Dein süßer Kuss verrät mir alles

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Ein Blitz des Verlangens durchfährt den griechischen Tycoon Lysandros Drakakis, als er Ria wiedersieht. Noch immer begehrt er die wunderschöne Pianistin heiß! Dabei hat sie ihn vor sechs Wochen ohne ein Wort der Erklärung verlassen, und auch jetzt weicht sie seinen Blicken aus. Gut, wenn sie schweigen will - aber jetzt wird er sein verführerisches Spiel mit ihr zu Ende bringen! Das Schicksal kommt ihm zu Hilfe: Gemeinsam fliegen sie auf seine Privatinsel. Wo Ria ihm mit banger Stimme gesteht, was vor sechs Wochen wirklich geschehen ist …


  • Erscheinungstag 24.09.2019
  • Bandnummer 2406
  • ISBN / Artikelnummer 9783733712464
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London im Frühling

Lysandros Drakakis sah zu, wie sich Ria Armstrong an den Flügel setzte. Die Frau, die er mehr begehrte als je zuvor eine Frau. Eine erwartungsvolle Stille legte sich über den Saal. Alle fieberten dem Beginn der Aufführung entgegen, die er für seine Geschäftspartner in einem der besten Hotels Londons organisiert hatte.

Wie schön Ria war! Sie war hochgewachsen und schlank und bewegte sich voller Anmut. Sämtliche Augen im Saal waren auf sie gerichtet. Jeder im Raum wartete darauf, dass sie zu spielen begann, doch Lysandros träumte davon, wie sie seine leidenschaftlichen Küsse erwiderte und sich ihm endlich hingab. Er wusste, dass sie ihm nicht mehr lange widerstehen würde, und konnte es kaum erwarten, dass sie ihrem Verlangen nachgab.

Seine kleine Schwester Xena hatte behauptet, dass er und Ria perfekt zusammenpassen würden, und sie einander vorgestellt. Seit zwei Monaten zeigte er sich der unwiderstehlichen Schönheit nun schon von seiner charmantesten Seite. Und er ließ ihr Zeit, was eigentlich nicht seine Art war. Aber seit seiner grandios gescheiterten Beziehung mit Kyra vor zehn Jahren war es das erste Mal, dass er mehr von einer Frau wollte als körperliche Befriedigung.

Die für ihn untypische Zurückhaltung bei den Treffen mit Ria setzte ihm ziemlich zu. Auch wenn sie noch nicht über Küsse hinausgekommen waren, dachte er ständig daran, wie sie einander nackt umschlingen würden. Und als Rias Finger nun endlich die Tasten sanft berührten, schloss er die Augen und zwang sich, ruhig zu bleiben und sich nicht vorzustellen, wie sie ihn berührte und liebkoste.

Von Anfang an hatte Ria ihm unmissverständlich klargemacht, dass ihre Konzerte und das tägliche Üben sie stark in Anspruch nahmen. Vor Kurzem hatte sie die Musik außerdem als Grund dafür angegeben, dass sie nicht bereit war, sich auf mehr einzulassen. Aber Lysandros war fest entschlossen, sie im Sommer – sobald die Konzertsaison vorbei war – mit nach Griechenland zu nehmen. Damit ihr Verlangen nacheinander aufblühen konnte wie die Blumen auf der Insel, die ihm als Rückzugsort diente.

Applaus brandete auf und holte ihn zurück ins Hier und Jetzt. Wie lange hatte er sich von seinen lüsternen Träumereien ablenken lassen? Gerade verbeugte Ria sich lächelnd. Sie war ein aufsteigender Stern am Klassikhimmel, und sie mochte es, mit kleineren Aufführungen wie dieser neue Hörer für das Genre zu begeistern.

Als sich die Gäste in Richtung Hotelbar oder Restaurant entfernten, ging er auf Ria zu, die dabei war, ihre Noten zusammenzupacken. Sie sah auf und lächelte ihn an. Lysandros dachte, dass sie tatsächlich diejenige sein könnte, die ihm trotz allem, was er mit seiner Ex-Verlobten Kyra erlebt hatte, den Glauben an die Liebe wiedergeben könnte – genau, wie Xena prophezeit hatte.

