Der Augenblick der Wahrheit

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Blauer Himmel über Portugal, eine weiße Traumvilla direkt am Meer, ein faszinierender Mann - Christinas junges Herz brennt lichterloh für den stolzen Carlos de Ramirez. Aber erwidert er ihre Leidenschaft? Oder ist der reiche Adlige ihr nur dankbar, dass sie seinen kranken kleinen Neffen heilte?


  • Erscheinungstag 06.05.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777555
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Als der Zug in den Bahnhof von Lagos einfuhr, war Christina zwar überwältigt von der herrlichen Landschaft Portugals, aber sie hätte all das gerne für eine erfrischende Dusche und saubere Kleidung eingetauscht. Die Baumwolljeans klebten an ihren Beinen. Die rosa Hemdbluse, die noch glatt und sauber gewesen war, als sie am Morgen von Lissabon startete, sah auch nicht mehr schön aus. Christina fühlte sich verschwitzt und schmutzig.

Sie fand ihren Stolz jetzt ganz dumm; sie hätte das Geld ruhig annehmen sollen, das ihr Bruder ihr für ein Flugticket nach Portugal geschickt hatte!

Doch sie kannte ihre Schwägerin und war fest davon überzeugt, dass Bruce ihr nichts davon gesagt hatte. Bestimmt würde Sheila sofort fragen, womit Christina einen Flug nach Faro finanzieren konnte, wo sie doch offenbar keinerlei Ersparnisse besaß. Christina nahm sich vor, nicht gleich zu Beginn ihres Besuchs Spannungen zwischen ihrem Bruder und seiner Frau auszulösen.

Lagos war die Endstation. Christina schleppte ihre Segeltuchtasche und den reichlich schäbigen kleinen Koffer auf die Plattform. Einige Touristen stiegen ebenfalls aus. Ihre auffallend teure Kleidung, die brandneuen Koffer, bildeten einen krassen Gegensatz zu Christinas Aufmachung. Ihr selbst war es egal, was andere von ihr dachten. Sie schulterte die Tasche, strich ihr langes weizenblondes Haar zurück und griff entschlossen nach ihrem Gepäck.

Hoffentlich gab es überhaupt noch eine Busverbindung! Hilfe suchend wandte sie sich an den nächstbesten Polizisten und versuchte, mit den paar Brocken Portugiesisch, die sie aus einem Touristenheftchen vor ihrer Abreise noch schnell gelernt hatte, herauszubekommen, welchen Bus sie nehmen musste. Vielleicht hatte sie der Mann sogar verstanden, aber seine Antwort hörte sich für ihre Ohren wie Chinesisch an. Jetzt sprach sie doch lieber Englisch, doch der Polizist schüttelte bedauernd den Kopf. Inzwischen standen schon ein paar junge Männer um sie herum, und es wurde Christina peinlich, einen solchen Aufstand zu verursachen. Sie beschloss, doch Bruce’ Geld und ein Taxi zu nehmen.

Sie lächelte etwas gequält und versuchte, zielstrebig auszusehen, als sie ein paar Schritte weiterging. Plötzlich tippte ihr jemand auf die Schulter. Empört drehte sie sich um und war sofort ungeheuer erleichtert, denn unter einem rötlichen Haarschopf blitzten sie ein Paar blaue Augen amüsiert an. Der Mann war bestimmt kein Portugiese!

„Na, was haben Sie denn für Schwierigkeiten?“, fragte er denn auch prompt in ihrer Muttersprache. Nachdem sie ihm die Sachlage erklärt hatte, schaute er hastig zur Uhr.

„Kommen Sie, ich fahre Sie nach Sagres. Ich muss zwar nach Praia da Balieira, aber wenn Sie dort auf mich warten wollen, bringe ich Sie bis vor die Haustür.“

Dankbar stieg sie in seinen Wagen und bald lag Lagos hinter ihnen. Da der Fahrer schwieg und auch sie keine Lust hatte, sich zu unterhalten, lehnte sie sich bequem zurück und sah aus dem Fenster. Wirklich, eine schöne Landschaft. Sie freute sich, hier ganze drei Monate verbringen zu können.

