Der 48-Stunden-Mann / Pleiten, Pech und Prinzen

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Der 48-Stunden-Mann

"Ich brauche einen Ehemann."

Nach einem Margarita und einigen Gläsern Tequila schaut Polizistin Hannah in Nick Archers blaue Augen und sieht die Lösung ihrer Probleme vor sich: Dieser sexy, aber zwielichtige Grundstücksmakler ist ihr Mann! Für ein Wochenende jedenfalls, an dem er beim ersten Treffen mit ihrer Mutter den glücklich Verheirateten spielen soll. Dass Hannah den echten nach genau fünf Tagen abgeschrieben hat, muss so niemand erfahren … Und tatsächlich spielt Nick seine Rolle glänzend, entpuppt sich nicht nur als Traum aller Schwiegermütter, sondern lässt auch Hannahs Herz höher schlagen. Schon träumt sie von einer Zukunft an seiner Seite, da kommt für alle die erschütternde Wahrheit ans Licht: Es existiert niemand mit dem Namen Nick Archer!

Pleiten, Pech und Prinzen

Job weg, Freund weg … Ihr Leben ist ein Scherbenhaufen, und Molly braucht dringend eine Auszeit. Da fällt ihr ein zehn Jahre alter Pakt mit Dylan ein, dem Ex ihrer großen Schwester. Damals sah der aufregende Bad Boy in ihr nur eine Freundin und versprach, sie auf ein Abenteuer mitzunehmen, wenn sie erwachsen wäre. Kurzentschlossen sucht Molly ihn auf, um das Versprechen einzufordern. Überraschung Nummer eins: Aus dem Rebellen von einst ist ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden … und er ist immer noch verboten attraktiv. Überraschung Nummer zwei: Dylan stimmt einer gemeinsamen Reise zu! Eine Woche lang wollen sie den Alltag hinter sich lassen - als Freunde. Doch das Kribbeln in Mollys Bauch deutet auf etwas ganz anderes hin.


  • Erscheinungstag 09.01.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783955767006
  • Seitenanzahl 496
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Mallery

Der 48-Stunden-Mann

Seite 5

image

Pleiten, Pech und Prinzen

Seite 231

MIRA® TASCHENBUCH

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1. Auflage: Januar 2017

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch
in der HarperCollins Germany GmbH
Erste Neuauflage

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Husband by the Hour

Copyright © 1997 by Susan W. Macias
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Wedding Ring Promise

Copyright © 1998 by Susan W. Macias
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur gsk GmbH, Hamburg

Umschlagabbildung: iStock; freepik.com

ISBN 978-3-95576-700-6

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Susan Mallery

Der 48-Stunden-Mann

Roman

Aus dem Amerikanischen von Barbara Alberter

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1. Kapitel

„Du musst aus der Stadt verschwinden“, drängte Captain Rodriguez.

Nick Archer lehnte sich im Stuhl zurück und rieb sich die Schläfen. „Glaubst du, das weiß ich nicht? Leichter gesagt als getan.“

Das war gelogen, denn so schwer fiel es ihm gar nicht zu verschwinden. Er hatte es bereits hundertmal praktiziert. Er ging einfach. Diesmal hielt ihn allein die Tatsache zurück, dass ihm kein einziger Ort einfiel, wo er hingehen könnte, und das war für einen Mann wie ihn eine ganz schön vertrackte Situation.

Rodriguez wandte sich seinem Computer zu und tippte auf ein paar Tasten. „Sie sind dir auf den Fersen, Nick. Wenn du auffliegst, bist du in weniger als vier Stunden ein toter Mann. In Southport Beach bist du nicht sicher, dazu ist es zu klein. Verlass die Stadt. Verschwinde aus Südkalifornien.“

„Ja, wird gemacht.“ Sowie er wusste, wohin. Der Mai war fast überall ein schöner Monat. Vielleicht sollte er nach Vegas gehen. Dort könnte er seine Spur verwischen und tagelang untertauchen. „Ich melde mich, wenn ich dort bin, und werde dafür sorgen, dass ein Telefon in der Nähe ist.“

„Gute Idee“, erwiderte der Captain. „Du hast bei diesem Einsatz alles riskiert. Jetzt geht es nur noch um ein paar Tage, allerhöchstens zwei Wochen. Dann haben die Jungs vom FBI, was sie brauchen, und wir können die Haftbefehle ausstellen. Ende des Monats bist du wieder auf deiner Dienststelle in Santa Barbara.“

„Ich bin begeistert.“

Nicks Einsatz als verdeckter Ermittler hatte mehr als ein Jahr gedauert. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, nach Santa Barbara zurückzukehren und die Fäden seines alten Lebens wieder aufzunehmen. Nach einem Jahr – wie viel Leben würde es da noch geben, das er wieder aufnehmen konnte?

Er erhob sich und ging zur Tür. Als er sie aufzog, runzelte Rodriguez die Stirn und rief dann laut: „Wenn Sie Pentleman aus dem Gefängnis holen wollen, werden Sie schon eine Kaution hinterlegen müssen. Diesmal lassen wir uns auf keinen Deal ein.“

Pentleman, ein kleiner Ganove, war heute am frühen Morgen bei einem Raub festgenommen worden. Er war einer von Nicks „Angestellten“ und hatte ihm einen Vorwand geliefert, zur Polizeistation zu kommen, um mit Rodriguez zu sprechen. Nur sein Captain in Santa Barbara, Rodriguez hier in Southport Beach und der FBI-Agent, der die verdeckten Ermittlungen koordinierte, kannten Nicks wahre Identität. Der Rest der Welt hielt ihn für einen erfolgreichen Kriminellen.

Wie zum Spott salutierte Nick vor Rodriguez und ging nach vorn zur Anmeldung. Er würde die Kaution für Pentleman stellen und dann die Stadt verlassen. Die Frage, wohin, nagte an ihm, bis er Hannah Pace entdeckte, die gerade ihre Schicht beendete. Sie wechselte ein paar Worte mit der jungen Beamtin, die ihren Platz an der Telefonanlage einnahm. Als sie sich umdrehte und auf den Flur trat, entdeckte sie Nick. Entnervt schloss sie kurz die Augen.

Nick lief die letzten Schritte, um sie einzuholen. Hannah war eine große Frau, beinahe eins achtzig, mit langen Beinen und einer linkischen Anmut, die ihn an ein galoppierendes Fohlen erinnerte. Da er selbst einen Meter fünfundneunzig groß war, fiel es ihm leicht, Schritt mit ihr zu halten. Sie ignorierte ihn. Es war schon ein Ritual zwischen ihnen, ein Ritual, das er mehr genoss, als er zugeben wollte.

„Hallo, Schönheit, schon Feierabend?“

„Offensichtlich.“ Das einzelne Wort klang abgehackt.

Sie würdigte ihn keines Blickes, nicht einmal, als er ihr den Arm um die Schultern legte und sie an sich zog. Stattdessen hob sie nur sein Handgelenk an und ließ es hinter sich fallen. Nick nutzte die Lage, um einen Klaps auf ihren wohlproportionierten Po zu landen, was ihm einen kurzen wütenden Blick einbrachte.

„Ich trage eine Waffe“, fauchte sie und steuerte den Nebeneingang an, der zum Bedienstetenparkplatz führte. „Und bei zwielichtigem Abschaum wie Ihnen scheue ich auch nicht davor zurück, sie zu gebrauchen.“

„Hannah, Sie verstehen mich völlig falsch. Ich respektiere Sie.“

„Ach ja, richtig. Und was soll das heißen? Dass Sie nicht erwarten, für Sex mit mir zahlen zu müssen?“ In gespieltem Entsetzen schlug er sich die Hand an die Brust. „Ich bin zutiefst verletzt.“

Sie zog die Tür auf und ging hinaus. Warme Luft, die nach Meer und Sonne roch, hüllte sie ein. Der klare Himmel strahlte in kalifornischem Blau. Hätte er sich die Mühe gemacht, aufs Meer zu blicken, hätte er bis zur Insel Santa Catalina sehen können. Nick bezweifelte jedoch, dass es einen reizvolleren Anblick geben könnte als die Frau vor ihm.

Hannah blieb stehen, holte tief Luft und starrte ihn mit großen braunen Augen an. Die Farbe erinnerte ihn an Milchschokolade, für die er schon immer eine Schwäche gehabt hatte. Und wie es schien, hatte er auch eine Schwäche für Frauen in Uniform, selbst wenn ihm das noch nie aufgefallen war, bis er Hannah darin gesehen hatte. So ein vernünftig geschnittenes Kleidungsstück, das sich der weiblichen Figur anschmiegte, hatte etwas, das sein Blut erwärmte und sich auch sonst anregend auf seinen Körper auswirkte. Nur dass es nicht irgendeine weibliche Figur war, sondern die von Hannah.

„Was wollen Sie, Nick?“

Sie hatte ihre Abwehrhaltung aufgegeben und klang müde. Bei genauerem Hinsehen konnte er Schatten unter ihren Augen erkennen. Das dicke, glänzend dunkle Haar war zu einem strengen Knoten zurückgebunden, aus dem sich auch nicht eine einzige Locke gelöst hatte, die ihn hätte provozieren können. Und doch juckte es ihm in den Fingern, den schweren Knoten zu lösen.

„Lassen Sie sich doch einmal auf einen Drink von mir einladen“, sagte er und schenkte ihr sein schönstes Lächeln, das in der Regel immer funktionierte. An zahllosen Frauen hatte er es erprobt, immerhin mit so viel Erfolg, dass seine Freunde sich schon beklagten. Der einzige Mensch, der dagegen immun zu sein schien, war Hannah. Ein ganzes Jahr lang hatte sie seine Neckereien, seine Komplimente, seine Sprüche und Einladungen ignoriert. Er hatte den Verdacht, dass sie ihn als eine Lebensform ansah, die nur wenig über der einer Kakerlake angesiedelt war.

Lange schaute sie ihn nur an. „Sie geben nicht auf, richtig?“

Sein Lächeln wirkte jetzt leicht verrucht. „Bei Ihnen? Niemals.“

„Warum? Was reizt Sie denn so an mir?“

Die Frage überraschte ihn. Normalerweise verdrehte sie nur die Augen und ging einfach weiter.

„Es gefällt mir, wie gut Sie Ihren Schreibtisch aufräumen. Diese vielen Stapel sehen immer so ordentlich aus.“

Sie schüttelte den Kopf. „Genau das, was ich mir gedacht habe. Sie sind nichts als ein Schuljunge, der gegen Autorität rebelliert.“

Bevor sie sich abwenden konnte, hielt er sie mit einer Hand am Arm fest. Die Bluse ihrer Uniform hatte kurze Ärmel, so konnte er ihre warme Haut fühlen – und auch das leichte Zittern, das sie überlief.

„Es ist mehr als das, Hannah.“ Er beugte sich zu ihr und legte den Zeigefinger seiner freien Hand an einen ihrer Mundwinkel. „Mir gefällt, wie Ihre Lippen immer ein wenig nach oben zeigen, selbst wenn Sie wütend sind. So wie jetzt.“

Sie trat einen Schritt zurück und entzog ihm ihren Arm. „Ich bin nicht wütend. Ich bin ungeduldig.“

„Ungeduldig?“ Er hob eine Augenbraue. „Das finde ich gut. Ungeduld. Könnte es sein, dass diese Ungeduld ein wenig damit zu tun hat, dass Sie schwach werden?“

„Oh, werden Sie erwachsen“, schnaubte sie und ging zum Parkplatz.

„Hannah Pace, ich bin schon lange ein Mann. Und erzählen Sie mir nicht, dass Sie das nicht bemerkt hätten, denn ich habe Sie dabei ertappt, wie Sie mich gemustert haben.“

Damit brachte er sie aus dem Tritt, und sie wirbelte zu ihm herum. „Ich habe Sie nie gemustert.“

Nick trat auf sie zu und senkte die Stimme. „Aber sicher haben Sie das. Sie halten mich für einen gut aussehenden Charmeur.“

„Ich halte Sie für einen Dieb und Betrüger und weiß Gott was sonst noch alles.“

„Ich wusste doch, dass Sie sich Gedanken über mich machen.“ „Verdammt“, murmelte sie. Dann atmete sie bewusst langsam.

„Wie kommt es, dass Sie immer das letzte Wort behalten?“

„Weil Sie glauben, dass ich Sie nur provozieren will, aber ich sage die Wahrheit.“

Erstaunlicherweise tat er das wirklich. Jedes Wort, das er ihr sagte, meinte er ernst. Er fand sie schön, witzig, klug und auch alles andere, was er ihr im Laufe des letzten Jahres gesagt hatte. Hannah würde ihm nie glauben, darum konnte er es gefahrlos aussprechen. Manchmal fragte er sich allerdings, was die kühle, unnahbare Lady wohl denken würde, wenn sie wüsste, dass er sich aufrichtig von ihr angezogen fühlte.

Verständnislos blinzelte sie ihn an. Er nutzte ihre Verwirrung und legte ihr wieder den Arm um die Schultern. „Das Problem ist“, erklärte er ihr, „dass Sie mir nie eine Chance gegeben haben. Ich bin nicht annähernd so schlecht, wie Sie glauben. Oder vielleicht bin ich das sogar, und genau das ist es, was Sie vor allem an mir reizt. Ein Drink. Was könnte das schaden?“

Während er weiterredete, führte er sie zu seinem dunkelblauen Mercedes Cabriolet, eine der Zusatzleistungen bei diesem Einsatz. Natürlich würde ihm der Wagen wenig nützen, wenn er am Ende starb. Noch zwei Wochen, und der Job wäre erledigt. Dann konnte er in sein normales Leben zurückkehren, und einen Nick Archer würde es nicht mehr geben.

An der Beifahrerseite blieb er stehen und zog die Schlüssel aus der Tasche.

Hannah musterte den Wagen mit kritischem Blick. „Ist der gestohlen?“

„Wenn ich jetzt Nein sage, werden Sie dann Ja sagen?“

Ist er es?“

Er öffnete die Tür und deutete auf den hellgrauen Ledersitz. Dabei war er absolut darauf gefasst, dass sie ihm eine Ohrfeige verpassen und ihm ein paar unzüchtige Schimpfnamen an den Kopf werfen würde, um dann zu ihrer praktischen Limousine zu stolzieren, die auf der anderen Seite des Parkplatzes stand. In Erwartung des Schlags spannte er sogar schon die Muskeln.