„Erstklassige Unterhaltung, Lysandros“, sagte Samuel Andrews neben ihm, der gerade erst einen Kaufvertrag über zehn Luxusjachten unterzeichnet hatte.

„Allerdings“, antwortete Lysandros mit einem kurzen Seitenblick auf den Unternehmer, bevor er sich wieder Ria zuwandte, die fast aufbruchbereit war. Er konnte nicht gehen, ohne ihr vorher zu sagen, wie wundervoll sie gespielt hatte – und sie zu fragen, ob sie heute mit ihm essen wollte.

„Wenn du mich bitte entschuldigen würdest …“

Die Antwort seines Geschäftspartners wartete er nicht ab. Gerade war ihm alles außer Ria egal. In ein paar Tagen kehrte er nach Griechenland zurück, und sein Terminkalender für die kommenden Wochen war randvoll. Erschrocken realisierte er, dass er Ria vermissen würde. Das war eine völlig neue Erfahrung für einen Mann, der in den vergangenen zehn Jahren eine bedeutungslose Beziehung nach der anderen geführt hatte.

Ria sah mit einem verführerischen und zugleich schüchternen Lächeln zu ihm auf. Es bestärkte ihn noch in seinem brennenden Wunsch, mit dieser Frau Zeit in Griechenland zu verbringen.

„Du hast wundervoll gespielt“, sagte er und stellte sich an den Flügel.

Sie sah unendlich anmutig aus in ihrem langen schwarzen Kleid, das eine Schulter frei ließ. Das Haar hatte sie zu einem lockeren Knoten im Nacken geschlungen, den Lysandros äußerst sexy fand. Er stellte sich vor, wie er den Dutt löste, während sie übereinander herfielen.

„Danke. Heißt das, dass du mich zum Essen einladen möchtest?“, fragte sie neckisch.

Endlich gelang es ihm, sie aus der Reserve zu locken. Bald schon würde diese unschuldige Schönheit ihm ganz gehören. Dieser Gedanke verstärkte das Verlangen, das in ihm brandete, nachdem er sich während ihres Klavierspiels seinen erotischen Träumereien hingegeben hatte.

Nicht länger in der Lage, der Verlockung zu widerstehen, sie zu berühren, machte er einen Schritt auf sie zu und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Er sah ihr in die Augen und küsste sie auf den Mund, bevor er antwortete. „Das heißt es allerdings. Zumal ich Ende der Woche nach Griechenland zurückmuss.“

„Schon?“, fragte Ria mit heiserer Stimme, die verriet, dass sie ihn ebenso begehrte wie er sie.

„Ja, leider.“ Zu gern hätte er sie in seine Arme gerissen und geküsst, um endlich diese höllische Mauer zum Einsturz zu bringen, hinter der sie sich versteckte.

„Ich muss mich noch mit Hans treffen, dem Dirigenten. Er will ein paar Stücke mit mir durchgehen, aber danach habe ich Zeit.“ Sie machte eine kleine Pause. „Zeit, die ich mit dir genießen möchte“, fuhr sie dann errötend fort.

„Das klingt vielversprechend …“ Wie gern hätte er sie jetzt geküsst!

„Das soll es auch“, antwortete Ria lächelnd. „Ich will heute Abend mit dir zusammensein. Und heute Nacht.“

Weiß sie, was sie mir antut? Wie sie mich quält? Lysandros sah ihr in die braunen Augen.

„Bist du sicher?“, fragte er, um ihr klarzumachen, dass er bereit war zu warten – und dass er wusste, dass sie es nicht leichtfertig tat. Sie sollte wissen, dass alles nach ihrem Tempo geschehen würde.

