DER GEHEIMNISVOLLE GAST

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Es ziemt sich nicht für eine Dame, einen unbekannten Mann mit ins Haus zu nehmen! Grace denkt es sofort, als sie einen geheimnisvollen Fremden reglos im Straßengraben findet. Aber weil ihr Herz sie so drängt, nimmt sie ihn als Gast auf - ohne zu ahnen, dass es sich bei ihm um den berüchtigten Verführer Elliot handelt …


  • Erscheinungstag 16.12.2013
  • ISBN / Artikelnummer 9783954467754
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

Margaret Moore

Der geheimnisvolle Gast

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Claudia Wuttke (v.l.S.d.P.)

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

©

1997 by Margaret Wilkins
Originaltitel: „The Rogue’s Return“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
Deutsche Erstausgabe 1998 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,
in der Reihe HISTORICAL, Band 110
Übersetzung: Hartmut R. Zeidler

CORA Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

ROMANA, BIANCA, BACCARA, TIFFANY, MYSTERY, MYLADY, HISTORICAL

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1. KAPITEL

Lincolnshire, April 1868

Oh, Miss Barton, wie reizend, Sie zu sehen! Ist es nicht einfach schrecklich?“, fragte Myrtle aufgeregt.

Grace lächelte matt, drehte sich um und schaute Miss Hurley und deren schweigsame Zwillingsschwester Ethel an, die ihr den Weg verstellten. Die betagten Damen trugen die gleichen Kleider aus schwarzem Grenadine, graue Wollmäntel, abgestoßene Muffs, die offenbar schon seit sechzig Jahren in ihrem Besitz waren, und passende Schuten. Auch das volle weiße Haar war auf die gleiche Weise frisiert. Auf einen Fremden musste sie wie die doppelte Ausgabe ein und derselben reizenden älteren Frau wirken.

Leider wusste Grace aus langer Erfahrung, dass weder der frische, über die Niederungen wehende Wind, der an ihrem dünnen Wollmantel und Rock zerrte, noch der Gestank des nahe gelegenen Fischgeschäftes die beiden Frauen bewegen konnte, ihr die Straße freizugeben, bis sie ihr gesagt hatten, was ihnen auf den Zungen brannte.

„Guten Tag“, erwiderte sie gelassen und fragte sich, welchen Klatsch die beiden ihr heute berichten würden.

„Guten Tag“, sagte Myrtle.

Sie war fünf Minuten älter als ihre Schwester und sprach immer, als sei sie außer Atem. Sie lächelte stets, gleich, wie schrecklich die Geschichte war, die sie verbreiten wollte, oder wie scharf die von ihr geäußerte Kritik ausfiel. Grace war der Meinung, dass die ledigen Damen auf diese Weise vermieden, selbst Kritik einstecken zu müssen. Falls irgendjemand, der nicht wie die Sittsamkeit in Person aussah, die Dinge weitererzählt und dieselben Geheimnisse verraten hätte wie die Zwillingsschwestern, hätten sie ihn bestimmt gemieden.

„Es ist einfach zu bekümmernd“, sagte Myrtle, „zwar nicht für uns, aber für sehr viele andere Leute!“

„Was ist geschehen?“, wollte Grace in gleichgültigem Ton wissen.

Sie nahm den Korb in die linke Hand, einerseits, weil sie ungeduldig war, andererseits, weil Miss Ethel Hurley versuchte hineinzusehen. Grace wollte jedoch nicht, dass Miss Hurley bemerkte, was darin war. Es ging sie nichts an, dass der von Grace erstandene Fisch der preiswerteste war, den sie hatte auftreiben können.

„Es geht um die Pachten!“, erklärte Myrtle wichtigtuerisch. „Sir Donald erhöht sie, das ist ganz sicher. Das habe ich vor noch nicht zwei Stunden von Mrs Banks gehört.“

Grace schluckte. Sir Donald Franklin war nicht nur der Eigentümer des größten Landsitzes in der Gegend, ihm gehörte auch der Bauernhof, auf dem sie, Grace, lebte. Ausnahmsweise war die von den Zwillingsschwestern vermeldete Neuigkeit wichtig und entsprach gewiss der Wahrheit, wenn Sir Donalds Haushälterin die Quelle war.

„Ich hasse es, schlechte Nachrichten zu überbringen“, fuhr Myrtle eifrig fort und lächelte freundlich. „Aber früher oder später wird sich das überall herumgesprochen haben. Sir Donald ist gestern nach Haus gekommen und hat bereits mit einigen seiner Pächter geredet.“

Es war typisch von den Geschwistern Hurley, dass die Pachterhöhung nur eine weitere faszinierende Neuigkeit für sie war. Grace bemühte sich, das Missvergnügen nicht zu zeigen. Die beiden Frauen hatten nichts zu befürchten, da deren Eltern im Wollhandel ein beträchtliches Vermögen erworben hatten, das ihnen vererbt worden war. Selbst wenn die Pacht von Sir Donald um das Dreifache erhöht worden wäre, hätte ihnen das nicht viel ausgemacht.

Für sie und ihre Schwester sah die Sache jedoch ganz anders aus. Seit mehr als drei Jahrhunderten hatte ihre Familie zu den größten Grundeigentümern der Gegend gezählt. Sogar der Ort Barton-by-the-Fens war nach ihren Vorfahren benannt worden. Leider hatte der Großvater eine Reihe von Fehlinvestitionen getätigt. Der Vater hatte sein Bestes getan, um den Schaden zu beheben, jedoch ohne Erfolg. Stück für Stück war das Land an Sir Donald gefallen, bis Grace und ihre Schwester nach dem Tod der Eltern vor drei Jahren nur noch das Haus und einen Acre Land besaßen. Den Lebensunterhalt bestritten sie aus den mageren Zinsen der mütterlichen Mitgift.

„Ist Ihnen bekannt, welches Ausmaß die Pachterhöhung haben wird?“, erkundigte Grace sich ruhig, wenngleich sie innerlich sehr aufgeregt war.

„Nein, das weiß ich nicht“, antwortete Myrtle etwas spitz. „Für eine Dame schickt es sich nicht, über geschäftliche Dinge zu reden.“

„Das ist unschicklich“, murmelte Ethel.

Grace unterließ es, die Geschwister darauf hinzuweisen, dass sie im Moment über geschäftliche Dinge redeten. Und was sie betraf, so war sie der Ansicht, dass die beiden Frauen, wenn sie schon die inoffiziellen Stadtrufer abgaben, auch damit rechnen mussten, ausgefragt zu werden.

