„Müssen reiche Menschen immer Verträge schließen? Sollte man die Liebe nicht höher einschätzen?“

„Ein schöner Gedanke, Flower Face.“

„Zum Glück bist du dein eigener Herr“, spottete sie. „Dass dein Vater Chloe Compton für dich ausgesucht hat, kümmert dich nicht.“

„Der Hinweis ist ziemlich überflüssig.“ Boyd ging mit großen Schritten weiter. Die entzückende Leona lebte dafür, sich ihm zu widersetzen. „Manchmal zählen Dads Wünsche nicht. Ich finde Chloe nett, aber ich bin nicht in sie verliebt.“

„Das mag sein, aber sie liebt dich.“ Leona fühlte sich verpflichtet, ihn deutlich darauf hinzuweisen. „Könntest du vielleicht etwas langsamer gehen? Ich habe nicht so lange Beine wie du.“

„Entschuldige.“ Er verringerte das Tempo sofort. „Ich habe nicht vor, Chloe einen Verlobungsring zu schenken … falls du das glaubst.“

„Was ich glaube, spielt in diesem Fall keine Rolle“, antwortete sie ernst. „Ich bin nur deine Cousine … um mehrere Ecken herum. Solltest du dich mit Chloe verloben, würde Tonya bestimmt einen Nervenzusammenbruch bekommen.

Keine üble Vorstellung, muss ich sagen. Und deine anderen Verflossenen … denkst du an die gar nicht mehr?“

„Es wäre mir lieb, wenn du meine ‚Verflossenen‘ außen vor lassen würdest“, bat er. „Tonya zählt übrigens nicht dazu. Dad lädt sie nur ein, um mich zu ärgern.“

Leona nickte. „Ich merke, du weißt Bescheid. Das ändert aber nichts daran, dass du den Ruf eines Don Juan genießt.“

Boyd blieb abrupt stehen. „Schluss damit!“, forderte er barsch. „Ich dachte, du hättest heute Nachmittag genug gelernt.“

„Heute Nachmittag?“, wiederholte sie unschuldig. „Ich kann mich an nichts erinnern.“

„Dann wollen wir deine Erinnerung auffrischen.“

Er nahm sie in die Arme, und Leona hätte nicht sagen können, welches Gefühl in ihr vorherrschte – Erregung, Verlangen, Schwäche bis zum Umfallen oder einfach Angst. Er besaß die Macht, ihr Innerstes nach außen zu kehren. Sollte sie dieser Macht vertrauen? Sollte eine Frau irgendeiner Macht vertrauen? Dabei ging es nicht nur um sinnliches Verlangen. Es war viel, viel mehr – eine Art von Erlösung, eine endgültige Heimkehr.

Seine und ihre Seele waren eins. Beim Küssen hatte sich eine Tür geöffnet, die besser geschlossen geblieben wäre. Nur die Zeit würde zeigen, was sich dahinter verbarg.

„Ich begehre dich“, flüsterte Boyd rau. Er hatte seine Hände um ihr Gesicht gelegt und streichelte Kinn und Wangen.

Leona wollte sprechen, aber die Stimme versagte ihr. Stattdessen überlief sie ein nervöser Schauer. War es Angst oder Sehnsucht? Oder beides? Warum konnte sie sich nicht von Boyd lösen? Er war ein Blanchard, der Erbe des Familienimperiums. Sie stand in der Familienhierarchie so weit unter ihm. Sie war einfach keine Partnerin für sie.

„Das ist Wahnsinn!“

„Dann bin ich schon lange wahnsinnig“, raunte er und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.

Dieses Geständnis ließ Leona alles vergessen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Als Boyd ihre Brust berührte und sie zu liebkosen begann, ließ sie es willig geschehen.

Erst nach einer Weile kehrte die Vernunft zurück. Ich begehre dich. Was meinte er damit? Suchte er eine Affäre? Wollte er das Geheimnis ergründen, das er in ihr vermutete? Es gab so viele offene Fragen.

„Boyd“, hauchte sie. „Das dürfen wir nicht …“

„Jetzt bist du nicht ehrlich“, unterbrach er sie. Seine Stimme klang weicher und noch tiefer als sonst. „Es ist nun einmal passiert.“ Langsam, als wollte er jede Sekunde auskosten, suchten seine Lippen die ihren.

Leonas Widerstand brach nun endgültig zusammen. Das Verlangen war stärker als ihr Wille. Boyd küsste sie, wieder und wieder, und sie ließ es geschehen.

Sie war bei ihm. Wie sollte sie jemals ohne ihn sein?

Auf dem Rückweg fing Tonya sie ab. „Wo seid ihr bloß gewesen?“, fragte sie mit schriller Stimme.

Boyd lachte. „Darf man wissen, was dich das angeht?“

Trotz der Dunkelheit war zu erkennen, dass Tonya errötete. „Mein Gott, Boyd“, schmollte sie. „Deine Verwandten fragten sich, wo ihr geblieben wart. Das ist alles.“

„Ich habe tagsüber genug mit ihnen zu tun“, erklärte er grimmig. Leona hatte sich bei ihm eingehakt und spürte, wie er sich verkrampfte.

„Trotzdem möchten sie dir gute Nacht sagen.“ Tonyas Blick war so stechend, als wollte sie Leona damit erdolchen. „Warum lässt du den armen Peter so verzweifelt nach dir suchen?“

„Lass gut sein“, antwortete Boyd für sie. „Leona und Peter sind kein Liebespaar.“

Tonya lachte höhnisch. „Das solltest du besser ihm sagen!“ „Woher hast du bloß die Gabe, alles misszuverstehen?“, fragte Boyd. Er war am Ende seiner Geduld.

„Ich verlasse mich auf meine Augen“, versetzte Tonya, ohne zu merken, wie sehr sie ihn reizte.

„Dann solltest du dir eine Brille verschreiben lassen.“

„Wollen wir nicht weitergehen?“, mischte sich Leona ein, die gern kurz in einen Spiegel geschaut hätte. Wenn ihr Lippenstift verschmiert war, würde Tonya es sofort bemerken und die peinlichsten Fragen stellen. Doch die brauchte keinen Anlass, um ihr zuzusetzen.

„Als brave Schwester hättest du dich mehr um deinen Bruder kümmern sollen“, tadelte sie, als wäre Leona ein widerspenstiges Kind. „Er sagt allen die unmöglichsten Dinge.“

„Ehrlichkeit zählt zu seinen wenigen Tugenden“, bestätigte Boyd. „Vielleicht hättest du die Einladung zu diesem Wochenende nicht annehmen sollen.“ Die letzten Worte klangen wie eine Zurechtweisung. Tonya hätte taub sein müssen, um das nicht zu erkennen.

Leona wartete ihre Reaktion nicht ab. Sie wollte nicht Zeugin von Tonyas Erniedrigung sein, so verdient diese auch sein mochte. „Entschuldigt mich“, sagte sie und machte ihren Arm frei. „Auf der Terrasse ist niemand mehr zu sehen, und hier draußen wird es kühl. Ich gehe wieder hinein.“

6. KAPITEL

„Wo hast du bloß gesteckt?“ Peter stand direkt hinter der offenen Terrassentür. Er schien auf Leona gewartet zu haben.

„Hast du dir Sorgen gemacht?“, fragte sie irritiert. „Hätte ich mich vielleicht abmelden sollen?“

„Nein, aber …“

„Dann ist es ja gut.“ Ein rascher Blick überzeugte Leona davon, dass sich die meisten Gäste in ihre Zimmer zurückgezogen hatten. „Sei mir nicht böse, Peter, aber es war ein langer Abend. Gute Nacht.“

Auf dem Weg zur Treppe passte Robbie sie ab. Er sah beängstigend aus. Sein Gesicht war kreidebleich, die Augen glänzten fiebrig. Offenbar hatte er zu viel getrunken. Er neigte dazu, alles zu übertreiben.