„Absolut.“ Ihr entschlossener Tonfall war ihm Bestätigung genug. Heute Nacht würde diese wunderbare Frau mit der unschuldigen Ausstrahlung ihm gehören. Er küsste sie zärtlich, und als sie den Kuss voller Leidenschaft erwiderte, wurde er fast verrückt vor Verlangen nach ihr. „Ich werde dafür sorgen, dass es eine ganz besondere Nacht für dich wird, agape mou.“

„Mit dir zusammen zu sein ist an sich schon etwas Besonderes“, antwortete sie. „Aber jetzt muss ich erst mal los“, fuhr sie fort und hielt ihre Noten hoch. „Du weißt ja, wie hart Hans uns rannimmt. Und du möchtest dich doch sicher unter deine Gäste mischen.“

Sie wandte sich noch einmal lächelnd nach ihm um, bevor sie leichtfüßig losging. Dieselbe Unbeschwertheit empfand auch er. Ria hatte ihn zu einem anderen Menschen gemacht, seit er mit ihr ausging. Und sie war es, die seine Schwester immer wieder von Verlobung sprechen ließ. Xena war von Anfang an überzeugt gewesen, dass die Frage nicht lautete, wann er sich mit ihrer Freundin verlobte, sondern wie schnell.

Was sie heute Abend vorhatte, kam Ria ziemlich gewagt vor. Heute Abend würde sie sich Lysandros ganz hingeben. Sie würde ihm ihre Unschuld schenken. Obwohl er der Bruder ihrer besten Freundin war, obwohl er schon einmal verlobt gewesen war und obwohl sie wusste, dass er nicht auf eine längere Beziehung aus war. Doch er gab ihr das Gefühl, lebendig zu sein, und sie wollte nur mit ihm zusammen sein.

Ria öffnete die Tür des großen Übungsraums und ging zum Flügel. Ihre Schritte hallten vom Parkett wider. Hans hatte darauf bestanden, dass sie vor den Konzerten zum Saisonende noch einmal ein paar Stücke durchgingen. Sie war früh dran und hatte noch Zeit, ein wenig für sich zu spielen.

Sie konnte es nicht erwarten, das Treffen mit Hans hinter sich zu bringen und Lysandros wiederzusehen. Zum ersten Mal in ihrem Leben nervte es sie, Pflichten zu haben, die sie davon abhielten, etwas zu tun, wozu sie mehr Lust hatte.

Ihre Gedanken kehrten zu seinem Kuss, unmittelbar bevor er gegangen war, zurück. Selbst wenn er nicht gesagt hätte, dass es eine besondere Nacht werden würde, hätte sie es an seinem Kuss gespürt. Mit klopfendem Herzen begann sie zu spielen. Dabei vergaß sie alles um sich herum und ließ all ihre Gefühle in das romantische Stück einfließen.

Als die letzte Note verklang, summte ihr Körper vor Verlangen nach Lysandros. Ria schloss die Augen, legte die Hände in den Schoß und genoss das Gefühl.

„Das war sehr schön“, hörte sie Hans hinter sich sagen. Sehr dicht hinter sich. Erschrocken wandte sie sich um. Es ärgerte sie, dass er sie in einem so privaten Moment überraschte. Sie fühle sich verwundbar. Bloßgestellt. Er hatte sie beobachtet, während sie sich ihren Gefühlen hingegeben hatte und ihr Verlangen nach Lysandros in ihr Klavierspiel hatte einfließen lassen.

„Du hättest dich bemerkbar machen sollen“, sagte sie gereizt.

„Und damit den Moment zerstören?“ Er betrachtete sie von Kopf bis Fuß. „Du sahst so schön aus. So leidenschaftlich.“

Hans machte einen Schritt auf sie zu, und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Ria durch die Gegenwart eines Mannes bedroht. Hans roch nach Alkohol. Außerdem gefiel ihr die Art nicht, wie er sie ansah. Es besudelte die Reinheit ihrer Gefühle für Lysandros. Es schüttelte Ria. Aber wahrscheinlich reagierte sie nur über. Weil es ihr peinlich war, dass er sie in einem Moment gesehen hatte, in dem sie sich unbeobachtet geglaubt hatte.

