Der Duke und das Hausmädchen

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Rose ist nur ein einfaches Hausmädchen – dennoch erregt sie das Interesse des attraktiven Duke of Westmoor. Sie wird seine Geliebte, genießt jede feurige Liebkosung, die er ihr schenkt. Doch sie fragt sich, ob ihre Beziehung jemals eine Chance hat. Würde ein Duke um die Hand eines Hausmädchens anhalten?


  • Erscheinungstag 20.02.2025
  • ISBN / Artikelnummer 9783751536851
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Jake, Duke of Westmoor, betrat die private Suite der Eigentümer im Vitium et Virtus, einem Club, der in London schon lange berühmt und berüchtigt war. Beim Anblick der beiden anderen Gründungsmitglieder, die es sich in den schweren Armsesseln aus Leder rund um den niedrigen Sofatisch bequem gemacht hatten, unterdrückte Jake ein Stöhnen. Einer der beiden freien Sessel war der seine. Auf dem vierten lag eine kleine vergoldete Schatulle.

„Deswegen habt ihr mich rufen lassen?“

Selbst im Sitzen strahlte der braunhaarige und braunäugige Frederick Challenger militärische Strenge aus. Als er Jakes Frage vernahm, richtete er den Oberkörper kerzengerade auf und blickte ihn finster an. „Es mag Eurer erhabenen Aufmerksamkeit entgangen sein, Euer Gnaden, aber heute jährt sich der Tag von Nicholas’ Verschwinden zum sechsten Mal.“

Jake zuckte zusammen, als der Freund ihn so anredete, wie es Fremde taten, seit er den Titel geerbt hatte. An die Bedeutsamkeit des heutigen Tages hatte er tatsächlich nicht gedacht, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Die Verpflichtungen, die mit dem Herzogtum verbunden waren, wuchsen ihm über den Kopf. „Ich dachte, das hätten wir inzwischen hinter uns.“ Zu Hause war er wahrhaftig schon genug mit Erinnerungen an den Verlust geliebter Menschen konfrontiert. Hier im Club, den er als Ort der Zuflucht betrachtete, konnte er das nicht auch noch brauchen.

„Setz dich hin, Westmoor“, forderte Oliver ihn auf, dessen grüne Augen ihn aus dem dunklen Gesicht anfunkelten.

Jake seufzte, tat aber, wie ihm befohlen worden war. Wenn Oliver kein so guter Freund gewesen wäre … Nein, das stimmte nicht. Er wollte diese beiden Männer, seine ältesten Freunde, nicht verärgern. Ohne die beiden hätte er den Verlust seines Vaters und des Bruders wohl nicht überlebt.

Er warf einen Blick auf die vergoldete Schatulle auf dem leeren Sessel. Sie enthielt Nicholas’ Ring, den letzten Gegenstand, der an den vermissten Mitgründer des Vitium et Virtus erinnerte. War Nicholas’ Verschwinden wirklich schon sechs Jahre her? Das war einfach unfassbar. Zu diesem Zeitpunkt waren sie nicht viel mehr als volljährig gewesen. Und jetzt musste man sie nur anschauen. Alle drei näherten sich dem betagten Alter von dreißig. Die dazwischenliegenden Jahre waren wie im Fluge vergangen.

Aber das Entsetzen darüber, eine riesige Blutlache auf der Allee hinter dem Vitium et Virtus mit Nicholas’ Siegelring im Dreck daneben gefunden zu haben, war noch immer so frisch wie am ersten Tag, und daran hatten all die Jahre nichts ändern können.

Oliver beugte sich vor, nahm den Siegelring des vermissten Freundes in die rechte Hand, umschloss ihn mit den Fingern und legte die Faust auf den Tisch.

„Ihr wollt also weiter an diesem Ritual festhalten?“, fragte Jake.

Die beiden anderen starrten ihn an. Widerwillig legte er seine rechte Hand auf die von Oliver. Dessen warme Haut und den Ring auf der Handfläche zu spüren, fühlte sich seltsam an. Zuletzt legte Frederick seine Schwurhand auf die der Freunde.

„In Laster und Tugend“, sagten sie wie die verschworene Gruppe aus Schultagen, die dieses dumme Unternehmen ersonnen hatte. In Laster und Tugend. Selbst nach all der Zeit hörte es sich sonderbar an, dass Nicholas’ Stimme im Chor fehlte.

Jake zog seine Hand weg und ergriff das Glas mit Brandy, das seine Freunde für ihn auf den Tisch gestellt hatten. Er hob es in Richtung des leeren Sessels, um den Toast auszubringen. „Auf unseren abwesenden Freund!“

Die anderen taten es ihm gleich.

„Sei er im Himmel oder in der Hölle …“, fuhr Oliver mit den Worten fort, die sie seit sechs Jahren sprachen, wenn sie sich gemeinsam an Nick erinnerten.

„Oder irgendwo dazwischen“, ergänzte Fred.

„Du sollst wissen, dass wir dir nur Gutes wünschen“, beendeten sie das Ritual gemeinsam. Als ob etwas so Unsinniges den Freund zurückbringen würde.

Sie leerten ihre Gläser und starrten auf den verwaisten Sessel.

„Ich war mir so sicher, dass der alte Halunke noch im selben Jahr wieder auftauchen würde, um uns zu erzählen, dass alles nur ein Scherz war“, sagte Frederick.

„Das wäre ein verdammt schlechter Scherz gewesen, selbst für Nicholas’ Maßstäbe“, erwiderte Oliver, dessen Blick sich vor Schmerz verfinsterte.

Jake wollte nicht daran denken, wie sehr er den Freund vermisste. Es gab zu viele Verluste in seinem Leben – und einer war schlimmer als der andere.

„Es hätte zu ihm gepasst“, erklärte er fast ein wenig zornig. „Nicholas war immer für dumme Ideen zu haben. Nehmen wir nur diesen Club hier.“

Bekümmert rieb er sich über das Kinn und bemerkte die Stoppeln. Hatte er sich heute Morgen nicht rasiert? Doch, ganz sicher.