Der aber erfolgte auf eine völlig andere Weise.

Es war der pure Schock. Ein Schock, der ihn völlig betäubte, als sie murmelte: „Ich bin verrückt geworden“, und auf den Sitz in seinem Wagen rutschte.

Sorgfältig schloss Nick die Beifahrertür und fluchte im Stillen. Das war mal wieder typisch. Just an dem Tag, an dem er aus der Stadt verschwinden musste, beschloss die Eiskönigin zu schmelzen.

Hannah tippte mit der Zunge an den Rand ihres Glases und ließ das Salz im Mund zergehen. Sie betete darum, nicht würgen zu müssen – oder Schlimmeres – und griff nach dem kleinen Glas Tequila, das neben ihrem Margarita stand. In einem einzigen Schluck kippte sie es hinunter.

Es brannte wie Feuer, und sie rang hörbar nach Luft, musste aber nicht husten. Dann blinzelte sie die Tränen weg, die ihr in die Augen geschossen waren. Schon besser, dachte sie erleichtert, als das Feuer sich in eine beinahe angenehme Wärme verwandelte.

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Nick und runzelte leicht die Stirn.

„Alles bestens“, brachte sie zustande, wobei ihr die Stimme alkoholbedingt nur leise in der Kehle kratzte.

Nick lehnte sich auf dem roten Sitz in ihrer Nische zurück. „Die Runde geht an Sie, Hannah. Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Sie Kurze trinken könnten.“

Wie um ihm zu sagen, dass es eine Menge gab, was er nicht von ihr wusste, zuckte sie mit den Schultern. Eigentlich wusste er gar nichts von ihr, aber was seinen letzten Satz betraf, hatte er recht. Vor diesem Abend hatte sie so etwas noch nie getrunken. Und das wird sich auch wohl kaum wiederholen, sinnierte sie, während der Alkohol ihr wie eine Welle in den Kopf schoss und den Raum leicht ins Wanken brachte. Gewöhnlich beschränkte sie sich auf ein einziges Getränk wie Weißwein oder eher noch Schorle. Zu besonderen Gelegenheiten gönnte sie sich ein Glas Champagner. Aber heute war es anders. Sie war bei ihrem zweiten Margarita und hatte sich dazu noch jeweils einen Tequila pur bestellt.

Wie hieß das noch? Sich Mut antrinken? Da brauchte sie schon eine Menge und obendrein so viel wie möglich aus jeder anderen Quelle, die ihr das bieten konnte. Wenn sie wirklich tun wollte, woran sie dachte, würde sie jedes Quäntchen Wagemut aufbieten müssen, das sie besaß. Und wenn nicht, würde sie einer alten Frau das Herz brechen. Sie saß sozusagen zwischen Baum und Borke. Manchmal war das Leben einfach nicht fair.

Die Kellnerin, die ihnen die Cocktails serviert hatte, kam an ihren Tisch und fragte, ob sie noch etwas trinken wollten.

Die Frage war an sie beide gerichtet, aber die Aufmerksamkeit der Frau galt eindeutig Nick. Hannah konnte ihr keinen Vorwurf machen. Sie selbst hatte häufiger Schwierigkeiten, andere Personen wahrzunehmen, wenn er in der Nähe war. Ganz als wäre die Welt in Dunkel getaucht und Nick die einzige Lichtquelle. Dass er auch der Kellnerin auffiel, bedeutete nur, dass die Frau einen guten Geschmack besaß.

Hannah widerstand dem Bedürfnis, stöhnend den Kopf auf die Hände zu legen. Wenn sie anfing, positiv über Nick Archer zu denken, musste sie betrunkener sein, als sie glaubte. Er war nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Krimineller. Oh, man hatte ihn noch nie wegen irgendwas verhaftet … zumindest war keiner der Vorwürfe aufrechterhalten worden. Sein polizeiliches Führungszeugnis war lupenrein. Aber solche Typen kannte sie. Die waren aalglatt. Viel zu glatt für jemanden wie sie.

„Hannah?“ Nick deutete auf ihr Glas, das sie halb ausgetrunken hatte.

Sie winkte ab, und er entließ die Kellnerin. Die vollbusige Blondine bedachte ihn mit einem Lächeln, bevor sie verschwand. Komisch, er schien es nicht einmal zu bemerken.

„Aber sie ist schön“, platzte Hannah heraus und hielt sich viel zu spät die Hand vor den Mund, um die Worte noch zurückzuhalten.

Nick runzelte die Stirn. Das war jetzt schon das zweite Mal in ebenso vielen Minuten. Hannah mochte es, wenn sich seine Augenbrauen so zusammenschoben. Dann wurde seine Stirn ganz kraus, und wenn er sich entspannte, sah sie wieder ganz glatt aus.

„Wer ist schön?“

Da sie ihre Bemerkung schon fast wieder vergessen hatte, brauchte sie einen Augenblick, um zu begreifen, wovon er sprach. „Die Kellnerin.“

Er warf nicht einmal einen Blick in Richtung Bar, um die betreffende Frau zu finden. „Wenn Sie meinen.“

„Finden Sie etwa nicht, dass sie gut aussieht?“

„Ist mir nicht aufgefallen.“

„Ja, klar.“

Junge, als Nächstes würde er ihr von seinem Strandgrundstück in Arizona erzählen, dem nur noch das große Beben fehlte, das Kalifornien ins Meer schieben würde. Nur dass Kalifornien bei einem Erdbeben nicht im Meer landen würde. Die tektonischen Platten schoben sich nach Norden. Irgendwann einmal würden Los Angeles und San Francisco auf Pendlerdistanz nebeneinanderliegen. Höchstens noch zwei Millionen Jahre, dann war es geschafft.

„Geografie hat mir immer Spaß gemacht“, sagte sie. „Darum können Sie Ihr Grundstück mit Meeresblick gern behalten.“

„Wie bitte?“

Er wirkte verwirrt. Völlig perplex. Hannah lächelte. Zumindest hatte sie das Gefühl, sie würde lächeln, aber das war schwer zu sagen, denn ihre Lippen fühlten sich ganz taub an. Perplex. In Gedanken wiederholte sie das Wort. Ein schönes Wort mit einem guten Klang. Sie sollte versuchen, es öfter einmal in einen Satz einzubauen.

„Hannah?“

Sie schaute auf und sah, dass Nick sie verwirrt ansah. „Was?“, fragte sie.

„Was soll das heißen, ‚was‘? Warum reden Sie von Geografie?“ „Mach ich doch gar nicht.“

„Aber Sie haben gerade gesagt …“ Er schüttelte den Kopf. „Es hat Sie umgehauen. Ich fasse es nicht. Eineinhalb Margaritas, da kann man von einem Leichtgewicht reden.“

„Und noch zwei Kurze“, rief sie ihm ins Gedächtnis und überlegte, ob sie protestieren sollte, weil er behauptete, sie wäre betrunken. Natürlich war sie das. Und dann dieses lästige taube Gefühl, das ihr von den Lippen in die Wangen strahlte. „Das ist Ihre Schuld“, brummelte sie.

„Meine Schuld? Wie das?“

„Sie sind immer da.“ Sie trank noch einen Schluck von ihrem Cocktail. „Sie quatschen mich an. Laden mich ein. Warum machen Sie das?“

„Vielleicht, weil ich Sie mag.“

„Oh, sicher.“ Er mochte sie. Richtig, ja. Daran bestand keinerlei Zweifel. Schließlich waren durchschnittlich aussehende Polizeibeamtinnen der Traum eines jeden Mannes. Nur komisch, dass sie nicht täglich hundert Angebote bekam.

„Sie glauben mir nicht.“ Es war keine Frage.

„Warum sollte ich?“

Langsam verzog er die Lippen zu einem leichten Lächeln, dessen Wirkung sie bis hinunter in die Zehenspitzen spürte. Er sah sündhaft gut aus mit seinen großen nachtblauen Augen, die von dichten Wimpern – eine Art Mittelbraun mit etwas Gold an den Spitzen – umrahmt wurden. Dazu das stufig geschnittene gold-blonde Haar, das ihm gerade bis an den Kragenrand reichte. Nick Archer hatte breite Schultern und – soweit sie das unter den teuren Anzügen erkennen konnte – einen fantastischen Körper. Obwohl er ein Krimineller war, kleidete er sich wie der Manager eines Großunternehmens. Er war witzig, auch wenn sie sich immer alle Mühe gab, nicht über seine Witze zu lachen. Ein Schwätzer war er, charmant und bei Weitem eine Nummer zu groß für sie. Sie würde sich hüten, irgendetwas von dem zu glauben, was er ihr sagte.

Nick beugte sich vor und berührte ihre Hand. Es war nur sein Finger, der ihre Haut kaum streifte. Und obwohl sich ihre Wangen völlig taub anfühlten und sie ihre Beine schon gar nicht mehr spürte, brannte diese kleine Berührung durch sie hindurch wie Laser durch Stahl.

Sie sagte sich, dass sie ihre Hand zurückziehen oder ihm wenigstens einen ordentlichen Klaps geben sollte. Aber sie tat nichts, als auf seinen Finger, seine Hand und ihre beiden Hände zu starren, die so nah nebeneinanderlagen. Dann wurde ihr die Brust eng, und sie befahl sich zu atmen.

„Was ist los, Hannah?“

„Nichts.“

„Blödsinn. Ich kenne Sie, und irgendetwas stimmt nicht.“

Es machte sie nervös, dass er so sicher klang. Sie entzog ihm ihre Hand und legte sie in den Schoß, dann trank sie noch einen Schluck Margarita. Dabei sah sie sich möglichst unauffällig um und versuchte herauszufinden, ob jemand in der Bar war, den sie kannte. Das war nicht sehr wahrscheinlich, denn ihre Kollegen von der Dienststelle hatten ihr eigenes Stammlokal – und das war nicht dieses schicke Strandetablissement. Sie saß mit Nick in einer der hinteren Ecknischen und konnte rechts aufs Meer schauen. Gerade ging die Sonne unter und warf ein Muster in gelbem und rotem Licht auf das ruhige Wasser. Ein Moment wie aus dem Bilderbuch, komplettiert durch ihren attraktiven, wenn auch leicht verschwommen aussehenden Begleiter.

„Sie kennen mich überhaupt nicht“, erwiderte sie.

„Ich weiß, dass Sie mir nicht vertrauen. Also – warum haben Sie meine Einladung angenommen?“

„Vielleicht hat mich Ihr Charme besiegt.“

Da lachte er schallend, und das klang so angenehm, dass es ein Lächeln auf ihre Lippen zauberte. „Versuchen Sie’s mit etwas anderem“, sagte er.

Ihr fiel auf, dass er nicht das Einzige war, das vor ihren Augen verschwamm. Der Raum, in dem sie saßen, hatte begonnen, sich in den Ecken zusammenzufalten. Wann war sie zuletzt so betrunken gewesen? Ein einziges Mal, entsann sie sich vage. Bei der Hochzeit einer Freundin. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann genau das gewesen war. Fünf Jahre mochte es jetzt her sein.

Warum war sie mit Nick ausgegangen? Sie ignorierte den aus den Fugen geratenen Raum und dachte über seine Frage nach. Weil er sie ein Jahr lang ungefähr zweimal in der Woche eingeladen hatte und sie jedes einzelne Mal gern Ja gesagt hätte.

Wenn eine Frau wie sie sich von einem Mann wie ihm angezogen fühlte, war das dumm. Nicht nur, weil er so viel besser aussah. Noch nicht einmal, weil sie Polizistin und er ein Krimineller war. Der Grund war, dass Nick auf einer völlig anderen Ebene existierte als sie selbst. Er ließ sich auf den Moment ein, während sie den Kopf gesenkt hielt. Er bestand aus spontanem Lachen, spontaner Freude, spontanem Sex – ups, wo kam das jetzt her? –, während sie alles im Voraus plante. Er scherzte und flirtete, während sie sich die Welt vom Leibe hielt.

„Ich brauchte mal eine Pause“, antwortete sie schließlich – vor allem, weil es die Wahrheit war.

„Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das nur ein Vorwand ist. Sie benutzen mich, um etwas vor sich herzuschieben, wozu Sie keine Lust haben.“

Ihr Kopf fuhr hoch, und das erwies sich als großer Fehler. Das leichte Wabern verwandelte sich in ein wildes Drehen. Selbst ihr Sitz schien in Bewegung zu geraten. Dann holte sie ein wenig Luft, und alles pendelte sich auf einer Ebene ein, mit der sie zurechtkam.

„Vielleicht“, räumte sie ein.

Hannahs Hände lagen jetzt wieder auf dem Tisch. Er streckte den Arm aus, nahm eine davon in seine Hand und strich ihr mit dem Daumen über die Finger. Es fühlte sich angenehm an.

„Ich brauche einen Ehemann“, platzte sie heraus.

Es sprach für Nick, dass er die Hand nicht zurückzog oder sich auch nur versteifte. Stattdessen strich sein Daumen weiter auf und ab, auf und ab. Eine träge Hitze kroch ihr den Arm hinauf. Nach wie vor hielt er ihren Blick fest, während die Andeutung eines Lächelns noch in seinen Mundwinkeln schwebte. Vielleicht hatte er sie nicht gehört. Möglich wäre auch, dass sie es gar nicht laut ausgesprochen hatte.

Dann fragte er ruhig: „Einen Ehemann? Aus dem üblichen Grund?“ „Üblicher Grund? Was soll das heißen?“ Sie dachte einen Augenblick nach. „Oh. Oh! Ach nein, das nicht. Ich meine, ich bin nicht schwanger.“

Es war ihr ungeheuer peinlich, und sie kippte sich den Rest ihres Drinks hinunter. Kurz dachte sie daran, die Kellnerin heranzuwinken und noch einen zu bestellen, entschied jedoch, dass ihr Kater am nächsten Morgen auch so schon groß genug sein würde. Abgesehen davon war Nick noch immer bei seinem ersten Bier, und selbst das hatte er kaum angerührt.