„Sollen wir die Sachen durchgehen, über die du reden wolltest?“, fragte sie und versuchte so, das Gespräch ins Berufliche zu lenken.

„Spiel etwas für mich.“

Fast kam es ihr vor, als wüsste er, dass sie für jemanden gespielt hatte. Für Lysandros.

Ria sagte sich, dass es an der peinlichen Situation liegen musste, dass sie Dinge zu sehen glaubte, die nicht da waren. Als sie sich umwandte, um ihre Noten zu sortieren, spürte sie, wie er noch näher kam. Sie blickte über den Flügel hinweg zu dem Erkerfenster, durch das man den Park sehen konnte, der jetzt im Frühling wieder zum Leben erwachte. Im Sommer wäre er voller Menschen gewesen, die die Sonne genossen. Jetzt war niemand dort.

„Dieses hier“, sagte Hans und beugte sich über ihre Schulter, um das Stück nach vorne zu holen.

Spiel, sagte Ria zu sich selbst. Spiel, dann wird er schon wieder etwas zurücktreten.

Sie atmete tief durch, legte ihre Finger auf die Tasten und begann nach kurzem Zögern zu spielen. Zunächst klang ihr Spiel der angespannten Situation wegen etwas hölzern und emotionslos. Hans hatte sich keinen Zentimeter wegbewegt. Mache ich mir zu große Sorgen? Obwohl er dicht hinter ihr stehen blieb, begann sie schließlich, sich zu entspannen. Ihr Spiel wurde flüssiger.

Nachdem sie das Stück beendet hatte, sah Ria auf die Tasten hinunter. Sie wagte es nicht, ihn anzusehen. Als er ihr eine Hand auf die nackte Schulter legte, erstarrte sie für eine Sekunde, wandte dann den Kopf und sah seine Hand an. Sie hätte aufstehen und weggehen sollen, doch sie war wie gelähmt vor Angst.

Als bedeutete ihre Reglosigkeit Einverständnis, bewegte er seine Hand weiter nach unten über ihren Oberkörper. Keuchend rückte Ria auf dem Klavierhocker nach hinten – und stieß gegen Hans’ Körper.

„Nicht!“, protestierte sie und packte seine Hand, als sich diese weiter nach unten bewegte – tief in den Ausschnitt ihres Kleids.

„Was soll das?“, schrie sie.

Rias Stimme hallte im Raum nach, während sie versuchte, sich Hans zu entwinden. Doch er packte ihre Brust so fest, dass es wehtat, und sie war zwischen seinem Körper und seinem Arm gefangen.

„Ich gebe dir nur, was du willst.“ Seine Stimme klang bedrohlich, und sein Gesicht war ihrem so nah, dass sie seine Alkoholfahne roch.

„Ich will das aber nicht!“ Wieder versuchte sie, sich zu befreien, doch er griff nur fester zu und packte sie mit der freien Hand an der Schulter.

„Hab dich nicht so. Ich weiß, dass du es willst.“ Er drückte ihre Brust. Es tat weh. Ria wurde übel. Sie musste hier weg.

Sie stieß sich vom Klavier ab, das einen misstönenden Akkord von sich gab. Endlich konnte sie sich aus seinem Griff befreien, war aber noch ganz benommen vor Schreck über das, was gerade passiert war.

Heftig keuchend sah sie ihn an – und erkannte zu spät, dass das ein Fehler war. Sie hätte sofort weglaufen sollen. Im Handumdrehen drängte er sie zurück ans Klavier und küsste sie gewaltsam. Dann riss er ihr Kleid hoch und griff nach ihrem Schenkel, während er sie mit seinem Körper noch enger ans Klavier drückte.

Das Geräusch des zerreißenden Kleides riss sie aus der Schockstarre, und sie versuchte, ihn wegzuschubsen.

„Lass mich!“, schrie sie.