„Wissen Sie, wann die Pacht erhöht wird?“

„Das geht uns nichts an“, antwortete Myrtle gleichmütig. „Vielleicht wird Sir Donald, sobald er die Erhöhung vorgenommen hat, mehr Geld für die öffentliche Sicherheit ausgeben. Der Hauptkonstabler behauptet, er sei nicht imstande, etwas gegen die Landstreicher zu unternehmen, es sei denn, er bekommt Hilfe.“

Mit einem Nicken wies Myrtle auf den Gasthof, eines der kleinen Backsteingebäude, die um den Marktplatz standen. Eine Gruppe zerlumpt und unterernährt aussehender Männer lungerte dort herum.

Alle Frauen zogen gleichzeitig die Mäntel fester vor der Brust zusammen, als wollten sie sich so gegen die aufdringlichen Blicke der Männer schützen.

„Erst neulich habe ich gehört, meine Liebe, dass einige Reisende auf der Straße nach Grantham von einer Horde Straßendiebe ausgeraubt wurden. Selbst in unserer Gegend ist man nicht mehr sicher.“

„Nicht mehr sicher!“, wiederholte Ethel mit Nachdruck und lächelte freundlich.

Falls die beabsichtigte Pachterhöhung zur Verbesserung der öffentlichen Sicherheit beitragen würde, hätte Grace sich nicht so aufgeregt, obwohl die Mehrausgabe ein Problem geblieben wäre. Sie bezweifelte jedoch, dass der Baronet die Absicht hatte, die auf diese Weise eingenommenen zusätzlichen Gelder nur in die eigene Tasche fließen zu lassen. Nachdem er zur Überraschung aller Dorfbewohner geadelt worden war, hatte er festgestellt, das Haus, in dem seine Vorfahren seit drei Generationen gelebt hatten, sei für einen Baronet nicht mehr repräsentativ genug. Sogleich hatte er mit dem Umbau und der Erweiterung des Herrenhauses begonnen.

„Ich muss weiter …“, begann Grace und hoffte, die Geschwister Hurley stehen lassen zu können, ehe sie noch eine schlechte Nachricht zu hören bekam.

„Es heißt, Sir Donald habe die Absicht, sich zu vermählen“, vermeldete Myrtle.

„Mit einer reichen Erbin“, warf Ethel ein.

„Falls er eine gute Partie macht, wird er die Pachten vielleicht nicht erhöhen müssen“, erwiderte Grace hoffnungsvoll.

Ihre Hoffnung bezog sich jedoch nicht allein darauf, die beabsichtigte Pachterhöhung könne im Falle einer vorteilhaften Heirat ausbleiben.

„Bitte, entschuldigen Sie mich“, fuhr sie fort. „Ich muss heim.“

„Wie geht es Ihrer lieben kleinen Schwester?“, fragte Myrtle besorgt.

„Sehr gut“, log Grace. „Danke der gütigen Nachfrage.“

Sie hatte gelogen, weil die Zwillingsschwestern, falls sie herausfanden, dass Mercy krank war, zu den ungelegensten Zeiten mit Suppe oder Arzneien, die sie von Hausierern oder Zigeunern erstanden hatten, erscheinen und sich erkundigen würden, wie es der Ärmsten erginge. Später würde Grace dann von anderer Seite zu hören bekommen, dass die Geschwister Hurley sich über ihre Haushaltsführung, den Zustand des Gartens und ihre Kochkunst mokiert hatten. In einem Augenblick wie diesem war sie froh, dass sie kein Personal hatte, das herumtratschen konnte, ihre Schwester sei an diesem Morgen erkrankt.

„Hoffentlich leidet sie nicht zu sehr unter der Abwesenheit unseres Neffen“, bemerkte Myrtle mit unschuldigem Augenaufschlag.

„Im vergangenen Monat hat sie ihn kein einziges Mal erwähnt“, erwiderte Grace gelassen. „Schließlich sind sie und er doch nur Bekannte.“

Jedenfalls hoffte Grace, dass dem so sein möge. Mercy hatte kein Geheimnis aus ihrer Schwärmerei für den gut aussehenden jungen Marineoffizier gemacht, der während seines Landurlaubes bei den Tanten zu Besuch gewesen war. Er war fast einen Monat dort gewesen, doch in dieser Zeit schien die Schwester das Herz an ihn verloren zu haben.

„Nur Bekannte“, wiederholte Ethel und nickte nachdrücklich.

Zweifellos waren die beiden Frauen bei dem Gedanken, ihr kostbarer Neffe könne ein armes Mädchen heiraten, ganz gleich welcher Herkunft, einer Ohnmacht nahe.

„Ich glaube, Ihre Schwester war gewiss nur charmant, nichts weiter“, meinte Myrtle. „Und Adam ist ein so stattlicher junger Mann, dessen Gesellschaft jeder genießen möchte, der nur einigermaßen scharfsinnig ist.“

Grace wusste, die Bemerkung war als Vorwurf zu verstehen, weil sie dem Leutnant nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie hatte ihn attraktiv gefunden, doch nicht mehr, und reichlich eingebildet. Sie rang sich jedoch zu einem zustimmenden Lächeln durch.

„Er ist gut in Gibraltar angekommen und in der Offiziersmesse bereits sehr beliebt“, fuhr Myrtle fort.

„Sehr beliebt“, wiederholte Ethel.

„Das kann ich mir vorstellen. Nun muss ich mich jedoch wirklich entschuldigen. Der Wind ist sehr kalt.“ Grace fröstelte, nickte den Damen zu und wandte sich zum Gehen.

„Auf Wiedersehen, Miss Barton“, rief Myrtle ihr fröhlich hinterher. „Versuchen Sie, sich der Pachterhöhung wegen nicht zu viele Sorgen zu machen.“

Diese Bemerkung ärgerte Grace so sehr, dass sie das ihr von Miss Ethel Hurley hinterhergerufene „Auf Wiedersehen“ fast nicht wahrgenommen hätte. Sie eilte über den Marktplatz, da der kalte Wind tatsächlich aufgefrischt hatte. Säuerlich dachte sie daran, dass die Zwillingsschwestern die Nachricht von der Pachterhöhung überall herumerzählen würden, falls es im Dorf jemanden gab, der nichts von den Umständen wusste, in denen sie und Mercy lebten. Nun, das hätte sie eigentlich nicht vergrämen müssen. Schließlich war jedem bekannt, dass es ihr und der Schwester nicht besonders gut erging. In einem so kleinen Ort konnte man kaum etwas verheimlichen.

Es gab nur wenig Abwechslung im täglichen Einerlei. Nur wenige neue Gesichter machten das Leben interessanter. Nicht zum ersten Mal stellte Grace sich vor, den Ort zu verlassen, um in einer Stadt, wo niemand sie kannte und ahnte, mit welchen Schwierigkeiten sie kämpfen musste, ein neues Leben anzufangen. Sie sehnte sich nach einem Ort, wo niemand Interesse an ihr hatte und niemand sich darum kümmerte, dass ihre Ahnen die Herren von Barton-by-the-Fens gewesen waren.

