Debütantin in geheimer Mission

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Schon als er den Rücken der exotischen Debütantin sieht, stockt Baron Pendennys der Atem: Wie gern würde er ihre verführerische alabasterfarbene Haut streicheln, und mit seinen Lippen ihre zarten Schultern liebkosen! Aber schon mit dem ersten Kuss bringt er sich in Lebensgefahr: Denn Lilya hütet ein dunkles Geheimnis


  • Erscheinungstag 03.04.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746230
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Beldon Stratten, der vierte Baron Pendennys, war in einer wichtigen Angelegenheit unterwegs: Er hielt Brautschau auf dem Ball der Fitzsimmons.

Da er einen guten Ruf hatte und ein gewisses Vermögen besaß, sollte einer standesgemäßen Heirat nichts im Wege stehen. Er schaute sich um und betrachtete die anwesenden Debütantinnen. Eine von ihnen würde er bis zum Ende der Saison zur Seinen gemacht haben.

Vielleicht die süße Miss Canby mit ihrer recht bescheidenen Mitgift, aber einer tadellosen Erziehung. Vielleicht aber auch Miss Ellsworthy, die Enkelin eines Viscounts, deren finanzielle Ausstattung ihren Mangel an Liebreiz sicher wettmachen könnte. Oder die elegante Elizabeth Smithbridge, eine kühle Schönheit, die ein Vermögen von zwanzigtausend Pfund besaß … Beldon korrigierte sich. Nein. Nicht Miss Smithbridge, sie war zu kalt. Ein Mann musste Grundsätze haben. Es ging schließlich nicht nur um Geld.

Oh nein, hat mir Miss Canby gerade wirklich zugezwinkert? Sie tanzte mit dem jungen Erben einer Grafschaft an ihm vorbei. Offenbar versuchte sie, so viele Kohlen wie möglich im Feuer zu haben. Ja, sie hat mir definitiv zugezwinkert …

Er griff sich ein Glas Champagner vom Tablett eines vorübereilenden Kellners und prostete sich selbst zu.

Willkommen zur Ballsaison in London!

Willkommen zu einer Welt voller Möglichkeiten!

Vier Monate lang hatte er nun Zeit, um abzuwägen, ob es sich lohnen würde, zu heiraten. Aber da er kein junger Dummkopf war, wusste er, dass die Frauen im heiratsfähigen Alter ihn genauso sorgfältig anschauen und prüfen würden, wie er es mit ihnen täte.

Als er den ersten Schluck von seinem Champagner nahm, schwebte Lady Eleanor Braithmore – die Tochter eines Earl und damit die begehrenswerteste Erbin der Saison – in einem üppigen Kleid aus weißer Spitze und rosafarbenen Stickereien an ihm vorbei. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass er um diese junge Frau werben sollte. Sie war wohlhabend, jung und schön. Eleanor hatte alles, was sich ein Gentleman nur wünschen konnte.

Bis sein Blick weiterwanderte und er sie sah.

Ihren Rücken, um genau zu sein.

Und sie war nicht Eleanor Braithmore.

Er wusste überhaupt nicht, wer sie war, nur dass ihr Anblick ihm den Atem raubte.

Zwar sah er nur ihren Rücken, aber schon der war außerordentlich bemerkenswert. Im Stillen bedankte er sich bei den Modeschöpfern, die in dieser Saison tief ausgeschnittene Kleider vorschrieben, welche einen beinahe unanständigen Blick auf die Rücken der Frauen und ihre wohlgeformten Schultern erlaubten.

Der Frau, die er gerade betrachtete, stand der neue Kleidungsstil ausgesprochen gut. Ihr rabenschwarzes Haar war hochgesteckt und mit Perlenschnüren durchwoben. Die Frisur ließ ihren Nacken und genug von ihrem Rücken frei, sodass er mehr als nur einen Anflug von Begierde in sich aufsteigen fühlte. Plötzlich war er sich ganz und gar klar darüber, wie sehr er sich nach der Erfüllung seiner sinnlichen Begierde sehnte. Wie es wohl wäre, eine solche Frau im Schlafgemach zu verwöhnen … Ihr bloßer Anblick beflügelte seine ohnehin schon lebhafte Fantasie.

Er schloss seine Augen einen Augenblick lang und stellte sich vor, wie seine Fingerspitzen diesen geraden, eleganten Rücken berührten. Sogar auf diese Entfernung schmerzten seine Finger bei dem Gedanken fast. Wie gern würde er ihre alabasterfarbene Haut streicheln, während er mit seinen Lippen ihre zarten Schultern liebkoste …

In Gedanken verführte er sie bei Kerzenlicht. Er würde sich ihr von hinten nähern, seine Hände sanft, aber fest auf die nackten Schultern legen und ihr das Kleid nach unten schieben, bis ihr gesamter Rücken bis zu ihrem wohlgerundeten Po entblößt wäre.

Nackt würde sie noch viel erotischer sein.

Ein Mann wusste so etwas instinktiv. Und ein kluger Mann würde diese Gedanken nun schleunigst aus seinem Kopf verbannen, dorthin, wo sie sein Urteilsvermögen nicht beeinflussen konnten.

Beldon war ein kluger Mann.