Doch er war zu stark für sie. „Ich mag es auf die harte Tour“, keuchte er und versuchte, sie zu küssen. Seine Bartstoppeln kratzten über ihr Gesicht. Sein Mundgeruch ließ sie würgen.

„Nein“, brüllte sie voller Panik. Das durfte er ihr nicht antun. Auf keinen Fall. Sie wehrte sich heftiger und wurde immer lauter. „Hör auf!“

„Was zur Hölle soll das werden?“, rief jemand hinter ihnen.

Endlich ließ Hans von ihr ab. Erleichtert sank Ria zu Boden, hielt sich am Klavierhocker fest wie an einem Rettungsring und legte den Kopf auf ihre Arme, während Hans wilde Anschuldigungen ausstieß.

Wie kann er behaupten, ich hätte ihn angegraben? Wie kann er behaupten, ich habe es gewollt? Tränen schossen ihr in die Augen. Was war da eigentlich gerade passiert?

„Bist du verletzt?“, fragte eine freundliche, aber verärgerte Frauenstimme.

Ria hob den Kopf und sah sich ängstlich um.

„Er ist weg“, beruhigte die Frau sie.

„Ein Glück.“ Ein Schauder durchlief Ria. Jetzt erst kam der Schreck über das, was passiert war, ganz bei ihr an. „Wer weiß, was passiert wäre, wenn Sie nicht gekommen wären.“

„So ein Dreckskerl“, fluchte die Frau. „Gut, dass der Raum versehentlich doppelt vergeben wurde und ich Philip und Josh dabeihatte.“

„Doppelt vergeben?“, fragte Ria, die auf einmal nicht mehr wusste, wo sie war. Sie war komplett durcheinander.

Die Frau legte Ria ihre Jacke um die Schultern. „Mach dir darüber keine Sorgen. Das einzig Wichtige ist, dass er weggesperrt wird und weder dir noch einer anderen je wieder so etwas antun kann.“

„Was?“, fragte Ria erschrocken. Ihr stiegen schon wieder die Tränen in die Augen.

„Dazu müsstest du natürlich deine Aussage machen, sobald du dazu in der Lage bist. Die Polizei sollte gleich da sein.“

„Die Polizei?“

„Ja. Ich habe sie angerufen, während Philip und Josh ihn von dir weggezogen haben“, erklärte die Frau.

Ria lächelte, als sie endlich erkannte, wen sie vor sich hatte. Judith Jones, eine fabelhafte Dirigentin, die noch nicht lange zum Ensemble gehörte.

Mühsam rappelte sie sich auf und bemerkte entsetzt, dass das Oberteil ihres Kleids zerfetzt herunterhing. Hatte Hans das wirklich getan?

„Mein Kleid …“, begann sie hilflos und brach dann jäh ab.

Judith nahm sie in die Arme. „Das Kleid ist egal, Ria. Das einzig Wichtige ist, dass wir gerade noch rechtzeitig aufgetaucht sind.“

„Wenn ihr nicht gekommen wärt …“ Erst jetzt realisierte Ria, was dann wohl passiert wäre.

„Aber wir sind gekommen“, erwiderte Judith. „Und du kannst deine Aussage machen.“

„Ja“, antwortete Ria mit zittriger Stimme.

„Und danach kommst du mit zu mir. Ich kümmere mich heute Abend um dich – außer natürlich, du wärst lieber bei jemand anderem. In jedem Fall solltest du heute Abend nicht allein sein.“

„Nein“, flüsterte Ria traurig. Wie sollte sie jetzt zu Lysandros gehen? Sie konnte die Nacht nicht mit ihm verbringen, egal, was sie ihm versprochen hatte. Wie sollte sie ihm gegenübertreten, geschweige denn von dem erzählen, was passiert war? Xena hatte heute Abend schon etwas vor, und Ria war ohnehin noch nicht so weit, über den Vorfall sprechen zu können.

