Der Gentleman mit dem kalten Herzen

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Einem Gerücht zufolge besitze ich gar kein Herz, Mrs Marchmain. Eigentlich sollte Belle den kühlen Adam Davenant hassen, als er sie scheinbar ungerührt zu einer Scheinverlobung zwingt. Doch dann zeigt er ihr seine ungeahnt leidenschaftliche Seite - und Belle wünscht sich plötzlich, ihr Spiel würde nie enden…


  • Erscheinungstag 03.04.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733746254
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Sawle Down, Somerset, März 1819

An diesem Frühlingsnachmittag lag ein Zauber über den grünen Hügeln von Somerset, der nicht von dieser Welt zu sein schien. Zumindest glaubten das die Leute dieser Gegend, die sich noch an die alten Sagen von Elfen und Feen erinnerten.

Adam Davenant, ein nüchterner Geschäftsmann, glaubte nicht an diesen Unsinn. Dennoch verhielt er sich genauso wie die Steinbruchbesitzer Generationen vor ihm. Er betrachtete den großen, soeben aus dem Boden gehauenen honigfarbenen Stein in seiner Hand und klopfte dreimal darauf, damit er ihm Glück bringen möge.

Vielleicht liegt in der Erde unter mir dieser Reichtum in dreihundert- oder dreitausendfacher Menge.

In der Nähe festgebunden wartete sein großer Rotschimmel Goliath, der sich nicht vom Lärm der Steinbrucharbeiter und ihrer Werkzeuge beeindrucken ließ.

Adam wandte sich lächelnd an den Mann an seiner Seite. „Also geht alles gut voran, Jacob?“

„Wie geschmiert, Master Adam“, versicherte der alte Mann, der staubige Arbeitskleidung trug. „Besonders, seit Sie den Jungs und mir letzten Monat erzählt haben, dass ein paar vornehme Londoner an unserem Stein interessiert sind.“

„Sogar brennend interessiert, Jacob. Die Bauunternehmer sind ganz versessen darauf.“

„Mit gutem Grund.“ Jacob klopfte mit seinen rauen, schwieligen Fingerknöcheln gegen einen frisch gehauenen Steinblock. „Klingt so rein wie Porzellan. Hören Sie das, Sir? Makellos!“

Adam folgte ihm zu einer Gruppe von Männern, die mit Spitzhacken rhythmisch gegen eine Felswand schlugen. Die warme Märzsonne und die harte körperliche Arbeit ließ den Arbeitern die Hemden auf den Rücken kleben, ihre verschwitzten Arme und Gesichter waren von aufgewirbeltem Staub bedeckt. Sobald sie den Besucher erkannten, grinsten sie und ließen ihre Werkzeuge sinken.

Adam warf sich seinen dunklen Reitrock über die Schulter, stellte den Männern einige Fragen und lobte ihren Fleiß. Er war der Eigentümer des Steinbruchs, trotzdem war er sich nie zu schade, selbst zur Spitzhacke zu greifen, wenn eine Notlage es erforderte.

Jacob Mallin strahlte vor Stolz. „Sir, Sie haben den Jungs versprochen, dass sie in diesem Steinbruch wieder was fördern würden, und Sie haben Wort gehalten.“

Als Adam sich erneut zu ihm wandte, schien die Sonne auf sein dunkles kurz geschnittenes Haar und seine hohen Wangenknochen. „Ich halte immer mein Wort. Sagen Sie den Männern, ich würde sie gut für ihre Arbeit bezahlen. Wenn Sie etwas brauchen, neue Werkzeuge oder Sprengstoff, geben Sie bitte meinem Ingenieur Shipley Bescheid.“

Zustimmend nickte Jacob und die Männer begannen, sich leise zu unterhalten. „Ein anständiger Gentleman … Keiner würde härter arbeiten … Oder uns besser behandeln …“

Ja, Master Adam hatte das Gespür seines Großvaters geerbt und wusste, wie man Geld verdient. Aber er war auch ein ehrenhafter und aufrichtiger Mann, der seine Versprechen stets einlöste. Seit der Wiederöffnung des alten Steinbruchs schöpften viele Menschen in dieser Gegend neue Hoffnung.