„Gut.“

Sie blinzelte. Wovon redete er? „Was ist gut?“

„Ich bin froh, dass Sie nicht schwanger sind.“

„Ich auch. Oh, die Sache mit dem Ehemann.“ Mit ihrer freien Hand machte sie eine wegwerfende Bewegung. „Es geht um eine Familienangelegenheit. Darum muss ich ein paar Tage lang verheiratet sein. Keine Ahnung. Vielleicht auch nicht. Vielleicht sollte ich doch lieber einfach die Karten auf den Tisch legen. Aber sie ist so alt. Wenn der Schock sie nun umbringt?“ Mit ernsten Augen sah sie ihn an. „Das würde ich wirklich nicht wollen. Eigentlich kenne ich sie ja nicht einmal, aber ich will sie kennenlernen. Glauben Sie, das wird sie verstehen?“

„Ja.“

Hannah erlebte einen Augenblick der Klarheit. „Sie haben keinen Schimmer, wovon ich hier rede.“

„Stimmt. Aber ich mag den Klang Ihrer Stimme, also reden Sie nur weiter.“ Sie bemerkte, dass er noch immer ihre Finger mit dem Daumen streichelte. Nicht ohne Bedauern entzog sie sich dem verführerischen Kontakt. Wenn es doch nur wahr wäre. Wenn Nick Archer doch nur wirklich eine scharfe Puppe in ihr sehen würde!

Über diesen Gedanken musste sie lachen. Sie war athletisch gebaut, sie war stark, und sie trug bei der Arbeit eine Pistole. Irgendwie konnte sie sich kaum vorstellen, dass sie unter die Definition des Wortes Puppe fiel.

Er spielte mit ihr, weil es ihn amüsierte, und wahrscheinlich auch, weil sie ihm nicht gleich auf den ersten Blick vor die Füße gesunken war.

„Sie könnten doch einen Ehemann engagieren“, schlug er vor. „Wenn es nur vorübergehend ist.“

„Oh ja, das ist es. Nur für ein paar Tage. Glauben Sie mir, daran habe ich auch schon gedacht, und ich könnte anrufen …“ Sie funkelte ihn böse an. „Sie lachen über mich.“

„Nur ein bisschen. Also, Hannah, wie sieht Ihr idealer Mann aus? Welchen Typ würden Sie anfordern? “

Einen Mann wie Nick. Er war perfekt, zumindest physisch. Aber sie hatte nicht vor, ihm das zu sagen. Dazu müsste sie noch viel betrunkener sein als jetzt.

„Wie jemand, der sich an die Gesetze hält“, antwortete sie.

Er zuckte zurück, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. „Das tut weh. Wollen Sie etwa behaupten, dass ich kein gesetzestreuer Mensch bin?“

„Sie sind ein ganz gewöhnlicher Krimineller.“

„Vielleicht bin ich ja ein Krimineller, aber gewöhnlich war ich noch nie.“ Entspannt lehnte er sich zurück. „Wie lange werden Sie den Kerl brauchen?“

„Zwei oder drei Tage. Nur so lange, um rauf in den Norden zu fahren, meine Familie kennenzulernen und wieder zurückzukommen.“

„Klingt einfach genug. Was springt dabei heraus?“

„Warum fragen Sie das?“

„Sie wären doch niemals in der Lage, einen Escortservice anzurufen und jemanden anzuheuern. Das wissen wir doch beide. Nehmen Sie mein Interesse einfach als freundschaftliche Geste.“

„Aber wir sind keine Freunde“, murmelte sie und räusperte sich. Nick? Als temporärer Ehemann? Sie schauderte. Das würde niemals funktionieren.

„Wie viel?“, fragte er. Als sie ihn verständnislos ansah, formulierte er die Frage anders: „Wie viel sind Sie bereit zu zahlen?“

„Ich weiß nicht genau. Über Geld habe ich noch gar nicht nachgedacht.“ Wie hoch mochte der Stundenlohn für Scheinehemänner heutzutage liegen? „Ist aber auch egal. Sie sind dafür nicht geeignet. Es tut mir leid, dass ich es überhaupt erwähnt habe.“

Sie wollte aus der Nische rutschen, aber es fiel ihr schwerer, sich zu bewegen, als sie geglaubt hätte. Wieder legte er eine Hand auf ihre, und wieder stieg die verdammte Hitze in ihr auf, sodass sie sich gar nicht mehr bewegen wollte.

„Ich helfe Ihnen gern“, sagte er. „Ich muss sowieso für ein paar Tage aus der Stadt verschwinden.“

„Oh, darauf würde ich wetten. Was ist es denn diesmal? Irgendein Immobiliengeschäft schiefgelaufen? Oder vielleicht hat auch der Mann einer Ihrer Frauen beschlossen, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.“

Lange schaute Nick sie nur an. Irgendetwas flackerte in seinem Blick, etwas Dunkles, Geheimnisvolles. Dann blinzelte er, und es war verschwunden. „Sie würden es mir doch nicht glauben, wenn ich es Ihnen sagte“, erklärte er leichthin. „Sehen Sie den Tatsachen ins Auge, Hannah. Wo sonst werden Sie einen Mann finden, der so kurzfristig bereit wäre, Ihren Ehemann zu spielen?“

Er hatte recht. Sicher wäre sie weder in der Lage, einen Mann dazu zu verführen, noch war sonst ein Mann in greifbarer Nähe. Mit Ausnahme von Nick. Nicht, dass sie daran interessiert wäre, Nick zu verführen.

Da sie die vage Befürchtung hatte, gleich vom Blitz getroffen zu werden, zog sie vorsorglich den Kopf ein. Als dies nicht geschah, richtete sie sich wieder auf. Im Grunde hätte sie es weitaus schlechter treffen können. Wenigstens sah er hinreißend aus. Und er reagierte schnell. Sollte jemand anfangen, Fragen zu stellen, wäre Nick in der Lage, sie souverän zu parieren. Es ging nur um ein paar Tage, und schlussendlich war es nicht so, als ständen ihr massenhaft Alternativen zur Verfügung.

„Ich werde zweihundert Dollar zahlen plus Reisekosten“, sagte sie und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Aber es war zu spät, die Worte waren heraus.

Erstaunt sah er sie an. „Ich hatte eher an einen Tauschhandel gedacht. Ein Wochenende Ehemann spielen gegen eine Nacht …“

Abwehrend hob sie eine Hand. „Sprechen Sie es nicht aus.“ „Leidenschaftlicher Liebe“, beendete er dennoch seinen Satz. Hannah wand sich. „Vierhundert, auf die Hand. Keine Berührungen.“

„Das können wir übers Wochenende ja noch weiter verhandeln. Wann wollen Sie aufbrechen?“

Hatte sie wirklich eine Wahl? Sie wäre niemals in der Lage, einen Escortservice anzurufen. Und war es nicht besser, Nick mitzunehmen, als einer alten Frau das Herz zu brechen? „Morgen früh. Ich will am Samstag dort sein.“

„Wo ist dort?“

„Nordkalifornien.“

Er hielt ihr die Hand hin. „Abgemacht?“

Sie wünschte, sie hätte noch einen Tequila, der ihr Mut einflößen würde. Sie wünschte, sie hätte kein Wort davon erwähnt. Sie wünschte, sie wäre nie in seinen Wagen gestiegen.

Aber wünschen änderte nichts, und eine bessere Möglichkeit gab es nicht. Wahrscheinlich war das überhaupt der Grund, warum sie sich darauf eingelassen hatte, etwas mit ihm trinken zu gehen. Da zeigte sich wieder einmal die Macht des Unterbewusstseins.

Als sie ihre Hand in seine legte, war ihr Abkommen besiegelt. Der Kontakt war elektrisierend. Hannah rechnete damit, Feuer und Rauch zu sehen, aber da war nur Nick, der sie anlächelte, sich an ihrem Dilemma ergötzte und es genoss, endlich Macht über sie zu haben.

Und Macht besaß er. Wenn sie seine Macht mit der Macht ihres Unterbewusstseins verglich, war das ungefähr so, als wollte sie einen Schwertransporter mit einem Spielzeuglaster vergleichen. Hannah hatte das ungute Gefühl, Nick geradewegs vor die Scheinwerfer gelaufen zu sein, und fürchtete, nun jeden Augenblick niedergewalzt zu werden.

2. Kapitel

Hannah starrte auf die Haustür. Sie wollte nicht aufmachen. Nicht nur, weil ihr Kopf brummte und ihr schon beim Gedanken an Sonnenlicht die Tränen in die Augen stiegen, sondern auch, weil sie dem Mann auf der anderen Seite nicht begegnen wollte.

Es war Wahnsinn. Eine andere Erklärung gab es nicht. Vielleicht lag er in ihrer Familie. Sie war adoptiert worden, also konnte sie das gar nicht wissen. Vielleicht aber war auch ihr Blutzucker unter den normalen Level abgesunken, weshalb sie eine kurze Blackout-Episode erlebt hatte. Was auch immer die Erklärung sein mochte, sie hatte einfach nicht den Mumm, sich ihm zu stellen und ihre Vereinbarung einzuhalten.

Nick klopfte wieder. „Hannah? Sind Sie wach?“

„Ja“, flüsterte sie, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte.

Dann räusperte sie sich und sagte etwas lauter: „Ich bin schon da. Warten Sie.“

Sie drehte den Schlüssel im Schloss herum und zog die Tür auf. Nick stand auf den Stufen vor ihrem Reihenhaus. Das Sonnenlicht blendete sie, Nick ebenso. Es war einfach unfair. Selbst in ihrer miesen Verfassung – mit pochendem Schädel und grummelndem Magen – fand sie noch, dass er gut aussah. Besser als gut. Er war verführerisch.

Mit seinen blonden Haaren, den blauen Augen und seiner locker flockigen Art entsprach er ganz dem kalifornischen Klischee. Die gut geschnittenen Anzüge, die er immer trug, betonten seine Vorzüge. Falls er irgendwelche physischen Mängel haben sollte, waren sie ihr nie aufgefallen. Doch sie hatte gelernt, sein gutes Aussehen, die maßgeschneiderte Kleidung und das strahlende Lächeln zu ignorieren. Das alles war nur bedeutungsloses Beiwerk, das lediglich seine Charakterfehler kaschierte. Dagegen war sie immun.

Es sei denn, sie hatte einen Kater. Sie blieb in der Tür stehen und musste sich daran erinnern, das Atmen nicht zu vergessen. Einatmen und ausatmen, ein und aus – solange, bis die unbewusste Funktion von selbst wieder einsetzte. Heute trug er weder einen Anzug noch handgefertigte Schuhe, nicht einmal eine Krawatte. Er stand in Jeans und einem schlichten weißen Hemd vor ihr, das er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt hatte. Sein Lächeln war genauso umwerfend wie immer. Zum Glück konnte sie ihre weichen Knie dem Kater zuschieben.

„Sie sehen schrecklich aus“, stellte er fröhlich fest und schob sich an ihr vorbei ins Haus. „Verkatert?“

„Nein“, knurrte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen. Seine Stimme tat ihr im Kopf weh. „Mir geht es gut.“

„Hm-mhm.“ Er stellte sich vor sie, schob die Hände in die Taschen und wippte auf den Fersen. „Das sehe ich. Haben Sie schon gepackt?“

„Ja.“

Es waren nicht nur die Nachwirkungen des Alkohols, die Hannah beeinträchtigten, es war auch der Mangel an Schlaf. Um vier Uhr morgens war sie plötzlich aufgewacht und hatte nicht wieder einschlafen können. Sie hatte die Decke angestarrt und abwechselnd gebetet, dass die Erinnerungen an ihren gemeinsamen Abend nur ein Traum sein mögen, und gleichzeitig gehofft, sie wären wahr.

„Haben Sie etwas eingenommen? Eine Aspirin?“

Sie nickte und wünschte sofort, sie hätte den Kopf nicht bewegt.

Sein Lächeln war voller Mitgefühl. „Sie sind ein so tugendhafter Mensch, dass ich Sie wohl kaum dazu überreden kann, es mit einem Katerbier zu versuchen, richtig?“

Dass er so nett zu mir ist, macht alles nur noch schlimmer, dachte sie verzagt, während sich ihr Magen umdrehte. Sie hasste es, wenn Leute versuchten, sich um sie zu kümmern. Schließlich wusste sie Bescheid. Alle versuchten nur, sie solange einzulullen, bis sie ihnen vertraute, und dann wurde sie verlassen. Auf das Spiel würde sie sich nicht noch einmal einlassen.

„Es geht mir gut“, fuhr sie ihn an und trat einen Schritt zurück. „Meinetwegen können wir losfahren.“

„Ausgezeichnet.“

Hannah holte Luft und hielt sich an der Haustür fest, als ihr schwindlig wurde. „Wo ist mein Auto?“

„Im Carport.“

Genau das hatte sie befürchtet. Sie erinnerte sich bestenfalls noch an das Ende des Abends. Allerdings wusste sie noch, dass Nick ihr gesagt hatte, sie sei viel zu betrunken, um noch fahren zu können. Dem hatte sie zugestimmt. Also hatte er sie nach Hause gefahren, anstatt zur Polizeistation, wo ihr Wagen stand. Vage erinnerte sie sich, dass Nick ihr versprochen hatte, dafür zu sorgen, dass er in den Carport ihres Reihenhauses gebracht würde. Keine große Sache … nur gab es da ein kleines Problem.

Sie griff nach dem Schlüsselbund, der noch im Schloss der Haustür hing, suchte den Autoschlüssel und zog ihn heraus. „Einen Autoschlüssel hatten Sie jedenfalls nicht.“

Sein mitfühlendes Lächeln wurde breiter, und fast hätte sie ihr Gleichgewicht ganz verloren. „Ich weiß. Darum habe ich auch einen meiner Geschäftspartner gebeten, sich darum zu kümmern. Wahrscheinlich sollten Sie lieber nicht zu viele Fragen stellen.“

Sie schloss die Augen. Nick hatte recht. Fragen – oder wohl eher die Antworten darauf – würden sie nur beunruhigen. Wenn jemand auf dem Parkplatz der Polizeiwache ihren Wagen aufgebrochen und kurzgeschlossen hatte, wollte sie lieber nicht über sämtliche möglichen Konsequenzen nachdenken.

„Muss ich mir Sorgen machen, dass diese Person eine kleine Spritztour mit meinem Wagen unternommen haben könnte?“ Sie schlug die Augen wieder auf und sah ihn an. „Es wurde doch wohl nicht im Vorbeifahren daraus geschossen oder Ähnliches?“

Er legte die Hand an die Brust. „Ich bin zutiefst verletzt. Sie reden ja, als wäre ich ein Gangster. Hannah, ich bin in der Immobilienbranche tätig. Ich bin gern bereit zuzugeben, dass ein paar meiner Angestellten ein wenig …“ Er unterbrach sich.