„Nein, ich wüsste niemandem“, antwortete sie darum verzagt. Sie hatte sich so auf die Nacht mit Lysandros gefreut. Aber wie sollte sie nach dem, was gerade passiert war, einem Mann erlauben, sie zu berühren? Selbst wenn es der Mann war, in den sie sich gerade verliebte.

1. KAPITEL

Mittlerweile war es sechs Wochen her, seit Ria Lysandros zum letzten Mal gesehen hatte. Sechs Wochen her, dass sie ihm frisch verliebt und ungewohnt selbstbewusst gesagt hatte, dass sie die Nacht mit ihm verbringen wollte. Und sechs Wochen her, dass ihre Welt zusammengebrochen war und das neugewonnene Selbstbewusstsein vernichtet worden war, zusammen mit der Hoffnung, dass aus ihr und Lysandros etwas ganz Besonderes erwachsen würde.

Der traumatische Vorfall nach ihrer Aufführung hatte ihr keine andere Wahl gelassen, als den Mann zu versetzen, an den sie ihr Herz verloren hatte. Den Mann, dem sie alles zu geben bereit gewesen war. Sie hatte den Kontakt zu Lysandros abgebrochen. Seit jenem Nachmittag hatte sie auch nie wie wieder Klavier gespielt. Was passiert war, nachdem Hans hereingekommen war, machte es ihr unmöglich, sich einem Klavier auch nur zu nähern.

Doch nach einem weiteren einschneidenden Vorfall würde sie Lysandros nun wiedersehen. Er konnte jeden Moment das Krankenhauszimmer betreten, in dem seine kleine Schwester und Rias beste Freundin Xena nach einem Autounfall am Abend zuvor lag.

Lysandros riss Ria aus ihren Gedanken, als er in das schummrig beleuchtete private Krankenhauszimmer stürzte, die gesamte Aufmerksamkeit auf seine schlafende Schwester gerichtet. Rias Herz klopfte heftig. Sie war wie gelähmt und bekam keinen Ton heraus. Also blieb sie stumm und starr auf dem Sessel in der Ecke des Raums sitzen und sah zu, wie Lysandros ans Bett trat, um seine Schwester mit verbissenem Gesicht zu betrachten. Er rieb sich das Kinn und wirkte unentschlossen, was er tun oder sagen sollte. Sicher hatte er Athen überstürzt verlassen. Ria hatte er noch immer nicht bemerkt.

Sie saß stumm da und beobachtete voller Verzweiflung den Mann, an den sie ihr Herz verloren hatte. Als würde er ihre Anwesenheit spüren, sah er zu ihr. Sein Blick war so leer, dass es ihr fast das Herz brach.

„Ria?“ Einen Moment lang schien er kein Wort über die Lippen zu bekommen. „Seit wann bist du hier?“

„Seit heute früh.“ Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sein fragender Blick war herzzerreißend. Er forschte in ihrem Gesicht nach Antworten, die sie ihm nicht geben konnte.

„Wie lange wird sie wohl noch schlafen?“, fragte er mit etwas festerer Stimme, nachdem der erste Schreck, sie hier zu treffen, verflogen war. Sein dunkelgrauer Anzug betonte seine athletische Statur. Ria dachte daran, wie gut es sich angefühlt hatte, von ihm in den Armen gehalten und geküsst zu werden. Wie gut und wie richtig. Aber das war Vergangenheit.

Sie widerstand dem Bedürfnis, aufzustehen und zu ihm zu gehen. Stattdessen blieb sie sitzen und versuchte, möglichst gleichgültig zu wirken – wie damals, als sie die Beziehung beendet hatte.

„Nach dem Aufwachen war sie ziemlich durch den Wind, darum haben die Ärzte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben.“ Ria konzentrierte sich auf Xena, weil sie es nicht über sich brachte, Lysandros anzusehen. Sie wollte die Fragen in seinen nachtschwarzen Augen nicht sehen. Die Vorwürfe. „Sie haben gesagt, dass sie noch eine Weile ziemlich schläfrig sein wird. Und sie fürchten, dass der Aufprall ihres Kopfs sich auf ihr Gedächtnis ausgewirkt haben könnte.“

„Ihr Gedächtnis?“ Jetzt hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. Lysandros sah sie durchdringend an.