„Wo warst du?“

Leona konnte kaum noch an sich halten. „Du bist der Dritte, der mich das fragt. Bei Tonya war es allerdings schon keine Frage mehr. Sie verlangte Auskunft.“

„Die arme Tonya ist ein Dummkopf“, schimpfte Robbie. „Manchmal bezweifle ich, dass sie und Jinty Schwestern sind. Jinty hatte wenigstens genug Verstand, um sich den alten Rupert zu angeln. Also, warum warst du plötzlich verschwunden?“

„Boyd und ich haben einen Spaziergang gemacht.“

Robbie stieß einen leisen Pfiff aus. „Also darum ist Tonya euch gefolgt.“

„Was meinst du?“ Leona stellte sich unwissend.

„Mir kannst du nichts vormachen. Du warst schon als kleines Mädchen in Boyd verliebt. Jetzt bist du erwachsen und dazu eine Schönheit. Das ist auch ihm nicht entgangen.“

Sie nahm ihn am Arm und zog Robbie zur Treppe. „So oder so … das führt alles zu nichts.“

„Unsinn. Du bist etwas Besonderes. Glaubst du, das weiß Boyd nicht? Lass ihn nur nicht in dein Bett, bevor ihr verheiratet seid. Ich kenne mehr als eine, die dadurch ihre Chancen verspielt hat.“

„Ich werde es mir merken, Brüderchen.“ Sie hatten den oberen Treppenabsatz erreicht, und Leona nahm sich Zeit, Robbie genauer zu betrachten. Er sah wirklich elend aus. „Was ist los?“, fragte sie besorgt. „Du bist totenblass. Du darfst nicht so viel trinken.“

Er schwieg und schloss die Augen.

„Robbie!“ Sie schüttelte ihn an der Schulter.

„Großer Gott!“, stöhnte er. Das war nicht nur so dahingesagt. Es klang fast wie eine Bitte um Vergebung.

„Robbie, was ist passiert? Du steckst in Schwierigkeiten, nicht wahr?“ Sie ließ ihn nicht aus den Augen. „Sprich mit mir … bitte.“ Wenn er sich nicht endlich zusammenriss, lag eine schlimme Zukunft vor ihm, und das wollte sie nicht erleben. „Komm.“ Sie zog ihn den Korridor entlang. „Hier ist mein Zimmer.“

„Mach die Tür zu“, drängte Robbie und ließ sich in einen der vergoldeten Rokokosessel fallen. „Jintys Dekorationsversuche sind zum Heulen. Allein dieses Bett … einfach verrückt.“ Er stützte seinen Kopf in beide Hände.

„Vergiss das Bett“, sagte Leona. „Was ist los mit dir? Kann ich irgendetwas für dich tun?“

„Ich bin nicht betrunken, ich kenne Ruperts Hausregeln.“ Er brach in höhnisches Gelächter aus.

„Robbie, bitte! Mach mich nicht unglücklich. Was ist passiert?“ Sie ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Kopf. „Was immer es ist, du kannst es mir sagen. Wir halten zusammen.“

„Diesmal kannst nicht einmal du mir vergeben“, stöhnte er. „Ich kann es ja selbst nicht. Ich bin schlecht, Leo … und nicht bei Verstand. Carlo hat mich auf dem Gewissen.“

„Lass Carlo aus dem Spiel. So schlecht war er auch wieder nicht.“ Leona wunderte sich selbst, dass sie Robbies fahnenflüchtigen Vater verteidigte. „Ich vermute schon lange, dass Delia ihn übel verleumdet hat. Sie wollte damit das Wohlwollen der Familie gewinnen. Wenn ich du wäre, würde ich ihn ausfindig machen. Er kann nicht halb so schlecht gewesen sein, wie deine Mutter ihn macht. Sie ist eine falsche, hinterhältige Person.“

„Das stimmt wohl.“ Robbie richtete sich mühsam auf. „Aber etwas Mafiablut fließt trotzdem in mir.“ Er griff in die Innentasche seines Smokingjacketts und zog zu Leonas Entsetzen Jintys Ohrgehänge heraus.

Im ersten Moment war sie so schockiert, dass sie kein Wort sagen konnte. Dann presste sie beide Hände gegen die Brust, als wäre sie von einer Pistolenkugel ins Herz getroffen worden. „Um Gottes willen, Robbie“, jammerte sie. „Was hast du dir bloß dabei gedacht? Erklär mir das! Bist du verrückt geworden?“

Er nickte. „Zweifellos. Nenn es vorübergehende Geistesgestörtheit. Ich lebe unter lauter steinreichen Menschen und habe selbst nichts davon. Geld korrumpiert. Es führt einen in Versuchung, und am Ende lauert der Untergang.“

Leona stand wie erstarrt da. „Wir müssen den Schmuck zurückbringen“, sagte sie. „Hast du gesehen, wie Jinty ihn in die Vase legte?“

„Etwas Dümmeres hätte sie nicht tun können“, murmelte Robbie, als würde der Diebstahl durch Jintys Leichtsinn gerechtfertigt.

„Den Schmuck zu stehlen war noch dümmer“, versetzte Leona. „Was wolltest du überhaupt damit anfangen? Die Blanchard-Diamanten sind berühmt.“

Er sackte immer mehr in sich zusammen. „Ich sagte doch … ein Anfall von Wahnsinn. Das Ganze ist ein Albtraum. Ich brauchte nur Sekunden, um wieder zur Vernunft zu kommen. Das schwöre ich. Darum habe ich auch so verzweifelt nach dir gesucht.“

„Damit ich den Schmuck wieder zurückbringe?“ Leona war aufs Neue fassungslos. „Ich habe dich viel zu sehr verwöhnt, weil ich deine Schwester bin und immer für dich da sein wollte. Was ist das Ergebnis? Du versündigst dich gegen die Familie. Rupert bringt dich an den Galgen, darauf kannst du wetten.“

„Nur gut, dass man diese Strafe abgeschafft hat.“ Robbie verzog das Gesicht. „Verzeih mir. Ich habe für einen Moment einfach die Kontrolle verloren. Ich wollte es der hochnäsigen Sippschaft zeigen. Die meisten Blanchards behandeln mich wie den letzten Dreck.“

„Komm jetzt bloß nicht mit deinem Selbstmitleid“, wetterte Leona los, ging aber trotzdem zu ihm und nahm ihm den Schmuck aus der Hand. „Ich muss sie zurückbringen … und zwar sofort.“

Robbie sprang auf. „Das kommt überhaupt nicht infrage! Ich muss endlich lernen, für mich selbst einzustehen. Ich gehe zu Boyd und beichte ihm alles. Er wird mich einen dummen Jungen nennen, mir tüchtig den Kopf waschen, aber dann eine Lösung finden.“

„Boyd? Auf keinen Fall. Wir dürfen ihn da nicht hineinziehen. Ich bringe den Schmuck zurück. Alle Gäste sind schlafen gegangen.“

„Und wenn Jinty ihn inzwischen holen wollte und gemerkt hat, dass er fort ist?“

Leona schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen. Wenn es so wäre, hätte sie das ganze Haus zusammengeschrien.“

„Ja, man hätte gegen die Türen gehämmert und alle aus dem Bett geholt.“ Robbie atmete etwas auf. „Lass mich gehen.“

„Und wenn du erwischt wirst? Nein, überlass das lieber mir.“

Leona huschte den Korridor entlang. Kein Mensch war zu sehen, nur die Ahnen auf den Porträts folgten ihr mit strengen Blicken. Auch die Treppe konnte sie unbemerkt hinuntereilen, es sei denn, unsichtbare Geister hatten sich an ihre Fersen geheftet. Es war totenstill.