Sie seufzte schwer. Wie immer kam sie nach solchen Überlegungen zu demselben Schluss, der sie davor grausen machte, ihr Zuhause aufgeben zu müssen. Außerdem musste sie sich um die Schwester kümmern, die sich sträuben würde, das Dorf zu verlassen. Das hatte Mercy oft genug geäußert.

Sie äußerte häufig sehr viel und so nachdrücklich, dass nicht nur Grace, sondern das ganze Dorf und somit leider auch die Geschwister Hurley ihre Gefühle kannten. Sie hätte entschieden zurückhaltender sein, ihre Meinung für sich behalten und ihre Bewunderung für den Marineleutnant verhehlen müssen. Nun, es wäre alles noch viel schlimmer gewesen, hätte sie ihre Bewunderung für ihn noch deutlicher zur Schau gestellt. Seine Tanten hätten ihr jedes Mal, wenn sie sich begegnet wären, vorgehalten, warum sie keine passende Partie für ihn sei, obgleich der wahre Grund war, dass sie Grace nicht mochten. Sie hatten sie nie ausstehen können, seit sie ein Kind gewesen war.

Sie hatte lange gebraucht, bis ihr der Grund klar geworden war. Die Zwillingsschwestern erwarteten, dass jemand auf ihren Klatsch Reaktionen zeigte, was Grace nicht tat. Sie war stets sehr ruhig und reichlich schüchtern gewesen. Es lag ihr nicht, offen zu erkennen zu geben, was sie dachte. Den Geschwistern Hurley war die Art, wie Mercy reagierte, entschieden lieber. Sie war gefühlsbetont und sentimental. Die Geschichten der beiden Schwestern konnte sie himmelhochjauchzend oder zu Tode betrübt machen, und das von einem Augenblick zum anderen.

Grace erreichte die andere Seite des Markplatzes und bemerkte, dass wie üblich eine Gruppe von Menschen beim Schmied stand. Zweifellos diskutierte man die Pachterhöhung. Wenigstens würde Grace in ihrem Kummer über diese Erhöhung nicht allein sein. Die Dorfbewohner hatten den Standpunkt vertreten, Mr Franklin könne zurecht stolz auf den ihm verliehenen Titel eines Baronet sein. Man hatte jedoch viel darüber getuschelt, woher das Geld für die Renovierung seines Herrenhauses kam. Nun kannte man die Quelle.

Vermutlich redete man auch zum wiederholten Male und voller Missmut über die von Sir Donald angeheuerten Handwerker. Er hatte sich Zimmerleute und Maurer aus London geholt, und es hieß, auch das Mobiliar werde von dort geliefert. Alles in allem waren die Dorfbewohner wahrscheinlich ebenso gedrückter Stimmung wie Grace.

Ein schwarzer Landauer bog auf die Hauptstraße ein. Da Grace den Insassen erkannte, wich sie rasch in den Toreingang des Fleischers zurück und drückte schützend den Korb an die Brust. Sie wollte nicht vom Baronet gesehen werden und erst recht nicht mit ihm reden.

Zum Glück schien er ganz damit beschäftigt zu sein, einen der neuen Würde entsprechenden Eindruck zu machen, und blickte nicht zu den Hauseingängen. Er hielt die Augen mit den schweren Lidern starr nach vorn gerichtet, saß aufrecht da, auch wenn er dadurch die Leibesfülle nicht verbergen konnte, und hatte den Hut der Mode entsprechend schräg aufgesetzt. Sein feistes Gesicht drückte hochnäsige Herablassung aus.

Grace unterdrückte einen Schauer des Unbehagens und entsann sich des Augenblicks während des Weihnachtsgottesdienstes, als ihr aufgefallen war, dass Sir Donald sie auf eine Weise beobachtet hatte, die ihr nicht genehm gewesen war. Zuerst hatte sie überlegt, ob etwas mit ihrer Kleidung nicht in Ordnung sei. Später, nachdem er sie mit dummen Bemerkungen über die Ferien und wie sehr die Dinge sich seit ihres Großvaters Zeiten geändert hätten, beim Portal aufgehalten hatte, war ihr langsam klar geworden, dass er sich für leutselig hielt.

Sie hatte sich gefragt, warum er charmant sein wollte, vor allem zu ihr, und was sein Lächeln und der Ausdruck in den wässrigen Augen zu bedeuten hatten. Die Gründe, die ihr eingefallen waren, hatte sie als Kränkung empfunden und seither vermieden, ihm noch einmal zu begegnen.

Sobald er an ihr vorbei war, verließ sie das Versteck und beschleunigte den Schritt. Nachdem sie das Dorf hinter sich hatte, traf die Kälte des Windes sie noch mehr. Die halbhohen Feldmauern boten einigen Schutz, und die Bäume hätten ebenfalls den Wind abhalten können, wären sie voll belaubt gewesen. Besorgt schaute sie zum Himmel. Als habe sie nicht bereits Kummer genug, war die Wolkendecke noch grauer und dichter geworden, und es sah ganz nach Regen aus.

Der alte Mantel bot ihr nicht genügend Schutz vor der Kälte. Falls sie sich nicht sputete, würde sie nicht nur halb erfroren, sondern auch noch durchnässt sein, wenn sie das Haus erreichte. Sie war froh, dass die Geschwister Hurley sie nicht sehen konnten, raffte die Röcke, hielt den Korb fester und ignorierte den Umstand, dass es nicht damenhaft war, über den Weg zu rennen.

Elliot fluchte und betastete zögernd die Stirn. Nicht nur, weil es dunkler geworden war, sondern auch, weil er Schwierigkeiten hatte, etwas klar zu erkennen, schaute er blinzelnd auf die Fingerspitzen und sah Blut. Es war nicht viel, hätte jedoch sehr viel mehr sein können.

„Ich hätte nüchtern sein sollen“, murmelte er und lächelte schief. Er richtete den verschwommenen Blick auf den tief hängenden Ast der Eiche und brummte: „Woher bist du so plötzlich gekommen?“

Das war halb scherzhaft gemeint gewesen, weil der Ast tatsächlich aus dem Nichts gekommen zu sein schien. Elliot hatte nicht bemerkt, dass er in ein Waldstück geritten war und die Straße dort plötzlich eine Biegung machte.

„Vielleicht bin ich in einem Zauberwald“, lallte er. „Es würde mich nicht wundern, gäbe es hier Ungeheuer und Trolle und diesen Mr Boffin, jedenfalls keine schöne Prinzessin, die einem armen Reisenden beisteht.“

Sein Lächeln schwand. Finster furchte er die Stirn und schaute sich nach dem Pferd um, besser gesagt, nach dem Klepper, den er sich bei einem ahnungslosen Wirt „geliehen“ hatte.