Plötzlich schreckte sie auf. Der Wagen rumpelte über einen Feldweg, an dessen Ende sie ein paar weiß gekalkte Gebäude erblickte.

„Wo sind wir denn?“, fragte sie und fügte entschuldigend hinzu: „Ich war den ganzen Tag unterwegs, deshalb bin ich wohl eingenickt.“

„Das macht nichts. Ich muss da hinten …“, er wies auf die Häuser, „einen Kunden besuchen. Es dauert höchstens eine Stunde.“

„Eine Stunde!“, rief sie entsetzt, denn der Himmel färbte sich bereits rosa. Bald würde die Sonne untergehen. „Könnten Sie mich nicht zur Hauptstraße zurückfahren? Vielleicht ist noch jemand so nett und nimmt mich mit.“

Er sah sie zweifelnd von der Seite an, dann auf die Uhr und wendete schließlich. Als sie wieder Asphalt unter den Reifen hatten, öffnete er die Wagentür, entschuldigte sich, dass er leider keine Zeit mehr hätte, und überließ sie ihrem Schicksal.

Es war noch immer heiß und überhaupt kein Vergnügen, mit dem Gepäck beladen, hier lang zu marschieren. Sie dachte an ihre Schwägerin. Sheila erwartete bestimmt für ihre so genannte Gastfreundschaft Gegenleistungen. Im Geiste sah sich Christina bereits Geschirr spülen, Betten machen und all die anderen Arbeiten erledigen, die in einem kleinen Hotel so anfielen. Doch wie mühsam diese drei Monate auch sein mochten, sie würde sich schon irgendwie Freizeit schaffen. Und außerdem war da ja noch Bruce, ihr heiß geliebter Bruder.

Jetzt kamen ihr drei Autos entgegen, voll mit braun gebrannten Leuten. Wildes Hupen, ein paar Zurufe, dann waren sie vorbei. Christina seufzte. Wenn doch einer mal in der anderen Richtung fahren würde! Die Sonne färbte sich langsam blutrot. Hoffentlich war sie noch vorm Dunkelwerden im Hotel, sonst fand sie womöglich den Weg gar nicht mehr dorthin.

Allmählich hasste sie diese asphaltierte Straße, die durch eine ziemlich öde Gegend, im Vergleich zu der um Lagos herum, führte. Verdrossen stapfte sie weiter. Dann entdeckte sie einen Feldweg mit dem Schild „Sagres“. Entschlossen bog sie von der Fahrstraße ab, in der Hoffnung, dass dieser Weg eine Abkürzung war.

Nach einer Weile wurde die Landschaft etwas freundlicher. Offensichtlich kam sie endlich wieder in eine bewohnte Gegend. Obstbäume standen inmitten lang gestreckter Wiesen, natürlich vor allem Feigenbäume.

Plötzlich hörte Christina hinter sich ein Auto. Sie drehte sich um. Eine riesige schwarze Limousine brauste heran. Christina deutete mit dem Daumen in Fahrtrichtung. Doch der Fahrer nahm keinerlei Notiz von ihr. Das große elegante Auto rauschte vorbei. Christina fielen die seltsamen, an der Seite eingeprägten Insignien auf. Sie war wütend; denn der Wagen war absichtlich nahe an ihr vorbeigefahren, und hatte sie bis an den Rand der Wiese gedrängt.

Endlich kamen die ersten Häuser von Sagres in Sicht. Christinas Erregung nahm zu. Vor fast einem Jahr hatte sie ihren Bruder zuletzt gesehen. Sie hatten sich immer sehr nahe gestanden. Nicht einmal Sheilas Eifersüchteleien und Feindseligkeiten konnten daran etwas ändern.