„Kreativ im Umgang mit dem Gesetz sind?“, schlug sie vor. „Genau. Aber ich bin sauber. Das haben Sie selbst gesehen.“

„Ja, das stimmt.“

Und sie hatte auch gesehen, wie er zur Wache kam, für seine Mitarbeiter die Kaution stellte und sie aus dem Gefängnis holte. Nur eine Wahnsinnige würde Nick Archer ihrer Mutter vorstellen. Eine Wahnsinnige, die wirklich verzweifelt war.

„Sie werden es sich doch wohl nicht noch einmal anders überlegen?“, fragte er.

„Oh nein.“ Das entsprach durchaus der Wahrheit, denn sie war bereits zum fünften oder sechsten Mal damit beschäftigt, es sich anders zu überlegen. Schon öffnete sie den Mund, um ihm das zu sagen und ihn wissen zu lassen, dass es nie und nimmer funktionieren konnte. Stattdessen aber wies sie auf ihr Gepäck und erklärte: „Alles fertig gepackt.“

In ihrer Verfassung war sie geneigt einzuräumen, dass sie ein paar Stunden in seiner Gesellschaft verbringen und den Mann hinter der glatten Fassade entdecken wollte. Natürlich war das verrückt. Er war ein Krimineller und sie ein Cop. Sie sollte ihn verabscheuen und verachten. Und das tat sie auch. Irgendwie. Außerdem musste sie zugeben – wenn auch nur vor sich selbst –, dass es höllisch schwer war, Nicks Charme zu widerstehen. Er hatte so eine nette Art, sie zum Lachen zu bringen.

Er ging zu ihrem Gepäck. Ich tu’s für dich, Mom, dachte sie und hoffte, dass es das Richtige war. Eine alte Frau, die im Sterben lag, erwartete von Hannah, dass sie einen Mann hatte. War es verkehrt, ihr vorzugaukeln, dass ein solcher Mann tatsächlich existierte?

Nick hob zwei Koffer auf. „Ganz schön viel für ein Wochenende.“ „Ich bleibe nicht nur ein Wochenende.“

„Sie hatten von zwei oder drei Tagen gesprochen.“

„Das ist richtig. Sie werden zwei Tage mit mir dortbleiben, aber ich bleibe zwei Wochen.“

Er zog die Augenbrauen hoch und brachte es fertig, gekränkt auszusehen. „Sie machen Urlaub und haben mir nichts davon erzählt? Hannah, das ist so unsensibel.“

Sie wollte lachen, aber er wirkte überraschend ernst, was natürlich nicht sein konnte. Es war irgendein Spiel, und sie war nur viel zu benebelt, um es gleich zu durchschauen. Sobald ihr Kater abgeklungen war, würde das alles schon irgendwie Sinn ergeben, da war sie sicher.

„Nett hier“, bemerkte Nick und deutete mit dem Kopf zum Wohnzimmer.

Hannah warf einen Blick auf das Sofa mit dem Blumenbezug, dem gemauerten weißen Kamin und dem hellen Couchtisch aus Pinienholz. Welchen Eindruck mochte ihre Wohnung auf ihn machen? Alles sah ordentlich aus, und durch die hellen Farben wirkte es eindeutig feminin. Wahrscheinlich spürte er, dass noch kein Mann hier übernachtet hatte. Der Gedanke daran war ihr peinlich, auch wenn sie nicht genau wusste, warum. Es ging ihn nichts an, wenn sie es vorzog, nicht mit jedem ins Bett zu hüpfen!

Nick ging durch die Haustür. Sie griff sich den letzten Koffer und folgte ihm. Nachdem sie sorgfältig alle Lampen ausgeschaltet und die Tür verschlossen hatte, stieg sie die zwei Stufen nach unten und trug den Koffer zu seinem Mercedes, der am Bordstein parkte.

Dankbar nahm sie zur Kenntnis, dass das Verdeck des Cabrios hochgefahren war, denn zu viel frische Luft hätte sie nicht ertragen. Allein schon der Gedanke daran verstärkte ihre Kopfschmerzen. Nüchtern betrachtet wusste sie natürlich, dass der Wagen mit illegal beschafften Mitteln finanziert sein musste. Vielleicht war er sogar gestohlen, obwohl Nick wahrscheinlich zu klug dazu war. Sein Wert überstieg alles, was sie jemals würde aufbringen können, und er war fantastisch. Sie musste die elegante Form einfach bewundern, auch wenn sie wusste, auf welche Weise Nick zu dem Fahrzeug gekommen war.

Sie erinnerte sich undeutlich daran, dass es im Wagen nach feinem Leder roch und die Sitze auf luxuriöse Weise gemütlich waren und gleichzeitig Halt boten. Die neunstündige Fahrt würde ihr vorkommen wie vier Stunden.

Hannah stellte den Koffer neben dem offenen Kofferraum auf den Bürgersteig. Nick verschob seinen Kleidersack, um auch für das letzte Gepäckstück noch Platz zu schaffen. Hannah sah ihm zu und vergewisserte sich, dass alles gut verstaut war. Dann ging sie zur Beifahrertür, die jedoch verschlossen war.

„Sie sehen blass aus“, bemerkte Nick, während er ihr öffnete. „Na, so was! Danke.“ Ihre Kopfschmerzen waren mittlerweile so schlimm, dass sich das Pochen schon eher anhörte wie Trommeln, die im selben Rhythmus wie ihr Herz schlugen.

„Das war der zweite Tequila. Wenn Sie den nicht getrunken hätten, hätten Sie jetzt kein Problem.“ Sie wollte ihn anschreien, dass er an allem schuld sei. Wenn er sie nicht aufgefordert hätte, den Drink zu bestellen … Aber das ging nicht. Er hatte sie zu gar nichts aufgefordert. Sie war nervös gewesen und hatte es ganz allein fertiggebracht, so eine Dummheit zu begehen. Trotzdem wäre sie jetzt gern so richtig wütend auf Nick.

Als sie auf den Sitz rutschte, ging er neben ihr in die Knie und sorgte dafür, dass sie bequem saß und der Sicherheitsgurt korrekt eingestellt war. Zwanzig Sekunden lang ertrug sie seine Aufmerksamkeit, dann schlug sie seine Hände weg. „Ich bin doch nicht behindert. Das kann ich auch allein.“

Er war ihr so nah, dass der maskuline Duft seines Aftershaves ihr in die Nase stieg und sie seine sauber geglättete Kinnlinie erkennen konnte. Insgeheim verfluchte sie ihn, weil er so gut aussah, und sich selbst, weil sie ohne besonderen Grund gemein war.

„Ich weiß, dass Sie keine Invalide sind“, erwiderte er ruhig. „Aber Sie fühlen sich nicht wohl, und ich versuche, es Ihnen bequem zu machen. Es wird eine lange Fahrt.“

Hannah war stolz auf ihre Selbstbeherrschung. Sie war Polizistin und wusste, wie man sich in einer kritischen Situation verhielt. Unglücklicherweise schienen ihre hart erarbeiteten Fähigkeiten sie gerade im Stich zu lassen. Sie öffnete den Mund, aber ihr fiel nichts ein, was sie sagen könnte, also presste sie die Lippen aufeinander, während Röte ihre Wangen bedeckte.

„Tut mir leid. Heute Morgen bin ich nicht ganz ich selbst.“

„Wer sind Sie dann?“

Er starrte sie an, als hätte er sie noch nie gesehen. Instinktiv rieb sie sich die Wangen, um einen Schmierfleck zu entfernen, falls einer da war, dann prüfte sie, ob sich vielleicht ein paar Strähnen aus ihrem Zopf gelöst hatten. Aber alles war an seinem Platz.

„Was ist los?“, fragte sie ihn.

„Nichts. Ich habe nur nachgedacht.“

Woran er gedacht hatte, verriet er nicht. Stattdessen küsste er sie. Gleich hier und jetzt. Sie auf dem Beifahrersitz in seinem Auto und er neben ihr in der Hocke. Vor den Augen aller Nachbarn, die vielleicht zu Hause waren und zuschauten. Vor Gott und der ganzen Welt.

Während der ersten drei Sekunden war sie starr vor Schreck. Sie konnte nicht denken, konnte sich nicht bewegen. Alles, was sie tun konnte, war, flatternd die Augen zu schließen und seine Energie und seinen Duft aufzunehmen.

Seine Lippen fühlten sich warm und fest an, weich und trotzdem stark. Er versuchte es nicht mit allzu vielen Bewegungen oder gar damit, den Kuss zu vertiefen. Auch berührten sie sich nirgendwo sonst. Jedenfalls nicht am Anfang.

Dann fühlte sie seine Finger auf ihrem Handrücken, ein süßes, zärtliches Streicheln, das ein Feuer in ihr entfachte. Und sie spürte keinen pochenden Kopfschmerz mehr, nahm auch den Rest der Welt nicht mehr wahr.

Als er sie wieder freigab und leicht den Kopf anhob, hätte sie fast protestiert. Sie wollte sich aufregen, wollte den Sicherheitsgurt lösen, aus dem Wagen steigen und ihn solange ohrfeigen, bis sein Kopf wackelte wie bei einem Wackeldackel. Sie nahm sich eine Menge vor, während sie darauf wartete, dass er sie noch einmal küsste oder – schlimmer noch – sich über sie lustig machte.

Was er dann schließlich tat, war sogar noch verheerender. Nick legte seine freie Hand an ihre Wange und murmelte: „Schöne Hannah.“ Als würde sie ihm wirklich etwas bedeuten. Als wäre das alles kein Scherz.

Er beugte sich vor, und in gespannter Erwartung hielt sie die Luft an. Wieder bedeckte er ihren Mund mit seinem, und diesmal bewegte er ihn. Vor und zurück, langsam und süß. Als hätten sie alle Zeit der Welt. Als würden seine Beine – wovon sie überzeugt war – sich nicht verkrampfen. Als wäre sie ein sehr zarter und kostbarer Mensch in seinem Leben.

Vielleicht war es die unerwartete Zärtlichkeit oder ihr Kater oder auch eine sonderbare Konstellation zwischen dem Mond und dem Planeten Pluto. Es gab keine Erklärung für ihre Reaktion oder die Tatsache, dass sie sich auf den Kuss einließ und den Mund leicht öffnete.

Anstatt nun aber den Kuss zu vertiefen, legte Nick ihr die Hände auf die Schultern und drückte sie. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich klein und zerbrechlich, zierlich und feminin.

Dann überwältigte sie das Verlangen, und das Einzige, woran sie noch denken konnte, war, dass sie ihn ewig weiterküssen wollte. In diesem Augenblick wäre sie glücklich gestorben.

Als Nick sich schließlich aufrichtete, starrte Hannah ihn benommen an. In ihrem Kopf formten sich Fragen, angefangen mit: Warum hat er mich geküsst? bis hin zu: Hat er es genauso genossen wie ich?

Keine davon sprach sie laut aus. Stattdessen schluckte sie schwer und bemühte sich, etwas Wut aufzubringen. Sollte ihr das nicht gelingen, würde es auch ein wenig rechtschaffene Empörung tun. Sollte Nick nämlich anfangen, sie aufzuziehen, brauchte sie etwas, um sich zu schützen. Gerade jetzt fühlte sie sich sehr angreifbar.

Er wollte die Beifahrertür schließen, hielt dann aber in der Bewegung inne und beugte sich wieder zu ihr vor.

„Zehn Dollar“, sagte er.

„Wie bitte?“

Ein Zwinkern. „Der Kuss. Er war zehn Dollar wert.“

„Verstehe ich nicht.“ Er wollte Geld dafür, dass er sie küsste? „Wir hatten uns auf vierhundert Dollar für das Wochenende geeinigt. Der Kuss war mir zehn Dollar wert, darum schuldest du mir jetzt nur noch dreihundertneunzig.“ Wieder wollte er die Tür schließen, und wieder zögerte er. „Cash … oder im Tausch.“

Bevor sie etwas dazu sagen konnte, schlug er die Tür zu und ging um den Wagen herum zur Fahrerseite. Hannah brachte es nicht fertig, ihn anzuschauen. Sie starrte geradeaus vor sich hin und fragte sich, worauf um alles in der Welt sie sich da eingelassen hatte.

Auch Nick sagte nichts, während er den Motor startete. Er wählte einen Radiosender mit klassischer Musik, setzte aus der Parklücke und fuhr in Richtung Autobahn.

Noch immer brannten ihre Lippen. Zehn Dollar. Der Kuss war es wert, und mehr als das. Ursprünglich hatte Nick eine Nacht heißen Sex dafür verlangt, dass er ihr half. Sie war diejenige gewesen, die auf Cash bestanden hatte. Vielleicht – und nur vielleicht – war ihre Entscheidung doch ein wenig übereilt gewesen.

Gegen neun erreichten sie die nördlichen Vororte von Los Angeles. In der Pendlerstadt Valencia verließ Nick die Interstate 5, und sie holten sich in einem Drive-in einen Kaffee. Zurück auf der Autobahn, nippte Hannah an der dampfend heißen Flüssigkeit und fragte sich zum viertausendsten Mal, was um Himmels willen sie sich eigentlich bei alldem gedacht hatte.

Dass Nick anscheinend ihre Gedanken lesen konnte, machte alles noch schlimmer. Gerade als sie zu einer weiteren Selbstkasteiung ansetzen wollte, fragte er: „Warum tust du das? Was ist so wichtig, dass du vorgeben musst, verheiratet zu sein?“

Sie trank noch einen kleinen Schluck Kaffee und dachte über die Frage nach. Die Antwort war einfach, aber sie wollte ihm nicht die Wahrheit sagen.