Noch nie hatte sich Leona so gefürchtet. Ihre Hand umklammerte die Diamanten. Sie fühlten sich kalt wie Eiswürfel an. Die Kronleuchter waren ausgeschaltet, nur einige Wandlampen spendeten spärliches Licht. Leise wie eine Maus schlich sie weiter. Wenn sie nun jemandem begegnete? Etwa Rupert? Das würde sie nicht überleben. Rupert hatte den Ruf, immer im falschen Moment aufzutauchen. Wie sollte sie ihm erklären, warum sie noch einmal herunterkam? Um ein Buch aus der Bibliothek zu holen? Nein, das war zu fadenscheinig. Sie konnte vorgeben, selbst einen Ohrring verloren zu haben. Noch schlechter, denn sie trug die Ohrringe noch. Außerdem wäre es die größte Dummheit gewesen, den hellhörigen Rupert auf Ohrringe hinzuweisen.

Die Tür zum Salon war geschlossen. Leona blieb stehen und lauschte. Als alles ruhig blieb, öffnete sie die Tür, ging aber nicht weiter. Wie hatte Robbie etwas so Irrsinniges tun können? Diebstahl war ein Verbrechen, und er verdiente, dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Sie sprach sich selbst Mut zu und wagte sich dann in den Salon. Auch hier spendeten noch einige Wandlampen Licht, und es blieb still. Armer Robbie. Arme Leona.Wie ein schwereloses Wesen schwebte sie vorwärts, auf dem weichen Teppich war kein Schritt zu hören. Aus unerfindlichen Gründen kam sie sich wie eine gemeine Diebin vor. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Jeden Moment konnten Jinty oder Rupert auftauchen, um sie dingfest zu machen. Sie musste sich beeilen.

Endlich hatte sie das vergoldete Schwanentischchen erreicht und streckte die Hand aus, um den Deckel von der Vase abzunehmen. Lieber Gott, hilf mir! Würde Gott einer Sünderin helfen, die doch nur versuchte, ihrem Bruder beizustehen?

„Leona?“, erklang es hinter ihr.

Sie fuhr zusammen. Diese Stimme kam nicht vom Himmel.

„Was machst du hier unten? Konntest du nicht schlafen?“

Tränen schossen ihr in die Augen, und ihr Atem stockte. Das Spiel war aus, die Demütigung vollkommen.

„Leona?“, wiederholte Boyd. „Geht es dir gut?“

Das klang besorgt, aber was sollte sie antworten? Nein, es geht mir nicht gut, und wird mir nie wieder gut gehen. Ausgeschlossen.

Sollte sie sich umdrehen, ihm die Diamanten entgegenhalten und frech sagen: Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und will sie jetzt zurückbringen?

Ja, das war eine Möglichkeit. Für Robbie wäre es das Ende gewesen, sie hingegen genoss Boyds Schutz. Er würde schockiert und entsetzt sein, aber er würde sie nicht ausliefern. Er war nicht Rupert. Boyd hatte ein großes Herz.

Als sie immer noch zögerte, verlor er die Geduld und kam näher. Leona spürte seine Hände auf ihren Schultern, dann wurde sie sanft, aber unaufhaltsam umgedreht.

„Sag mir, was los ist.“

Sie wandte sich ab. „Nichts.“

„Das glaube ich dir nicht.“ Er wollte ihre Hand nehmen, über die sie plötzlich keine Gewalt mehr hatte. Die Ohrgehänge entglitten ihren starren Fingern und fielen auf den kostbaren Aubusson-Teppich.

„Das kann nicht sein“, stöhnte Boyd und bückte sich, um sie aufzuheben.

Leona zitterte am ganzen Körper. „Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist …“

„Aber ich weiß es.“ Er führte sie zu einem Sessel. „Robbie steckt in Schwierigkeiten, nicht wahr? Hat er wirklich geglaubt, sie durch den Diebstahl der Diamanten aus der Welt zu schaffen?“

Es war furchtbar – Boyd hatte sofort den richtigen Verdacht. „Mit Robbie hat das nichts zu tun“, verteidigte sie ihren Bruder.

„Dann hast du sie gestohlen?“ Zweifel und Vorwurf hielten sich in seiner Stimme die Waage.

„Es war eine … momentane Bewusstseinstrübung. Ich wollte den Schmuck selbst einmal tragen und dann gleich wieder zurückbringen. Das habe ich eben versucht. Du hast es sicher nicht bemerkt, Jinty nahm ihn nach ihrem Konzert ab und legte ihn in die Vase.“

„Ah!“ Boyd dachte kurz darüber nach. „Erzähl bitte der Reihe nach. Wann bist du heruntergekommen, um den Schmuck zu holen? Du warst mit mir im Garten, und wir haben uns geküsst. Dann sagtest du gute Nacht und gingst nach oben in dein Zimmer. Ich sah dich mit Robbie auf der Treppe … deinem ‚kleinen Bruder‘.“

„Aber es ist die Wahrheit!“ Leona sah ihn ängstlich an. Wie groß und drohend er vor ihr stand!

„Nein, du tischst mir eine dumme Lüge auf. Warum bist du nicht zu mir gekommen? Dann wäre dir dies erspart geblieben. Es ist typisch für Robbie, dass er nicht den Mut hatte, die Tat zu gestehen.“

„Robbie hat nichts damit zu tun“, sagte sie noch einmal. Mit ihr würde man glimpflicher verfahren als mit ihrem Bruder.

„Hör endlich auf damit!“ Wütend funkelte er sie an, und sie fand, dass er furchterregend und göttlich zugleich aussah. Er hatte sein Jackett ausgezogen, trug aber noch die Weste. Die gelockerte schwarze Fliege hing lose über dem geschlossenen Hemd.

„Es kommt jemand!“ Leona fuhr erschrocken zusammen und starrte zur Tür.

Statt zu antworten, packte Boyd sie wie eine Puppe und drängte sie gegen das Fenster mit seinen dunkelgrünen, golddurchwirkten Vorhängen. „Küss mich“, befahl er, „und gib dir ein bisschen Mühe!“

Sie gehorchte, sie war seine willenlose Gefangene, überließ sich seinem Kuss – und erwiderte ihn, bis ihr fast die Sinne schwanden und sie nur noch seinen Namen flüstern konnte.

„Wenn das keine Überraschung ist!“ Jinty trat in den Salon – eine Jagdherrin, die ihre Beute gestellt hatte.

Leona brachte kein Wort heraus.

„Überraschung?“ Boyd blieb gelassen. „So groß kann sie eigentlich nicht sein, Jinty. Zwischen Leona und mir hat immer eine tiefe Beziehung bestanden.“

„Und was ist mit Chloe Compton?“ Jinty machte kein sehr freundliches Gesicht, und ihre Stimme klang feindselig. „Soviel ich weiß, sollt ihr bald heiraten.“

„Das mag Dads Plan sein, aber meiner ist es nicht. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Wusstest du das nicht? Ich liebe Chloe nicht mehr als – sagen wir – deine Schwester Tonya. Dabei fällt mir ein …“ Er griff in seine Hosentasche, ohne Leona loszulassen. „Du solltest so kostbare Erbstücke nicht irgendwo herumliegen lassen. Bist du deshalb heruntergekommen?“

Jinty errötete, als wäre sie bei einem schlimmen Streich ertappt worden. „Du hast meine Ohrringe?“

„Ich habe einen Teil des Familienschmucks“, verbesserte Boyd. „Er ist für meine zukünftige Frau bestimmt. Zum Glück habe ich bemerkt, welchen Platz du dir dafür ausgesucht hattest.“ Er streckte die Hand aus, und Jinty kam näher, um den Schmuck an sich zu nehmen. Ihr Gesicht war wie zu einer Maske verzerrt.