„Aye, ich sag’s den Jungs“, versicherte Jacob. „Schicken Sie die Steine nach Bristol, wenn’s so weit ist, Sir?“

Adams Blick schweifte über das hügelige grüne Land. Als er den alten Mann wieder anblickte, erschien ein neuer Glanz in seinen dunklen Augen. „Nein, ich baue eine Eisenbahnlinie zum Kennet-und-Avon-Kanal. Von dort aus werden die Steine über den Kanal und die Themse nach London verschifft.“

„Aber das Land zwischen dem Steinbruch und dem Kanal gehört Ihnen nicht, Master Adam. Zumindest nicht die ganze Strecke.“

Adam ging zu seinem Rotschimmel und band seinen zusammengerollten Reitrock hinter dem Sattel fest. Für einen solchen Frühlingstag war das Kleidungsstück viel zu warm. „Niemals ließ sich mein Großvater von einem so belanglosen Hindernis aufhalten.“ In seiner Stimme schwang ein Unterton mit, der seine stahlharte Entschlossenheit verriet. Gleich darauf stieg er auf sein Pferd und ritt davon.

Erstaunt schüttelte Jacob den grauhaarigen Kopf und schaute dem Reiter nach. „Nichts wird ihn aufhalten“, murmelte er voller Bewunderung. „Gar nichts. Daran gibt’s keinen Zweifel.“

Goliath wollte galoppieren und Adam ließ ihm freien Lauf.

Mein Junge, es ist einfach großartig, das Land zu besitzen, das man unter den Hufen seines Pferdes spürt. Besonders, wenn dieses Land bis vor Kurzem jemandem gehört hat, der lieber die Straßenseite wechselte, als einen zu begrüßen.

Deutlich erinnerte er sich an die Sätze seines Großvaters. Dieser Mann hatte Tag und Nacht hart gearbeitet, um sich von der Schande seines Spitznamens zu befreien. „Bergmann Tom“, so hatte ihn die vornehme Gesellschaft verächtlich genannt. Doch zu seinem prunkvollen Begräbnis waren sämtliche Aristokraten aus Bath und London herbeigeeilt. Anscheinend hatten sie am Ende seinen wahren Wert erkannt.

Sein Großvater hatte sich inständig gewünscht, die einstigen Spötter würden auch seinen Enkel anerkennen. Dieses Ziel war nun erreicht. Adams größtes Glück bestand darin, durch die reizvolle Landschaft Somersets zu reiten und dabei tief in sich die Gewissheit zu spüren, dass er den Reichtum ernten würde, der unter diesen Hügeln lag – das kostbare Gestein.

Man hatte behauptet, der Sawle-Down-Steinbruch sei vollständig ausgeschöpft. Vor fünfzig Jahren hatte er zuletzt Gewinn abgeworfen, danach hatten die Kosten einer weiteren Förderung alle Geldgeber abgeschreckt. Adam jedoch hatte die Nachfrage nach gutem Baumaterial und dessen steigende Preise vorausgeahnt, die Investitionen nicht gescheut und die Schwarzseher eines Besseren belehrt. Neuerdings mutmaßten seine Kritiker, er könnte die Steine niemals zum Kennet-und-Avon-Kanal und von dort nach London transportieren. Auch diesmal würde er ihnen das Gegenteil beweisen.

Plötzlich erregte eine Bewegung in der Ferne seine Aufmerksamkeit. Ein anderer Reiter genoss wie er die Nachmittagssonne – und wagte sich dreist auf seinen Grund und Boden.

Offenbar handelte es sich um eine Frau.