Prüfend sah er sie an. „Du glaubst wahrscheinlich, dass ich nur neugierig bin, aber Tatsache ist, dass ich ein paar Hintergrundinformationen brauche, um in meine Rolle finden zu können. Ich bin fürs Method Acting. Ich muss mich mit meiner Rolle identifizieren, mich in die Rolle einfühlen können und all das.“

Trotz ihrer vielen Befürchtungen lächelte Hannah. „Das ergibt Sinn. Okay, ich werde dich ins Bild setzen, aber ich muss dich warnen. Es ist eine lange, langweilige Geschichte.“

„Kein Problem. Es ist eine lange, langweilige Fahrt.“

Nick hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor, das war eine der Eigenschaften, die ihr schon von Anfang an an ihm gefallen hatten. Nicht, dass sie ihn wirklich mochte oder so … Oh sicher, aber klar, dachte sie. Sie mochte ihn nicht und fühlte sich nicht von ihm angezogen, darum hatte sie ihn auch eingeladen, die nächsten Tage ihren Ehemann zu spielen. Und ihre Abneigung war natürlich auch der Grund, weshalb sie seinen Kuss erwidert hatte.

Auf der Polizeistation war es ihr sehr viel leichter gefallen, ihn zu ignorieren, aber jetzt war niemand da, der sie sehen konnte. Da konnte sie ruhig mal ein wenig lockerer sein. Schließlich hatte sie nicht vor, sich wirklich mit Nick einzulassen. Sie wusste genau, wer und was er war. Wie charmant und witzig er auch sein mochte, er stand immer noch auf der falschen Seite des Gesetzes.

„Meine leibliche Mutter hat mich zur Adoption freigegeben“, erklärte sie und betrachtete die Berge, die sie umgaben. Gerade ließen sie Santa Clarita Valley hinter sich, um weiter in nördlicher Richtung nach Glenwood zu fahren. „Vor ein paar Monaten habe ich einen Brief von ihr bekommen.“

„Von deiner richtigen Mom?“

„Ja.“

Nick sah sie an. „Aus heiterem Himmel? Da muss dich ja der Schlag getroffen haben.“

„Ich muss zugeben, dass ich tagelang völlig benebelt herumgelaufen bin. Ich konnte es nicht fassen. Sie hatte einen Privatdetektiv beauftragt, mich zu finden.“

„Bist du wütend darüber?“

Seine Wahrnehmungsfähigkeit überraschte Hannah. „Ich weiß nicht. Manchmal ja. Die Phasen der Neugier, Sehnsucht und Wut scheinen sich abzuwechseln. Im Moment bin ich neugierig. Ich will Antworten haben. Ich nehme an, die meisten Kinder, die zur Adoption freigegeben wurden, haben eine Menge Fragen. Wie waren die Lebensumstände meiner leiblichen Mutter damals? Hat sie mich gleich nach der Geburt weggegeben, oder hat sie mich noch eine Weile bei sich behalten? Hat sie …“ Hat sie mich geliebt?

Die letzte Frage sprach Hannah nicht aus, obwohl das Thema sie schon die ganze Zeit beschäftigt hatte. Es war die Frage, die sie am meisten quälte. Hatte ihre Mutter sich überhaupt etwas aus ihr gemacht? War die Adoptionsfreigabe ein Ausdruck von Gefühllosigkeit? Der schnelle und leichte Weg, sich eines Problems zu entledigen? Oder waren höhere Mächte am Werk gewesen, die einer besorgten Mutter das unschuldige Kind entrissen hatten?

„Hat sie Gewissensbisse bekommen?“, führte sie den Satz zu Ende, damit Nick nicht auf dumme Gedanken kam. Sie bedauerte bereits, ihn ins Vertrauen gezogen zu haben.

„Hattest du irgendwann einmal selbst versucht, dich mit ihr in Verbindung zu setzen?“, fragte er sie.

„Nein. Hin und wieder habe ich daran gedacht, aber ich wusste nie, was ich ihr hätte sagen sollen, wenn ich sie gefunden hätte. Ich war immer der Meinung, dass sie mich damals wohl behalten hätte, wenn sie mich gewollt hätte.“

„Was sagen denn deine Adoptiveltern dazu?“

„Die sind schon lange tot.“ Hannah umklammerte ihren Pappbecher. Seit dreiundzwanzig Jahren. Damals war sie noch so jung gewesen, dass sie sich heute kaum noch an sie erinnern konnte. Aber sie wusste, dass sie glücklich gewesen war, nicht nur ein paar glückliche Momente lang, sondern die ganze Zeit.

„Gab es noch eine weitere Familie?“

„Das geht dich wirklich nichts an.“

„Richtig. Ich bin ja nur der Ehemann. Tut mir leid, das hatte ich vergessen.“

„Es ist wirklich nicht nötig, dass du jede Einzelheit aus meinem Privatleben kennst. Das heißt nicht, dass ich es dir besonders schwer machen will, ich würde es nur vorziehen, wenn du nicht so neugierig wärst.“

„Irgendwie überrascht es mich, dass du noch so gut laufen kannst.“ Erstaunt sah sie ihn an. „Was soll das denn heißen?“

„Es muss ganz schön schwierig sein mit diesem riesigen Klotz auf den Schultern. Die meisten Menschen würden längst ein Bein nachziehen oder so etwas, nur um im Gleichgewicht zu bleiben.“

Hannah wusste nicht, ob sie laut lachen oder ihm eine Ohrfeige verpassen sollte. „Ich trage keinen Klotz auf den Schultern.“

„Ja, alles klar. Du hältst dir auch nicht die Welt vom Leib und tust so, als würdest du niemanden brauchen. Erzähl weiter. Du hast also diesen Brief von deiner leiblichen Mutter bekommen. Was geschah dann?“

Wie gut er ihren Charakter einschätzte, verschlug ihr die Sprache. Sie wollte protestieren und ihm sagen, dass sie sich keineswegs die Welt vom Leib hielt. Zumindest nicht absichtlich. Irgendwie geschah das einfach. Sie war nicht aufgewachsen wie alle anderen. Nach dem Tod ihrer Adoptiveltern hatte sie nie wieder längere Zeit in einer Familie gelebt. Sie war von einer Pflegestelle zur anderen gereicht worden und wusste nicht, was es bedeutete, mehrere enge Freunde oder Freundinnen zu haben, die an ihrem Leben teilnahmen.

„Hannah? Der Brief?“

„Ach ja. Also, sie brauchte einen Privatdetektiv, um mich zu finden, denn offensichtlich waren bei der Adoptionsstelle alle Akten durcheinandergeraten. Hinzu kam, dass sie dort nicht einmal die Informationen rausrücken wollten, die sie noch über mich hatten, weil ich nicht selbst nach ihr gesucht habe. Aber selbst wenn, hätte es nicht viel gebracht, denn meine Adoptiveltern waren ja gestorben.“

„Und wo komme ich da ins Spiel? Warum brauchst du einen Mann?“

„Weil ich noch verheiratet war, als der Detektiv mich gefunden hat.“

Sein Kopf fuhr herum, und er funkelte sie aufgebracht an. „Verheiratet?“

Die Empörung in seiner Stimme zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen. „Ja, verheiratet.“

„Richtig verheiratet?“

„Nick, achte auf die Straße. Ich würde gern in einem Stück nach Glenwood kommen.“

Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf die Fahrbahn und fluchte vor sich hin. „Verdammt, Hannah, du hast mir nicht gesagt, dass du verheiratet warst.“

„Warum tust du so, als würde dir das etwas ausmachen?“

„Weil es so ist.“

„Das ist doch verrückt. Wir kennen uns nicht einmal.“

„So etwas will ein Mann wissen, bevor er den Ehemann für jemanden spielt.“

„Sorry, beim nächsten Mal werde ich daran denken.“ Kopfschüttelnd wiederholte er: „Verheiratet.“

Ihre Belustigung verwandelte sich in Irritation. „Ich weiß, du kannst es dir kaum vorstellen, aber es gibt tatsächlich Männer, die mich attraktiv finden. Erstaunlicherweise habe ich jemanden in die Falle einer verbindlichen Beziehung gelockt, zumindest für kurze Zeit.“

Sie hatte Shawn in keine Falle gelockt, auch wenn die Beziehung von Anfang an ein Fehler gewesen war. Ihre Ehe hatte nur fünf Tage gedauert, und wenn sie nur daran dachte, wurde sie verlegen. Es war eine absolut dumme Episode aus ihrer Vergangenheit.

„Seit wann seid ihr geschieden?“

„Ungefähr zwei Monate.“

„Zwei Monate? Willst du mir damit sagen, dass du dieses ganze letzte Jahr mit deinem Ehemann zusammengelebt hast?“

„Warum regst du dich so auf? Du tust gerade so, als hätte ich dich betrogen. Nein, ich habe nicht mit meinem Mann zusammengelebt. Wir sind seit ungefähr vier Jahren getrennt. Ich habe mir nur nie die Mühe gemacht, die Scheidung einzureichen, und er ebenso wenig. Bis vor Kurzem.“

„Was ist passiert?“

„Nichts, was ich mit dir diskutieren möchte. Der entscheidende Punkt ist, dass ich noch verheiratet war, als der Detektiv mich gefunden hat. In dem Brief hat Louise – so heißt meine biologische Mutter – erwähnt, dass sie gern meinen Mann kennenlernen würde.“

„Warum hast du ihr nicht die Wahrheit gesagt, als du mit ihr telefoniert hast?“

Der Wagen glitt über die asphaltierte Schnellstraße. Hannah drehte den Kopf nach rechts und gab vor, sich für die Reklametafeln zu interessieren. „Zum einen, weil sie gesagt hat, dass wir zusammenkommen sollten, solange noch Zeit ist. Ich fürchte, sie ist sehr krank, und ich will sie nicht aufregen. Sie ist eine alte Frau. Darum habe ich dich engagiert. Wir treten gemeinsam dort auf, ich die lang verlorene Tochter, du mein Mann. Wir werden freundlich zueinander sein. In zwei Tagen wirst du einen geschäftlichen Anruf erhalten und nach Southport Beach zurückkehren. Wenn ich mich vergewissert habe, dass sie es verkraften kann, werde ich ihr die Wahrheit sagen.“

„Klingt ziemlich schräg, finde ich.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dich um deine Meinung gebeten zu haben.“

„Hey, kein Grund zur Sorge, Baby. Das werde ich dir nicht extra berechnen, aber ich kenne mich aus. Zu meiner Zeit habe ich öfter mal eine Show abgezogen.“

„Davon bin ich überzeugt.“

Er zwinkerte ihr zu. „Ein paarmal war es auch völlig legal.“ „Möchtest du das vielleicht in Prozenten angeben?“

„Nicht wirklich. Der Trick ist jedenfalls, dass man dabei so nah wie möglich bei der Wahrheit bleiben sollte. Du hättest deinen Ex mitnehmen müssen. Das würde es sehr viel leichter machen.“

„Er stand gerade nicht zur Verfügung.“

„Unterwegs auf einer Geschäftsreise?“

Hannah überlegte, was Nick sagen würde, wenn sie ihm von Shawn erzählte. Seine Sticheleien klangen ihr schon jetzt in den Ohren. Lieber würde sie über Glasscherben laufen und giftige Mistkäfer zum Frühstück verspeisen.

„Kann man so sagen.“

„Man vielleicht. Was würdest du sagen?“

Sie holte Luft. „Shawn arbeitet im Moment.“

„Oh. Shawn. Lass mich raten. Der Typ war an einer Eliteuniversität, hat drei Titel hinter dem Namen und einen Stammbaum, der sogar den des großen Champions einer Hundeschau übertrifft.“

Um nicht loszulachen, biss sie sich auf die Unterlippe. Bitte, lieber Gott, mach, dass Nick niemals die Wahrheit herausfindet. „So ungefähr.“

Während Nick eine Weile brauchte, um das sacken zu lassen, sah Hannah einen Kilometerstein nach dem anderen vorbeisausen.

Erst zehn Minuten später nahm er den Faden wieder auf. „Du hast meine Frage noch nicht vollständig beantwortet. Warum hast du deiner Mutter nicht die Wahrheit gesagt, als du mit ihr telefoniert hast?“

„Wir haben nie miteinander telefoniert, sondern nur Briefe geschrieben.“

„Warum? Wäre es nicht leichter gewesen, den Hörer in die Hand zu nehmen und anzurufen?“

„Nein, wäre es nicht.“

Sie drehte sich in ihrem Sitz zur Seite, so weit weg von ihm, wie es der Sicherheitsgurt erlaubte. Die gemischten Gefühle, die sie bei alledem hatte, würde er nie verstehen. Sein Leben war so völlig anders als ihres. Nick gehörte zu den Menschen, die gesegnet waren. Er sah gut aus, besaß Charme, Witz, einen scharfen Verstand. Nur schade, dass er beschlossen hatte, seine Talente so einzusetzen, wie er es tat. Als redlicher Mensch hätte er es weit bringen können.

Bei ihr sah es anders aus. Sie zerbrach sich wegen allem den Kopf. Sie war nicht begabt. Die Menschen hielten sie für ruhig und gelassen, aber sie selbst konnte darüber nur lachen.

Seit sie ihre Adoptiveltern verloren hatte und in ihre erste Pflegefamilie gesteckt worden war, wusste Hannah, dass niemand sie haben wollte. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie oft man ihr gesagt hatte, dass der Staat der Familie nicht genug zahlen würde, um sie lange dortzubehalten. Und sie hatte den Überblick verloren, in wie vielen Häusern, Wohnungen und Schulen sie gewesen war.

Eine Zeit lang hatte sie versucht sich anzupassen, weil sie dazugehören wollte. Sie hatte sich wirklich Mühe gegeben. Aber entweder hatten ihre Versuche nicht ausgereicht oder sie hatte es falsch angestellt, denn niemand hatte es bemerkt. Irgendwann hatte sie aufgegeben. Manchmal waren die Leute wirklich nett, aber von klein auf hatte sie gelernt, sich auf niemanden zu verlassen als auf sich selbst. Es war besser, wenn sie sich auf nichts einließ, denn nichts hatte je lange gedauert. Selbst wenn es einmal so ausgesehen hatte, als könnte es funktionieren, war sie jedes Mal irgendwo anders hingeschickt worden.

Sie spürte Nicks Hand auf ihrer und schob sie weg.

„Hannah, Liebes, ich weiß, dass du Angst hast. Aber es wird alles in Ordnung sein.“

„Ich habe keine Angst, und du weißt nicht, ob es in Ordnung sein wird.“

„Natürlich weiß ich das. Ich bin bei dir. Ich werde dafür sorgen, dass es gut läuft. Du wirst schon sehen.“

Auf das Gerede von jemandem, der daran gewöhnt war, sich zu kaufen, was er haben wollte, konnte sie pfeifen. Eigentlich wusste sie gar nicht so genau, ob das auf ihn zutraf, es war nur eine Vermutung. Aber höchstwahrscheinlich war es so.