Für solche Fantasien gab es andere Zeiten und andere Orte. In der Vergangenheit hatte er sich oft ablenken lassen. Sein Besuch bei diesem Ball diente lediglich dazu, endlich eine Gattin zu finden, nicht, mit einer Fremden eine Affäre zu beginnen.

Deshalb atmete er tief durch und konzentrierte sich. Wer immer diese Frau auch sein mochte, sie stand nicht auf seiner Liste möglicher Kandidatinnen. Dafür gab es wahrscheinlich gute Gründe. Eine verführerische Frau bedeutete mögliche Komplikationen. Ein ruhiges, anständiges Leben würde mit ihr nicht möglich sein und er wollte keine unnötige Aufregung. Sein Vater, der aufgrund seiner abgöttischen Liebe zu seiner Gattin beinahe die Familie für immer ruiniert hätte, war ihm ein mahnendes Beispiel.

Dann drehte sich die Fremde um, und seine guten Absichten waren zum Teufel.

Er verlangsamte seinen Schritt.

Er hielt den Atem an.

Lilya!

Die geheimnisvolle Frau war keine Unbekannte, sondern niemand anders als Lilya Stefanov, die Schutzbefohlene seines Freundes Valerian. Vor einiger Zeit hatte er sie in Valerians Haus in Cornwall getroffen. Aber das war eine Weile her. Im vergangenen Jahr war er viel unterwegs gewesen.

Sie hatte wenig Ähnlichkeit mit dem zurückhaltenden, schlicht gekleideten Mädchen, an das er sich erinnerte. Die Wandlung war erstaunlich. Während seiner Abwesenheit hatte sie sich zu einer außerordentlich schönen Frau entwickelt. In ihrem Kleid aus cremefarbener Seide bot sie einen atemberaubenden Anblick. Andere Debütantinnen wirkten beinahe bleich in ihren hellen Roben, Lilya hingegen glühte geradezu darin. Sie war eine Frau in einem Ballsaal voller schüchterner Schulmädchen, die vor dem heutigen Abend nicht einmal den Ärmelaufschlag eines Mannes berührt hatten. In Lilyas Blick aber lag keine Zurückhaltung. Im Gegenteil: Ihre Augen funkelten verheißungsvoll.

Mit dem fachkundigen Blick eines Junggesellen, der im Umgang mit schönen Frauen geübt war, bemerkte er, dass Lilya von Verehrern verfolgt wurde. Kein Wunder! Wer könnte solch einer strahlenden Schönheit schon widerstehen? Alle heiratswilligen Männer in London würden ihr zu Füßen liegen. Alle … außer ihm.

Sie war für ihn keine Heiratskandidatin. Er wusste genau, welche Qualitäten seine zukünftige Gattin mit sich bringen sollte, schließlich hatte er den ganzen Winter darüber nachgedacht. Die ideale Frau sollte wissen, wie man ein Anwesen unterhielt und ein gewisses Vermögen mit in die Ehe bringen. Er hatte zehn lange Jahre benötigt, um das Ansehen der Pendennys wiederherzustellen. Seine Frau sollte diese Arbeit in seinem Sinne fortsetzen können.

Abgesehen von ihrer Schönheit brachte Lilya keine der beiden Voraussetzungen mit. Sie war Valerians Mündel, ein Flüchtling aus Mazedonien. Ob sie sich in die englische Gesellschaft würde einfügen können, war fraglich. Selbst wenn sie sich als eine charmante und weltgewandte Gastgeberin erweisen würde, hätte sie dennoch keine finanziellen Mittel. Sie lebte von dem, was Valerian ihr gab. Und er könnte unmöglich das Geld seines Freundes annehmen. Es war eine unumstößliche Tatsache, dass er reich heiraten musste. Er konnte sich eine Braut ohne Mitgift leider nicht leisten.

Und dennoch war Lilya unwiderstehlich. Er sollte wenigstens hinübergehen, um sie zu begrüßen. Jeder würde es ungezogen finden, wenn er es nicht tat. Er würde zu ihr gehen und „Guten Abend“ sagen, mehr nicht. Und dann würde er sich um diese makellose englische Rose Eleanor Braithmore kümmern.

Der attraktive Mann starrte Lilya mit seinen blauen Augen intensiv an und musterte sie von Kopf bis Fuß. Sein Blick hatte ihre Aufmerksamkeit erregt.

Oh mein Gott! Jetzt blickte er sie nicht mehr nur an, sondern bewegte sich stattdessen … in ihre Richtung! Daran gab es keine Zweifel. Lilya schluckte.

Sie hatte ihn zunächst nicht bemerkt, obwohl er ihr bekannt vorkam. Mit seinen breiten Schultern, der beeindruckende Größe und der stolzen Haltung eines Mannes, der wusste, wer er war, stach er aus der Menge der Ballgäste hervor. Am auffälligsten aber waren seine strahlend blauen Augen. Sie kannte nur einen Mann mit solchen unvergesslichen Augen.

Beldon Stratten.

Also war er zurück.

Während ihr Gehirn noch damit beschäftigt war, diese aufwühlende Erkenntnis zu verarbeiten, begann sie schon am ganzen Leib zu zittern. Damit, dass er zurück war, hatte es nicht zu tun, mehr mit der Art, wie er sich nun ihre Hand zu seinem Mund führte, in seiner charmanten und betörenden Art.