„Ich wäre dankbar, wenn du deinem Vater nichts erzählst“, sagte sie steif.

„Das würde mir nicht im Traum einfallen“, versicherte er. „Sei in Zukunft nur etwas vorsichtiger.“

Jinty nahm die Diamanten hastig an sich. „Wie blind man sein kann“, sagte sie auf dem Weg zur Tür. „Ich hatte von dir und Leona keine Ahnung.“

„Weil es nichts zu ahnen gab“, erwiderte Boyd. „Jedenfalls nicht bis zu diesem Wochenende. Wir kennen und schätzen sie als erfolgreiche Karrierefrau, und ich habe beschlossen, dass wir den Rest unseres Lebens zusammen verbringen.“

„Weiß dein Vater darüber Bescheid?“ Es fiel Jinty schwer zu sprechen. Sie brauchte offensichtlich Zeit, um den Schock zu überwinden.

„Noch nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, Chloe als Favoritin aufzubauen. Ich spreche mit ihm, wenn es so weit ist. Leona wird eine bezaubernde Braut sein.“

Jinty stürzte aus dem Salon, als wäre der Teufel hinter ihr her.

„Hat hier jeder den Verstand verloren?“, fragte Leona, als sie sicher sein konnte, dass Jinty wieder nach oben gegangen war.

„Ich jedenfalls nicht“, antwortete Boyd trocken. „Du solltest auch wieder hinaufgehen. Sag deinem Feigling von Bruder …“

„Er ist kein Feigling“, unterbrach sie ihn heftig. „Er wollte den Schmuck selbst zurückbringen.“

Das ignorierte Boyd einfach. „Soll ich dir noch etwas über Robbie sagen?“, fragte er. „Er ist bis über beide Ohren verschuldet.“

„Wirklich?“ Sie war zutiefst erschüttert.

„Wusstest du das nicht?“

„Nun, er erzählt mir nicht alles …“

„Robbie hat sich mit Typen eingelassen, die man nur als Verbrecher bezeichnen kann. Sie haben es genau auf Leute wie ihn abgesehen … reiche Nichtstuer, mit denen sie leichtes Spiel haben.“

„Gütiger Himmel!“ Leona schlug beide Hände vor das Gesicht. „Daran bin ich schuld.“

„Zumindest nicht ganz unschuldig.“ Boyd nickte. „Du deckst ihn seit Jahren. Wo ist er übrigens? Und bitte … lüg mich nicht an.

„Er ist in meinem Zimmer“, sagte sie kleinlaut.

„Hat er sich unter deinem Bett versteckt?“

Sie ignorierte den Spott. „Du weißt doch, warum er in Schwierigkeiten gerät.“ Leona wollte Robbie wenigstens teilweise reinwaschen.

„Soweit ich sehe, hat er eine Identitätskrise.“

„Genau das ist es. Sein Vater hat ihn verlassen, und Dad kann kein Verhältnis zu ihm aufbauen. Er kümmert sich ja kaum um mich, seine leibliche Tochter! Und was Delia betrifft … Schlimmer als eine Rabenmutter. Robbie hat viel gelitten.“

„Red keinen Blödsinn!“, entgegnete Boyd scharf. „Robbie schwelgt in Selbstmitleid, obwohl gut für ihn gesorgt wird. Seine Bezüge sind ausreichend hoch, aber er kauft ein, ohne zu bezahlen. Angeblich studiert er, aber es kommt nicht mehr dabei heraus als ein guter Leichtathlet und mäßiger Polospieler, der ziemlich attraktiv ist und sogar Verstand besitzt. Er kann einem wirklich in der Seele leidtun.“

„Was schlägst du vor?“, flüsterte Leona.

„Na, was wohl? Ich werde ihn brutal zusammenschlagen.“

„Das würdest du niemals tun!“

„Weil es nichts nützen würde.“ Boyd zuckte die Schultern. „Sag Robbie, dass ich ihn morgen früh um Punkt zehn Uhr in der Halle erwarte. Wir werden einen schönen, langen Spaziergang machen.“

„Oh, danke, Boyd!“

„Das ist noch nicht alles“, fuhr er fort. „Was ich vorhin gesagt habe, war ernst gemeint und kein Theater für Jinty. Du wirst eine bezaubernde Braut sein. Meine Braut. Du gehörst zu mir und keinem anderen. Betrachte es meinetwegen als geschäftliche Abmachung. Robbie bekommt eine letzte Chance, und dafür heiratest du mich. Du bist die einzige Frau, die mir gibt, wonach ich mich sehne.“

Je länger Leona zuhörte, desto wütender wurde sie. So wütend, dass sie sogar zu stottern anfing. „W…würdest du mir b…bitte sagen, warum du mich willst?“ Ihre grünen Augen funkelten, und das Blut stieg ihr in die Wangen. Bildete er sich wirklich ein, dass sie diesem absurden Plan zustimmte? Robbie hin oder her … nie im Leben würde sie einen Antrag annehmen, der nicht mehr als ein diktierter Vertrag war. „Glaubst du, du kannst einfach über mich verfügen?“

Statt zu antworten, legte Boyd beide Hände um ihr erhitztes Gesicht und küsste sie so intensiv, dass es fast wehtat. Es war, als wollte er mit diesem Kuss etwas besiegeln.

„Darum geht es“, sagte er dann mit Nachdruck. „Nur darum.“

„Aber das ist Erpressung!“ Ihre Beine drohten nachzugeben. Sie spürte noch Boyds Kuss auf ihren Lippen. Ihre Seele und ihre Sinne verlangten nach ihm, aber es wäre entwürdigend gewesen, kampflos aufzugeben.

„Du hast die Wahl“, sagte er. „Entweder ist Robbie erledigt, oder wir beginnen ein neues Leben.“

Leona fühlte sich immer mehr in die Ecke gedrängt. „Und wenn dein Vater Nein sagt?“

„Mein Privatleben geht ihn nichts an. Ich wähle mir meine Frau selbst aus, und die Wahl ist auf dich gefallen. Ich kenne dich seit deiner Kindheit und verstehe dich besser als jeder andere. Deinetwegen werde ich Robbie aus dem Sumpf herausholen, in den er geraten ist. Er jammert über sein Schicksal und ist im Grunde nur verwöhnt. Damit ist jetzt Schluss.“

Ihr kamen fast die Tränen, so hart und mitleidlos klang dieses Urteil. „Wie lange steht dein Entschluss schon fest?“, fragte sie. Ihr war der schreckliche Gedanke gekommen, dass Boyd sie vielleicht nur benutzte, um alle anderen Verehrerinnen mit einem Schlag loszuwerden.