„Ich habe gehört, dass sein Onkel eine Petition im House of Lords eingereicht hat, damit der Titel für unbesetzt erklärt wird.“ Frederick rollte sein leeres Glas zwischen den Handflächen. „Dieser Bastard kann es gar nicht erwarten, Nicholas zu beerben. Es würde mich nicht wundern, wenn dieser Kerl ihn beseitigt hätte, um sich der Ländereien zu bemächtigen.“

Obgleich Jake innerlich zusammenzuckte, verzog er keine Miene.

Oliver blickte Fred verärgert an. „Lass solche dummen Unterstellungen, Fred.“

Fredericks Ohren röteten sich, als sein Blick auf Jakes Gesicht fiel.

„Verflucht, Jake, du weißt genau, dass mir so etwas in Bezug auf dich nie in den Sinn kommen würde.“

Jake winkte ab. „Natürlich nicht.“ Aber viele andere flüsterten hinter seinem Rücken und hielten ihn für einen Mörder. Und er war leider auch nicht vollkommen unschuldig.

Die Erinnerung an den Abend, an dem sein Vater und sein Bruder starben, holte ihn mit aller Wucht ein. Der Schmerz. Der Schrecken. Die Schuld. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, um die Distanz zu den mitleidigen Blicken seiner Freunde zu vergrößern.

Er verdiente kein Mitgefühl.

Oliver sah ihn stirnrunzelnd an. „Du siehst entsetzlich aus, Jake. Wann hast du dir das letzte Mal die Haare schneiden lassen?“

Er konnte sich nicht daran erinnern. „Das geht dich nichts an.“

Pfiffe und lautes Gejohle drangen durch die dicke Eichentür, die ihren privaten Bereich von den öffentlichen Räumen des Clubs trennte.

Froh über die Ablenkung, hob Jake eine Braue. „Was geht da vor?“

„Heute ist mal wieder die Nacht der freien Partnerwahl“, erläuterte Fred.

Die Tür öffnete sich, und Bell, ein kahlköpfiger ehemaliger Butler, der seit Kurzem abends den reibungslosen Ablauf im Vitium et Virtus überwachte, trat mit aufgeregter Miene ein. „Bitte, meine Herren! Einer von Ihnen muss wieder für Ordnung sorgen. Einer der Gentlemen besteht darauf, fünf Mädchen auf einmal haben zu wollen, und keine von ihnen ist interessiert. Ich habe ihm die Regeln erläutert, aber er zeigt sich völlig uneinsichtig. Mehrere andere Gentlemen haben auf seine Manneskraft gewettet und bestehen ebenfalls darauf.“ Er verschwand wieder durch die Tür, die mit einem leisen Klicken ins Schloss fiel.

„Zur Hölle mit all dem!“, stieß Jake zähneknirschend hervor. „Es wird wirklich Zeit, dass wir den Club ein für alle Mal schließen.“ Mit seiner neuen gesellschaftlichen Position ließ sich das lasterhafte Geschäft auf jeden Fall nicht mehr in Einklang bringen. Er blickte auf den leeren Platz am Tisch. „Wenn dies hier nicht der Ort wäre, der Nicholas vielleicht wieder zurückführt, wäre ich dafür, das Vitium et Virtus ins Reich der Vergangenheit zu verbannen.“ Der Club war Nicholas’ Idee gewesen. Er hatte auch das meiste Startkapital zur Verfügung gestellt, um den Betrieb zu finanzieren.

„Ich gehe.“ Frederick setzte sich seine Maske auf – das zwingende Accessoire für alle, die das Vitium et Virtus betraten.

Auf seinem Weg hinaus warf er Jake einen verständnisvollen Blick zu. „Du hast gerade zu viel anderes um die Ohren, nicht wahr?“

„Ja, das stimmt“, meinte Jake. Er zwang sich zu lächeln. „Gut, dass Nicholas nicht hier ist, sonst hätte er mich wochenlang wegen meiner Dünnhäutigkeit verspottet.“

Da der Tumult hinter der Tür immer deutlicher zu vernehmen war, beschleunigte Fred seine Schritte.

Oliver stand auf. „Nicholas hätte dich auch wegen deiner Erscheinung verspottet. Sieh bitte in den Spiegel, wenn du das nächste Mal an einem vorbeikommst. In den White’s Club würden sie dich so gar nicht mehr hineinlassen.“

Jake kratzte sich mit einem Nagel zwischen den Bartstoppeln. „Gut, dass man im Vitium et Virtus nicht so pingelig ist. Wohin gehst du? Nach Hause?“

Olivers grüne Augen funkelten unternehmungslustig. „Irgendwann schon. Und du?“

Jake schnitt eine Grimasse und beneidete den Freund um sein unbeschwertes Grinsen. Wenn er daran dachte, in das große Stadthaus zurückzukehren, zog sich ihm der Magen zusammen. Er hasste es, es zu betreten, geschweige denn dort Zeit zu verbringen. Dennoch musste er wieder dorthin. Die Pflicht rief. So viel Pflicht. „Bald.“

Er musste bald zurück. Seine Großmutter erwartete, dass er am frühen Morgen mit ihr frühstückte, wenn er ihr schon nicht Gute Nacht gesagt hatte. Und dann würde sie ihn wieder so bekümmert ansehen …

Er ergriff die Karaffe und schenkte sich ein weiteres Glas Brandy ein. Es war die beste Sorte, die man kaufen konnte.

„Willst du reden?“, fragte Oliver besorgt.

Mitleid war noch schlimmer als Selbstvorwürfe. „Mir ist nicht nach Gesellschaft zumute“, antwortete er ausweichend. Wenn man seine Familie zu Grabe getragen hatte, wollte man am liebsten überhaupt niemanden mehr sehen.