„Ich nehme an, Adrian würde sagen, dass ich, wäre ich nicht betrunken gewesen, den verdammten Ast gesehen hätte“, murrte er verbittert. „Hätte ich nicht betrogen, würde dieser Mr Boffin mich jetzt nicht verfolgen. Und mein Halbruder hätte wieder einmal recht. Er soll zur Hölle fahren.“

Er verdrängte die sich um den älteren Halbbruder drehenden Gedanken und überlegte, ob er das Taschentuch als Verband benutzen solle. Dann entschied er sich dagegen, da er nur einen unbedeutenden Riss an der Stirn hatte und deswegen das schöne Taschentuch nicht ruinieren musste, auch wenn es schon in die Wäsche gehörte. Er hob den zerbeulten Hut auf und drückte ihn sich leicht auf den Kopf.

Dann entdeckte er das friedlich am Rande der schlechten Straße, neben der bemoosten Mauer grasende Pferd, griff in die abgeschabte Satteltasche und zog die Flasche heraus. Er öffnete sie, hielt sie sich an die Lippen und senkte sie nach einem Moment.

„Das schmeckt abscheulich!“, schimpfte er und warf sie über die Mauer.

Er musste unbedingt baden und sich umziehen. Seine Sachen hatten die lange Reise von Kanada überstanden, doch länger konnte er sie nicht tragen. Sollte einer seiner Londoner Freunde ihn sehen, würde er bestimmt denken, dass er in den vergangenen fünf Jahren tatsächlich zu leiden gehabt hatte. Adrian würde behaupten, er habe das verdient, doch jetzt wollte er nicht mehr an den Halbbruder denken. Er blickte auf der Straße zurück. Nein, da war niemand.

„Gott sei Dank“, murmelte er.

Er fühlte sich vollkommen entkräftet und schüttelte den Kopf.

„Es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken“, knurrte er und stolperte zum Pferd zurück. „Etwas anderes hätte ich nicht tun können.“

Leise fluchend schwang er sich in den Sattel.

„Wie die Mächtigen zu Fall gekommen sind“, brummte er. „Verschwinden wir, Pegasus.“

Die Mähre setzte sich in Bewegung und trottete langsam die Straße hinunter. Nach einem Weilchen erreichte der Reiter den Rand des Gehölzes und sah sich am Schnittpunkt der Straße mit einem Weg, der offenbar zu einem Gehöft führte. Er reckte sich, um Anzeichen von Leben zu entdecken, doch entweder schwand sein Sehvermögen, oder das Licht hatte nachgelassen, oder er war zu betrunken. Jedenfalls konnte er nirgendwo ein Anzeichen von Leben erkennen.

Unwillkürlich fragte er sich, wo er sein mochte. Es ärgerte ihn, dass die Einheimischen keine Straßenschilder aufgestellt hatten, wie es in der zivilisierten Welt üblich war. Er hätte in Liverpool an Land gehen sollen oder in Dover, aber nicht in Yarmouth.

Er wusste, er musste irgendwo südwestlich der Hafenstadt sein, den Niederungen immer noch nahe genug, sodass er den für seinen Geschmack viel zu stark über die gepflügten Felder wehenden Wind noch zu spüren bekam. In der Ferne wurde die Landschaft hügeliger, und hie und da entdeckte er ein Schaf.

Seiner Meinung nach war Lincolnshire eine schreckliche Gegend, und am schrecklichsten waren die Straßen. Er würde nie mehr zurückkehren, sobald er von hier fort war, vorausgesetzt, er ritt nicht im Kreis, fand einen Weg aus dieser Wildnis und wurde nicht von Mr Boffin und dessen Kumpanen aufgespürt. Irgendwo in dieser gottverlassenen Gegend musste es einen Gasthof geben, wo er einige Partien lang Karten spielen und genug für das Essen gewinnen konnte.

Er zog die verschmutzte Jacke fester um sich. Im April war das Wetter in England sehr kalt, doch längst nicht so sehr wie an einigen Orten, wo er sich seit dem Verlassen der Heimat aufgehalten hatte. Natürlich war er nur des Wetters wegen zurückgekehrt. Noch immer verspürte er nicht den Wunsch, seine Angehörigen aufzusuchen, weder die Mutter, die ihn hintergangen hatte, noch den hochmütigen, selbstgerechten Halbbruder. Er konnte sich dessen Leidensmiene vorstellen und wusste, dass ihn ein vorwurfsvoller Sermon erwartete. Am wenigsten wollte er die Schwägerin sehen.

Die Mutter würde gewiss erleichtert sein, dass er noch lebte. Sie war verzogen, eitel und nachsichtig und hatte ihm stets gegeben, was er haben wollte, bis er so eitel und verzogen wie sie geworden war. Niemand hatte ihn auf diese Untugenden hinweisen müssen. Er hatte schon zu Beginn der Schulzeit begriffen, wie er war. Das hatte ihn nie gestört.

Adrian war auf den Halbbruder eifersüchtig, nicht nur, weil dessen Mutter die Stelle der seinen eingenommen, sondern weil der Vater auch den zweiten Sohn sehr gemocht hatte. Und das war nur recht gewesen. Er wollte weder Adrian noch irgendeinem seiner anderen Verwandten begegnen. Er wusste zu genau, dass alle ihn ablehnen würden, der Halbbruder nur Verachtung für ihn hätte, die Mutter ihn hingegen loben würde, allerdings nur, weil er ihr Sohn war, und nicht, weil sie glaubte, er habe tatsächlich gute Charaktereigenschaften.

Plötzlich stolperte der Klepper auf der rutschigen Straße, ging jedoch sogleich wieder im Tritt. Elliot war indes aus dem Sattel gefallen. Er lag auf den Bauch und versuchte, sich aufzurichten, war jedoch zu betrunken, um es zu schaffen. Er beschloss, sich ein Weilchen auszuruhen, streckte sich aus und legte den Kopf auf die Arme. Einen Moment später fühlte er sich von Müdigkeit übermannt.

Felicity saß hochaufgerichtet am Fenster und hielt den Blick auf die lange, geschwungene, nach Barroughby Hall führende Allee gerichtet. Der Witwensitz stand auf einem Hügel und war früher, ehe Felicity dort einzog, durch eine Lärchengruppe der Sicht vom Herrenhaus aus entzogen gewesen. Felicity hatte die Bäume entfernen lassen, um besser über den Garten auf die Allee und zur Vorderseite des Herrenhauses sehen zu können.

Sie beachtete den Stiefsohn und dessen Gattin nicht, die leise in den elegant eingerichteten Salon gekommen waren. Adrian war hochgewachsen, schwarzhaarig und von ernstem Wesen. Esther war keine große Schönheit, strahlte jedoch einen Liebreiz aus, den der Stiefsohn weitaus anziehender fand.