„Kommt es darauf an? Sagen wir einfach … mit dem heutigen Abend ist die Entscheidung gefallen. Du brauchst mit niemandem darüber zu sprechen, jedenfalls jetzt noch nicht. Ich übernehme alle Vorbereitungen.“

„Vorbereitungen?“, wiederholte sie. „Was zum Teufel soll das heißen?“ Ihr Temperament brach endlich durch. „Lässt du Robbie vor die Hunde gehen, wenn ich mich deinem Willen nicht füge?“

„Ich hätte ihm viel früher damit drohen sollen.“ Boyd blieb vollkommen ungerührt. „Aber du wirst dich fügen, daher brauchen wir nicht länger darüber nachzudenken. Ich spreche noch an diesem Wochenende mit meinem Vater.“

„Du fürchtest dich vor niemandem, nicht wahr?“, fragte Leona sarkastisch. „Mir geht es anders. Bitte sprich erst mit Rupert, wenn ich wieder weg bin. Er wird vor Wut toben.“

Boyd sah sie prüfend an. „Bist du da so sicher?“

„Natürlich bin ich sicher. Glaubst du, er lässt sich von der kleinen Leona den Göttersohn wegnehmen?“ Sie versuchte, seinem Blick standzuhalten, musste aber dann doch vor dem blauen Feuer in seinen Augen die Lider senken.

„Warum gibst du dir so große Mühe, Ausreden zu erfinden?“, fragte er unwillig. „Du bist schön. Du bist klug.

Du kannst widerspenstig sein … wie jetzt. Doch das ändert nichts daran, dass meine Familie stolz auf dich wäre. Jede Familie, wenn ich das hinzufügen darf. Woher kommt diese Unsicherheit?“

Leona verzog das Gesicht. „Vielleicht ist das Alter daran schuld. Jeder Mensch hat Probleme … der Unterschied ist nur, dass du deine spielend löst. Ich bin vierundzwanzig, du bist dreißig. In sechs Jahren kann der Mensch viel lernen.“

„Soll ich etwa warten, bis du dreißig bist? Ich brauche dich jetzt. Du musst verrückt sein, wenn du glaubst, dass ich auch nur ein Jahr warte. Allerhöchstens sechs Monate.“

Das war fast zu viel für sie. „Du bist verrückt“, sagte sie.

„Vielleicht bist du der Grund dafür.“

„Trotzdem redest du vom Heiraten. Lass uns deutlicher werden. Wollen wir eine gemeinsame Wohnung nehmen oder getrennte Apartments beziehen?“

Er begann zu lachen. „Glaubst du denn nicht, dass ich dich glücklich machen kann, Flower Face?“

Sie senkte den Kopf. „Dir fällt es leicht, auf Liebe zu verzichten. Zugegeben, wir fühlen uns stark zueinander hingezogen. Du begehrst mich, und ich begehre dich. Es fällt mir nicht leicht, das einzugestehen. Du bist nicht der erste Mann, der von seinem Verlangen nach mir spricht. Ich will nicht angeben, aber es gehört zu den Dingen, die ich häufig zu hören bekomme. Verlangen, Begehren … was ist das eigentlich? Drückt es nur sexuelle Gier aus, die man befriedigen möchte?“

„Ja“, antwortete er. „Wie könnte es anders sein?“

„Mach dich nicht über mich lustig, das tust du schon oft genug. Ich wünsche mir jemanden, der mich liebt … wirklich liebt.“ In ihrer Erregung sprach sie immer lauter. „Warum geht es dir nicht auch so? Darauf bleibst du mir die Antwort schuldig!“

Sie vergaß, dass sie ihm gar keine Gelegenheit zu einer Antwort gegeben hatte. Stattdessen drehte sie sich um und lief zur Tür.

„Leona!“, rief er hinter ihr her.

Er bat sie zu warten, doch das ging über ihre Kraft. Liebe war ungeheuer wichtig für sie. Seine Liebe. Er konnte sie nicht wie eine beliebige Ware auf dem Markt kaufen.

Es war die Hölle, einen Mann so zu lieben, wie sie Boyd liebte.

7. KAPITEL

Als Leona in ihr Zimmer zurückkam, lief Robbie hin und her wie ein Panther im Käfig. „Nun?“ Er sah sie ängstlich an. Sein Gesicht war noch immer totenbleich.

Leona ließ sich auf ihr Bett fallen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie schloss die Augen und zählte langsam bis zehn. „Du kommst mit einem blauen Auge davon“, sagte sie dann.

Robbie legte den Kopf in den Nacken. „Gelobt sei Gott! Vielleicht gehe ich doch mal wieder in die Kirche. Hast du die Ohrringe zurückbringen können?“

Sie setzte sich auf. Obwohl ihr schwindlig war, sah sie hinreißender denn je aus. „Fast.“

Er fuhr erschrocken zusammen. „Bist du erwischt worden?“

Sie nickte. „Boyd kam im selben Moment herunter. Er sah mich im Salon.“

„Gütiger Himmel!“ Robbie wankte zu der Chaiselongue, die am Fußende des Betts stand. „Du warst sicher entsetzt.“

Das stimmte, und der Schreck steckte ihr immer noch in den Gliedern. „Natürlich war ich entsetzt und gleichzeitig erleichtert. Stell dir vor, es wäre Rupert gewesen.“

Robbie lachte gequält auf. „Wir hätten in die Antarktis auswandern müssen. Was ist dann passiert?“

„Das musst du selbst herausfinden.“ Leona fühlte sich nicht in der Lage, noch mehr zu erzählen. Ihr ging vor allem Boyds ungewöhnlicher Vorschlag durch den Kopf. Je länger sie darüber nachdachte, umso überzeugter war sie, dass er dabei hauptsächlich an seinen eigenen Vorteil dachte. Wenn sie sich nicht gerade stritten, kamen sie sehr gut miteinander aus. In absehbarer Zeit würde sie einen Erben oder eine Erbin zur Welt bringen und die Vernunftehe damit besiegeln. Viele Menschen handelten so – vor allem in der Welt der Reichen.

„Boyd erwartet dich morgen früh um Punkt zehn Uhr in der Halle.“ Leona stand mühsam auf. „Ihr werdet einen kleinen Spaziergang machen. Du möchtest wahrscheinlich nicht, dass er dir vor fremden Ohren Grobheiten sagt.“

Robbie strich sich das Haar zurück. „Boyd wird nie grob … auch nicht, wenn er wütend ist. Du hast ihm also alles gesagt? Warum auch nicht, schließlich bin ich der Schuldige. Ich hätte dich nicht vorschicken dürfen.“

„Ich habe ihm nichts gesagt“, erwiderte Leona, „aber Boyd kennt mich zu gut. Er weiß, dass ich den Schmuck niemals genommen hätte. Er vermutete gleich, dass du es warst. Er weiß auch von der schlechten Gesellschaft, in die du geraten bist.“

„Und was hat er vor?“ Robbie rührte sich nicht. Er sah sie nur an und wartete auf ihre Antwort – wie ein Angeklagter auf das Urteil.