Bruce hatte in seinem Brief geschrieben, dass das Hotel Inglês oberhalb einer kleinen Bucht liege. Die ganze Gegend sei durchzogen von diesen Buchten und felsigen Vorgebirgen, die bei Ebbe viele Höhlen und Felsenbäder freigäben. Es wäre herrlich, hier zu schwimmen. Er selbst habe in der wunderbar klaren See mit Tauchen angefangen.

Die kleine Siedlung, wo Bruce’ Hotel stand, lag an der Klippenseite, etwas außerhalb von Sagres. Der Beschreibung nach, die Bruce ihr im letzten Brief gegeben hatte, musste sie endlich dort angelangt sein. Es gab einen Marktplatz mit einem steinernen Brunnen. Die Häuser rund um den Marktplatz waren pastellfarben mit weiß gestrichenen Fensterläden und Blumen auf dem Sims. Einige hatten sehr gepflegte Vorgärten, in denen Blumen um die Wette blühten.

Christina fand es sehr malerisch.

Sie lächelte vor sich hin. Das ermunterte eine Gruppe junger Männer, die vorbeiging, ihr anerkennend zuzupfeifen und sie in der Landessprache anzureden.

Abweisend schüttelte sie den Kopf und ging den Weg weiter, der durch eine schmale Gasse zur Seeseite führte. Sie atmete erleichtert auf, als sie plötzlich das Hinweisschild zum Hotel Inglês erblickte.

In Sagres gab es noch nicht viele Hotels, und das Hotel Inglês war kaum mehr als eine gehobene Pension. Aber auch in den goldschimmernden Strahlen der untergehenden Sonne sah es nicht halb so gepflegt aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Abgeblätterte Farbe, Tische standen unordentlich auf dem Rasen, das schmutzige Geschirr war nicht abgeräumt. Und dennoch fühlte sie so etwas wie Stolz, dass Bruce dieses Hotel leitete. Sie lief die flachen Stufen hinauf. Durch den Vorhang aus Plastikperlen kam sie in die kleine Halle.

Hier im Empfang war es schön kühl. Der Boden war mit Kunststofffliesen ausgelegt. Auf dem Pult stand eine Entréeglocke. Christina überlegte einen Moment, bevor sie läutete. Sie wollte sich erst einmal umsehen und mit der Umgebung vertraut machen.

Von der Halle führten hohe Türen in Esszimmer und Aufenthaltsraum. Links lag eine kleine Bar, leer. Nicht einmal ein Barkeeper war da, um eventuell vorbeikommende Gäste zu bedienen. Hier drinnen aber war alles sauber und ordentlich. Christinas Stimmung besserte sich, und sie freute sich jetzt auf Bruce.

Von rechts hörte sie Schritte und die Stimme ihrer Schwägerin: „Sinto muito, menina …“

Sheila brach ab, als sie Christina erkannte. Der Ausdruck ihres Gesichts verwandelte sich von lächelndem Willkommensgruß in unverhüllte Feindseligkeit.

„Christina, um Himmels willen, was machst du denn hier?“

Christina fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut. „Ich – ich komme von Lagos.“

Sheila sah sie erstaunt an. „Aber was willst du hier in Portugal? Ich dachte, du bist auf der Universität!“ Christina umklammerte den Riemen ihrer Reisetasche.

„Das bin ich auch. Aber jetzt sind Sommerferien, Sheila.“

Sheila Ashley machte eine vage Handbewegung. „Vielleicht habe ich meine Frage ungeschickt gestellt oder du hast mich absichtlich falsch verstanden. Selbst wenn Sommerferien sind – warum bist du hier?“

Christinas Unbehagen vertiefte sich. „Willst du damit sagen, dass ihr mich nicht erwartet habt?“ Sie wandte ihre großen grauen Augen nicht vom Gesicht ihrer Schwägerin.

Sheila Ashley war eine attraktive Frau, Anfang dreißig, mit der Haltung eines Fotomodells. Sie war groß und schlank, hatte weiches dunkles, zu einem Knoten geschlungenes Haar. Der leicht verbitterte Zug, den man oft bei verheirateten Frauen bemerkt, fehlte ihr. Wahrscheinlich lag es daran, dass Sheila wirklich nichts erschüttern konnte. Jetzt war sie aber doch unruhig. Sie hatte die Lippen zusammengepresst und zupfte nervös an ihrem Kleid herum.