Enchanté, Miss Stefanov. Guten Abend. Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben.“

„Lord Pendennys, wie schön, Sie zu sehen.“ Lilya deutete einen leichten Knicks an, um dem Standesunterschied Genüge zu tun. Als Schwager von Valerian gehörte es sich natürlich, dass er sie begrüßte. Wenn sein Blick nur nicht so feurig wäre! Er hatte zwar nichts Falsches getan, aber er hatte eine eigentlich routinierte Begrüßung gerade in etwas ganz anderes verwandelt. Ein albernes Mädchen wäre wahrscheinlich angesichts von so viel Männlichkeit und Eleganz ohnmächtig geworden.

Vielleicht schauten die Damen deshalb so neugierig zu ihm herüber, bemüht ihre Gesichter hinter ihren Fächern zu verbergen. Er zog die Aufmerksamkeit auf sich. Und warum auch nicht? Ein selbstbewusster Mann war ein anziehender Mann, und Beldon Stratten war definitiv selbstbewusst.

Sie fragte sich, welche geheimnisvollen Fähigkeiten er wohl haben mochte, wenn die Damen so auf ihn reagierten. Aber dann kam ihr ein weiterer Gedanke in den Sinn: Wenn schon die Berührung ihrer Hand sie so durcheinanderbrachte, was würde geschehen, wenn sie sich noch näher kämen? Wenn er nicht nur ihre Hand küssen würde, sondern auch ihre Lippen, ihren Hals … Ein sinnlicher Schauer durchrieselte sie bei dieser Vorstellung, doch sie zwang sich, den prickelnden Gedanken beiseitezuschieben.

Beldon griff nach der Tanzkarte, die an Lilyas Hand baumelte, und entdeckte, dass sie für den nächsten Walzer noch keinen Partner hatte. Es war auch der einzige Tanz heute Abend, für den sie noch verfügbar war. „Ich würde gerne einen Tanz in Anspruch nehmen und hoffe, ich komme nicht zu spät.“

Er war ein anderes Kaliber von Mann als die jungen Kerle, die sie sonst stets umschwärmten, und brachte die perfekte Mischung mit sich: erfahren genug, um Verantwortung zu tragen, aber jung genug, um die Freuden des Lebens zu genießen.

Worum es sich bei diesen Freuden handeln könnte, konnte Lilya nur vermuten. Er war nicht der Typ, der sich kindischen Vergnügungen wie dem Glücksspiel hingab, oder sich gar in wahllosen Affären verlor. Sein Auftreten und seine Manieren ließen darauf schließen, dass Beldon Stratten zurückhaltend war. Ihn umgab eine Aura kontrollierter Macht, die sehr anziehend wirkte. Jeder, der hinter die Fassade dieses Mannes blicken durfte, fand dort großartige Geheimnisse, dessen war Lilya sich sicher. Aber hier und jetzt wirkte er wie eine uneinnehmbare Festung.

Dieser Mann wollte also mit ihr tanzen.

Jetzt.

Vor Vorfreude zog sich ihr Magen zusammen. Sie fühlte sich in der Nähe dieses Mannes wie ein kleines Mädchen.

„Sind Sie aufgeregt, Miss Stefanov?“, fragte er, während er sie zu einer freien Stelle auf dem Tanzparkett führte. Er sprach leise.

Aufregung war nicht das richtige Wort für das, was sie empfand, wenn Beldon sie sanft berührte. Aber wie sollte sie das Gefühl beschreiben? „Es ist nur, weil ich Sie schon eine Weile nicht mehr gesehen habe.“

„Mir geht es genauso, Miss Stefanov. Als ich Sie erblickte, glaubte ich, die Zeit würde stillstehen.“

Oh Gott, dieser Mann beherrschte wahrhaftig die Kunst der Schmeichelei! Sie hätte ihm fast geglaubt, wenn er sie nur ein wenig herzlicher angeschaut hätte. Doch er wirkte immer noch ausgesprochen distanziert.

Die Musik begann zu spielen. Beldons Hand lag nur leicht auf ihrer Taille und war doch fest und besitzergreifend. Sie konzentrierte sich. „Wollen wir beginnen, Miss Stefanov? Sie sind doch nicht die Sorte Frau, die sich von einem Mann leicht aus der Ruhe bringen ließe.“

„Kennen Sie mich nach wenigen Minuten so gut?“, antwortete sie. Er war vielleicht Valerians Schwager, aber sie hatte noch nie zuvor ein privates Wort mit ihm gewechselt. Damals hatte sie aus der Ferne heimlich für ihn geschwärmt, weil er gleichzeitig charmant und doch unerreichbar war. Und es wäre klug, weiter Distanz zu ihm zu wahren. Ein Mann wie er war gefährlich. Sie konnte sich ihren Fantasien einen Walzer lang hingeben, aber länger nicht. Falls sie sich nicht zurückhielt, würde sie eines Tages mit einem gebrochenen Herzen aufwachen. Nein, Beldon Stratten war nicht der richtige Mann für sie.

Lilya legte eine Hand auf seine Schulter und bereitete sich auf die besondere Nähe des Tanzes vor. Er wiegte sie im Walzertakt, sein betörender Duft nach Sandelholz und Zitrone raubte ihr die Sinne. Der Druck seiner Hände durch ihre zarten Handschuhe wirkte wie eine Liebkosung. Seine Nähe war berauschend und verwirrend zugleich.