Erst als die Tür klickend ins Schloss fiel, wurde ihm bewusst, dass Oliver gegangen war.

Er trank den Brandy in einem Zug, schenkte sich ein weiteres Glas ein und begab sich in das Büro. Derzeit verhalfen ihm nur viel Arbeit und Brandy zu Schlaf.

Am Abend darauf räumte Rose den letzten Teller in den Schrank, zog die Schürze aus und drückte den Rücken durch. Oh, das fühlte sich gut an! Mit kreisenden Bewegungen lockerte sie ihre Schultern.

„Sind Sie mit allem fertig, Rose?“ Charity Parker, eine Frau mittleren Alters und Haushälterin im V&V, wie die Bediensteten den Club nannten, ließ ihren kritischen Blick durch die Küche wandern.

„Ja, Mrs. Parker.“ Rose zögerte und überlegte, ob es doch noch etwas zu tun gab.

Die strenge Miene der Haushälterin milderte sich. „Na, dann gehen Sie schon, und gesellen Sie sich zu Ihren Freundinnen in den Green Room, wenn es unbedingt sein muss. Aber bleiben Sie nicht wieder die ganze Nacht auf, um die Näharbeiten an ihren Kleidern zu verrichten. Und nehmen Sie sich in Acht, Rose. Im Club herrscht noch immer reger Betrieb.“ Sie eilte davon.

Rose lächelte, als ihr die ältere Frau den Rücken zukehrte. Bei Mrs. Parker musste sie immer an das Sprichwort „Hunde, die bellen, beißen nicht“ denken. Und im Grunde hatte die Haushälterin recht. Um diese Uhrzeit waren die Gentlemen, die den Club besuchten, oftmals schon reichlich betrunken. Alles, was Röcke trug, lief dann Gefahr, als geeignete Beute betrachtet zu werden. Selbst jemand, der so schlicht und farblos gekleidet war wie sie, konnte zum Freiwild werden. Unter keinen Umständen wollte sie riskieren, ihre Stelle zu verlieren, indem sie gegen eine der Regeln verstieß. Mrs. Parker und Mr. Bell achteten penibel darauf, dass die Bediensteten bei dem blieben, wofür sie zuständig waren. Sicherlich diente das in erster Linie ihrem Schutz.

Das war einer der Gründe, weshalb sie sich glücklich schätzte, diese Arbeit gefunden zu haben. Die Bezahlung war besser als an allen anderen Orten, an denen sie je beschäftigt gewesen war. Das Beste daran aber war, dass sie nicht im Hause eines Gentlemans leben musste, wie es bei den Anstellungen als Dienstmädchen der Fall gewesen war. Dienstmädchen sahen sich ständig lüsterner Avancen ausgesetzt. Die letzten drei Stellen hatte sie aufgegeben, weil die Männer unter dem jeweiligen Dach ihre Finger nicht von ihr lassen konnten. Sie wusste, welche Gefahr von einem Kuss oder von Umarmungen unter der Bettdecke ausging. Wahrscheinlich war sie selbst die Folge davon.

Nein, es war deutlich besser für sie, jede Nacht in ihr eigenes kleines Zuhause zurückzukehren, so karg und ärmlich es auch war. Selbst wenn eine Familie freundlich und respektvoll mit dem Personal umging, würde sie sich in deren Haus immer wie ein Eindringling vorkommen – wie eine Ausgegrenzte, die von einem Glück umgeben war, das sie selbst nie gekannt hatte. Vielleicht würde sie eines Tages eine eigene Familie haben. Das war eine zu verlockende Vorstellung …

Genug der Tagträumerei! Wenn sie für die Mädchen noch die eine oder andere Näharbeit verrichten wollte, bevor sie nach Hause ging, musste sie sich beeilen.

Unbemerkt schlüpfte sie in den Green Room. Natürlich war das Zimmer nicht vollständig grün. Es gab auch Weiß- und Blautöne und eine lange Reihe mit Spiegeln. Das langgestreckte Zimmer lag im Untergeschoss auf der Rückseite des Hauses. Hier wechselten die Mädchen, die im V&V auftraten, ihre Kostüme, probten und ruhten sich aus, wenn sie nicht auf der Bühne – oder wo auch immer – sein mussten.

Glücklicherweise gab es im Green Room keine unanständigen Wandmalereien und fragwürdigen Statuen wie im Rest des Hauses. Am Anfang hatte Rose beim Putzen gar nicht gewusst, wo sie hinsehen sollte. Mit der Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, sogar daran, die anzüglichen Kunstwerke und Gemälde abzustauben.

Mit dem Green Room war es eine ganz andere Sache. Sie liebte dieses Zimmer, das meist von fröhlichem Geschnatter, Gelächter und Gesang erfüllt war und in dem die Mädchen in ihren leuchtend farbigen Kostümen herumwirbelten.

Nichts erinnerte hier an die kargen kalten Räume des Findelhauses, in dem sie aufgewachsen war, oder an die düsteren Zimmer in den Untergeschossen, in denen sie gearbeitet hatte, seit sie in die Welt hinausgegangen war. An diesen Orten hatte jeder Angst vor dem eigenen Schatten gehabt, und alle hatten nur im Flüsterton miteinander geredet.

Sie ließ sich auf das alte, mit Rosshaar bespannte Sofa sinken und holte ihr kleines Nähkästchen hervor, das sie im Waisenhaus angefertigt hatte. Die Näh- und Stecknadeln, die sich darin befanden, waren ihr kostbarster Besitz. Sie prüfte die schadhaften Sachen, die sich in dem Korb neben dem Sofa befanden, und ergriff ein Paar löchrige Strümpfe. Sie half den Mädchen gern und war dankbar, wenn sie ihr für ihre Mühe den einen oder anderen Penny zusteckten.