„Sie kann sich nicht an den Unfall und einen bestimmten Zeitraum davor erinnern. Aber da sie weiß, wer sie ist, vermuten die Ärzte, dass es eine Strategie ist, das Erlebte durch Verdrängung zu bewältigen.“ Ria schluckte. Sie musste stark sein und sich auf das konzentrieren, was für Xena wichtig war. Gerade war alles andere egal, sogar die Geschichte mit ihr und Lysandros.

„Was ist denn passiert?“, fragte er.

Ria wusste nicht, wie sie ihm diese Frage beantworten sollte, ohne ihm von Xenas Verhältnis zu erzählen – der Liebschaft, die mittlerweile beendet war. Die Affäre war vielleicht der Grund dafür, dass Xena im Krankenhaus lag, aber sie war nicht mehr von Bedeutung. Genau wie das, was Lysandros und sie miteinander geteilt hatten, nicht mehr von Bedeutung war.

Als Ria gestern Nacht im Krankenhaus angekommen war, hatte Xena sich nicht mehr an das Versprechen erinnert, das sie ihrer besten Freundin abgenommen hatte. Das Versprechen, Lysandros nichts von Xenas Verhältnis mit Ricardo, einem verheirateten Mann, zu sagen. Selbst an Ricardo hatte Xena sich nicht erinnert, und auch nicht an die Ereignisse der letzten Tage. Die Ärzte hatten Ria versichert, dass es sich höchstwahrscheinlich um ein vorübergehendes Phänomen handelte. Aber es belastete Ria, ihre Freundin in einem solchen Zustand zu sehen.

Sie kämpfte gegen ihr schlechtes Gewissen. Wenn es ihr doch nur gelungen wäre, Xena klarzumachen, dass ihr verheirateter Geliebter die Affäre beendet hatte, um seine Ehe zu retten. Dass er seine Frau niemals verlassen würde. Dann wäre es vielleicht nie zu dem Unfall gekommen. Aber Ria hatte Xena nicht überzeugen können. Sie hatten sich über das Thema in die Haare bekommen, und Xena hatte die Wohnung verlassen, nachdem Ria ins Bett gegangen war. Nun machte Ria sich Vorwürfe, dass sie Xena gegenüber zu hart gewesen war.

„Was ist passiert?“, fragte Lysandros noch einmal und holte sie damit zurück ins Hier und Jetzt.

„Ein Wagen ist bei Rot gefahren und hat sie gerammt. So stark, dass Xenas Wagen sich gedreht hat.“ Bei dem Gedanken daran, wie furchtbar das für Xena gewesen sein musste, schloss Ria die Augen und drückte sich die Hände auf die Schläfen. Sie war müde und durcheinander. Nach Xenas Unfall auch noch Lysandros wiederzusehen, war einfach zu viel.

„Ist alles in Ordnung, Ria?“ Lysandros’ Stimme war so nah, dass Ria zusammenzuckte.

Als sie die Augen öffnete, sah sie ihn vor sich hocken, die Hände auf die Sessellehnen gelegt.

Sie war zwischen seinen Armen gefangen. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie Hans sie am Klavier in die Enge getrieben hatte. Sie durfte nicht zulassen, dass dieses Ereignis so viel Macht über sie bekam. Auf keinen Fall. Aber sie brauchte Zeit, um es zu verarbeiten.

„Ria?“, fragte Lysandros besorgt und legte ihr eine Hand auf den Oberschenkel. Die Wärme seiner Hand gab ihr ein sonderbar sicheres Gefühl.

Sie sah ihn an. Als er die Hand wegzog, hatte sie das Gefühl, dass etwas fehlte. Aber dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu diskutieren, was sie wollte oder brauchte. Jetzt musste sie für Xena da sein.