„Er hält dich für hochgradig verwöhnt. Ich bin nach ernsthaftem Nachdenken zu demselben Schluss gekommen. Nimm nur deinen Smoking … er muss mindestens zweitausend Dollar gekostet haben. Dad unterstützt dich großzügig. Du wirst mit etwas Glück dein Examen machen und ins Familienunternehmen eintreten, wenn du das willst. Es sieht wirklich gut aus für dich. Deine persönlichen Probleme berühren mich natürlich. Wie könnte es anders sein? Ich habe sie zum Teil selbst. Es ist die alte Geschichte von der unsicheren Kindheit, aber wir sind älter geworden und können für vieles dankbar sein. Du musst endlich die Vergangenheit bewältigen, Robbie. Such deinen Vater, und stell ihn zur Rede. Die Semesterferien wären der richtige Zeitpunkt dafür. Vielleicht gerät Carlo sogar vor Freude aus dem Häuschen, wenn er dich wiedersieht.“

Robbie lachte bitter. „Ich werde ihn fragen, warum er mich niemals eingeladen hat. Aber etwas anderes ist viel wichtiger. Werde ich mich überhaupt frei bewegen können? Es war eine üble Sache, den Schmuck zu stehlen.“

„Noch übler wäre es gewesen, wenn du ihn getragen hättest“, versuchte Leona zu scherzen. „Ja, es war schlimm … zumal für einen Menschen mit so viel Verstand. Zum Glück hast du dein Vorhaben nicht zu Ende gebracht, das spricht für dich. Du warst in dem Augenblick nicht zurechnungsfähig.“ Sie ging zu ihm und schloss ihn tröstend in die Arme. Es war die alte Gewohnheit, ihn zu beschützen. „Natürlich wirst du morgen einiges Unangenehme zu hören bekommen. Das wissen wir beide.“

„Das habe ich mehr als verdient.“

„Wie auch immer … es wird nicht lustig. Halt den Kopf hoch. Boyd hat mir versprochen, dass die Angelegenheit damit erledigt ist.“

Er sah ihr in die Augen. „Für dich würde er alles tun. Hast du ihn darum gebeten?“

Leona zögerte nur kurz. „Um genau zu sein, hat er mich gebeten, seine Frau zu werden.“ Sie verschwieg, dass er sie weniger gebeten als informiert hatte. Das war keineswegs dasselbe.

Robbies bedrückte Miene hellte sich auf. Er legte Leona beide Arme um die Taille und schwenkte sie herum wie ein kleines Mädchen. Mit seiner Angst war es vorbei. „Das ist ja fantastisch!“, jubelte er. „Einfach fantastisch. Ich kenne keinen Mann, der besser zu dir passt.“

„Aber vielleicht passen andere Frauen besser zu ihm“, sagte sie atemlos, als er sie wieder abgesetzt hatte.

„Ausgeschlossen!“ Er lachte vor Begeisterung. „Ihr beide seid füreinander geschaffen. Insgeheim wunderte ich mich schon, dass Boyd so lange gezögert hat.“

„Wie bitte?“ Leona sah ihn fassungslos an.

„Es knistert doch förmlich zwischen euch. Ich bin nicht der Einzige, der das bemerkt hat.“

„Wer denn noch?“

„Jedenfalls mehr als einer.“ Robbie zuckte die Schultern. „Zum Beispiel die gute alte Geraldine. Sie hat scharfe Augen.“

„Genau wie ihr Bruder Rupert. Ich möchte nicht sein Gesicht sehen, wenn er davon hört.“

„Aber der alte Rupert hat dich gern.“

„Vielleicht mag er mich tatsächlich, allerdings bestimmt nicht als Schwiegertochter.“

„Schatz.“ Robbie gab sich große Mühe, sie aufzuheitern. „Wenn Boyd dich will, bekommt er dich auch. Niemand wird seine Pläne durchkreuzen. Er ist drauf und dran, seinen mächtigen Vater zu überflügeln. Außerdem ist er viel, viel netter.“

„Dazu gehört nicht viel“, meinte Leona trocken.

Robbie sah ziemlich verstört aus, als er am nächsten Vormittag wieder auftauchte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Leona besorgt und griff nach seiner Hand. Einen Moment lang schien die Geste Robbie zu trösten, dann holte er tief Luft und fasste sich.

„Es geht mir gut.“

„Dann möchte ich dich nicht sehen, wenn es dir schlecht geht.“ Leona zog ihn mit sich in den Garten, wobei sie die Terrasse absichtlich mied. Einige Gäste hatten sich dort versammelt, um das schöne Wetter zu genießen. Später sollte es wieder ein Lunchbuffet geben, und dann nahte mit dem Polospiel der Höhepunkt des Tages.

Robbie war ein ausgezeichneter Reiter und gehörte zu Boyds Team – ebenso wie Peter und dessen Cousin James.

Leona war es nicht recht, dass Robbie mitspielte. Er liebte die Schnelligkeit und sogar die Gefahr, die damit verbunden war, aber im Moment wirkte er viel zu durcheinander. Sie schlüpfte gleich wieder in ihre alte Beschützerrolle und verdächtigte Boyd, zu hart gewesen zu sein. Es war unlogisch, dass sie automatisch Robbies Partei ergriff, doch sie hatte es zu lange getan, um ihn jetzt einfach sich selbst zu überlassen. Um Boyd machte sie sich keine Sorgen. Der brauchte keinen Beschützer.

Als sie sich genügend weit vom Haus entfernt hatten, zog Leona ihren Bruder in einen Laubengang, der von prächtigen dorischen Säulen gebildet wurde. Dichte Ranken der weiß blühenden Alba, einer japanischen Glyzinienenart, ließen die strengen Säulen unter sich verschwinden. Am Ende des Gangs stand ein kleiner weißer Gitterpavillon im maurischen Stil, der von einer Kletterrose berankt war. Die pinkfarbenen Blüten leuchteten aus dem hellgrünen Blättergewirr hervor. Hier konnten sie ungestört sprechen.

Robbie setzte sich neben Leona und stützte den Kopf in beide Hände. „Ein Glück … es ist vorbei.“ Dankbar atmete er den süßen Duft der Rosen ein.

„Boyd ist zu hart mit dir ins Gericht gegangen“, ereiferte sich Leona sofort, die nicht von ihrer alten Rolle lassen konnte.

Robbie richtete sich auf und sah sie von der Seite an. Ihr Vorwurf schien ihn zu überraschen und zu beunruhigen. „Nicht härter als angemessen. Du darfst Boyd für nichts verantwortlich machen.“

„Wie kann ich das, wenn ich dich so vor mir sehe? Er hat dich offensichtlich nach Strich und Faden fertiggemacht. Wie willst du da heute Nachmittag spielen? Polo ist gefährlich und fordert den ganzen Mann.“

„Ich spiele auf jeden Fall. Ich muss mich nur erst beruhigen, und dabei wird ein guter Lunch helfen. Im Grunde fühle ich mich besser als seit Jahren. Verstehst du das nicht?

Ich habe gebeichtet und die Absolution erhalten. Boyd war überaus großzügig … viel mehr, als ich es verdiene. Er wird mir die Geldhaie vom Leib halten. Er meint, es sei genug in mich investiert worden, um den Erfolg zu garantieren. Er sprach auch von deiner Liebe und Loyalität mir gegenüber und hat mich damit zu Tränen gerührt. Ich schwöre dir, dass ich mich bessern werde. Ich beginne ein neues Leben. Du und Boyd … ihr sollt stolz auf mich sein. Ich habe dir Sorgen gemacht und dich ausgenutzt, das muss aufhören. Wir dürfen beide in mir nicht mehr den ‚kleinen Bruder‘ sehen.“

„Das hat Boyd gesagt, nicht wahr?“

„Stimmt es denn nicht? Du willst Boyd unbedingt einen Vorwurf machen, dabei ist er mein Retter. Ich dachte, du liebst ihn. Du hast gesagt, ihr würdet heiraten.“ Robbie fasste Leonas Arm. „Ich habe mit diesem plötzlichen Entschluss doch hoffentlich nichts zu tun?“

„Natürlich nicht.“ Sie wollte den Verdacht gar nicht erst aufkommen lassen. „Es ist nur … Ich habe einfach zu viele Jahre damit verbracht …“

„… eine Mauer zwischen euch zu errichten? Ich glaube, deine Liebe zu ihm erschreckt dich.“

„Liebe kann schrecklich sein.“ Sie nickte. „Wer liebt, ist so verletzbar. Man muss immer auf einen Verlust gefasst sein. Das Glück meiner Kindheit wurde durch Mums Tod zerstört. Dad war danach nicht mehr derselbe Mensch. Ich glaube, er hat sich zwingen müssen, noch einmal zu heiraten. Die Gesellschaft verlangte es.“

„Dann hätte er eine bessere Wahl treffen sollen“, stellte Robbie bitter fest und bewies damit, wie fern er seiner Mutter innerlich stand.