Adams Augen verengten sich, dann ließ er seinen Hengst in einen leichten Galopp fallen und ritt auf sie zu. Fluchend beobachtete er, wie sie den Kopf ihrer hübschen gescheckten Stute herumlenkte und eilig davonjagte. Welch ein Leichtsinn, dieses Tempo … Noch dazu galoppierte sie auf den Rand eines anderen alten Steinbruchs zu.

Um ihr den Weg abzuschneiden, ritt er in weitem Bogen über einen Hang. Hier war das Terrain gefährlich. So einladend die grasbewachsenen Hügel von Sawle Down auch aussahen – auf den Schafweiden lag der Schutt längst stillgelegter Steinbrüche, der schon vielen unvorsichtigen Reitern zum Verhängnis geworden war. Und tatsächlich – schon nach wenigen Minuten strauchelte die Stute und warf ihre Reiterin ab.

Kurz danach erschien Adam an der Unglückstelle, stieg von seinem Pferd und kniete neben der am Boden liegenden Gestalt nieder.

Sie trug ein Reitkostüm aus scharlachrotem Samt, der nun ein wenig zerknittert war. Ihre üppigen schwarzen Locken waren zerzaust und bedeckten das Gras neben ihr. In der Nähe lag ein kleiner Hut mit roten Federn. Adam betrachtete das vollkommene Oval ihres Gesichtes, ihre wohlgeformte kleine Nase und die langen dunklen Wimpern auf ihren milchweißen Wangen. Ihr Mund ähnelte der Knospe einer Rose, so vollendet geschwungen waren ihre Lippen. Ein schwacher Lavendelduft wehte Adam entgegen.

Wer mochte sie sein? Und warum zum Teufel war sie allein ausgeritten? Offensichtlich stammte sie aus gutem Haus. Jetzt bewegten sich ihre Lider. Blinzelnd öffnete sie die Augen und er stand hastig auf, als er ihre angstvolle Miene sah.

Mit einiger Mühe erhob sie sich. Er bezwang den Impuls, ihr seine Hand zu reichen, denn ebenso wie seine Kleidung waren auch seine Hände noch mit dem Staub des Steinbruchs bedeckt. „Sind Sie verletzt?“, fragte er. „Vielleicht sollte ich …“

„Verschwinden Sie!“

Adams Lippen kräuselten sich. Wie er es vermutet hatte. Von vornehmer Herkunft, das bestätigte der verächtliche Klang ihrer Stimme. Sie mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein. „Ich wollte nur sehen, ob Sie nach Ihrem Sturz Hilfe brauchen, Madam.“

Hochmütig reckte sie ihr kleines Kinn vor. In ihren tiefgrünen Augen erschien ein rebellisches Funkeln. Wie abschätzig sie ihn musterte … Dann klopfte sie sich Grashalme und Erdkrümel vom Rock, strich sich die üppigen Locken aus dem Gesicht und humpelte auf ihr Pferd zu. „Poppy!“, rief sie. „Hierher!“

Aber die Stute wieherte nur und trottete zu Goliath, der seelenruhig in der Nähe graste. Unsicher zögerte die junge Dame und biss sich auf die Lippen.

„Ihre Stute ist erschrocken“, erklärte Adam und stellte sich ihr in den Weg. „Vielleicht war es etwas unvorsichtig von Ihnen, hierher zu reiten, Madam. Wissen Sie nicht, dass es in dieser Gegend einige Steinbrüche gibt?“

„Wie kann man eine solche Landplage ignorieren?“ Sie erschauerte. „Ständig dieser Lärm …“

„Gewiss, aber einer dieser Steinbrüche verschafft vielen Männern Arbeit und ernährt ihre Familien.“

Verwirrt starrte sie ihn an, als hätte er soeben eine fremde Sprache benutzt. „Entschuldigen Sie mich, Sie stehen mir im Weg.“

Doch er rührte sich nicht von der Stelle. „Ich wollte nur herausfinden, was Sie hier tun.“

Sie rümpfte ihre zierliche Nase und musterte sein Hemd, dessen Kragen geöffnet war, und seine staubigen Stiefel. Die altvertraute Bitterkeit stieg in ihm auf. Vermutlich war diese Dame die Gemahlin eines Lords – darauf ließen ihr Reitkostüm, die edlen Stute und der Ehering an ihrem Finger schließen. Solche Frauen schauten auf ihn herab. Bis ihnen jemand mitteilte, wer er war.