„Sorg dich nicht um mich, sondern um Xena.“ Selbst für ihre eigenen Ohren klang das kalt und gefühllos.

Er erhob sich. Wie er mit seinen langen Beinen vor ihr stand, wirkte er riesig. Sie blickte zu ihm auf und fragte sich, ob hinter seinen dunkel glänzenden Augen noch immer das Verlangen existierte, mit dem er sie früher angesehen hatte.

In dem verzweifelten Versuch, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen, wandte Ria sich der schlafenden Xena zu. Dann sah sie wieder zu Lysandros.

„Ich habe mit dem Arzt gesprochen. Sie wird bald wieder zu sich kommen. Ihr Arm und ihr Handgelenk sind gebrochen, sollten aber wieder heilen. Allerdings wird sie eine ganze Weile aufs Geigespielen verzichten müssen.“

Doch dass sie nicht Geige spielen konnte, würde nicht Xenas größte Sorge sein. Ihr würde das Herz brechen, weil sie den Mann verloren hatte, den sie liebte – sofern sie sich an ihn erinnerte. Ria blinzelte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen stiegen. Sie sprang auf, ging zum Fenster und sah auf die in das Licht der Morgensonne getauchte Stadt hinaus, um nicht weiter Lysandros’ durchdringendem Blick ausgesetzt zu sein.

„Selbst ohne die Amnesie wird es eine Weile dauern, bis Xenas Verletzungen verheilt sind. Möglicherweise kann sie immer noch nicht spielen, wenn im Herbst die neue Konzertsaison beginnt“, fuhr Ria fort, verschwieg Lysandros jedoch, dass Xena ohnehin aus dem Orchester hatte aussteigen wollen.

Ricardo gehörte zur Besetzung, und vor Rias Streit mit Xena hatte ihre Freundin unter Tränen erklärt, dass sie nicht länger bei dem Orchester bleiben könnte.

Allein der bloße Gedanke an den Schmerz in der Stimme ihrer Freundin zog Rias Herz zusammen. Sie wusste, dass der Grund dafür der Verlust des geliebten Mannes war – und kannte diesen Schmerz selbst nur zu gut.

„Dann ist es das Beste für Xena, nach Griechenland zurückzukommen“, erklärte Lysandros und sah erst seine Schwester und dann Ria an.

Ria überlegte. In Griechenland könnte sich Xena in Ruhe erholen. Es wäre das Beste für sie, auch wenn es Ria in der Seele wehtat, ihrer Freundin in einer so schweren Zeit nicht zur Seite stehen zu können. Wenn ihre Freundin London verließ, verringerte das außerdem die Gefahr, dass sie sich verplapperte und es Gerede gab. Ricardo würde bestimmt kein Wort über die Affäre verlieren – schließlich war er verheiratet und hatte viel zu viel zu verlieren.

„Ja, ich denke auch, dass es unter diesen Umständen das Beste für sie ist“, stimmte sie Lysandros darum schließlich zu.

Er sah aus dem Fenster, bevor er sich wieder Ria zuwandte. Sie erstarrte. Ob er eine Erklärung von mir verlangen wird? Wird er mich fragen, warum ich ihn damals verlassen habe?

„Und was ist mit dir?“, fragte er sanft. Ria schluckte. Sie verdiente es nicht, dass er sich um sie sorgte. Zwar war sie nicht direkt an dem Unfall beteiligt gewesen, aber sie gab sich trotzdem eine Mitschuld daran. „Ich merke doch, wie sehr dir das zusetzt“, fügte er hinzu.

Autor

Rachael Thomas
Vor über zwanzig Jahren wählte Rachael Thomas Wales als ihre Heimat. Sie heiratete in eine Familie mit landwirtschaftlichem Betrieb ein und konnte in ihrem neuen Zuhause endlich Wurzeln schlagen. Sie wollte schon immer schreiben; noch heute erinnert sie sich an die Aufregung, die sie im Alter von neun Jahren empfand,...
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