„Erwartet? Wieso hätten wir dich erwarten sollen! Wir wussten doch gar nicht, dass du Ferien hast.“

Christina wurde ungeduldig. Ihr war jetzt klar, dass Bruce seiner Frau nichts von ihrem Besuch erzählt hatte. Außerdem wäre Sheila die Letzte gewesen, die sie beglückt in ihrem Haus willkommen geheißen hätte. Wie sollte sie jetzt erklären, dass Bruce sie für die Ferien eingeladen hatte – natürlich unter der Voraussetzung, im Hotel mitzuhelfen.

„Für mich war es ganz klar, dass ich hier für ein paar Wochen willkommen bin. Jetzt wo Vater tot ist …“

„Aber du hättest uns wenigstens benachrichtigen können, Christina!“, brauste Sheila auf. „Seit zehn Monaten ist dein Vater tot, und du hättest eigentlich schon längst darüber nachdenken müssen, wie du dich über Wasser hältst!“

Christina zögerte. „Ich dachte, ich könnte dir hier helfen.“

Sheila schaute die Schwägerin erstaunt an. „Du meinst, du willst hier im Hotel arbeiten?“

„Ja.“ Christina sah durch die offene Tür zu den unaufgeräumten Tischen vor der Pension. „Oder brauchst du keine Hilfe?“

Sheila schien mit sich zu kämpfen und nach einem logischen Argument zu suchen, dieses Angebot abzulehnen. „Wir schaffen es auch so. Bruce und ich machen ja nicht alles allein. Julio bedient abends in der Bar, und Maria kocht.“

Christina überlegte, wo Bruce sein konnte. In der Halle stehen und mit Sheila streiten, war alles andere als erfreulich, nach der anstrengenden Reise. Außerdem hatte sie Angst, Sheila würde sie wieder fortschicken, ohne dass sie ihren Bruder überhaupt zu Gesicht bekam.

„Ist Bruce nicht da?“, fragte sie.

„Nein – er ist gerade weggegangen. Sieh mal, Christina, ich will deine Gefühle wirklich nicht verletzen. Aber du bist nicht der Typ, der hier im Hotel arbeiten könnte.“ Sie blickte Christina abschätzend an. „Was kannst du denn schon?“

„Alles, was man mir aufträgt. Zimmer in Ordnung bringen, Betten machen, abwaschen … Aber könnte ich vielleicht eine Tasse Tee haben? Ich bin schrecklich durstig.“

Sheila nahm sich zusammen, am liebsten hätte sie Christina aus dem Haus geworfen. „Bitte“, sagte sie kurz, „komm mit. Unsere Räume liegen hinten.“

Christina ging schweigend hinter ihr her. Durch einen langen, weiß gekalkten Gang kamen sie in ein Zimmer, das auf den von einer Mauer umgebenen Garten führte. Christina überlegte, warum er so vernachlässigt war, eine Wildnis voll bunter Blumen und blühender Sträucher.

Sheila bemerkte Christinas Blicke und sagte unfreundlich: „Wir haben keine Zeit, uns auch noch um den Garten zu kümmern. Bruce muss einmal einen Gärtner bestellen.“

Christina erwartete fast, dass sie hinzufügte: wenn er es sich leisten kann.

Sie stellte Koffer und Tasche in eine Ecke und warf sich in einen niedrigen Korbstuhl. Sheila ging in die kleine Küche. Christina hörte, wie sie einen Kessel mit Wasser füllte und Geschirr zurechtstellte. Daran, wie jede Tasse auf eine Untertasse geknallt wurde, war unschwer Sheilas Wut zu erkennen.

Christina stützte das Kinn in die Hand und seufzte. Wohl hatte sie mit Sheilas Antipathie gerechnet, aber nicht in diesem Maße.