Sie hatte schon mit anderen Männern getanzt, aber noch nie hatte ein Tanzpartner sie so sehr beeindruckt.

Er lenkte sie mit Leichtigkeit über die Tanzfläche und schien sich seiner Wirkung auf sie nicht bewusst zu sein. Wahrscheinlich tanzte er immer auf diese Weise. Lilya fand sich rasch in die nötigen Schritte hinein und begann, den Walzer zu genießen. Dann machte sie ihren ersten Fehler.

Sie hätte auf einen Punkt über seiner Schulter schauen sollen, so verlangte es zu mindestens das Protokoll. Aber die Versuchung, diesen Mann zu betrachten, war einfach zu groß. Sie hob ihren Kopf, um in sein Gesicht zu schauen, und wusste sofort, dass sie das nicht hätte tun sollen. Aus der Nähe betrachtet, wirkte er noch attraktiver.

Seine Gesichtszüge unterstrichen seine geheimnisvolle Aura noch. Seine Augen waren blau, sein Blick zurückhaltend, das Kinn scharf geschnitten, und seinen Mund schien er nur selten zu einem Lächeln zu verziehen. Das hier war kein Mann, der jeden an sich heranließ. Beileibe nicht! Er war eindeutig ein Mann, der genau abwägte, wem er sich näherte. Das machte ihn noch aufregender für sie, denn immerhin hatte er beschlossen, sich ihr zu nähern.

Er schien ein klares Ziel vor Augen zu haben. Schon das allein unterschied ihn von allen Männern, mit denen sie bisher getanzt hatte. Den älteren Männern waren Langeweile und Gleichmut geradezu ins Gesicht geschrieben, die Jüngeren ahnten nicht einmal, was aus ihnen werden konnte. Hier aber hatte sie einen Mann vor sich, der wusste, wer er war und was er wollte. Das machte ihn interessant und anziehend. Vielleicht beobachteten ihn deshalb alle im Saal.

„Bereitet Ihnen der heutige Abend Vergnügen?“, fragte Beldon, während sie beim Tanz die Richtung wechselten.

„Natürlich. Alles hier in London ist großartig! Und die Bälle liebe ich besonders!“

„Ich habe bemerkt, dass sich Lord Idlefield auf Ihrer Tanzkarte eingetragen hat. Darf ich so vermessen sein, Sie vor ihm zu warnen?“

Lilya lächelte und neigte kokett den Kopf. „Und was ist mit Lord Fairborough. Mit ihm tanze ich nach dem Essen den Cotillon.“

Er hob eine seiner kastanienbraunen Augenbrauen. „Nun, seitdem er mehrere Ländereien aufgekauft hat, interessiert er sich eigentlich nur noch für die Schafzucht, er wird Ihnen also kaum zu nahekommen. Es sei denn, sie beginnen plötzlich zu blöken.“

Lilya lachte und das Wunder geschah: Beldons Mund verzog sich zu einem Lächeln, das sich nach und nach über sein ganzes Gesicht ausbreitete. Es war wie ein Sonnenaufgang. Einen kurzen Moment lang waren sie Verbündete, die über denselben Witz lachten.

Doch dann endete der Walzer und Beldons Lächeln verschwand. Er brachte sie zu ihrem Platz zurück und verwandelte sich wieder in den freundlichen, aber desinteressierten Gentleman von vorhin.

„Danke für das Vergnügen dieses Tanzes, Miss Stefanov. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zuletzt einen Walzer so sehr genossen habe.“ Er beugte sich wieder über ihre Hand. Dieses Mal war es ein Abschied. „Es ist nicht verwunderlich, dass Sie von Verehrern regelrecht bestürmt werden. Sie sind wahrhaftig ein einzigartiger Diamant.“

Ein einzigartiger Diamant.

Lilya wusste, was diese Floskel bedeutete. Sie beschrieb eine junge, schöne und kultivierte Frau, ein unerreichbares Ideal. Lilya würde nie diese Art von Frau werden.

„Dann sollten wir bald wieder miteinander tanzen.“ Sie nickte ihm lächelnd zu, bevor er sich umdrehte und davonschritt.

Aber nicht allzu bald, dachte sie und sah ihm nach. Sie war klug genug, um zu wissen, dass Beldon Stratten ihr gefährlich werden konnte. Ihre Reaktion auf ihn heute Abend bewies es. So verführerisch die Vorstellung, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, auch war, sollte sie sich besser von ihm fernhalten.

Es war für sie beide das Beste. Denn sie verbarg etwas, von dem niemand hier auch nur ahnte: Sie war keine normale Debütantin. Egal, wie viele schöne Männer sie umschwärmten oder wie viel Geld ihr Valerian zur Verfügung stellte, sie gehörte nicht wirklich dazu. Die anderen Debütantinnen trugen ihre Abstammung und ihre Mitgift mit sich herum wie Visitenkarten. Sie waren für ihre erste Ballsaison erzogen worden, so wie sie als Hüterin eines Geheimnisses erzogen worden war. In ihrem Besitz befand sich der Diamant der Phanarioten1, ein Edelstein, der das Schicksal ganzer Nationen beeinflussen konnte.