Er schaute sie an und blickte dann zur Stiefmutter.

„Guten Tag, Felicity.“

Sie drehte sich nicht zu den Besuchern um. Sie kamen täglich zu ihr, wenn sie in Barroughby Hall weilten.

„Hast du etwas von Elliot gehört?“, erkundigte sie sich wie stets, wenn Adrian und Esther ihr die Aufwartung machten.

„Nein“, antwortete Esther leise.

„Er wird morgen kommen“, meinte Felicity überzeugt.

Das äußerte sie jedes Mal, seit der Sohn nach einem heftigen Streit vor fünf Jahren aus dem Haus gestürmt war.

„Lasst mich jetzt bitte allein“, fügte sie hinzu.

Adrian und die Gattin schauten sich an und gehorchten. Sie wunderten sich beide, wie lange die Stiefmutter noch täglich am Fenster sitzen und auf den Sohn warten würde, bis sie schließlich doch die Hoffnung aufgab, ihn wiederzusehen.

Er hatte damals geschworen, nie mehr in den Schoß der Familie zurückzukehren. Wahrscheinlich war er längst tot. Niemand hatte je etwas von ihm gehört. Er hatte seiner ihn liebenden Mutter nicht geschrieben und sich überraschenderweise auch nicht mit der Bitte um Geld an Adrian gewandt. Alle Nachforschungen nach seinem Verbleib waren vergeblich gewesen. Es war, als sei er, entschlossen, sich endgültig von seinen Angehörigen zu trennen, vom Erdboden verschwunden.

2. KAPITEL

Grace rannte nicht mehr die Straße entlang, sondern ging nur so schnell, wie die Stiche in den Lungen es ihr erlaubten. Leichter Regen hatte eingesetzt. Wenn sie nicht bald zu Haus war, würden die wadenlangen Stiefeletten vollkommen verdreckt sein.

Sie war auf der Hut vor dem Gesindel, das sie nachmittags vor dem Gasthof herumlungern gesehen hatte. Neuerdings gab es in Lincolnshire viele umherziehende Arbeiter, die Unruhe und großes Unbehagen erzeugten. Der Baronet hatte zahlreiche arme Leute aus Irland herbeigeschafft, die auf seinem Besitz tätig waren. Es gab andere wie die vor den „Drei Kronen“, die, wie Grace vermutete, im ganzen Leben keinen Tag lang anständig gearbeitet hatten. Es war ihr unerklärlich, aus welchem Grund sie sich im Dorf aufhielten. Sie hoffte, sie würden nicht bleiben oder, was noch schlimmer gewesen wäre, ihr auf der Straße folgen.

Sie warf einen Blick über die Schulter und seufzte erleichtert. Die Schwester würde ihr vorhalten, die Fantasie ginge mit ihr durch, doch Mercy hatte nie begriffen, wie verstörend es war, wenn die Einbildungskraft Bilder möglicher Ereignisse hervorrief, von denen die meisten erschreckend waren.

Jäh blieb Grace stehen. Im Straßengraben lag ein Bündel. Irgendein armer Mensch hatte wohl einen Teil seiner Habseligkeiten verloren. Sie überlegte, ob sie es ins Pfarrhaus mitnehmen solle. Sie näherte sich ihm, um es genauer zu betrachten, und schnappte erschrocken nach Luft, weil es kein Kleiderbündel war. Es handelte sich um einen reglos daliegenden Mann.

Einen Moment lang hatte sie das Gefühl, ihr stocke das Herz, bis sie bemerkte, dass der Mann noch atmete. Sie war froh, dass er noch lebte. Aus der Entfernung von etwa fünf Schritten beobachtete sie ihn. Seine Jacke und Hose waren verdreckt, was nicht verwunderlich war, da er im Straßengraben lag. Der Hut war ihm vom Kopf gefallen und lag neben ihm. Er hatte ziemlich wirres blondes Haar, breite Schultern, eine schmale Taille und lange Beine. Seine Sachen waren zwar verschmutzt, aber nicht geflickt oder gestopft. Früher mussten sie sogar recht ansehnlich gewesen sein.

Ungeachtet des Ortes, den er sich zum Schlafen ausgesucht hatte, strahlte er eine gewisse Eleganz aus, wie ein verkleideter Prinz. Grace sah nur seinen Hinterkopf, hätte jedoch gern sein Gesicht gesehen.

„Sir?“, rief sie leise, ging einen Schritt weiter und stellte den Korb ab. „Sir?“

Er regte sich nicht. Sie näherte sich ihm noch mehr und ging langsam um ihn herum, bis sie das Gesicht erkennen konnte. Er war jung, vermutlich nicht älter als sie. Sein Antlitz war bemerkenswert gut geschnitten. Die Nase war schmal, das Kinn fest, und außerdem hatte er erstaunlich lange Wimpern. Er schien sich viel im Freien befunden zu haben, da er von der Sonne gebräunt war. Das blonde Haar klebte ihm an der Stirn. Grace überlegte, welche Farbe die Augen haben mochten.

Sie bückte sich und wollte ihn wachrütteln, doch der Gestank von Wein ließ sie zurückweichen. Er war betrunken. Er war kein verkleideter hübscher Prinz, sondern nur ein ganz gewöhnlicher Trunkenbold.

Wie bedauerlich, dachte sie, wandte sich ab und überlegte, was den jungen Mann in diese Situation gebracht haben mochte. Dann hielt sie sich vor, das gehe sie nichts an. Sie hatte genug eigene Sorgen und musste sich nicht um einen Betrunkenen kümmern, der nicht einmal imstande gewesen war, sich vor dem Regen zu schützen. Sie hob den Korb auf und wollte weitergehen, wurde sich jedoch bewusst, dass die Witterung auch ihr zusetzte. Die Röcke waren verdreckt, und der Mantel wurde von Augenblick zu Augenblick nasser.

Plötzlich fielen ihr die tiefen Spuren eines Pferdes im aufgeweichten Boden auf. Es war indes nirgendwo zu sehen. Keiner von den Besuchern, die zu ihr kamen, verfügte über ein Reitpferd, nur über Zugpferde. Sie fragte sich, ob es dem Betrunkenen gehört haben mochte. Falls er zu Pferd gesessen hatte, war er vermutlich überfallen worden.

Sie entsann sich, dass Miss Myrtle Hurley von vagabundierenden Wegelagerern erzählt hatte, die Reisende ausraubten. In seinem bezechten Zustand wäre er natürlich ein leichtes Opfer für Straßenräuber gewesen, die ihm dann sein Pferd und wahrscheinlich auch das Geld weggenommen hatten. Möglicherweise war er nicht eingeschlafen, sondern bewusstlos.