Auf dem Sofa sitzend, konnte sie das Treiben im Zimmer beobachten und ein wenig ihre schmerzenden Füße ausruhen, bevor sie sich auf den Heimweg machte. Seufzend zog sie die Schnürstiefel aus und rieb sich einen Moment die wunden Fußsohlen. Dann begann sie, die Löcher zu stopfen.

„Isch ’atte ge’offt, dass du kommst.“ Flo, deren wahrer Name Fleurette war, ließ sich neben sie auf das Sofa plumpsen. Ihre goldblonden Locken waren zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt, bei der sich Rose viel Mühe gegeben hatte.

Flo war die Erste gewesen, die Rose beim Frisieren um Hilfe gebeten hatte. Als die anderen Sängerinnen und Tänzerinnen das Ergebnis erblickt hatten, waren sie ebenfalls zu Rose gekommen. Sie tat, was sie konnte, aber Mrs. Parker gab ihr dafür im Verlaufe eines Abends immer nur ein paar Minuten frei. Dennoch legte Rose Wert darauf, den Mädchen zu helfen. Bei dieser Tätigkeit konnte sie davon träumen, eines Tages die Zofe einer Lady, eine echte Damenschneiderin oder gar eine Modistin zu werden.

Flo ließ ein lautes Gähnen vernehmen und brach dann in Gelächter aus. „Isch bin so müde, dass isch ’ier auf der Stelle einschlafen könnte.“

Rose hatte Flo vom ersten Moment an gemocht, und offensichtlich beruhte die Sympathie auf Gegenseitigkeit. Erstmals im Leben hatte Rose das Gefühl, eine echte Freundin zu haben.

Im Waisenhaus waren Freundschaften mit Argwohn betrachtet worden. Schließlich waren sie nicht zum Vergnügen dort. Sie waren allesamt ungewollte Kinder und hatten zu lernen, wie sie sich als Erwachsene irgendwie nützlich machen konnten.

„Kann ich dir bei etwas behilflich sein?“, fragte sie, nachdem Flo und sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten.

Die Freundin blickte sie gequält an. „Isch ’abe ’eute bei meinem ersten Auftritt das neue rote Kleid getragen und bin mit dem Absatz im Saum ’ängen geblieben. Der alte Besen wird misch büßen lassen, wenn sie sieht, dass isch es schon jetzt beschädigt ’abe.“

Sie wirkte so niedergeschlagen, dass Rose sie am liebsten tröstend in den Arm genommen hätte. „Gib mir das Kleid. Ich bringe das in Ordnung und kürze es ein wenig, damit du nicht noch einmal über den Saum stolperst.“

„Isch fühle misch schrecklisch, disch darum zu bitten. Du bist schon seit so vielen Stunden ’ier …“

„Und du brauchst es für morgen. Es freut mich, wenn ich dir einen Gefallen erweisen kann.“

„Isch werde disch dafür bezahlen.“

„Nein! Wofür hat man denn Freunde?“

Flo warf ihr einen spöttischen Blick zu. „Ein paar Kupfermünzen musst du wenigstens dafür annehmen. Wenn es nach dem alten Besen ginge, müsste isch weit mehr für mein Missgeschick zahlen.“ Alle Mädchen nannten die Aufseherin der Garderobe den „alten Besen“.

„Es ist nicht gerecht, dass sie euch Laufmaschen und derlei Beschädigungen vom Lohn abziehen“, sagte Rose. „Die Kleider sind nicht neu, wenn ihr sie bekommt. Mach dir keine Sorgen. Ich erledige das, bevor ich nach Hause gehe.“

Flo beugte sich vor und gab Rose einen Kuss auf die linke Wange. „Du bist ein Schatz! Isch werde es gleisch ’olen. Und biete bloß nischt an, umsonst das Kleid von jemand anderem zu nähen oder die Mädchen für nichts zu frisieren.“

„Ich mache das, weil es mir Freude bereitet“, beteuerte sie, während Flo aufstand. Außerdem verlieh es ihr die Hoffnung, eines Tages mehr als ein Küchenmädchen zu sein. Dass die Leute sie nicht mehr verächtlich ansahen, weil sie den Boden scheuerte und das Geschirr abwusch und vermutlich ein unehelicher Bastard war, den man mit Füßen treten konnte, war ihr größter Traum.

Innerhalb weniger Augenblicke war Flo mit einem scharlachroten Kleid zurück, dessen Ausschnitt und Saum mit bezaubernden Seidenrosen geschmückt waren.

Behutsam ließ Rose den weichen Stoff durch die Finger gleiten, darauf achtend, dass er sich nicht an ihrer von der Arbeit rauen Haut und den eingerissenen Nägeln verfing. „Lass es mir einfach da. Ich bringe das in kürzester Zeit in Ordnung.“

„Flo!“, rief eine der anderen Tänzerinnen. „Dein Gentleman wartet draußen auf dich.“

Die Miene der Freundin verfinsterte sich, doch dann lächelte sie keck in Roses Richtung. „Seine Lordschaft möschte misch zum Dinner ausführen.“ Geziert schreitend entfernte sie sich.

Seine Lordschaft, wie Flo ihn nannte, war ihr aristokratischer Verehrer. Rose bezweifelte manchmal, ob er die Freundin gut behandelte. Schon ein paar Mal hatte sie bei Flo auffällige blaue und rote Flecke bemerkt. Wenn sie sich besorgt danach erkundigte, behauptete die Freundin immer nur hastig, bloß hingefallen zu sein. Den Tänzerinnen war es erlaubt, mit den Mitgliedern des Clubs auszugehen, solange sie sich diskret verhielten und weder nach Namen fragten noch anderen gegenüber Namen nannten. Flo lebte in der Hoffnung, ihr Liebhaber würde um ihre Hand anhalten. Rose hatte sie eindringlich vor dem Mann gewarnt, nachdem sie die Verletzungen am Körper der Freundin gesehen hatte.

Im Gegenzug hatte Flo ihr – nur für alle Fälle – beigebracht, wie sich ungewollte Kinder verhindern ließen.