2. KAPITEL

In dieser Nacht träumte Lilya von ihrer Heimat Naoussa. Sie hätte lieber von Beldon Stratten und ihrem gemeinsamen Tanz geträumt. Stattdessen sah sie das Gesicht ihres Vaters. Seine Augen leuchteten und seine Stimme war leise, als er ihr von dem Erbe der Stefanovs berichtete.

Wer den Diamanten besitzt, hat die Macht, eine gesamte Nation zu beherrschen. Auf der ganzen Welt gibt es keinen anderen Edelstein, der sich mit ihm vergleichen ließe. In den Händen des richtigen Mannes kann er zum Werkzeug von Größe werden. In den Händen des falschen Mannes kann er zum Werkzeug der Unterdrückung werden. Niemand kann sagen, wie der Besitz dieses Diamanten einen Menschen verändern würde. Aus diesem Grund hat man ihn uns anvertraut. Wir müssen dafür sorgen, dass niemand seine Macht missbraucht. Das ist die Bürde, die den Stefanovs vor vierhundert Jahren in Konstantinopel aufgeladen wurde. Diese Bürde tragen wir noch heute …

Entsetzt richtete sie sich in ihrem Bett auf und rang nach Luft. Sie hatte von den letzten schrecklichen Tagen vor dem Aufstand geträumt. Ihre ganze Familie war in ihrem Traum vorgekommen: ihr Bruder Alexei, ihre Tante Natascha, der kleine Konstantin und ihr Vater.

Langsam beruhigte sie sich wieder. Sie blinzelte in das Sonnenlicht, das ins Zimmer fiel, weil sie die Vorhänge vor dem Einschlafen nicht geschlossen hatte. Es war noch früh am Morgen, und es versprach, ein schöner Tag zu werden.

Ihr Magen knurrte. Offenbar hatte sie die Frühstückszeit verschlafen. Sie wollte gerade nach der Klingel greifen, um sich eine Tasse Schokolade bringen zu lassen, als es klopfte.

„Treten Sie ein.“ Lilya ließ sich auf die Kissen zurückfallen und ignorierte ihren leeren Magen für einen Moment. Es war äußerst unwahrscheinlich, dass das Dienstmädchen vor der Türe stand und ihren Wunsch vorausgesehen hatte.

Stattdessen betrat Philippa ihr Gemach, sie war für eine Ausfahrt gekleidet. „Schön, dass du wach bist. Beldon ist da. Er hat uns zu einem Ausflug in den Park eingeladen.“ Sie lächelte, setzte sich auf Lilyas Bett und drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. „Du hast mir gar nicht erzählt, dass er auch auf dem gestrigen Ball anwesend war und dass du mit ihm getanzt hast.“ Philippa war dem Ball wegen ihrer Kopfschmerzen ferngeblieben.

Lilya erhob sich und wandte sich ihrer Garderobe zu. Fieberhaft überlegte sie, was sie anziehen könnte. Sie bemühte sich, ihren inneren Aufruhr zu verbergen, und antwortete beiläufig: „Er hat mich aus Höflichkeit zu einem Walzer aufgefordert.“ Das Letzte, was sie brauchte, war eine Philippa, die Heiratsvermittlerin spielte.

Eigentlich war sie nur zur Ballsaison nach London gekommen, um vor Ort Neuigkeiten über die Verhandlungen zur Unabhängigkeit Griechenlands zu erfahren. Sie hatte sich zu dieser Reise aus Verbundenheit mit ihrem Vater und ihrer Familie gezwungen gefühlt. Sie wollte über das politische Ergebnis des Kampfes, für den sie gestorben waren, wenigstens informiert sein. Aber es war schwieriger, als sie gedacht hatte, irgendwelchen Verwicklungen zu entgehen. Es schien so, als ob ein jeder aus zwei Gründen in der Stadt war: Heirat oder Politik – oder beides.

„Beldon will in dieser Saison heiraten“, gab Philippa bekannt.

Das bestätigte ihre Vermutung. Sogar Beldon suchte eine Frau. Seine Wahl würde zweifellos auf eine andere Frau als Lilya fallen. Sie war ganz sicher nicht hier, um sich zu verheiraten. Sie konnte es niemandem zumuten, gemeinsam mit ihr die Last des Diamanten zu tragen. Ihr Vater hatte versucht, beides zu vereinbaren, hatte eine Familie gegründet und gleichzeitig den Diamanten beschützt. Dafür hatte er mit seinem Leben und dem vieler Familienmitglieder bitter bezahlen müssen. Sie würde nicht denselben Fehler machen und einen anderen Menschen in Lebensgefahr bringen.

Sie drehte Philippa den Rücken zu und bat sie, ihr das Kleid zuzuknöpfen.

„Ich persönlich glaube, er wird sich für Lady Eleanor entscheiden.“ Philippa klopfte leicht auf Lilyas Rücken, um zu signalisieren, dass sie fertig sei. „Vielleicht will er deshalb so dringend ausreiten, weil er hofft, sie im Park anzutreffen. Normalerweise sind ihm derlei Aktivitäten zuwider.“

„Lady Eleanor Braithmore?“, fragte Lilya. Es überraschte sie, dass die zurückhaltende Dame imstande sein sollte, die Aufmerksamkeit eines Mannes wie Beldon auf sich zu ziehen. Doch sie nahm sich zusammen, nicht laut mit ihrer Meinung herauszuplatzen.