„Hat Boyd auch etwas über sich und mich gesagt?“, fragte Leona nach einer Weile.

„Nur, dass du mit der Ankündigung der Verlobung einverstanden bist, sobald er mit seinem Vater gesprochen hat.“

„Der nicht gerade überglücklich sein wird.“ Sie wurde ihre dunklen Ahnungen nicht los. Nichts verabscheute sie mehr, als Unfrieden zu stiften. Ruperts Pläne zu durchkreuzen war gefährlich und konnte schlimme Folgen für ihren Vater haben, der einen wichtigen Posten im Familienkonzern innehatte.

Wie immer konnte Robbie seiner Schwester den Kummer vom Gesicht ablesen. „Das wird Boyd völlig egal sein. Er liebt dich … wie oft muss ich das noch wiederholen. Du bist die einzige Frau auf der Welt für ihn. Ich wünschte mir eine Frau, die ich ebenso lieben könnte, wie er dich liebt. Weißt du denn gar nicht, wie glücklich du sein kannst?“

„Hat er gesagt, dass er mich liebt?“ Leona hegte nach wie vor ernste Zweifel an Boyds Motiven.

„Das ist gar nicht nötig. Hast du jemals über deine Liebe zu ihm gesprochen? Du hast eher versucht, ihm das Gegenteil zu beweisen. Dafür hat er sich fabelhaft verhalten. Er ließ dir Zeit, erwachsen zu werden und einen Beruf zu ergreifen. Dein Erfolg macht ihn stolz, wie uns alle. Wen kümmert da der alte Rupert? Ich glaube nicht, dass Boyd eine hohe Meinung von ihm hat. Schön, er ist sein Vater, aber Boyd vergisst nicht, wie schwer seine Mutter es hatte. Die wunderbare Alexa … sie war immer so gut zu mir. Und was tut der alte Rupert? Er heiratet die geldgierige Jinty. Wie er das fertigbringen konnte, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.“

Leona verstand es ebenso wenig. „Für einen Zwanzigjährigen besitzt du erstaunlich viel Scharfblick“, sagte sie.

„Allerdings.“ Robbie sah in dem Kompliment mehr eine Bestätigung. „Wie konnte Alexa diesen Teufel heiraten? Sein Geld kann sie nicht gelockt haben, sie stammte doch selbst aus einer reichen, alteingesessenen Familie.“

„Rupert war – und ist immer noch – ein gut aussehender Mann, falls dir das entgangen ist“, bemerkte Leona. „Wenn Jinty ihn morgen verlassen würde …“

„Das tut sie nie! Mrs. Rupert Blanchard zu sein bedeutet ihr alles. Nur eines würde ihr noch besser gefallen: sich Lady Blanchard nennen zu dürfen.“

„In der englischen Seitenlinie gibt es eine Lady Blanchard“, erinnerte Leona ihn. „Ich wollte eigentlich nur sagen, dass Rupert ganz anders hätte wählen können. Nur wenige Frauen hätten ihm einen Korb gegeben … deutlich jüngere eingeschlossen.“

„Wegen des Geldes zu heiraten ist auch eine Form der Prostitution“, fand Robbie.

Sie schluckte. „So könnte man es wohl nennen.“

„Du würdest das nie tun.“ Er strahlte sie an. „Du und Boyd … ihr seid anders. Ihr heiratet aus Liebe. Ich könnte vor Freude tanzen!“ Er sprang auf und streckte die Hand aus. „Komm, lass uns zurückgehen. Ich sterbe vor Hunger.“

Die Poloplätze wurden das ganze Jahr über von den Gärtnern gepflegt, um die Spielflächen in gutem Zustand zu halten. Nach den mehr als willkommenen Frühlingsregen bot „Poloplatz eins“ – mit den umliegenden Hügeln und großen, Schatten spendenden Bäumen der schönste der drei Plätze – optimale Spielbedingungen.

Besucher von nah und fern hatten sich auf Kissen, Decken, Klappstühlen oder Kühlerhauben rings um die Spielfläche niedergelassen. Wer zu spät gekommen war, um sich einen der begehrten Schattenplätze zu sichern, hatte einen großen Gartenschirm mitgebracht, um vor der sengenden Sonne geschützt zu sein.

Jede Mannschaft bestand aus vier Spielern mit verschiedenfarbigen Trikots, jedes mit einer Zahl bedruckt. Robbie, der sich erstaunlich schnell erholt hatte, trug ein grünes Trikot mit der Nummer 1, was ihn als ersten Offensivspieler auswies. Peter, der als Verteidiger spielte, hatte das Trikot mit der Nummer 4, sein Cousin James das mit der Nummer 2.

Boyd, der Kapitän der Mannschaft, trug ein dunkelrotes Trikot, das seine Augen noch blauer erscheinen ließ. Als wichtigster Spieler mit der höchsten Schlagzahl hielt er die zentrale Position 3.

Vor Spielbeginn schlenderte Leona ein wenig umher und grüßte alte sportbegeisterte Bekannte. Sie war nicht die Einzige, die die vier Spieler des Blanchard-Teams in ihrer Ausrüstung bewunderte. Mit den engen weißen Hosen, den farbigen Trikots, den hohen Stiefeln, Knieschützern und Helmen wirkten sie wie echte Helden. Auch das gegnerische Team konnte sich sehen lassen. Dass sechs von den acht Spielern Junggesellen waren, machte die Partie für die jüngeren Zuschauerinnen besonders reizvoll.

In einer abgesperrten Koppel, im tiefsten Schatten der Bäume, warteten die Polopferde. Sie waren für den Erfolg eines guten Spielers von entscheidender Bedeutung. Da das Spiel vor allem für die Pferde sehr anstrengend war, standen dem Blanchard-Team zwanzig Tiere, überwiegend Stuten, zur Verfügung. Nach jeder Spielphase – insgesamt gab es sechs – hatten die Spieler vier Minuten Zeit, um das Pferd zu wechseln. Polo war nicht nur ein schnelles, raues und gefährliches Spiel, sondern auch ein Luxus, den sich nur die Reichen leisten konnten.

Leonas Nervosität nahm zu. Sie liebte das Polospiel, aber heute waren zwei Männer dabei, um die sie bangte. Boyd und Robbie. Auch bei strikter Einhaltung der Spielregeln waren folgenreiche Zusammenstöße nicht selten. Robbie, meist ein disziplinierter Spieler, konnte gelegentlich übermütig werden, und Boyd, ein noch besserer Reiter und eleganterer Spieler, neigte dazu, sich auf seiner Lieblingsstute Andromeda in Szene zu setzen.