Sheila kam zurück ins Zimmer. „Und wie lange willst du hier bleiben?“, fragte sie unfreundlich.

Christina war bestürzt. „Wieso?“

„Wir sind hier in Sagres und nicht auf der Kings Road. Ich weiß nicht, wie ich es dir erklären soll, aber hier ist alles eben anders. Du würdest ständig auffallen, schon durch dein Benehmen. Die Menschen hier geben sich nicht so – so leger wie in England. Natürlich kann ich das nicht von ganz Portugal behaupten. Aber hier in diesem Nest leben die Leute noch so, wie es seit Jahrhunderten üblich ist.“

Christina runzelte die Stirn. „Das gilt doch wohl nur für die Portugiesen.“

„Nein. Wir wohnen hier, wir verdienen unseren Lebensunterhalt im Dorf. Und deshalb müssen wir uns in jeder Beziehung anpassen.“

Christina schüttelte den Kopf, „Das ist doch nicht dein Ernst?“

„Doch. Und du passt einfach nicht hierher. – Du bist bestimmt ein nettes Mädchen, aber was in England Mode ist, gilt hier als unschicklich.“

Sheilas scharfer Ton reizte Christina. „Was soll das heißen?“

„Also ganz ehrlich, meine Liebe, du wirst in ganz Sagres keine Portugiesin in Jeans treffen, außer beim Segeln.“

„Aber ich bin doch keine Portugiesin, Sheila!“

„Christina, begreif doch endlich! Wenn man in einem fremden Land lebt, nicht als Tourist, meine ich, wird erwartet, dass man sich den Sitten anpasst.“

„Sitten!“ Christina konnte und wollte das alles nicht einsehen. „Also, ganz ehrlich, Sheila, ich glaube einfach nicht, dass es hier niemanden gibt, der so angezogen ist wie ich. Es muss doch nicht jeder, der hierher kommt, gleich seinen Geschmack ändern!“

„Du bist Bruce’ Schwester. Und sobald sich das herumgesprochen hat, erwartet man von dir, dass du dich genauso benimmst wie wir.“

Christina zuckte die Achseln. „Was soll das Herumgerede? Sag doch ganz einfach, dass du mich nicht hier haben willst! Und verlange bitte nicht, dass ich all diesen Quatsch über meine Aufmachung und so schlucke!“

Sheila erstarrte. „Also gut, Christina, wenn du dich so direkt und vulgär ausdrückst, dann bin ich genauso offen. Natürlich will ich dich nicht hier haben. Abgesehen von meinen persönlichen Gefühlen bleibt aber die Situation die gleiche: Du passt einfach nicht hierher!“

„Was ist denn hier los? Christina!“

Es war Bruce’ Stimme. Er stand in der Tür, breit und groß, ganz einfach der alte Bruce. Sie sprang auf, rannte durch das Zimmer und stürzte in seine Arme; auf Sheila nahm sie gar keine Rücksicht.

Bruce hielt sie eine Weile fest, dann schob er sie auf Armeslänge von sich und sah sie an. „Christina! Wieso bist du hier? Warum hast du mich nicht benachrichtigt? Ich hätte dich doch abgeholt! Bist du geflogen?“

Christina schüttelte den Kopf. „Woher sollte ich denn das Geld für eine Flugkarte haben?“, fragte sie und sah ihn fest an, um ihm zu suggerieren, dass sie Schwierigkeiten mit Sheila gehabt hatte. Bruce begriff. Er nickte und sagte: „Na ja, ändern kann man ohnehin nichts mehr, du bist da und damit hat es sich.“

Sheila sah ihn argwöhnisch an und sagte scharf: „Wusstest du, dass Christina kommen wollte, Bruce?“

Bruce zögerte. „Mich überrascht es jedenfalls nicht. Wir sind ihre einzigen Verwandten. Wohin sollte sie sonst gehen? Hier ist ihr Zuhause.“