„Gefällt dir das nicht?“

Lilya zuckte die Schultern. „Nein, Lady Braithmore ist ein schönes Mädchen. Ich finde nur, dass es sehr schnell geht.“

„Der Baron gehört nicht zu der Sorte Mann, die zögert, wenn sie ihren Entschluss erst einmal gefasst hat. Mach dir keine Sorgen. Wir finden auch bald einen passenden Ehemann für dich. Ist dir gestern Abend vielleicht jemand besonders aufgefallen?“

Lilya antwortete vage: „Bisher noch niemand, obwohl viele von ihnen sehr angenehme Gesellschafter waren.“ Nachdem sie mit Beldon getanzt hatte, waren die anderen Männer ihr gleichgültig gewesen.

„Vielleicht reitet der Sohn des Marquis heute auch im Park aus“, fuhr Philippa fort und reichte Lilya ein Paar Handschuhe. „Er ist achtundzwanzig und schon jetzt gut situiert. Mir ist aufgefallen, dass er von dir sehr angetan ist. Val kennt seinen Vater. Wenn du ihn ein wenig ermutigen würdest …“

„Ich werde es erwägen“, unterbrach Lilya sie. Dabei war es das Letzte, was sie wollte. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie seine Frau werden würde. Jede Heirat war im Grunde ausgeschlossen und zu riskant, aber einen Mann aus dem Hochadel zu nehmen, kam überhaupt nicht infrage. Ihr Leben würde sich nach einer solchen Hochzeit vorwiegend in der Öffentlichkeit abspielen. Jeder ihrer Schritte würde von der Presse kommentiert werden – und damit ihren Verfolgern ihren Aufenthaltsort verraten.

Wenn man überhaupt davon ausging, dass es die Art von Heirat war, die sie wollte. Auf eine gewisse Weise schützte sie der Diamant davor, darüber nachzudenken, ob ihr Temperament und das eines Engländers überhaupt zusammenpassen konnten. Die englischen Mädchen, die sie bisher kennengelernt hatte, waren fade Personen ohne die geringste Kühnheit gewesen. Sie gehörten ihren Ehemännern und vertraten deren Ansichten.

Sie selbst hatte sich niemals jemandem untergeordnet und glaubte auch nicht, dass sie dazu in der Lage sein könnte – schon gar nicht für einen Mann!

Philippa hatte sich nicht geirrt. Sie trafen Lady Eleanor Braithmore im Park. Sie saß sittsam in einem weißen Landauer und drehte einen weißen Sonnenschirm in ihren Händen. Beldon war an ihrer Seite und machte ihr Komplimente wegen ihrer Schönheit. Er saß barhäuptig auf seinem Jagdpferd und wirkte so männlich, dass Lilya sich konzentrieren musste, um das Atmen nicht zu vergessen.

Verstand das Mädchen überhaupt, wie ungewöhnlich es war, dass er ihr seine Zuneigung zeigte? Sicher nahm sie es für selbstverständlich. Als Tochter eines Earls war sie in dem Bewusstsein erzogen worden, eines Tages in eine standesgemäße Ehe, wie er sie ihr bieten würde, einzuwilligen.

Lilya seufzte, als sie sich an ein längst vergangenes Ereignis erinnerte. Sie hatte sich verliebt, bevor sie die Fehler ihres Vaters wirklich verstanden hatte. Als sie sechzehn war, war ihr ebenso viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden wie Beldon sie jetzt Eleanor zuteilwerden ließ. Das Ergebnis war einer Katastrophe gleich gekommen: Der junge Mann, der talentierte Sohn eines Kaufmanns, war gestorben. Sie hatte daraus gelernt. Sie musste allein bleiben.

Mit aller Macht versuchte sie sich einzureden, dass sie Lady Eleanor die Aufmerksamkeit Beldons gönnte. Für sie kam es nicht mehr infrage, sich umwerben zu lassen.

Drei Herren, die sich auf ihren Pferden näherten, zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich.

„Pendennys! Schön dich zu sehen!“, rief einer der jungen Männer. Lilya erinnerte sich vage, dass er der Bruder Lady Eleanors war, ein großspuriger Zweiundzwanzigjähriger. Ihr schien, als zucke Beldon zusammen, als er den jungen Mann sah, doch er fing sich rasch.

„Bandon! Schön Sie zusehen!“ Beldon sah verärgert aus und das bestärkte Lilya in ihrem Eindruck vom Vorabend, dass er jemand war, dem man nicht so leicht nahekam.

„Ich möchte Sie gerne einigen meiner Freunde vorstellen. Das ist Lord Crawford und das hier Mr Agyros, der wegen der Verhandlungen in London weilt. Mein Vater nimmt natürlich auch daran teil“, ließ sich Lord Bandon angeberisch vernehmen.

Die jungen Leute wurden einander vorgestellt. Lilya spürte, dass Mr Agyros sie beobachtete, während sich die anderen angeregt unterhielten. Er war ein attraktiver Mann. Dass er sie mit seinen dunklen Augen so ausführlich musterte, ließ sie erröten. Dann sprach er sie an.