Rose zog sich die dünnen Baumwollhandschuhe über, die sie benutzte, um die Seidenstoffe vor ihrer vom vielen Putzen und Spülen aufgerauten Haut zu schützen, und begab sich an die Arbeit.

Nach und nach verebbte der Lärm um sie herum, und es wurde ganz still. In dem Wandleuchter über ihr brannten die letzten Kerzen. Eine Uhr schlug zur Stunde.

Vier Uhr morgens! Schon? Die Ausbesserungsarbeiten hatten weit mehr Zeit in Anspruch genommen, als sie gedacht hatte, weil sie noch drei weitere Risse am Seitensaum des hauchdünnen Kleides entdeckt hatte und ein paar der Seidenrosen nur noch lose befestigt gewesen waren.

Sie schnitt den Faden ab und hielt das Kleid gegen das Licht. Es wirkte so feminin und farbenprächtig wie die Kleider, die von den aristokratischen Damen getragen wurden, die hin und wieder den Club aufsuchten.

Wie es sich wohl anfühlte, eine dieser Ladys zu sein und ein bequemes Leben im Luxus zu führen? Natürlich beneidete sie diese Frauen nicht um die Langeweile, die nach Flos Meinung der Grund für ihre Besuche im V&V war. Der Reiz, Hunderte von Pfund an den Spieltischen zu gewinnen oder zu verlieren oder eine der jungen Clubmitglieder zu einem intimen Stelldichein zu verführen, schien diese Frauen anzulocken.

Sie stand auf und rieb sich über den immer schmerzenden Rücken. Es war höchste Zeit, nach Hause zu gehen, oder sie würde gar keinen Schlaf mehr finden. Sie legte sich das Kleid über den Arm, um es zu Flos Truhe zu bringen, die randvoll mit Kleidern gefüllt war. Ganz oben lag eine Halbmaske, die mit roten Pailletten besetzt war und farblich genau zu dem Kleid passte. Während Rose die Maske beiseitelegte, erblickte sie sich selbst in einem der Spiegel – erschöpft, trostlos und grau.

Sie schnitt eine Grimasse vor dem Spiegelbild, hielt sich das Kleid vor und hob abwechselnd die Füße, sodass der wundervolle rote Stoff ihr über die Knöchel glitt. Doch als sie sich zur Seite drehte, verdarb ihr hässliches braunes Kleid die schöne Illusion. Sie betrachtete den Ausschnitt des roten Seidenkleids. War er nicht viel zu tief? Sollte sie ihn lieber verkleinern? Das V&V war zwar für Ausschweifungen und Sittenlosigkeit bekannt, aber Flo war Sängerin und keine Kurtisane.

Sollte sie es besser anprobieren? Flo zuliebe natürlich. Sie schüttelte den Kopf. Wem wollte sie etwas vormachen? Sie wollte sehen, wie sie in einem solchen Kleid aussah.

Sie riss sich das hässliche braune Kleid vom Leib und zog sich den hauchdünnen Seidenstoff über den Kopf. Im Spiegel erblickte sie die zauberhafte Verwandlung. Ihre Augen funkelten wie der schimmernde Stoff, und der Schnitt betonte ihre wohlgeformte Figur. Wenn sie nicht gewusst hätte, dass sie nur eine graue Maus war, hätte sie sich fast hübsch gefunden.

Die Dienstmädchenhaube musste fort. Aber mit dem strengen Haarknoten machte das auch keinen großen Unterschied. Sie entfernte die Haarnadeln und ließ das Haar offen über die Schultern fallen. Dann imitierte sie Flos keckes Lächeln und band sich die Maske um.

Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her und betrachtete sich. Besser. Viel besser! Ohne jeden Zweifel hätte man sie jetzt für eine der Tänzerinnen oder Sängerinnen halten können. Und wenn sie ihre ganze Einbildungskraft bemühte, konnte man sie vielleicht sogar für eine Lady halten. Am Leibe getragen, wirkte der Ausschnitt nicht so tief, wie sie befürchtet hatte.

Mit halb geschlossenen Augen drehte sie sich um die eigene Achse und summte eine der Melodien, die sie früher am Abend aus dem Ballsaal gehört hatte. Sie stellte sich vor, mit einem besonders attraktiven Gentleman Walzer zu tanzen – einem Mann, der in Wahrheit keine Ahnung hatte, dass sie überhaupt existierte.

Jetzt spürte sie weder die wunden Füße noch den schmerzenden Rücken.

An diesem Abend hatte Jake seiner Großmutter eine gute Nacht gewünscht und noch ein paar Stunden an seinem Schreibtisch in der Bibliothek gearbeitet, bevor er in den Club aufgebrochen war. Vor der Eingangstür des Vitium et Virtus stand ein Landauer, dessen Kutscher wahrscheinlich auf einen der letzten aristokratischen Nachtschwärmer wartete. Jake umrundete das Gebäude und ging zu dem Seiteneingang, der den Eigentümern und den Angestellten vorbehalten war.

Ben Snyder, der den Eingang bewachte, verbeugte sich vor ihm. „Guten Abend, Euer Gnaden.“ Er nahm Jake den Umhang und den Hut ab und reichte ihm eine Maske.

Wenn Jake die förmliche Anrede hörte, wollte er sich jedes Mal nach seinem Vater umdrehen, bevor ihm wieder bewusst wurde, dass er gemeint war. Er holte tief Luft und dachte wieder an den Unfall, bei dem sein Vater und sein Bruder umgekommen waren. Deswegen sprach man jetzt ihn als Euer Gnaden an.

Aus demselben Grund war er jetzt hier und lag nicht in seinem Bett im eleganten Stadthaus. Nur im Club gelang es ihm, ein paar Minuten Schlaf zu finden. Wenn er sich in der gemütlichen Eigner-Suite bei einem Brandy oder zweien noch ein bisschen mit den Geschäftsbüchern abplagte, würde er hoffentlich in Morpheus’ Arme sinken.