Sie blickte zu ihm zurück und bemerkte, dass es mittlerweile stärker regnete. Bald würde der Mann bis auf die Haut durchnässt sein. Sie sagte sich, er gehe sie nichts an, ob er nun das Opfer eines Überfalls war oder nicht. Wenn sie klug war, ließ sie ihn, wo er war.

Sie machte sich wieder auf den Weg und hielt sich vor, an Mercy denken zu müssen, für die sie verantwortlich war. Die Schwester hatte sich morgens nicht wohlgefühlt. Nach dem Grund befragt, hatte sie geantwortet, Grace solle sich nicht so viele Sorgen machen. Es lag Grace jedoch im Blut, sich zu sorgen – um die Schwester, die Pacht, das Dorf und den Fremden, der im Straßengraben lag.

Erneut blieb sie stehen. Der Weingeruch war vielleicht deshalb so stark, weil die Sachen des Mannes nass waren. Möglicherweise hatte er beim letzten Essen Wein auf sie geschüttet. Dann war sein Zustand nicht auf übermäßiges Zechen, sondern auf einen ganz anderen Grund zurückzuführen. Grace seufzte resignierend. Sie konnte den Unbekannten nicht zurücklassen, weil das Gewissen ihr sonst keine Ruhe lassen würde. Zumindest musste sie ihn ins Trockene schaffen, irgendwohin, wo er weder für die Schwester noch sie gefährlich werden konnte. Sie würde Samariterdienste leisten, sich indes nicht töricht verhalten.

Der Kuhstall fiel ihr ein. Zurzeit hatte sie nur eine Kuh, und drei Unterstände waren leer. Die Kuh hatte gewiss nichts dagegen, wenn sie Besuch bekam. Außer ihr konnte der Fremde nichts stehlen, falls er ein Dieb war. Die Kuh war jedoch aufmerksamer denn ein Hund, wenn es darum ging, wachsam zu sein. Falls nicht Mercy sie aus dem Stall führen wollte, muhte sie, selbst wenn es sich um Grace handelte, und zwar so laut und lange, dass jeder im Haus munter wurde. Grace drehte sich um und kehrte zu dem Unbekannten zurück.

„Sir?“

Sie stellte den Korb auf den trockensten Fleck, den sie sehen konnte, streckte die Hand aus und schüttelte den Mann an der Schulter.

„Können Sie mich hören, Sir?“

Da er nicht antwortete, fuhr sie fort, ihn eindringlicher zu rütteln.

„Sir!“, wiederholte sie laut.

Er stöhnte leise und rollte sich auf die Seite.

Grace schnappte nach Luft, weil er Blut auf der Stirn hatte. Behutsam strich sie ihm das Haar fort und erblickte eine scheußliche Risswunde. Er musste überfallen, ausgeraubt und zum Sterben am Straßenrand zurückgelassen worden sein. Grace dankte dem Himmel, dass sie auf ihr Gewissen gehört hatte.

Der Fremde schlug die Lider auf. Seine Augen hatten eine so strahlend blaue Farbe, dass Grace sich erstaunt aufrichtete. Sichtlich verwirrt schaute er sich um.

„Wo bin ich?“, murmelte er.

„Sie sind …“

Sie konnte den Satz nicht beenden, weil der Unbekannte im gleichen Moment die Augen wieder geschlossen hatte und offenbar erneut in Ohnmacht gefallen war. Sie betrachtete ihn und überlegte, wie sie ihn in den Kuhstall bringen könne. Er würde sie dabei nicht unterstützen können. Vielleicht schaffte sie es, ihn auf die Beine zu ziehen. Sie stellte sich hinter seinen Kopf, beugte sich vor und legte ihm die Hände unter die Achseln, um ihn auf diese Weise auf die Füße zu bringen. Er war schlaff und schwer und kam nicht zu Bewusstsein.

Sie richtete sich auf und schlang die Arme um den Oberkörper, weil sie vor Kälte zitterte. Ihre Sachen wurden zunehmend feuchter. Außerdem wurde es dunkel. Die Schwester würde sich Sorgen machen, und das nicht ohne Grund. Es wäre ein Wunder, wenn Grace das Abenteuer nur mit einer schweren Erkältung hinter sich brachte.

Mercy würde bestimmt überrascht sein zu sehen, was sie ihr mitgebracht hatte. Im Allgemeinen war die Schwester diejenige, die streunende und verwundete Tiere nach Haus mitbrachte. Ihr empfindsames Gemüt machte sie besonders empfänglich für die Leiden solcher Kreaturen. Jetzt würde sie Gelegenheit haben, sich über Grace und deren noch kühnere Anwandlung von Hilfsbereitschaft lustig zu machen.

Stirnrunzelnd stopfte Grace entschlossen die Rocksäume unter den Gürtel, damit sie sich so wenig wie möglich schmutzig machte. Wenigstens war niemand in der Nähe, der diese Unschicklichkeit sehen konnte. Dann nahm sie den Korb, schob ihn so weit wie möglich auf den Oberarm und ergriff den Unbekannten wieder an den Schultern. Sie drehte ihn herum und begann ihn langsam nach Haus zu ziehen.

Robert trank einen großen Schluck Bier, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab und betrachtete die mit ihm in der finstersten Ecke des Schankraumes sitzenden Kameraden.

„Ich schlage vor, noch einige Tage zu bleiben“, sagte er mürrisch.

„Wozu?“, wollte Albert wissen. „Fitzgibbons ist längst verschwunden. Wahrscheinlich ist er jetzt in London und dein Geld auch.“

Robert sah seine beiden anderen Spießgesellen an. Philip Skurch war noch jung, Jack Wickham bereits alt. Wickham sah aus, als habe er etliche Jahre in einem Gefängnis Ihrer Majestät verbracht, was tatsächlich der Fall war. Dann schaute er wieder den hageren, dürren Treeg an, der eine lange Narbe an der rechten Wange hatte.

„Fitzgibbons ist nicht bis Lincoln gekommen“, erwiderte er. „Auch nicht nach Stamford. So schnell kommt er nicht voran, jedenfalls nicht auf dem Klepper.“

„Das stimmt“, warf Albert ein. „Es sei denn, er ist mit der Dampfbahn gefahren.“

„Er könnte tot sein“, meinte Robert. „Aber ich glaube weder das eine noch das andere. Ich vermute, dass er noch hier in der Gegend ist.“

Jack sah Boffin an und sagte krächzend: „Es geht doch nur um zehn Pfund. Warum sollen wir hierbleiben und uns verdächtig machen? Man sieht uns an, dass wir keine Schäfer sind“, setzte er hinzu und wies mit einer Kopfbewegung auf die anderen Leute im Raum.