„Verzeihen Sie meine Zudringlichkeit, aber ich kann nicht anders als mich über ihren Namen zu wundern. Er klingt russisch, aber der leichte Akzent in Ihrer Aussprache erinnert mich an meine Heimat. Kommen Sie vielleicht vom Balkan oder sogar aus Mazedonien?“ Er warf ihr ein strahlendes Lächeln zu. Lilya konnte nicht anders als es zu erwidern.

„Wo kommen Sie her, Mr Agyros?“, fragte sie freundlich. Sie fand es am klügsten, seine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten, bis sie mehr über ihn wusste. Sie hatte gelernt, wachsam zu sein. Unmittelbare Gefahr drohte von jemandem, der wusste, dass sie sich in London aufhielt und den Diamanten besaß. Indirekte Gefahr ging von Menschen aus, die diese Informationen an jemanden weitergeben konnten.

Auf Vals Landsitz in Cornwall war die Möglichkeit, jemandem vom Balkan zu begegnen, ausgesprochen gering. Hier in London, während der Friedensverhandlungen, war die Möglichkeit einer solchen Begegnung sehr viel wahrscheinlicher. Die Gefahr trat in vielerlei Gestalt auf. Es wäre vielleicht an der Zeit, wieder ein Messer bei sich zu tragen …

Er lächelte wieder und sagte freundlich: „Aus Konstantinopel.“

Lilya entspannte sich ein wenig. Drohte ihr von Mr Argyros Gefahr oder litt sie unter Verfolgungswahn? „Sind Sie länger hier?“

Er war sicher harmlos, ein diplomatischer Berater, der sich in der Welt umsah und die Gelegenheit nutzte, um seine Stellung und sein Ansehen zu Hause zu festigen. Dieses Zusammentreffen im Park war ein Zufall. Dennoch warnte sie ihre Vorsicht. Er könnte irgendwem von ihr erzählen …

Mr Agyros zuckte leicht mit den Schultern. „Nun, es kommt auf die Umstände an.“ Wieder schenkte er ihr ein entwaffnendes Lächeln. „Ich werde mich jedenfalls lange genug in London aufhalten, um den Ball der Latimores zu besuchen. Darf ich hoffen, Sie ebenfalls dort anzutreffen? Ich merke, dass ich kaum die Augen von Ihnen abwenden kann, so ungebührlich das auch sein mag.“ Sie lachten über seine Bemerkung. Der Ball bei den Latimores war am nächsten Abend.

Vielleicht hatte sie Sehnsucht nach ihrer Heimat, vielleicht hatte sie aufgrund ihres Geheimnisses auch Vorbehalte, die sie in ihrer Wahrnehmung beeinflussten. Wahrscheinlich sollte sie einfach unbeschwert mit dem Mann aus ihrer Heimat plaudern, einem, der dieselben Orte kannte wie sie und dieselben Straßen entlanggegangen war. Ohne weiter nachzugrübeln, sagte sie deshalb: „Ich werde mir den Ball auf keinen Fall entgehen lassen.“

Er zwinkerte ihr zu. Dann verbeugte sich der dunkelhaarige Adonis im Sattel und lächelte sie strahlend an. Zusammen mit den anderen verabschiedete er sich und sie ritten davon. Lady Eleanor folgte ihnen in ihrem Landauer. Lilya bemerkte, dass Beldon sie neugierig betrachtete.

Er lenkte sein Pferd zu ihr. „Reicht es Ihnen nicht, dass sich die Herren aus ganz England um Sie reißen? Müssen Sie auch noch die Herzen aller Europäer brechen?“

Scheinbar hatte er das Gespräch verfolgt. Sie wusste nicht, was sie von seiner Bemerkung halten sollte. „Sollte ich geschmeichelt sein oder aufgebracht, dass Sie gelauscht haben?“

„Lauschen in der Öffentlichkeit zählt nicht“, konterte er. „Ihr Trick funktioniert bei mir nicht. Anders als Mr Agyros werde ich mich durch eine Gegenfrage nicht von meiner Frage ablenken lassen. Warum haben Sie ihm nicht gesagt, woher Sie kommen?“

Sie hatte auch nicht geglaubt, dass es noch einmal funktionieren würde. Aber man konnte es ja versuchen. „Ich möchte Menschen gerne näher kennen, bevor ich etwas von mir offenbare.“

„Ich dachte, es würde Sie freuen, jemandem aus Ihrer Heimat zu begegnen“, bemerkte Beldon verwundert.

Auch wenn es beim ersten Mal nicht geklappt hat, versuche es erneut und sei dieses Mal charmanter! Lilya sah ihn mit einem schüchternen Lächeln an. „Hat Ihnen niemand gesagt, dass man eine Dame nicht dazu zwingen darf, über etwas zu reden, über das sie nicht reden will?“

Unbeeindruckt blieb Beldon beim Thema.

„Ich frage mich, was das über Ihren Mr Agyros aussagt? Ihn schien alles brennend zu interessieren, was Sie geantwortet haben.“

Sie runzelte ihre Stirn. „Das ist genau, was ich meine.“ Sie senkte ihre Stimme und hoffte, er würde sein Verhör beenden. „Wenn ich persönliche Informationen zurückhalte, dann ist das meine Sache.“

Er nickte und schaute sie ernst an. Einen Augenblick lang schien die Welt stehen zu bleiben und sie waren die einzigen Menschen weit und breit. Seine mächtige Aura, die ihr bereits am vergangenen Abend aufgefallen war, raubte ihr beinahe den Atem.