„Ist noch jemand oben?“, erkundigte er sich bei Snyder.

„Ja, ein paar wenige, Euer Gnaden“, antwortete der Mann. „Im Spielzimmer und oben in den Schlafzimmern. Möchten Sie, dass ich sie vertreibe?“

„Nein, das ist mir gleichgültig. Ich möchte bloß von niemandem gestört werden, verstanden?“

„Ja, Euer Gnaden.“

Jake schritt den verlassenen Gang entlang, vorbei an den vielen erotischen Statuen, die ihn anzüglich anzugrinsen schienen. Er brauchte dringend einen Brandy.

Er entschied sich für die Dienstbotentreppe. Auf diese Weise würde er auf die andere Seite des Hauses gelangen und konnte die Hintertreppe zur privaten Suite nach oben nehmen. So konnte er vermeiden, einem der letzten Gäste zu begegnen.

Er hörte ein leises Summen und blieb vor dem Green Room stehen. Er runzelte die Stirn. Die Tänzerinnen und Sängerinnen mussten um diese Uhrzeit eigentlich alle längst fort sein. Ganz gewiss sollten sie keinen Gentleman mit hierhernehmen.

Sicherheitshalber legte er die Maske an und öffnete einen Spaltbreit die Tür, um unbemerkt zu erkunden, was im Inneren des großen Zimmers vor sich ging.

Eine kleine Frau mit einer glitzernden roten Maske sang allein vor sich hin. Sie trug ein scharlachrotes Kleid und drehte sich anmutig vor den Spiegeln, die ihre sinnlichen Kurven reflektierten. Ihr fröhliches Lächeln war nicht das künstliche einer Kurtisane oder einer abgestumpften Witwe und auch nicht das einer gefallsüchtigen Debütantin. Dieses Lächeln zeigte reine Freude.

Ihr Vergnügen darüber, summend vor dem Spiegel zu tanzen, und die Leichtigkeit, die davon ausging, heiterten ihn auf. Auch er begann zu lächeln und verspürte plötzlich den Wunsch, mit der Unbekannten durch das Zimmer zu tanzen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Rose einen Schatten. Sie drehte sich um und rang nach Luft. Er war es! Der Duke. Obgleich er wie gewöhnlich eine Halbmaske trug, hätte sie ihn wegen seiner Größe, der breiten Schultern und der eindrucksvollen Ausstrahlung immer und überall erkannt. An seinem dunklen Stoppelbart, dem entschiedenen Kinn und dem sinnlichen Mund …

Viel zu oft hatte sie bei der Arbeit innegehalten, um ihn bewundernd zu betrachten, wenn er an ihr vorüberging. Er war unglaublich gut aussehend, wirkte aber kühl und unnahbar. Ein echter Duke.

Oder so, wie man sich einen Duke eben vorstellte.

Obgleich er einen so stolzen Eindruck machte, war ihr von Anfang an eine Traurigkeit an ihm aufgefallen. Es war, als ob ihn ein schwerer Kummer niederdrückte, und sie hätte ihn am liebsten getröstet. Das war natürlich eine törichte Vorstellung! Jemand, der gesellschaftlich so tief stand wie sie, konnte einem Mann wie ihm keinen Trost anbieten.

Doch wie oft hatte sie davon geträumt, er würde sie mit seinen starken Armen umschließen, während sie den Kopf gegen seine Brust lehnte. Allein die Vorstellung ließ sie ganz schwach werden.

Nie zuvor hatte sie sich so zu jemandem hingezogen gefühlt, obgleich sie wusste, dass es nicht ratsam war, sich von einem Mann in Verwirrung stürzen zu lassen. Glücklicherweise handelte es sich nur um Fantastereien – ein Mann, der durch ihre Träume marschierte wie ein Ritter in glänzender Rüstung. Solange er dort blieb, in ihren Träumen, konnte ihr nichts geschehen.

Aber dies war kein Traum. Diese Erkenntnis war erschreckend. Sie hätte um diese Uhrzeit nicht hier sein sollen. Es verstieß gegen die Regeln. Sie blickte sich Hilfe suchend nach einem Fluchtweg um. Aber er stand zwischen ihr und der Tür und näherte sich langsam, während er sie mit seinen leuchtend blauen Augen anblickte.

Aus seiner Miene ließ sich keine Verärgerung ablesen. In der Tat schenkte er ihr ein freundliches Lächeln, das sie so sehr verzauberte, dass sie sich nicht von der Stelle rührte. Sie seufzte erleichtert.

Nun strahlte er sie geradezu an und verbeugte sich. „Bitte verzeihen Sie mir, Mylady. Ich wollte Sie keinesfalls erschrecken.“

Mylady? Ihr Herz begann, auf seltsame Weise zu flattern. Wenn sie doch nur seine Lady gewesen wäre! Sie schüttelte den Kopf. „Ich war nur überrascht.“

Sie hatte ihm in der Sprechweise geantwortet, die sie bei den Aristokraten aufgeschnappt hatte, während sie unbeachtet in deren Gegenwart den Kamin reinigte und die Böden schrubbte.

„Ich habe Sie bei etwas unterbrochen“, sagte er und legte fragend den Kopf zur Seite.

„Nur bei einer Torheit“, entgegnete sie und sah zögerlich zu ihm auf. Du liebe Güte! Er war noch größer und muskulöser, als sie gedacht hatte. Aus der Nähe betrachtet, war er sogar noch attraktiver. Der Duft seines Eau de Cologne füllte ihre Lungen, und ihr wurde ganz schwindelig zumute. „Ich sollte besser gehen.“

„Aber doch nicht, bevor Sie mir die Ehre erweisen, mit mir zu tanzen?“, fragte er mit tiefer Stimme, und seine sonst so reserviert wirkenden Augen funkelten verwegen.

Tanzen? Mit einem Duke? „Ich kann nicht“, entgegnete sie leise.