„Ja!“, stimmte Philip zu. „Außerdem gibt es keine Weiber, die einen Blick wert wären.“

„Außer der einen Frau, die wir vorhin gesehen haben, nicht wahr?“, fragte Robert jovial.

Philip grinste.

Robert streckte die Hand aus, ergriff ihn beim Hals und drohte: „Du bringst dich wieder in Schwierigkeiten, falls du das Ding nicht in der Hose behältst! Ich will nicht, dass einer von euch etwas tut, wodurch die Leute noch misstrauischer werden, als sie ohnehin schon sind.“

Er ließ Philip los.

Philip hustete und rieb sich die schmerzende Kehle.

Robert verengte die Augen und beugte sich zu Wickham vor.

„An deiner Stelle wäre ich vorsichtig und würde nicht das Wort ‚hängen‘ benutzen, Jack. Das könnte die Leute auf falsche Gedanken bringen.“

Jack drückte die linke Hand fester um den Bierkrug und griff mit der Rechten nach dem am Gürtel befestigten, kaum sichtbaren Dolch.

„Für zehn Pfund lasse ich mich nicht hängen“, erwiderte er verächtlich.

„Sei still!“, fuhr Robert ihn an und blickte sich um, weil er sicher sein wollte, dass niemand ihnen zuhörte. „Hör mir gut zu, Jack. Es geht um weitaus mehr als nur die mir gehörenden zehn Pfund.“

„Was meinst du damit?“, wollte Albert wissen und beugte sich aufmerksam vor.

Auch Philip rückte näher an Boffin heran.

„Ich muss euch sagen, dass Fitzgibbons mir gleich bekannt vorkam, ohne mir jedoch sicher zu sein, an wen er mich erinnerte.“

„Warum hast du uns nichts gesagt?“, flüsterte Jack rau.

„Weil ich der Ansicht war, dass ihr auf meiner Seite seid, deshalb!“, antwortete Robert. „Ich weiß, wer der Mann ist.“

„Na, und?“, fragte Jack geringschätzig.

„Er ist reich“, erklärte Robert. „Zumindest seine Familie ist sehr betucht. Sie wird eine Menge dafür löhnen, um zu erfahren, wo er sich aufhält. Oder er blecht uns einen Haufen Zaster, damit wir den Mund halten“, fügte er triumphierend hinzu.

„Also, wer ist er?“, wollte Albert ungeduldig wissen.

„Er ist Lord Elliot Fitzwalter, genau der! Er war seit fünf Jahren verschwunden. Nachdem er untergetaucht war, hat sein Bruder, der Duke of Barroughby, eine hohe Belohnung für Nachrichten über ihn ausgesetzt.“

Robert sah, dass seine Kumpane die Augen aufrissen.

Nach einem Moment furchte Jack die Stirn.

„Willst du den Herzog erpressen? Die Sache ist fünf Jahre her. Vielleicht ist er anderen Sinnes geworden.“

„Vielleicht auch nicht“, entgegnete Robert.

„Möglicherweise haben die Brüder den Streit beigelegt“, meinte Philip.

Robert sah ihn verächtlich an und erwiderte: „Du hast einen Vogel. Wäre es an dem, wie du sagst, muss man sich doch fragen, warum Fitzwalter so abgerissen aussah, als hätte er keinen Penny in der Tasche. Und wieso hat er sich uns gegenüber David Fitzgibbons genannt? Weshalb hat er mich um zehn Pfund betrogen? Ich sage euch, er versteckt sich.“

„Wie will er uns dann mit Geld dazu bringen, das Maul zu halten, wenn das seine Absicht wäre?“

„Er muss Freunde haben. Wie hätte er sonst auf diese Weise verschwinden können?“

„Wie sollen wir ihn deiner Meinung nach finden, Bob, falls er wieder untergetaucht ist und sein reicher Bruder ihn bisher nicht aufspüren konnte? Sollen wir in der ‚Times‘ eine Suchanzeige aufgeben?“

„Nein!“, äußerte Albert aufgeregt. „Falls Bob recht hat und Fitzwalter noch in der Nähe ist, bekommen wir das schnell heraus. Ein gut aussehender Fatzke wie er fällt auf, und Lincolnshire ist bei den Blaublütern nicht gerade sehr beliebt, nicht wahr?“

„Aus gutem Grund“, murmelte Jack.

„Genau!“, stimmte Robert dem früheren Häftling zu. „Jetzt begreift ihr mich. Fitzwalter verbirgt sich, ist wahrscheinlich aber noch in der Nähe.“

„Moment mal“, warf Jack ein. „Woher kennst du einen Lord? Warst du in seinem Club? Hast du Bälle besucht und dort seine Bekanntschaft gemacht?“

„Er fand Gefallen an anderen Dingen, nicht nur an Clubs und Bällen“, antwortete Robert bedeutungsvoll. „Ich habe ihn dabei gesehen, und das ist unstrittig. Ich schlage vor, wir fangen bei den einheimischen Adligen an.“

„Was? Sollen wir am Haupteingang vorstellig werden und sagen: ‚Entschuldigen Sie, haben Sie zufällig Lord Elliot Fitzwalter in der Nähe gesehen‘?“, fragte Jack spöttisch.

„Ja, ganz recht, genau daran habe ich gedacht“, erwiderte Robert und verzog abfällig die Lippen. „Wir behalten die hiesigen Herrenhäuser im Auge, auch das Dorf und jeden, der so aussieht, als könne er Besuch haben. Ein gut aussehender Typ wie Fitzwalter kriecht bestimmt bei einem Weib unter“, setzte er hinzu und grinste Skurch an. „Darum kannst du dich kümmern, Philip. Wir werden den hohen Herrn schon aufspüren, egal wie!“

Erleichtert seufzend machte Grace das Gartentor auf und zerrte den Fremden hindurch. Sie würde froh sein, sobald sie die Sache hinter sich hatte.

Sie blickte auf den Mann hinunter. Seine Hosen waren in einem fürchterlichen Zustand, doch zum Ausgleich dafür, dass sie ihn vor einer Erkrankung und möglicherweise sogar dem Tod bewahrt hatte, war das ein geringer Schaden. Sie hoffte, dass nicht sie krank wurde und an Erschöpfung starb.

Sie schloss das Gatter, zerrte den Unbekannten zum Kuhstall und schleppte ihn hinein. Sie strich sich eine nasse Locke aus der Stirn und blickte auf die Kuh, die friedlich wiederkäute und sie aus großen braunen Augen ansah.

Zu ihrer großen Überraschung und Bestürzung bemerkte sie in dem Unterstand, den sie für den Mann vorgesehen hatte, einen stattlichen schwarzen Hengst. Nur ein Mann in dieser Gegend ritt ein solches Pferd, und das war Sir Donald Franklin. Bestürzt fragte sich Grace, was er hier wollte und ob er gekommen sei, um sie persönlich von der Pachterhöhung in Kenntnis zu setzen.