„Christina ist achtzehn und kein Kind mehr!“

„Was? Schon achtzehn!“ Bruce biss sich auf die Unterlippe. „Und wenn wir noch in Kensington lebten, wäre sie ja auch zu uns gekommen, oder nicht?“

„Vielleicht. Aber wir sind nicht mehr in Kensington, sondern in Sagres. Und dass die Verhältnisse hier anders sind, habe ich ihr gerade erklärt. Christina passt nicht hierher, sie will sich nicht einordnen.“

„Blödsinn!“ Bruce ließ Christina los und kramte in seinen Taschen nach einer Zigarette. „Warum sollte sie denn nicht hierher passen? Sie könnte uns doch helfen und sich damit auch noch Geld für den Aufenthalt verdienen.“

Sheila rauschte an ihm vorbei in die Küche, um den Tee zu holen. Als sie einen Moment später mit dem Tablett zurückkam, merkte man, wie schwer es ihr fiel, sich zu beherrschen.

Bruce hatte sich in einen Sessel neben Christina gesetzt und fragte nach ihrer Arbeit an der Universität. Eine Woche, nachdem Christina ihr Studium begonnen hatte, war der Vater gestorben. Nachdem Bruce geheiratet hatte und seine Frau wenig Familiensinn zeigte, war das Verhältnis zwischen Christina und ihrem verstorbenen Vater besonders innig gewesen. Die Mutter war schon seit sechs Jahren tot. Christina war damals zwölf. Sie erinnerte sich an sie nur noch als gebrechliche, kranke, stets unter Kopfschmerzen leidende Frau, die ihre Tage auf der Couch in der Halle des Hauses in Wimbledon verbrachte.

Im Mai vergangenen Jahres waren Bruce und Sheila aus England weggegangen, um dieses Hotel bei Sagres zu eröffnen. Zuletzt hatte Christina ihren Bruder bei der Beerdigung ihres Vaters gesehen. Während der darauf folgenden Weihnachts- und Osterferien hatte sie eine Wohnung und Arbeit gefunden. Sie konnte sich eben so durchschlagen. Das bisschen Geld, das der Vater hinterlassen hatte, reichte knapp für die Zeit des Semesters aus. Daher war sie so glücklich gewesen, zu Bruce kommen und ihm helfen zu dürfen. Naiverweise hatte sie geglaubt, Sheilas Einstellung ihr gegenüber hätte sich geändert. Nun sah sie aber ein, dass das ein Hirngespinst gewesen war.

Sheila stellte das Tablett auf den niedrigen Tisch vor Bruce, goss Milch in die Tassen und schenkte Tee ein.

„Zucker?“, fragte sie Christina.

„Nein, danke.“

Sheila setzte sich. „Und wo soll sie schlafen?“

Christina sah sie an und sagte: „Sheila, ich glaube, es ist für uns alle das Beste, wenn ich wieder gehe. Du willst mich hier nicht haben, und unter diesen Umständen kann ich wirklich nicht bleiben.“

Sheilas angespannte Züge lockerten sich etwas. „Ich bin froh, dass du einsiehst …“, begann sie, als Bruce sie unterbrach. Seine Stimme klang böse.

„Sheila! Ich verbitte mir, dass du so mit meiner Schwester sprichst! Deine Meinung interessiert mich nicht. Das Haus gehört mir auch, und ich lade ein, wen ich mag. Ist das klar?“

Sheila erstarrte. „Wie redest du eigentlich mit mir? Nur weil es Christina beliebt, bei uns aufzukreuzen …“

„Sie kreuzt hier nicht auf!“, fuhr Bruce sie an. „Ich habe ihr geschrieben und sie eingeladen, ihre Ferien bei uns zu verbringen. Außerdem habe ich ihr auch Geld für eine Flugkarte geschickt. Aber sie hat es nicht benutzt. Wahrscheinlich wollte sie sich mir gegenüber nicht verpflichtet fühlen!“