Er lachte in sich hinein. „Ganz bestimmt können Sie das. Sie tanzen ebenso wundervoll, wie Sie summen.“

Die Hitze stieg ihr ins Gesicht, denn als sie seine Blicke spürte, kam sie sich in dem aufreizenden Kleid plötzlich fast nackt vor. Ein Duke flirtete mit ihr, und sie hätte ihn am liebsten noch ermutigt, damit fortzufahren.

Du musst Nein sagen. Doch die Gelegenheit, ein Mal mit dem Mann ihrer Träume zu tanzen, würde sich sonst nie wieder ergeben.

Was konnte ein einziger Tanz schon schaden? Erstmals seit sie hier arbeitete, sah sie den Duke lächeln. Was sprach dagegen, wenn es ihm Freude bereitete und ihr ebenfalls? Zweifellos würde sie davon noch ihr ganzes Leben lang träumen und vielleicht eines Tages in ferner Zukunft ihren Enkelkindern erzählen.

Die Nacht, in der die alte Großmutter mit einem Duke tanzte. Bei dieser Vorstellung musste sie lächeln.

„Sie wollen es doch auch“, sagte er und streckte die rechte Hand aus.

Einen Moment später tanzte sie in seinen Armen.

Der verträumte Blick ihrer bezaubernden grünen Augen ließ Jakes Herz höher schlagen. Diese Augen wirkten wie durchsichtig, als sie ihn ansah, als ob dies alles nur ein Traum wäre. Zu seiner Überraschung stimmten nicht nur ihre Tanzschritte perfekt überein, sie harmonierten, als ob sie seit vielen Jahren Partner auf dem Parkett wären.

Seit Monaten hatte ihn alles, was um ihn herum geschah, kaltgelassen. Das Leben hatte nur noch aus einer endlosen Abfolge von Pflichterfüllungen bestanden. Aber jetzt, hier, mit dieser bezaubernden Schönheit, spürte er wieder, dass Blut durch seine Adern floss. Es war, als ob er einen eisigen dunklen Ort verlassen hätte und ihm der Zutritt in ein Land des Lichts und der Wärme gewährt würde.

Ihr Licht. Ihre Wärme. Er sonnte sich darin, auch wenn er wusste, dass er eine solche Begegnung nicht verdient hatte.

Am Ende des Zimmers wirbelte er sie herum und blickte ihr ins Gesicht. Wie sah sie unter der Halbmaske aus? Ihre Lippen waren prall und sinnlich, die Augen verträumt, das Haar war wie ein Fluss aus goldenen Wellen. Kleine Ringellöckchen umrahmten ihre leicht geröteten Wangen.

Sie verlangsamten ihre Schritte, und ihre Blicke trafen sich. Dann sah sie auf seinen Mund.

Mit all der verwegenen Leidenschaft, die er in den letzten Monaten im Zaum gehalten hatte, zog er sie fest an sich. Er fürchtete schon, sie würde sich losreißen, doch sie lächelte und schmiegte sich an ihn.

Er wollte ihr nur einen kurzen Kuss geben, um sich bei ihr für den hellen Moment zu bedanken, der Licht in die Finsternis seiner Welt gebracht hatte. Doch als sie die üppigen Lippen auf seinen Mund zubewegte, verlor er sich ganz in einem leidenschaftlichen Kuss.

Immer hemmungsloser erkundete er ihre weichen Lippen, während er den warmen Atem ihrer Seufzer auf den Wangen spürte. Ein zaghafter Vorstoß ihrer Zunge entfachte ein Verlangen in ihm, das er kaum noch zu zügeln wusste.

Er stöhnte und zog sie noch dichter an sich. Lange hatte er schon nicht mehr eine derartig überwältigende Lust empfunden.

Sie keuchte auf und machte sich los. Entsetzt sah sie ihn an. Seine offenkundige Erregung, die sie durch die dünne Seide gespürt haben musste, hatte sie aus ihrem Traum gerissen. Er verfluchte sich für seine Dummheit. Ganz verloren in seinen Empfindungen, hatte er die Spielregeln verletzt. Dränge eine Frau niemals zu etwas, schon gar nicht eine, die du nicht kennst.

Er trat einen Schritt zurück und verbeugte sich. „Ich bitte Sie um Verzeihung.“

Sie legte sich die Fingerspitzen der rechten Hand auf die Lippen, sodass ihr Mund bedeckt war.

„Ich muss gehen“, sagte sie atemlos und blickte zur Tür. „Ich sollte nicht hier sein.“

Dann war sie also eine verheiratete Frau, die sich heimlich für einen Abend im Club vergnügt hatte. Eine seltsame Enttäuschung erfasste ihn. Weshalb? Seine Freunde hatten ihm empfohlen, sich eine Geliebte zu nehmen, die ihn von seinem Trübsinn befreite. Danach würde er ohnehin nach einer Duchess suchen müssen.

„Erlauben Sie mir, dass ich Sie zu Ihrer Kutsche geleite?“

Sie blickte ihn verwundert an. „Meine Kutsche?“ Sie schluckte. „Oh ja, meine Kutsche. Danke, aber ich brauche keine Begleitung, Euer Gnaden.“

Er fluchte innerlich. Sie wusste, wer er war. Nach all dem, was passiert war, kannte ihn vermutlich jeder in London. Kein Wunder, dass sie nicht mit ihm gesehen werden wollte. Einen Ort wie diesen an seinem Arm zu verlassen, konnte üble Gerüchte zur Folge haben. „Wie Sie wünschen“, meinte er frostig.

Sie lächelte ihn schüchtern an. „Vielen Dank, dass Sie mit mir getanzt haben.“

Dieses zaghafte Lächeln und die seltsame Sprechweise, die er nicht zuordnen konnte, berührten ihn. „Es war mir ein Vergnügen. Darf ich Sie wiedersehen?“ Er erstarrte, verwundert über seine eigenen Worte. Dennoch wartete er hoffnungsvoll auf ihre Antwort.