Anstatt den deutlichen Hinweis zu akzeptieren, griff Nick noch einmal nach ihrer Hand und drückte sie leicht. Sein Trost bedeutete ihr viel, auch wenn sie ihm das nicht sagen wollte. Es sähe viel zu sehr nach Nachgeben aus, und sie war davon überzeugt, den Rest ihres Lebens dafür büßen zu müssen, wenn sie einmal weich würde – und sei es auch nur ein wenig. Also hielt sie sich zurück, widerstand dem Bedürfnis und sagte nichts. Sie traute Nick nicht. Sie war nicht einmal sicher, ob sie ihn überhaupt mochte.

Aber als er sie anstupste, drehte sie die Hand um und ließ zu, dass er seine Finger mit ihren verschränkte.

3. Kapitel

Nick warf einen Blick in den Rückspiegel. Hinter ihnen war niemand, außer ein paar Lastwagen, und keiner davon fuhr mit Höchstgeschwindigkeit. Er drückte den Knopf am Tempomat und sah zu Hannah. Sie lehnte an der Beifahrertür und hatte den Kopf ans Fenster gelegt. Fast den ganzen Morgen hatte sie geschlafen.

Er schob eine CD mit klassischer Musik in die Anlage und ließ sie leise laufen. Hannah rührte sich nicht, was ihn freute. Offensichtlich brauchte sie Schlaf, die Schatten unter ihren Augen stammten sicher nicht allein vom Kater. Zweifellos hatten der Stress und die Angst, zum ersten Mal ihrer leiblichen Mutter zu begegnen, sie nächtelang nicht schlafen lassen.

Inzwischen war ein wenig Farbe in ihr Gesicht zurückgekehrt, und sie atmete gleichmäßig.

Als er an den Kuss dachte, musste er lächeln. Hannah Pace zu küssen war etwas, das er schon längst hätte tun sollen. Nicht nur, weil es ihm so viel Freude machte, sondern auch, weil es ihr die Sprache verschlagen hatte.

Oh, gedacht hatte er schon lange daran. Er konnte nie länger als fünf Minuten in Hannahs Nähe sein, ohne sich vorzustellen, wie es wäre, sie zu küssen und zu berühren. Sie gehörte zu den Frauen, die für verruchte Gedanken einfach wie geschaffen waren … Jedenfalls galt das für seine verruchten Gedanken.

Er überlegte, ob sie dem Kuss und dem Verlangen, das er ausgelöst haben dürfte, widerstehen könnte. Leidenschaft konnte verwirrend sein, wenn man daran gewöhnt war, sich ständig unter Kontrolle zu haben. Und Nick vermutete, dass Hannah stolz darauf war, niemals die Beherrschung zu verlieren. Aber sie hatte sich weder gewehrt noch so getan, als würde sie nicht darauf reagieren. Selbst wenn ihr Mund nicht so wunderbar auf seine Berührung reagiert hätte, ihr feuriger Blick und der unregelmäßige Atem hätten sie verraten. Es war eine großartige Idee gewesen, Hannah zu küssen, und er konnte es gar nicht erwarten, das Ganze zu wiederholen.

Wieder sah er zu ihr, aber sie rührte sich nicht und schlief weiter. Träumte sie? Machte sie sich Sorgen um das, was auf sie zukam? Bedauerte sie ihr Geständnis?

Hannah war verheiratet gewesen. Er hatte geglaubt, sie zu kennen, aber dieses Detail hatte ihn verblüfft. Verheiratet. Warum hatte er das nicht gewusst?

„Warum ist das wichtig?“, fragte er sich flüsternd, entschied dann aber, dass er die Antwort gar nicht wissen wollte.

Verheiratet. Mit wem? Ein Cop war dieser Shawn bestimmt nicht. Dann wäre sie nicht in der Lage gewesen, das zu verheimlichen. Er hätte davon gehört. Irgendein Hinweis wäre im letzten Jahr zu ihm durchgesickert. Was das Getratsche auf Polizeistationen anging, kannte er sich aus. Dort wusste jeder über jeden Bescheid.

Wen könnte Hannah geheiratet haben? Und von wem war sie jetzt geschieden? Einem erfolgreichen Geschäftsmann mit dubiosen Geschäftspraktiken? Nein. Hannah war nicht der Typ, der sich in einen Kriminellen verliebte. Was ihm mit am besten an ihr gefiel, waren ihre Prinzipien.

Er dachte über den Fall nach, an dem er gearbeitet hatte. Die vielen Stunden, in denen er allein gewesen war, die Gefahr, die Anspannung. Jetzt war es fast vorbei. Nur noch ein paar Tage, allenfalls zwei Wochen.

Was Hannah wohl sagen würde, wenn er ihr reinen Wein einschenkte? Würde sie ihn dann eher mögen? Ihn respektieren? Was auch immer. Solange die Sache nicht abgeschlossen war und die Schuldigen nicht im Knast saßen, würde er bei niemandem etwas darüber verlauten lassen und den ganzen Aufwand und die Mühe gefährden. Diese Kerle mussten gefasst werden.

Also würde Hannah ihn weiterhin für einen Kriminellen halten, und er würde sie nicht daran hindern. Wahrscheinlich war es das Beste für sie beide.

Vielleicht war ihr Ex auch ein Pilot, der an jedem Flughafen eine Freundin hatte? Nick schüttelte den Kopf. Auch dieses Szenario gefiel ihm nicht. Er wollte weder, dass der Typ sie missbraucht oder betrogen hatte, noch sollte er illegal aktiv gewesen sein. Aber wenn dieser Ex perfekt war, warum hatten sie sich dann scheiden lassen?

Sein Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass das Frühstück schon eine Weile zurücklag. Nach einem Blick auf die Reklametafeln, die die mehrspurige Schnellstraße auf beiden Seiten säumten, fuhr er an der nächsten Ausfahrt zu einem Fast-Food-Restaurant. Hinter einem verbeulten Pick-up, auf dessen Ladefläche zwei Hühner in einem Käfig saßen und eine Ziege angebunden war, hielt er an. Als er zu Hannah hinübersah, bewegte sie sich und blinzelte verschlafen.

Sie hatte wirklich mit Abstand die zahmsten Haare, die er kannte. Auf der Polizeiwache trug sie sie als Knoten am Hinterkopf zusammengesteckt, und gleichgültig, zu welcher Tageszeit er dort vorbeischaute, ob während der ersten fünf Minuten ihrer Schicht oder der letzten, immer saß jedes einzelne Haar an seinem Platz. Nicht ein einziges Mal hatte er gesehen, dass sich eine Strähne gelöst hätte und ihre Wange oder den Hals berührte.

Heute trug sie einen dicken Zopf, der ihr über den Rücken fiel, und obwohl sie mit einem Kater kämpfte und den größten Teil der letzten vier Stunden geschlafen hatte, saß ihre Frisur perfekt. Er überlegte, wie sie wohl völlig zerzaust aussehen mochte … vorzugsweise nackt, mit offenen Haaren und vor Leidenschaft schweren Augen.

Als er in der Hüftbeuge eine Regung verspürte, verlagerte er ungemütlich sein Gewicht und befahl sich, an etwas anderes zu denken.

„Hast du Hunger?“, fragte er sie.

„Nein, aber ich sollte wahrscheinlich etwas essen. Bloß ein Hamburger und ein Wasser bitte.“

„Natürlich.“ Er fuhr zum Mikrofon und gab ihre Bestellung auf. „Ich habe geschlafen. Du hättest mich wecken sollen.“ „Warum?“

„Ich hätte dich am Steuer ablösen können.“

„Ich fahre gern.“

Hannah lehnte sich im Sitz zurück. „Das überrascht mich nicht. Es hat mit Kontrolle zu tun. Männer fahren immer gern, weil sie dann das Gefühl haben, alles im Griff zu haben.“

„Lernt man das in ‚Psych 101‘?“

„Willst du das etwa bestreiten?“

„Ganz und gar nicht. Ich habe mich nur gewundert, woher deine Weisheit stammt.“

Ihr hübscher Mund deutete ein schiefes Lächeln an. „Das habe ich ganz allein herausgefunden.“

„Heute Nachmittag kannst du fahren.“ Es machte ihm nichts aus, auch die ganze Strecke nach Norden zu fahren, aber wenn sie sich Glenwood näherten, würde sie bestimmt nervös werden. Vielleicht lenkte es sie ab, wenn sie fuhr.

Sie nahmen ihr Essen in Empfang und machten sich wieder auf den Weg. Hannah reichte Nick seinen Burger und das Getränk an, wenn er sie darum bat. Er hatte in dem Wagen auch schon ohne Hilfe gegessen, aber er genoss ihre Fürsorglichkeit. Männliche Eitelkeit, dachte er und grinste. Wenn sie wüsste, woran ich denke, würde sie mir wahrscheinlich eine Ohrfeige verpassen.

„Wie schnell bist du gefahren?“, fragte sie plötzlich. „Bist du etwa gerade mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren?“

„Ein bisschen.“

„Das war mehr als ein bisschen. Wie schnell warst du?“

„Das werde ich dir nicht sagen.“ In scherzendem Tonfall fügte er hinzu: „Abgesehen davon wurde dieser Wagen für freie Straßen gebaut. Wie könnte ich da widerstehen?“

„Du hast es nicht einmal versucht.“

„Bei dir versuche ich es die ganze Zeit, meine Liebe, und ich habe nichts davon.“

Sie riss die Augen auf, sagte aber kein Wort. Als er die Hand ausstreckte, reichte sie ihm seinen Hamburger. Dann blickte sie nach vorn, als wäre sie entschlossen, seine Gegenwart zu ignorieren.

Es machte ihm Spaß, sie ein wenig aufzuziehen, und er rechnete damit, dass sie endlich einmal etwas lockerer würde, wenn er nur lange genug damit fortfuhr. Sie musste einfach. Niemand konnte auf Dauer so verkrampft sein, und vielleicht fand sie sogar heraus, dass er gar kein so übler Kerl war.

Denn er wollte, dass sie ihn um seiner selbst willen mochte. So ein Schwachsinn! Wenn Hannah oder irgendeine andere Frau tatsächlich anfangen würde, sich etwas aus ihm zu machen, würde er so schnell in die entgegengesetzte Richtung davonlaufen, dass er Blasen an die Füße bekäme. Und auch wenn ihn der Gedanke, sich niederzulassen, gelegentlich reizte, zog er es vor, mit leichtem Gepäck seiner Wege zu gehen. Wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, bestand Hannahs Attraktivität für ihn zum Teil darin, dass sie unerreichbar war. Sie würde nie etwas anderes in ihm sehen als zwielichtigen Abschaum.

Nick aß seinen Burger auf. „Erzähl mir mehr aus deinem Leben“, sagte er dann.

Hannah sammelte den Abfall ein, stopfte alles in eine Tüte und wischte sich die Hände an einer Serviette ab. „Das geht dich wirklich nichts an.“

„Ein paar persönliche Informationen musst du mir schon geben. Immerhin werde ich deinen Ehemann spielen.“

„Es reicht, was du weißt.“

Sie ließ ihn um jeden Punkt kämpfen. Gott, er war völlig verrückt nach ihr. „Ich weiß von der Scheidung, aber das ist ja nun mal keine Information, die du verbreitet wissen möchtest, richtig?“

Sie verdrehte die Augen. „Sei doch einmal ernst, Nick. Du sollst mein erster und einziger Mann sein. Du weißt, dass ich adoptiert wurde und Polizistin bin. Was sollte es sonst noch geben?“

„Wie wär’s denn mal mit ein paar Informationen aus deiner Kindheit? Deine Adoptiveltern. Kannst du mir nicht irgendetwas über sie erzählen?“

„Ich war zu jung, um mich an viel erinnern zu können. Über sie will ich nicht reden.“

„Also gut. Die Schule. Was waren deine Lieblingsfächer?“

„Das weiß ich nicht mehr. Ich glaube nicht, dass ich überhaupt welche hatte. Immer, wenn ich mal wieder in eine andere Pflegefamilie geschickt wurde, musste ich auch die Schule wechseln. Ich glaube nicht, dass das nötig ist. Schließlich ist kaum damit zu rechnen, dass Louise nach dem Essen ein Quiz veranstaltet und von dir erwarten wird, dass du die Details aus meiner Vergangenheit herunterbetest.“

Nick wusste, dass ihre Reizbarkeit teilweise an ihrer Aufregung lag, aber darüber hinaus näherten sie sich auch gefährlichem Terrain. Über das System der Kinderfürsorge war er bestens informiert. Ein paar der Kleinen hatten Glück. Andere, wie Hannah, wurden von einer Stelle zur anderen geschoben. Und er wusste selbst, was es hieß, einsam und verängstigt aufzuwachsen. Er hatte zwar einen Elternteil zu Hause gehabt – seinen Vater. Aber manchmal glaubte er, es wäre besser gewesen, wenn der alte Mann ihn einfach rausgeworfen und ihm erlaubt hätte, seinen eigenen Weg zu finden.

Hannah verschränkte die Hände ineinander. Nick hätte ihr gern geholfen, fühlte aber, dass sie nicht in der Stimmung war, sich trösten zu lassen. Sie war kratzbürstig, aber die Schale musste hart sein, um ein weiches Herz zu schützen. Obwohl ihn die Vorstellung, dass sie sich tatsächlich in ihn verlieben könnte, erschreckte, fiel es ihm leicht, sich um sie zu bemühen. Da bestand keine Gefahr, denn es gab nicht die geringste Möglichkeit, dass es passieren könnte.

„Du bist in Los Angeles aufgewachsen?“, fragte er sie.

„Orange County.“

„College?“

„Ja.“

Er lächelte. „In welchem Fach hast du deinen Abschluss gemacht?“ „Nick, das ist alles nicht wichtig.“ Sie schlug die Beine übereinander und stellte sie gleich darauf wieder nebeneinander.

Auf einmal begriff Nick. Hannah bereute jetzt schon, dass sie ihm so viel von sich erzählt hatte. Sie war es nicht gewöhnt, jemanden an ihrem Leben teilnehmen zu lassen, schon gar nicht einen Mann wie ihn. Sie hatte Angst, er könnte die Information gegen sie verwenden. Nick hätte sie gern beruhigt, bezweifelte jedoch, dass sie ihm glauben würde. Und nebenbei bemerkt, was hätte er ihr auch sagen sollen?