„Ich entschuldige mich, Miss Stefanov. Ich dachte nur daran, wie einsam Sie sich hier in England, weit entfernt von ihrer Heimat, fühlen müssen.“ Er klang sehr höflich, schließlich war er ja auch ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Dennoch wühlten seine Gegenwart und sein Verhalten sie auf. Am gestrigen Abend waren es seine Berührungen und seine körperliche Nähe gewesen, die sie erregt hatten, heute waren es seine Worte.

Sie blickte rasch weg, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sah. Beldons Bemerkung bewegte sie. Es war interessant zu beobachten, wie andere ein Gespräch zwischen ihr und einem ihrer Landsleute wahrnahmen. Wo sie Gefahr vermutete, sahen andere Gemeinschaft. Aber Lilya dachte nicht daran, die Sicht anderer zu teilen. Der Moment, in dem sie ihre Vorsicht aufgab, war wahrscheinlich gleichzeitig der Moment ihres Todes. Es war Ironie des Schicksals, dass sie ihre Landsleute meiden musste statt sie zu beschützen. Sie misstraute ihnen und fürchtete sie wegen der Gefahr, die von ihnen ausgehen konnte. Die andauernde Furcht, enttarnt zu werden, und vor allem der Gedanke, dass sie nicht in ihre Heimat und zu ihrer Familie zurückkehren konnte, zermürbte sie.

„Meine Zuhause ist hier in London. Val und Philippa sind jetzt meine Familie“, antwortete sie leise.

„Mich können Sie auch dazuzählen“, versicherte ihr Beldon.

„Natürlich“, sagte sie hastig. „Aber Sie werden bald eine eigene Familie gründen und Ihrer Schwester weniger Aufmerksamkeit schenken können.“ Das waren sehr klare Worte für ein unverheiratetes Mädchen. Eigentlich war es ungehörig, mit Junggesellen über deren Heiratspläne zu sprechen. Andererseits gehörte sie zur Familie, das hatte er selbst gesagt. Er konnte seine Bemerkung ja zurücknehmen, wenn er nicht meinte, was er eben gesagt hatte …

Sie sah ihm an, dass er nicht bereit war, mit ihr darüber zu reden.

„Ja. In meiner Zukunft läuten die Hochzeitsglocken“, bemerkte er nur unverbindlich, gab seinem Pferd die Sporen und ritt davon.

Was ist nur mit mir los?

Einen Tag früher hätte Beldon diese Aussage mit Befriedigung erfüllt. Ein weiteres Ziel war erreicht, da er sich entschieden hatte, zu heiraten. Er musste nur noch die Frau auswählen, um deren Hand er in einem Monat anhalten würde.

Dafür würde er einige Wochen lang tanzen, im Park reiten gehen und an einigen Gesellschaften teilnehmen. Dann wäre die Entscheidung gefallen und er könnte seinen Antrag machen.

Wahrscheinlich würde seine Wahl auf Lady Eleanor fallen. Sie würde ihn bestimmt nicht abweisen, das hatte er schon gestern Abend gemerkt, als er sie zum Tanz aufgefordert hatte. Sie hatte ihm aufmerksam und interessiert zugehört und mit ihren braunen Augen zu ihm aufgeschaut. Er würde der Mann sein, der Lady Eleanor Braithmore samt ihrem Erbe gewinnen würde. Vor einigen Jahren hatte er noch nicht auf eine solche Heirat hoffen dürfen.

Trotz alledem war er nicht zufrieden mit sich. Das lag an Lilya. Am vergangenen Abend hatte sie ihn aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. In einem Ballsaal voller blasser Debütantinnen hatte sie mit ihrer Lebendigkeit alle überstrahlt. Die anderen Damen erschienen ihm alle gleich … gleich langweilig. Aber das war nichts Schlimmes, die Damen seiner Klasse hatten andere Vorzüge. Sie waren nicht aufregend, aber sehr tugendhaft. Eigentlich hatte er sich schon darauf eingestellt.

Doch Lilya war aufregend.

Gebannt hatte er an ihren Lippen gehangen und ihren wachen Verstand bewundert. Der vergangene Abend war ungewöhnlich gewesen. Sie hatte seine Fantasie angeregt … und tat es immer noch, auch wenn er sich noch so sehr dagegen wehrte.

Auch am hellen Tag war Lilya außerordentlich schön. Ihre sanften Gesichtszüge und ihr verführerischer Mund wirkten ausgesprochen weiblich, während das Feuer, das in ihren Augen brannte, ihre wilde, ungezähmte Seite verriet. Sie schien voller Kraft zu sein, selbstständig und unabhängig. Es hatte ihn heute seine gesamte Fähigkeit zur Selbstkontrolle gekostet, sich auf Lady Eleanor zu konzentrieren. Sehr viel lieber hätte er dem Gespräch zwischen Lilya und Mr Agyros gelauscht.

Vielleicht hatten ihn Mr Agyros’ Aufmerksamkeiten gegenüber Lilya geärgert. Seine Augen hatten Lilya nahezu ausgezogen. Wie er sie angestarrt hatte, war skandalös gewesen.

Autor

Bronwyn Scott
<p>Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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