Sheila sprang auf. „Du hast ihr Geld geschickt?“

„Ja – warum nicht! Sei doch vernünftig!“

„Vernünftig – vernünftig! Ich arbeite mir hier die Finger bis auf die Knochen ab, damit dieses Haus sich rentiert! Und dein Fräulein Schwester schlägt inzwischen ihre Zeit damit tot, an Vorlesungen teilzunehmen und Notizen in ein Collegebuch zu schreiben! Bruce, das Mädchen ist achtzehn! Und es ist höchste Zeit, dass sie sich ihren Lebensunterhalt selbst verdient.“

„Oh – bitte …“, begann Christina hilflos, „… hört doch auf. Ich fahre morgen wieder nach England.“

„Das kommt gar nicht in Frage, überlass das mir!“ Er sah Sheila böse an. „Darf ich dich daran erinnern, dass ich dieses Hotel mit meinem Geld gepachtet habe. Und wenn ich Lust habe, etwas von meinem Geld meiner Schwester zu schicken, dann geht dich das überhaupt nichts an.“

Sheila wurde rot. „Das ist gemein von dir!“

„Findest du nicht, dass das, was du gesagt hast auch gemein war? Wie kannst du meine Schwester als einen Eindringling bezeichnen! Ich wiederhole ausdrücklich – hier ist Christinas Zuhause, solange sie mag!“

Sheila lehnte sich zurück, massierte ihre Stirn und hauchte: „Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen. Ich bin dir völlig egal, Bruce. Hauptsache, deine Schwester muss nicht leiden.“

„Das ist doch Blödsinn, Sheila, es stimmt nicht!“

„Doch – es stimmt.“

Mit Entsetzen stellte Christina fest, dass Tränen des Selbstmitleids über Sheilas blasse Wangen flossen.

Bruce sah seine Schwester hilflos an. Christina stand auf und ging aus dem Zimmer. Sie war froh, als sie draußen war. Die Atmosphäre im Zimmer hätte man mit einem Messer schneiden können, und sie hatte keine Lust mit anzusehen, wie Bruce durch ein paar Tränen weich gemacht wurde.

Draußen war es jetzt merklich dunkler, die Sonne ging im Westen flammend unter. Von den Klippen, auf denen das Hotel stand, führte zur Rechten ein steiler Weg zum Meer. Lichter blinkten durch die Dämmerung. Sie sah auf einen Hafen und eine kleine Mole, an der einige Fischerboote vertäut waren. Es lag etwas Beruhigendes, Heimeliges, über diesem alltäglichen Bild. Sie ging kurz entschlossen den Weg zum Meer hinab und beugte sich über die Kaimauer. Was sollte sie tun? Zum Hotel wollte sie noch nicht zurück. Gewiss würde Bruce Sheila zwingen, sie zu akzeptieren. Aber was wäre das für ein Leben, wenn Sheila dauernd auf ihr herumhackte! Könnte sie das aushalten? Bruce würde es sicher auf die Dauer belasten.

Sie ging den Hafen entlang und sprang über die Mauer hinunter auf den weichen Sand. Langsam schlenderte sie weiter, die Hände in den Hosentaschen vergraben.

Sie kam zu einer Felswand, die eine Bucht von der anderen trennte. Christina fand eine Spalte, breit genug zum Hindurchschlüpfen, und stand auf einem einsamen Strand. Die Felsspalte schien der einzige Zugang zu sein. Sie zog die Sandaletten aus. Warmes Wasser umspülte ihre Zehen, ein erregendes Gefühl. Schade, dass sie nicht auf die Idee gekommen war, Badezeug mitzunehmen. Ein erfrischendes Bad wäre jetzt genau das Richtige.

Ohne lange zu überlegen zog sie sich aus und tauchte mit dem Kopf voran in die Wellen. Das Wasser, noch warm von den Sonnenstrahlen, war eine Wohltat. Sie schwamm ein Stück hinaus. Ihr Haar lag wie Seetang auf dem Wasser.