„Ich bin siebenundzwanzig“, fuhr sie fort. „Polizistin im Innendienst bei der Polizeiinspektion Southport Beach. Braune Haare, braune Augen. Ich finde, das ist mehr als genug an persönlicher Information, meinst du nicht auch?“

„Aber ja doch. Und ich wollte mich auch noch bei dir bedanken für diesen aufschlussreichen Einblick in dein Privatleben. Wir werden ein absolut glaubwürdiges Paar abgeben.“

Mit großen Augen sah sie ihn durchdringend an. „Natürlich werden wir das. Du musst dich nur an meine Vorgaben halten. Ich bin eine ausgebildete Polizeibeamtin und weiß, wie man mit schwierigen Situationen fertig wird. Du bist ein professioneller Betrüger, der daran gewöhnt ist, schnell zu reagieren. Das ist doch ein Kinderspiel. Es wird die leichteste Täuschung sein, die du je durchgezogen hast.“

Das Bild, das sie von ihm hatte, bewies, dass seine Tarnung erfolgreich war. Dennoch trafen ihre Bemerkungen ihn. Während er sich auf die Straße konzentrierte, sagte er sich, dass er allmählich zu alt für dieses Metier wurde. Nach diesem Job würde er sein Leben neu überdenken müssen. Willkommen in Glenwood!

Hannah starrte auf das Schild und befürchtete, sich gleich übergeben zu müssen. Ihr Magen, der sich im Verlauf des Nachmittags deutlich beruhigt hatte, fing wieder an zu rebellieren. Aber diesmal hing es nicht mit den Nachwirkungen von Alkohol zusammen. Es war Nervosität … und Angst.

Nick hielt am Straßenrand und stellte den Motor ab. „Was willst du machen? Sollen wir ein Hotel suchen oder deine Mutter?“

Ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie konnte nicht sprechen. Schlimmer noch, sie konnte nicht denken. Schließlich öffnete sie den Mund. „Ich …“ Sie holte tief Luft und versuchte es noch einmal. „Die Fahrt hätte länger dauern müssen.“

Er strich ihr mit einem Finger über die Wange. „Ich weiß. Es tut mir leid.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht deine Schuld.“ Eine Weile hatte sie selbst am Steuer gesessen und festgestellt, dass man in diesem Luxusgefährt erstaunlich leicht zu rasen begann. „Gib mir eine Minute. Ich weiß nicht genau, was ich tun soll.“ Ihre Stimme zitterte. Was hatte sie sich nur dabei gedacht herzukommen? Das Ganze war ein einziger Fehler.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was sollte sie tun? Sie warf Nick einen Blick zu. Da saß er und wartete geduldig darauf, dass sie eine Entscheidung traf. Den ganzen Tag über war er freundlich zu ihr gewesen, obwohl sie es ihm nicht leicht gemacht hatte. Dabei wollte sie nicht kalt und gefühllos sein. Aber auch nach so vielen Jahren hatte sie noch immer Schwierigkeiten damit, die Vergangenheit loszulassen. Es fiel ihr schwer, Menschen zu vertrauen, und jemandem wie Nick zu vertrauen, war nahezu unmöglich. Trotzdem hatte sie genau das getan, zumindest ein wenig, sonst hätte sie ihn nicht mitgenommen.

Warum das Unvermeidliche aufschieben? „Lass uns mal schauen, ob wir die Straße finden. Wenn nicht, nehmen wir uns ein Hotel und versuchen es morgen früh noch einmal.“

„Kein Problem.“ Er warf den Motor an und setzte rückwärts auf die Hauptstraße zurück.

Louise hatte ihr eine Wegbeschreibung zu ihrer Adresse geschickt. Hannah zog den Brief hervor. „Sie hat etwas gemietet“, erklärte sie. „Ich nehme an, es ist in irgendeinem Pflege- oder Altenheim. Keine Ahnung, ob das in einem Wohnviertel liegt oder nicht.“

„Kommt auf die Zonierung an“, meinte Nick.

Sie sagte ihm, wo er abbiegen musste, kurz darauf fuhren sie an einem großen Park vorbei. In der Dämmerung konnte Hannah nur einen Teich mit weißen Enten ausmachen. Mehrere Familien saßen an den Uferböschungen, um den milden Maiabend zu genießen.

Familien. Hannah fühlte einen Stich in der Brust. Den größten Teil ihres Lebens war sie allein gewesen. Es war das, woran sie gewöhnt war. Sich auf niemanden zu verlassen. Jetzt hatte sie eine Mutter. Ob nun alles anders wurde?

Sie erspähte ein Straßenschild. „Hier geht’s rechts ab“, verkündete sie.

Das Wohnviertel sah aus wie in einem Fernsehfilm mit all den zweistöckigen Häusern und den breiten Veranden. In den Einfahrten standen Minivans, und auf den Rasenflächen lagen vergessene Fahrräder herum. Lautes Lachen drang in den Wagen. Hannah merkte, wie ihr die Kehle eng wurde. Als Nick ihre Hand drückte, stieß sie ihn diesmal nicht weg. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, nicht einmal sich selbst gegenüber, seine Gegenwart tröstete sie.

Noch einmal mussten sie abbiegen. Diese Straße war breiter und die Häuser standen nun weiter voneinander entfernt. Aus den zwei Stockwerken waren drei geworden.

„Hier muss jemand Geld haben“, bemerkte sie.

„Vielleicht deine Mom.“ Nick grinste.

Sie lächelte zurück. „Das würde dir gefallen, oder? Dann könntest du sie in eins deiner Immobiliengeschäfte verwickeln.“

„Hey, es gibt Leute, die haben sehr viel Geld durch mich verdient.“

„Ja, klar.“

„Deiner Mutter würde ich niemals schaden.“

Seltsamerweise glaubte sie ihm das.

„Es ist die richtige Straße.“ Als Hannah diese Häuser sah, war sie sicher, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. Louise konnte doch nicht hier wohnen, oder? Für eine Person machte ein solches Haus doch keinen Sinn. Vielleicht hatte man eine große Villa in Apartments unterteilt oder so etwas. „Es ist die Hausnummer 2301.“ Der Wagen fuhr nur noch im Schritttempo. „Da ist es“, sagte Nick und zeigte auf ein ganz besonders großes Haus.

In der zunehmenden Dämmerung konnte Hannah nur die Umrisse eines spitzen Dachs und einer großen Veranda ausmachen. „Es sieht so viktorianisch aus.“

„Wahrscheinlich ist es das auch. Ich glaube, die Eisenbahnbarone waren die Ersten, die sich in diesem Teil des Staats niedergelassen haben. Die Häuser könnten restauriert worden sein.“

In der Einfahrt standen so viele Autos, dass für ihres kein Platz mehr war. Nick parkte am Bürgersteig.

Hannah starrte das Gebäude an. Ihr Herz raste, ihre Handflächen waren feucht, und sie hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen.

„Was hast du ihr denn gesagt, wann du kommst?“, fragte Nick leise.

„Ich hatte keine Ahnung, wie lange die Fahrt dauern würde. Ich dachte, wir brauchen vielleicht zwei Tage. Darum habe ich ihr nur gesagt, irgendwann an diesem Wochenende.“

„Dann rechnet sie also heute Abend gar nicht mit dir?“

„Nein. Warum?“

Er wies auf die Autos in der Einfahrt. „Ich dachte, sie hätte vielleicht eine Willkommensparty für dich veranstaltet.“

„Das möchte ich bezweifeln.“

„Willst du ins Hotel fahren und morgen zurückkommen?“

Ja! Ja! Das wäre fantastisch. Sie könnte eine Nacht darüber schlafen und sich überlegen, was sie sagen sollte. Langsam schüttelte sie den Kopf. Nur ein Feigling würde sich der Situation entziehen. „Ich will hineingehen.“

„Dann wollen wir es hinter uns bringen.“

Nick stieg aus und kam um den Wagen herum zu ihrer Tür. Als Hannah ausstieg, griff er nach ihrem Arm, um sie zu stützen. Normalerweise hätte sie ihn abgeschüttelt oder eine bissige Bemerkung gemacht, aber heute Abend hatte sie keine Kraft mehr dafür. Sie war überzeugt, dass Nick sie das später büßen lassen und sie gnadenlos damit aufziehen würde. Aber das war egal. Im Augenblick war er einfach ein warmer Körper, an dem sie sich festhalten konnte. Der einzige Mensch in dieser fremden Stadt, den sie kannte. Wenn er ihr Trost und Schutz bot, wollte sie die Möglichkeit beim Schopf packen und zugreifen.

Sie schob sich den Riemen ihrer kleinen Handtasche auf die Schulter. Nick schloss den Wagen ab. Bevor sie zum Haus gingen, stellte er sich vor Hannah und legte ihr die Hände auf die Schultern.

„Sie wird dich vergöttern“, sagte er.

„Glaubst du?“

„Ich bin mir sicher. Vergiss nur nicht zu lächeln.“

Sie zog die Mundwinkel nach oben, aber es fühlte sich eher an wie eine Grimasse. Dennoch reagierte Nick mit einem Lächeln, und sie merkte, wie ihre Anspannung ein wenig nachließ. Dann griff er nach ihrer Hand, und gemeinsam gingen sie zum Haus.

Als sie auf der Verandatreppe standen, hörten sie Lachen. „Vielleicht ist es ja doch eine Party“, sagte Hannah. „Wir könnten stören.“

„Ich bin mir sicher, dass es nur ein weiterer Anlass zu feiern ist, wenn du jetzt auftauchst.“

Trotz allem musste sie lachen. „Diese Sprüche kommen dir sehr leicht über die Lippen.“

„Und obendrein sind sie auch noch effektiv.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Darauf würde ich wetten.“

Die breite Haustür wirkte imposant. Nick hatte die Hand schon gehoben und wollte anklopfen, sah sie dann aber fragend an, um sich zu vergewissern, dass es in Ordnung war. Hannah holte tief Luft und nickte.

Auf das harte Klopfen folgte lautes Lachen. Dann rief eine Frau: „Ich mache auf.“

Die Veranda war hell beleuchtet, das Foyer ebenso. Als die Frau die Tür aufzog, konnte Hannah sie deutlich sehen.

Sie war relativ groß, etwa einen Meter siebzig und schätzungsweise Mitte vierzig. Hannah erhielt einen kurzen Eindruck von blauen Augen und einem großzügig geschnittenen Mund, bevor die Kleidung der Frau ihre Aufmerksamkeit fesselte. Sie trug eine limonengrüne Hose und dazu eine türkisfarbene Bluse. Ihre Taille umschlang ein doppelreihiger goldener Gürtel. Schweres Make-up betonte ihre Gesichtszüge, und unter dem kurz gestuften blonden Haar baumelten riesige Ohrringe.

Hannah merkte, wie sie schwankte. Das einzig Stabile in ihrer Welt war Nicks warme Hand, die sie festhielt.

„Hi“, sagte sie und presste die Worte mühsam heraus. „Ich bin mir nicht sicher, ob wir hier richtig sind, aber ich suche nach …“

Die Frau hielt die Luft an und schlug die Hände zusammen, womit sie Hannah effektiv das Wort abschnitt. „Oh, meine Güte. Ich hätte dich überall wiedererkannt. Hannah, Liebes, du bist Earl und den Jungs wie aus dem Gesicht geschnitten.“

Nick rückte etwas näher. „Wer sind Earl und die Jungs?“

Darauf zuckte Hannah nur hilflos mit den Schultern. Offensichtlich kannte diese Frau sie. War sie vielleicht eine enge Freundin ihrer Mutter? Oder eine bezahlte Gesellschafterin? „Ich fürchte, ich verstehe nicht“, sagte sie.

Die Frau lächelte. „Natürlich nicht. Da rede ich von Earl und seinen Söhnen und vergesse das Wichtigste.“ Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie schniefte. „Hannah, Liebes, ich bin deine Mutter. Willkommen zu Hause.“

Moment mal. Das kann doch nicht meine Mutter sein! Was war mit der alten, schwachen Frau, die krank war und möglicherweise sogar im Sterben lag? Die Frau vor ihr wirkte fit wie ein Turnschuh.

Im nächsten Moment sah Hannah sich in eine Umarmung gezogen. Diese Frau namens Louise – Hannah konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, sie Mom oder Mutter zu nennen – stand auf der Türschwelle, also ungefähr eine halbe Stufe über Hannah, womit sie auf gleicher Höhe waren.

Es waren kräftige Arme, die sie da zogen. Hannah mochte es nicht, von Leuten, die sie kannte, umarmt zu werden. Von Fremden ganz zu schweigen. Aber diese Umarmung fühlte sich merkwürdig stimmig an. Fast schon vertraut.

Louise nahm Hannahs Gesicht in beide Hände. „Du bist so hübsch geworden. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie du aussehen wirst, aber es ist mir nie gelungen. Die Augen hast du von Earl.“

„Meinem …“

„Deinem Vater. Die Haarfarbe stammt von mir.“ Sie zupfte an einer kurzen blonden Strähne. „Ich bin nicht von Natur aus blond, du weißt ja, was das heißt. Mir gefällt es besser so.“ Sie lächelte. „Ich kann es gar nicht fassen. Als ich dir geschrieben habe …“ Sie schaute an Hannah vorbei und zog vernehmbar die Luft ein. „Dein Mann. Mein Lieber, ich hatte dich gar nicht gesehen. Willkommen.“ Wieder breitete sie die Arme aus. Gelassen trat Nick einen Schritt nach vorn, und sie umarmte ihn fest. „Mit Sicherheit bist du der attraktivste Mann, den ich seit Langem gesehen habe. Und so groß. Hannah, Schätzchen, da hast du eine kluge Wahl getroffen. Ich selbst war nicht immer so klug, aber wenigstens habe ich darauf geachtet, dass sie was fürs Auge waren.“

Nick grinste. „Ich werde dich mögen, Louise.“

„Das hoffe ich doch sehr. Und ich will auch von Anfang an klarstellen, dass ich nicht zu den Schwiegermüttern gehören will, die sich in alles einmischen.“ Ihr Lächeln verblasste. „Ich bin einfach nur froh, dass ich endlich die Chance habe, meine Tochter kennenzulernen. Euch beide.“ Sie reichte Hannah die eine und Nick die andere Hand.