„Mich?“, fragte sie mit piepsender Stimme.

Ihre Überraschung brachte ihn zum Lachen. Er ergriff ihre rechte Hand, die ein Baumwollhandschuh bedeckte, und küsste ihr Handgelenk. „Natürlich Sie.“ Er konnte nicht leugnen, dass er sie begehrte. Da er seit dem Unfall kein Verlangen mehr verspürt hatte, war er geradezu erleichtert darüber. „Ich würde Sie gern näher kennenlernen, wenn Ihnen das recht ist.“

Mit eigenartigem Herzklopfen fieberte er nahezu ihrer Erwiderung entgegen. Große Güte! Er fühlte sich wie ein unerfahrener Schuljunge – damit rechnend, eine Abfuhr zu erhalten, aber auch voller Hoffnung.

Sie blickte sich unsicher um, als ob sie befürchtete, jemand würde sich von hinten auf sie stürzen. „Ich kann nicht.“

In ihrem Tonfall lag ein so aufrichtiges Bedauern, dass er nachhakte. „Sie können, wenn Sie es wirklich wollen.“

„Es ist nicht möglich.“

Er hatte nicht mit den schönsten Frauen Londons geflirtet und mit ihnen das Bett geteilt, ohne den einen oder anderen Trick gelernt zu haben. „Es wird unser Geheimnis sein. Niemand wird je davon erfahren. Ich gebe Ihnen mein Wort.“ Er strich ihr mit dem Zeigefinger übers Kinn und berührte ihre Unterlippe, die noch von seinem Kuss gerötet war. „Bitte.“

„Ich kann nicht riskieren …“

„Sie riskieren nichts. Ich möchte nur mit Ihnen reden, das ist alles. Hinter dem Club gibt es einen Garten. Dort ist es ganz ruhig. Die Fenster auf dieser Seite sind alle zugenagelt.“ Die anderen Eigentümer und er hatten von Anfang an sicherstellen wollen, dass weder Voyeure noch neugierige Zeitungsschreiberlinge Einblick nehmen konnten. „Treffen Sie mich morgen Abend um sieben Uhr dort. Ich werde die Gartentür an der Seite für sie geöffnet lassen.“

Sie blickte ihn verwirrt an. „Ich sollte das besser nicht tun.“

Er lächelte. „Sie kamen hierher, obwohl Sie das vermutlich nicht sollten.“

Sie ließ die Schultern sinken, und er verspürte einen kleinen Triumph, der jedoch durch ihre Schuldgefühle geschmälert wurde.

„Wenn ich kann …“

Wieder diese vorsichtige Sprechweise. Vielleicht war sie eine Ausländerin, die wie eine Engländerin klingen wollte, auch wenn er keinen Akzent bemerkt hatte. „Wenn Sie morgen nicht kommen können, werde ich am nächsten Abend auf sie warten und dann am nächsten. Bis Sie kommen.“

„Ich weiß nicht.“ Mit diesen Worten wandte sie sich ab und floh aus dem Zimmer.

Sie würde kommen. Er war sich sicher. Er hatte die Sehnsucht in diesen unglaublichen frühlingsgrünen Augen gesehen.

Gemächlichen Schritts folgte er ihr, um sie nicht zu erschrecken. Als er die Eingangstür erreichte und sich umsah, war ihre Kutsche bereits verschwunden.

„Kann ich etwas für Sie tun, Euer Gnaden?“, fragte Snyder.

Jake schenkte ihm ein fröhliches Lächeln. „Nichts, vielen Dank, mein Guter.“

Der Mann blickte ihn aus großen Augen an.

Leise vor sich hin summend entfernte sich Jake.

2. KAPITEL

Hier bist du!“

Rose drehte sich erschrocken um. Wasser spritzte auf den Boden. Das war nicht die tiefe Tonlage des Mannes, dessen Erscheinen sie fürchtete, sondern Flos helle und ein wenig schrille Stimme.

Sie lehnte sich gegen den Rand der Spüle. „Oh, du bist es.“

Flo verschränkte die Arme vor der Brust. „Wer soll es denn sonst sein?“ Besorgt runzelte sie die Stirn. „Was ist passiert?“

„Nichts.“ Rose schluckte. Seit Stunden versuchte sie, sich abzulenken, indem sie noch härter schuftete als sonst. „Ich hatte zusätzliche Arbeiten zu verrichten“, murmelte sie. „Ich konnte nicht weg. Vielleicht sehen wir uns später.“

Flo verengte die Augen zu Schlitzen. „Oh nein! Du willst disch nur wieder davonschleischen.“ Sie packte Rose am rechten Handgelenk und zog sie in die Speisekammer. „Erzähl mir, was geschehen ist. Du siehst aus, als ob jemand gestorben wäre.“

Rose musste schwer schlucken, als sie an den nächtlichen Tanz mit dem Duke of Westmoor dachte. Die Erinnerung an seinen Kuss ließ sie wohlig erschaudern. Er war einfach wundervoll gewesen – so attraktiv, trotz seiner zerzausten Haare, dem Stoppelkinn und der zerknitterten Kleidung. Er hatte ausgesehen, als ob er jemanden bräuchte, der sich um ihn kümmerte.

Aber seine Küsse waren einfach himmlisch gewesen! Sie hatte sich nie vorstellen können, dass ein Kuss so schön sein konnte. Nachts im Bett hatte sie an nichts anderes denken können.

Wie hatte sie nur zulassen können, dass er sie küsste? Sie wusste doch, dass er einer der Besitzer des Clubs war, dass er weit über ihr stand und nicht weniger als ein echter Duke war. Schamlos hatte sie sich seinem Kuss hingegeben. Und was noch schlimmer war: Sie sehnte sich danach, ihn wieder zu küssen.

Und wenn sie ihn traf, war das sogar möglich.

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