Irgendwie hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie sah zum Strand. Sie hatte Mühe, die Silhouette gegen den dunkler werdenden Himmel im Schatten der Klippen zu identifizieren: Es war ein Mann. Eine Zigarette oder Zigarre glühte auf und verlöschte wieder.

Christina befand sich in einer prekären Lage. Ihre Kleidung lag am Strand, zwar etwas entfernt von dem Mann, aber nicht weit genug, um schnell hinzulaufen. Sie seufzte: Hatte er sie bemerkt? Oder machte er nur einen Abendspaziergang?

In einer halben Stunde, vielleicht auch eher, würde es dunkel sein. Sie fror jetzt schon. Hoffentlich ging der Fremde bald weiter.

Zu ihrem Entsetzen kam der Mann jedoch über den Strand direkt zum Wasser. Er blieb bei ihren Sachen stehen und betrachtete sie. Er war groß, schlank und dunkelhaarig, die Koteletten reichten fast bis zum Kinn. Das Gesicht konnte sie in dem schwindenden Licht nur undeutlich erkennen. Etwas von Autorität, von Arroganz lag in seinem Auftreten. Wer war dieser Mann? Ein Dorfbewohner kaum – vielleicht ein Tourist? Während sie noch überlegte, wandte er den Kopf in ihre Richtung.

„Tenha a bondade de sair, menina.“ Seine Stimme klang böse. „Vai-se fazendo tarde!“

Christina verstand kein Wort. Aber er schien auf keinen Fall erfreut über ihre Anwesenheit. Fieberhaft versuchte sie, sich an eine passende Antwort zu erinnern.

„Não falo português, Senhor!“, rief sie.

Der Mann warf die Zigarettenkippe fort und kam näher. Jetzt erkannte Christina fast klassische Gesichtszüge und auch den harten Zug um den Mund, über die linke Wange, vom Augenwinkel bis fast zum Kinn, verlief eine zackige Narbe. Gebannt starrte sie darauf. Die fahle Blässe dieser Verunstaltung wurde durch die braune Hautfarbe noch hervorgehoben und gab seinem Gesicht einen fast satanischen Ausdruck.

„Sind Sie Engländerin, menina?“ Er hatte ihren prüfenden Blick bemerkt. „Kommen Sie bitte heraus. Dies ist ein Privatstrand, Sie dürfen hier nicht schwimmen.“

Die Stimme klang sympathisch, die Worte unfreundlich. Er maß sie verächtlich.

„Meine Sachen liegen hinter Ihnen, Senhor!“ Sie war froh, dass sie im Wasser vor seinen kalten abschätzenden Blicken sicher war. „Bitte gehen Sie doch weiter, damit ich herauskommen kann.“

Der Mann kniff seine seltsam hellen Augen zusammen. „Sie haben verbotenes Gelände betreten, menina. Ich werde bleiben und Sie persönlich von meinem Besitz geleiten.“

Christina rümpfte die Nase. „Wie Sie wünschen, Senhor. Aber haben Sie wenigstens die Güte, sich umzudrehen.“

Er runzelte die Stirn. „Heißt das …“ Ungläubig starrte er sie an. „Este bem, menina. Ich gehe zu den Klippen. Aber wagen Sie nicht wegzulaufen.“

Christina schwieg. Er zögerte einen Moment.

„Warten Sie! Habe ich Sie nicht schon einmal gesehen, menina? Heute – am frühen Abend, auf der Straße von Lagos. Sie wollten mitgenommen werden – wie sagt man bei Ihnen – Anhalterin.“

Christina nickte. Plötzlich weiteten sich ihre Augen.

„Sie waren in der Limousine?“

Autor

Anne Mather
<p>Ich habe schon immer gern geschrieben, was nicht heißt, dass ich unbedingt Schriftstellerin werden wollte. Jahrelang tat ich es nur zu meinem Vergnügen, bis mein Mann vorschlug, ich solle doch meine Storys mal zu einem Verlag schicken – und das war’s. Mittlerweile habe ich über 140 Romances verfasst und wundere...
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