Leona hatte sich weiß gekleidet, was bei der Hitze immer günstiger war. Sie trug eine fein gestreifte Baumwollbluse mit weißer Hose, dazu als Blickfang einen breiten blauweißen Ledergürtel, der den Hosenbund verdeckte. Um den Look zu vervollkommnen, hatte sie ihr Haar streng zurückgekämmt und zu einem Nackenknoten gebunden, was gerade wieder modern war. Sie sah wie immer sehr schick aus. Das gehörte zu ihrem Beruf, und in der Familie wollte man sie nicht anders sehen. Rupert hatte ihr bereits ein Kompliment gemacht und sie auf beide Wangen geküsst. Offenbar war sein geschätzter Sohn und Erbe noch nicht bei ihm vorstellig geworden. Boyd respektiert demnach meinen Wunsch, damit zu warten, bis ich Brooklands verlassen habe, dachte sie.

Um sich Boyds Sympathien nicht zu verscherzen, hatte Jinty ebenfalls geschwiegen. Nur Tonya konnte wieder einmal nicht den Mund halten. „Findest du weiß nicht ziemlich unpraktisch?“, giftete sie, während sie Leona von Kopf bis Fuß betrachtete.

„Ich will ja nicht den Garten umgraben.“ Leona blieb freundlich. Nichts ärgerte Tonya mehr, als wenn man ihre Sticheleien gelassen hinnahm. Sie selbst hatte ein täuschend einfaches Kleid, dessen Farbe fast genau zu Boyds Trikot passte, gewählt und sah spindeldürr, aber sehr stilvoll aus.

Robbie und Peter ließen sich von Leona Glück und Sieg wünschen. Peter legte sogar vertraulich den Arm um sie – sein Kuss landete allerdings auf ihrem Mundwinkel, trotz all ihrer Versuche, der Berührung ganz auszuweichen. Mehr war nicht nötig, um die Klatschmäuler in Bewegung zu setzen, das wusste Leona nur zu gut.

„Der arme Junge ist über beide Ohren in dich verliebt“, hörte sie Geraldine neben sich sagen.

„Ach, Gerri“, seufzte Leona. „Was für ein Blödsinn!“

„Kein Blödsinn, mein Kind. Du musst ihm sagen, dass du vergeben bist.“

Vergeben? Leona fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. „Würdest du mir sagen, von wem du das gehört hast?“

„Ich habe gar nichts gehört.“ Geraldine bog die Krempe ihres Strohhuts wirkungsvoller zurecht. „Noch nicht, aber ich habe Augen im Kopf.“

„Und was, genau, hast du gesehen? Und bei wem?“

Geraldine sah an Leona vorbei. „Er kommt gerade herüber“, antwortete sie. „Mach kein so unglückliches Gesicht, mein Kind. Ich habe euch schon länger in Verdacht.“

„Oh, mein Gott!“ Leona konnte nur flüstern. „Ich schwöre, ich habe Angst vor dir.“

Geraldine lächelte beruhigend. „Das ist unnötig, Liebes. Alles wird gut.“

Ja, dachte Leona. Wenn ein Wunder geschieht.

„Läufst du immer noch vor mir davon, Flower Face?“ Boyd hatte Leona unter den Bäumen eingeholt und hielt sie am Arm zurück.

„Ich muss, Boyd“, antwortete sie mit einem tiefen Blick in seine blauen Augen. „Meine Nerven halten sonst nicht durch.“

„Ist es wegen des Spiels?“, fragte er mit einem halben Lächeln.

„Ja und nein.“ Zumindest besaß sie noch ein bisschen Geistesgegenwart. „Ich sorge mich um dich und Robbie. Die Vorstellung, einer von euch könnte verletzt werden, ist mir unerträglich.“

„Und ich dachte, du wärst in Gedanken nur bei Peter“, spottete Boyd. „Was fällt ihm ein, dich so zu umarmen? Wenigstens durfte ich Zeuge sein, wie du dein Gesicht abwandtest. Er war offensichtlich auf einen Siegeskuss aus.“

„Und hat ihn nicht bekommen“, setzte Leona deutlich hinzu. „Hast du Gerri gegenüber irgendwelche Andeutungen gemacht?“

„Man muss schon früh aufstehen, wenn man Gerri mit einer Neuigkeit überraschen will. Sie kann Gedanken lesen. Was hat sie denn gesagt?“

Leona biss sich auf die Lippe. „Nur, dass alles gut wird.“

„Und damit hat sie recht.“ Sein Blick nahm einen provozierenden Ausdruck an. „Nun? Willst du mir nicht Glück wünschen?“

„Du kommst dir ungemein schlau vor, nicht wahr?“ In einer plötzlichen Anwandlung zog Leona seinen Kopf zu sich herunter. „Viel Glück, mein Schatz“, flötete sie, und dabei funkelten ihre grünen Augen fast ein bisschen boshaft. Sie legte Boyd zärtlich beide Hände um das Gesicht und küsste ihn voll auf seinen spöttisch lächelnden Mund.

So! Das geschah ihm recht! Sie hatte seine Herausforderungen noch immer angenommen.

Leona achtete nicht auf die Gesichter der anderen, während sie zurückging. Einige wirkten erstaunt, andere nachdenklich oder eiskalt berechnend. Die Ansichten der Familie über das neue Paar waren schon jetzt geteilt.

„Du hältst dich für unwiderstehlich, wie?“, zischte Tonya, als Leona dicht an ihr vorbeiging. Ein neuer Anfall von Eifersucht hatte sie gepackt. „Mach dir bloß keine falschen Hoffnungen. Du bekommst Boyd nie!“

„Es ist trotzdem wunderbar, ihn zu küssen.“ Leona verdrehte schwärmerisch die Augen und beeilte sich, ihren Platz neben Geraldine einzunehmen. Das Spiel begann.

Robbie schoss die ersten beiden Tore, nachdem Boyd sie geschickt vorbereitet hatte.

„Ausgezeichnet gespielt!“ Geraldine klatschte begeistert Beifall. „Natürlich hat Boyd die Offensive gestartet, aber Roberto hat brillant reagiert. Das macht wirklich Spaß. Rupert war auch ein guter Polospieler, daran wirst du dich kaum erinnern.“

„Oh doch“, beteuerte Leona. Rupert hatte die sechzig überschritten und das Polospiel nach mehreren harten Zusammenstößen und einem bösen Sturz auf Anraten seines Arztes aufgegeben.

„Boyds Raffinesse besaß er allerdings nicht“, erklärte Geraldine und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Spiel.

Je länger es dauerte, umso klarer wurde, dass hier ein Duell zwischen Boyd und Bart Ellory, dem Kapitän der Gegenmannschaft, ausgefochten wurde. Leona schlug sich vor Aufregung immer wieder eine Hand vor den Mund, während Geraldine ungeniert aufsprang und ihrem heldenhaften Neffen zujubelte. Es wurde viel geboten, nicht nur an Reitkunst, sondern auch an Spieltalent. Am Ende der ersten Halbzeit stand es sechs zu drei für das Heimteam, und die zweite Halbzeit versprach noch spannender zu werden.

„Ich begreife nicht, wie ich das aushalte“, seufzte Leona, als Geraldine ihr ein Glas mit kühler Zitronenlimonade reichte. „Was für ein Tag!“

Wie viele mochten ihren Kuss mit Boyd beobachtet haben, und wie viele hatten inzwischen davon gehört? Rupert saß mit seinen Freunden etwas entfernt von ihr, aber irgendwann würde die Neuigkeit auch ihn erreichen. Leona wagte nicht einmal, sich seinen Zornesausbruch vorzustellen.

Kurz vor Spielende bahnte sich durch die Schuld eines gegnerischen Spielers eine gefährliche Situation an, die nicht nur zu einem Foul, sondern auch zu einem Massensturz führen musste. Mit fast übermenschlicher Anstrengung gelang es Boyd, die Lage zu entschärfen und dadurch Schlimmeres zu verhüten.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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