Sie stöhnte leise auf. Sie hatte gehofft, diese schlechte Nachricht der Schwester vorzuenthalten, zumindest so lange, bis sie eine Lösung für das Problem gefunden hatte. Sie überlegte, wie Mercy mit der unerwarteten Anwesenheit des Baronet zurechtkommen würde und ob die Schwester sich wenigstens einigermaßen höflich zu ihm benahm. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es fatal gewesen, ihn zu kränken. Leider hatte die Schwester den Baronet nie gemocht. Falls er ihr mitteilte, dass die Pacht erhöht wurde, würde sie bestimmt in Tränen ausbrechen und ihm verärgert Vorhaltungen machen.

Grace atmete tief durch, presste die Hand auf den schmerzenden Rücken und straffte sich. Sie sah erst den Rappen und dann den Fremden an. Natürlich konnte sie Sir Donald von dem Unbekannten erzählen. Vielleicht erbot er sich zu helfen. Dann musste sie sich nicht mehr um den Verletzten und sein Wohlergehen kümmern. Mercy und sie mussten auch nicht mehr befürchten, von einem entlaufenen Verbrecher überfallen zu werden, falls er wirklich ein Krimineller war.

Doch genau da lag das Problem. Der Baronet war nicht für Nachsicht bekannt. Viel wahrscheinlicher war, dass er den Fremden ins Dorfgefängnis werfen lassen würde, ein kleines, feuchtes Gebäude, das kaum besser als eine Scheune war. Aller Voraussicht nach würde er nie den Gedanken erwägen, der verwundete Mann könne das Opfer eines Überfalls geworden sein.

Grace malte sich aus, wie sie Sir Donald davon überzeugen würde, dass der Fremde überfallen worden war. Bestimmt würde der Baronet ihr erwidern, sie sei albern und sentimental. Sie konnte sich sogar gut vorstellen, dass er seine Entscheidung, den Unbekannten ins Gefängnis schaffen zu lassen, zur Demonstration seiner Führungsqualitäten und seiner Besorgnis um die Sicherheit seiner Pächter einsetzen würde. Sie war indes nicht gewillt, ihre Bemühungen, dem Fremden zu helfen, von dem gefühllosen Baronet zunichtegemacht zu sehen.

Sie schleppte den Schlafenden so schnell wie möglich in die entfernteste Ecke des Stalls und bedeckte ihn mit Stroh, damit er es warm hatte und neugierigen Blicken entzogen war, wenn Sir Donald sein Pferd holte. Hoffentlich schlief er durch, bis der Baronet fortgeritten war. In Anbetracht der Tatsache, dass sie ihn auf reichlich unsanfte Weise hergezerrt und er dennoch das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt hatte, musste sie nicht befürchten, er könne bald zu sich kommen. Sie würde so schnell wie möglich zurückkehren und nachsehen, ob er wach war, dann allerdings zur Sicherheit mit der Pistole des Vaters in der Hand.

Sie warf ihm einen letzten Blick zu, verließ den Stall und rannte über den Hof zum Hintereingang. Sie betrat das Haus, ging rasch in die Küche und war froh, dass die Stube auf der anderen Seite zur Straße hin lag.

„Ich bin zurück, Mercy!“, rief sie, als habe sie Sir Donalds Pferd nicht gesehen.

Unter normalen Umständen hätte sie es auch nicht gesehen. Sie hatte ganz gewiss nicht die Absicht, bei dem Baronet den Argwohn entstehen zu lassen, dass sich, abgesehen von seinem überraschenden Besuch, an diesem Tag etwas Ungewöhnliches ereignet haben könnte.

Sie zog die Stiefeletten und den Mantel aus und betrachtete das verdreckte Kleid, das so aussah, als würde es nie mehr sauber werden. Dann stellte sie den Korb auf die Kommode, nahm das zum Abtrocknen bestimmte Tuch und wischte sich Gesicht und Hals ab.

Sie bemerkte, dass es der Schwester offenbar besser erging, da auf dem Herd der Wasserkessel stand und aus dem auf der Kochplatte stehenden Topf der Geruch frisch zubereiteten Essens drang. Wäre die Schwester noch unpässlich gewesen, hätte sie sich nicht die Mühe gemacht, ein Stew zu kochen. Ehe Grace vormittags einkaufen gegangen war, hatte sie ihr gesagt, dass es zum Abendessen kaltes Fleisch geben würde.

Sie ging in das Wohnzimmer, nahm den über der Rücklehne eines Sessels liegenden Schal an sich und sagte, während sie ihn sich umlegte: „Es tut mir leid, Mercy, dass ich mich verspätet habe. Ich bin in den Morast gestürzt. Mein Mantel ist vollkommen ver…“

Sie hielt inne. Der Baronet stand vor dem Fenster, in kriegerischer Haltung, die Brust wie ein Täuberich herausgedrückt, und sein Gesicht war rot angelaufen. Er war wie immer sehr kostspielig und elegant nach der neuesten Mode angezogen. Sogar ein attraktiver Mann wie der ohnmächtige im Stall hätte in diesem Anzug reichlich seltsam ausgesehen. Der Baronet jedoch machte in dem blauen Gehrock, der grüngelb gestreiften Weste und den weiten, großkarierten Hosen eine ausgesprochen lächerliche Figur.

Die Schwester saß am Nähtisch. Der Stoff für ihr neues grünes Kleid lag achtlos zu ihren Füßen. Ihr Gesicht wirkte besorgt, und die schmalen Hände hatte sie im Schoß verkrampft. Bestürzt vermutete Grace, Sir Donald habe der Schwester von der Pachterhöhung erzählt. Sie eilte zu ihr und ergriff deren Hände, die noch kälter waren als ihre.

„Was hast du?“, fragte sie bestürzt.

Sie wusste sehr gut, warum Mercy so verstört war, und hasste den Baronet deswegen umso mehr.

„Was ist geschehen?“

„Guten Tag, Miss Barton“, sagte Donald hochnäsig.

In seinen grauen Augen stand ein ärgerlicher Ausdruck, den Grace jedoch angenehmer fand als den lüsternen, der ihr bei der letzten Begegnung mit ihm aufgefallen war.

„Oh, Grace!“, jammerte Mercy, entzog ihr die Hände und schlug sie schluchzend vor das Gesicht. „Sir Donald hat … er hat gesagt …“

Grace warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und schlang dann tröstend die Arme um die schmalen Schultern der Schwester.

„Ich glaube zu wissen, um was es geht“, erwiderte sie. „Weine nicht, meine Liebe. Die Sache ist nicht von Bedeutung.“

„Oh, doch!“, klagte Mercy. „Man wird uns aus dem Haus werfen. Wir müssen in ein Arbeitshaus.“

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