Hannah hatte das Gefühl, mitten in einen Tornado geraten zu sein, der sie so schnell herumwirbelte, dass sie weder atmen noch ihr Gleichgewicht wiederfinden konnte.

„Was ist los, Louise?“, fragte eine Männerstimme aus dem Haus. Louise lachte. „Ich schwöre, ich würde noch mal meinen Kopf vergessen, wenn er nicht angewachsen wäre. Denkt nur, jetzt habe ich meine guten Manieren vergessen. Kommt herein.“ Sie ließ die beiden los, trat zurück und bedeutete ihnen einzutreten. Dabei streichelte sie Hannah den Arm. „Die Jungs werden begeistert sein. Sie warten schon sehnsüchtig darauf, dich kennenzulernen.“

„Die Jungs?“, keuchte Hannah.

„Die Brüder Haynes. Die Söhne, die Earl von seiner Frau hat. Ich weiß, es ist verwirrend, aber du hast vier Halbbrüder.“

Nick legte Hannah seinen Arm um die Schultern. „Super. Mit mir zusammen reicht das, um Basketball zu spielen.“

„Genau genommen gibt es auch noch Austin. Aber er ist nicht wirklich verwandt. Eher so etwas wie ein adoptiertes Familienmitglied. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich von adoptiert spreche, oder?“

Benommen schüttelte Hannah nur den Kopf.

Im Wohnzimmer wimmelte es nur so von Menschen – Erwachsenen und Kindern. Jede Menge Kinder. Hannah war nicht in der Lage einzuschätzen, wie viele Leute sich insgesamt dort aufhielten. An die zwanzig waren es auf jeden Fall, und alle starrten sie an.

„Alle mal herhören, das ist Hannah. Meine Tochter.“ Louise versagte die Stimme, und eine Träne lief ihr über die Wange. „Ist sie nicht wundervoll?“

Vier Männer lösten sich aus der Gruppe. Alle waren groß, gut einen Meter achtzig, dunkle Haare und dunkle Augen. Hannah musste nicht erst in den Spiegel schauen, um die Ähnlichkeit zu erkennen.

Ihr blieb das Herz in der Brust stehen. Sie fühlte, wie es einmal dumpf plopp machte – und dann stehen blieb. Gleich würde sie sterben, und das wäre wunderbar.

Cops. Ihre Brüder waren Cops. Nur zwei von ihnen trugen eine Uniform, aber auch die beiden anderen waren Polizisten, daran bestand kein Zweifel. Wenn sie von Nick und seinen zwielichtigen Geschäften erfuhren – ganz zu schweigen von ihrem Deal mit ihm –, würden sie nicht zögern, sie beide ins Gefängnis zu werfen.

4. Kapitel

Ungläubig starrte Hannah die vier Männer an, die vor ihr standen. Und diese starrten zurück. Im Raum wurde es still. Sie befürchtete, jeden Moment zu Boden zu sinken, denn noch immer spürte sie ihr Herz nicht schlagen. Dann allerdings vernahm sie das schwache Pochen in der Stille, das ihr verriet, dass sie nicht nur am Leben war, sondern wahrscheinlich auch noch lange genug leben würde, um dieses Wochenende zu überstehen.

Nick drückte kurz ihre Schulter und trat dann einen Schritt vor. „Hi. Ich bin Nick Archer, Hannahs Mann.“

Der Bruder, dessen Schläfen schon leicht ergraut waren, lächelte leicht. „Craig Haynes. Freut mich, dich kennenzulernen.“ Die beiden Männer schüttelten einander die Hände.

Hannah sah genau hin, bemerkte aber kein männliches Dominanzgehabe. Wenigstens vorläufig noch nicht.

Gleich darauf wandte sich Craig ihr zu. „Wir waren uns nicht sicher, was wir zu erwarten hatten. Entschuldige, Louise, aber sie ist zu hundert Prozent eine Haynes.“

Louise hakte sich bei Hannah ein. „Oh, sie hat aber auch etwas von einer Carberry in sich. Die Ehre gebührt nicht allein eurer Seite.“

Ihr ganzes Leben hatte Hannah sich gefragt, wie ihr „wirklicher“ Familienname lauten mochte oder ob vielleicht noch eine Familie existierte, die Anspruch auf sie erheben könnte. Und hier waren sie nun, in Fleisch und Blut. Eigentlich war das alles furchtbar aufregend, aber am liebsten hätte sie sich schutzsuchend in eine Ecke verkrochen.

Craig wies auf den Mann zu seiner Linken. „Das ist Travis, dann haben wir noch Jordan und Kyle.“ Er grinste. „Wir stehen hier wirklich in der Reihenfolge des Alters. Ich bin der Älteste, Kyle ist der Jüngste.“

„Jetzt nicht mehr“, sagte Kyle. „Jetzt bist du das Baby, Hannah.“ „Wie schön“, murmelte sie.

„Wir gehen mal schnell den Rest der Familie durch“, sagte Craig. „Ich bin sicher, das wird total verwirrend für dich sein, aber zumindest bekommst du so einen Eindruck, wer zu wem gehört.“

Daraufhin traten vier Frauen vor und stellten sich neben ihre Männer, und auch die Kinder gesellten sich dazu, sodass kleine Gruppen entstanden. Es waren zu viele, zu viele Gesichter, zu viele Namen.

Hannah versuchte sich zu konzentrieren, aber vergebens. Sie gewann nur ein paar kurze Eindrücke. Craigs Frau, ein zierlicher Rotschopf, war hochschwanger. Die beiden hatten drei Jungs. Auch Jordans Frau war schwanger, aber noch nicht so weit fortgeschritten. Dann war da noch ein weiterer Mann, der ihr als „Austin Lucas, Familienmitglied, aber nicht blutsverwandt“ vorgestellt wurde. Auch er hatte dunkle Haare und sah mit dem Ring, der an einem Ohr blitzte, verwegen aus. Seine Frau Rebecca war wunderschön, mit einem Gesicht, das in eine Kamee geschnitten gehörte.

Nachdem die allgemeine Vorstellung abgeschlossen war, redeten alle gleichzeitig. Louise zog Hannah an sich. „Mach dir nicht die Mühe zu versuchen, sie alle auseinanderzuhalten. Das wird ein wenig dauern.“

Nick gab Hannah einen kleinen Kuss auf den Kopf. Die Wirkung spürte sie bis in die Zehenspitzen, und sie konnte nur hoffen, dass ihr der Schock und die Lust nicht an den Augen abzulesen waren. „Heute Abend werden Hannah und ich unsere Erinnerungen abgleichen. Ich bin sicher, gemeinsam schaffen wir es, alle richtig zu sortieren.“

Hannah war sich da nicht so sicher. Staunend betrachtete sie das riesige Wohnzimmer. Ein gewaltiger Kamin beherrschte die gegenüberliegende Wand, marineblaue Vorhänge verhüllten die deckenhohen Fenster. Die vier Sofas waren im selben Farbton gehalten und bildeten ein lockeres Rechteck. Ohrensessel mit marineblau und beige gestreiften Bezügen füllten die Ecken. Möbel und Fußboden waren aus hellem Pinienholz. Verschiedene Teppiche, Bilder und Überbleibsel von Kaffee und Kuchen verliehen dem Raum ein gemütliches, bewohntes Aussehen.

Sie konnte sich nicht vorstellen, wie man in einem so großen Haus lebte, aber es war offensichtlich, dass die Familie Haynes eine Menge Platz brauchte. Hannah zählte insgesamt elf Erwachsene und neun Kinder, dazu dann noch zwei weitere, die unterwegs waren.

Louise unterhielt sich mit Nick, zeigte auf verschiedene Personen und gab ihm ein paar kurze Hintergrundinformationen. Die Kinder jagten einander durchs Zimmer, während die Erwachsenen sich unterhielten und Hannah neugierige Blicke zuwarfen. Sie kam sich vor, als hätte man sie zur allgemeinen Unterhaltung vorgeführt. Die geballte Aufmerksamkeit war ihr unangenehm. Als Nick sich ihr wieder zuwandte und seine Hand unter den Zopf in ihren Nacken legte, protestierte sie nicht.

Dann dachte sie an das Bild, das sie sich von der gebrechlichen alten Frau gemacht hatte, die in einem Pflegeheim lebte, und fragte Louise: „Wohnst du hier?“

Ihre Mutter lachte. „Ich habe eine eigene Wohnung in der Stadt. Ein Apartment. Aber da bin ich nur sehr selten. Die Jungs halten mich auf Trab.“

Sie führte sie zu einem der Sofas und sie setzten sich – Louise auf der einen Seite neben Hannah, Nick auf der anderen.

„Du arbeitest für die Familie Haynes?“, fragte Nick.

Louise nickte. „Seit mehreren Jahren. Es fing damit an, dass unser Travis hier …“, sie wies auf einen der Brüder in Uniform, „… eine Haushälterin brauchte. Er und seine erste Frau hatten sich scheiden lassen, und er saß dann ganz allein in einem Haus herum, das so groß war wie dieses hier. Der Junge war nicht in der Lage, sich etwas zu kochen. Ich hatte Angst, er würde verhungern. Also hat er mich engagiert.“

Besagter Travis kam zu ihnen und setzte sich vor dem Sofa auf den Kaffeetisch. Sein welliges dunkles Haar war den Dienstvorschriften entsprechend kurz gehalten und reichte ihm im Nacken kaum bis zum Hemdkragen. Die Kakiuniform wies ihn als Glenwoods Sheriff aus. Hannah musste einen Schauder unterdrücken. Warum konnten ihre Brüder nicht Klempner oder Elektriker sein?

„Vielleicht erinnerst du dich noch, ich bin Travis.“

Unsicher lächelte Hannah ihn an. „Ja, hi.“

„Wir sind eine laute Bande, aber wir haben das Herz am rechten Fleck und haben uns richtig darauf gefreut, dich kennenzulernen.“

„Ihr seid dabei im Vorteil“, meinte Nick ungezwungen und legte Hannah den Arm um die Schultern. „Wir waren davon ausgegangen, dass Hannahs Mutter allein lebt. Ihr seid für uns eine überraschende Zugabe.“

Wenn Hannah nicht so nervös gewesen wäre, hätte sie die Augen verdreht. Nick war der Charme in die Wiege gelegt worden. Normalerweise hielt sie nicht sonderlich viel von Leuten, die durchs Leben segelten und schöne Worte statt Arbeit einsetzten, aber in diesem Fall war sie ungemein dankbar, ihn an ihrer Seite zu haben. Wie hätte sie auch damit rechnen sollen, dass sie mit einer ganzen Horde von Menschen verwandt war?

„Mit Louise ist es schon eine interessante Sache“, meinte Travis und zwinkerte der älteren Frau zu. „Seit Jahren gehört sie jetzt zur Familie.“

„Das hat sie gerade erwähnt“, bemerkte Hannah höflich.

„Und du bist mit uns beiden verwandt.“

Wenn sie Louises Tochter und gleichzeitig die Halbschwester der Brüder Haynes war, bedeutete das doch wohl, dass sie einen gemeinsamen Vater hatten. Demnach musste Louise vor fast achtundzwanzig Jahren eine Affäre mit diesem Vater gehabt haben. War er verheiratet gewesen? Und wenn nicht, warum hatte Louise ihn dann nicht geheiratet? Warum war sie zur Adoption freigegeben worden?

Travis erklärte Nick etwas, aber Hannah hörte nicht hin. Sie sah sich im Zimmer um und betrachtete die glückliche Familie. Die Erwachsenen saßen in Gruppen zusammen, unterhielten sich und lachten. Die Kinder spielten, und der Lärmpegel stieg, weil jeder gehört werden wollte. Es war das Chaos in seiner angenehmsten Form.

Dies war ihre Familie. Louise war hiergeblieben und hatte sich ein Leben aufgebaut. Warum hatte sie ihr Kind weggegeben?

So müde und verstört sie im Augenblick auch war, sie durfte sich keine Schwäche erlauben. Sonst würde ihr am Ende noch eine unpassende Bemerkung herausrutschen oder, was schlimmer wäre, sie könnte in Tränen ausbrechen.

Nick streichelte ihren Nacken. Die Berührung war zugleich tröstlich und erotisch. Hannah lehnte sich an ihn und legte ihre linke Hand auf sein Bein. Seine Muskeln waren hart wie Eisen, sein Körper fühlte sich warm an. In dieser unkontrollierbaren Situation war er für sie der einzig sichere Bezugspunkt, und im Augenblick war es ihr völlig gleichgültig, ob er ein Krimineller war, ein langes Vorstrafenregister hatte und vielleicht sogar ein Tattoo. Und das geschah ausgerechnet ihr, die niemals jemandem vertraute. Sie wollte gar nicht daran denken, wie sehr sie das später bereuen würde.

„Hey, Hannah.“ Der zweite Bruder in Uniform gesellte sich zu ihnen. „Ich bin Kyle.“ Er sah Travis sehr ähnlich, vielleicht war er eine Spur attraktiver. Offensichtlich handelte es sich hier um einen Genpool, der es mit seinen Männern gut meinte.

Hannah warf einen Blick auf die Dienstmarke an seiner Brust. „Du bist auch beim Sheriffs Department in Glenwood?“

„Klar.“ Kyle zog sich einen der gestreiften Ohrensessel heran und setzte sich. „Früher habe ich in San Francisco gearbeitet, aber dann hat Travis mir einen Job hier in Glenwood angeboten. Ich war froh, wieder zu Hause zu sein.“

Travis zuckte mit den Schultern. „Ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie mein kleiner Bruder in der großen Stadt nur Dummheiten macht.“

„Jetzt ist Hannah die Jüngste“, stellte Kyle zum zweiten Mal klar. Offenbar freute ihn das enorm. „Wir haben eine kleine Schwester.“

„So klein fühle ich mich gar nicht“, bemerkte Hannah.

Kyle beugte sich im Sessel vor. „Ja, schon, aber wir sind noch größer. Wenn dich der Kerl da ärgert, musst du uns nur Bescheid sagen und wir kümmern uns um ihn.“

Alle lachten.

„Legt euch nicht mit meinem Schwiegersohn an“, warf Louise ein. „Nick sieht sehr nett aus.“

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