Verdammt wollte er sein, wenn er diese Dame darüber informierte.

Sie wandte sich zur Seite, um ihren Hut aufzuheben, dann ging sie wieder auf ihr Pferd zu. Anscheinend wünschte sie keine Konversation mit einem Mann, den sie für einen Arbeiter hielt.

„Sind Sie mit einem Reitknecht hierhergekommen?“, rief er ihr nach.

Widerstrebend drehte sie sich um. „Nein, ich reite lieber allein aus. Und ich bin gern allein.“ Mit dem Hut in der einen Hand, raffte sie mit der anderen ihre Röcke und setzte ihren Weg fort. Gegen seinen Willen registrierte Adam die schmalen Fußknöchel in den ledernen Halbstiefeln.

Die gescheckte Stute war erneut davongetrottet. Nun beobachtete sein Rotschimmel die Ereignisse mit wachsendem Interesse.

„Hierher, Goliath!“, befahl ihm Adam.

Der Hengst gehorchte, Poppy folgte ihm und Adam bekam ihre Zügel zu fassen. Besänftigend streichelte er ihren Hals.

„Wenn Sie wollen, helfe ich Ihnen in den Sattel“, erbot er sich, als die junge Frau notgedrungen zu ihm kam. „Und dann sollten Sie diesen privaten Grundbesitz verlassen, bevor die Dämmerung hereinbricht. In der Dunkelheit könnten Sie sich leicht das Genick brechen.“

„Privat?“, fauchte sie. „Mr Davenant hat genauso wenig ein Recht auf dieses Land wie …“, ausdrucksvoll schwenkte sie ihre Hand durch die Luft, „… wie die Krähen da drüben bei den Bäumen!“

Eine plötzliche Brise kühlte den Schweiß auf seinem Rücken. „Soviel ich weiß, hat Mr Davenant das Land vor einem Jahr auf legale Weise erworben.“

Erbost warf sie ihr Haar in den Nacken. „Mit Geld kann man alles kaufen – und jeden. Legal? Das sehen manche Leute anders.“

Heller Zorn erhitzte Adams Blut. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte er sie niedergestreckt. Aber sie war eine reizvolle Frau, mit einer schlanken Figur und Kurven an den richtigen Stellen … Verdammt, das war der falsche Zeitpunkt für eine solche Ablenkung. „Also zweifeln Sie an Mr Davenants Recht an diesem Land? Sind Sie deshalb unbefugt über seinen Grund und Boden geritten?“

Mit eisigen Augen erwiderte sie seinen Blick. „Wahrscheinlich arbeiten Sie für ihn, also werde ich mich zurückhaltend äußern. Ich kenne Mr Davenant nicht. Dennoch, ich habe genug gehört, um zu wissen, dass er aus keiner vornehmen Familie stammt. Und das merkt man.“

Nur mühsam beherrschte er sich. „Sollten Sie ihm eines Tages begegnen – würden Sie ihm das ins Gesicht sagen?“

Gelassen zuckte sie mit den Schultern, dennoch bemerkte er, wie ein wenig Farbe aus ihrem Gesicht wich. „Warum nicht? Da er kein Freund meiner Familie ist – was hätte ich zu verlieren?“

Die Sonne glitt hinter eine Wolke und ein Windhauch bewegte das Gras. „Ihren Stolz haben Sie offenbar nicht verloren, Madam. Darf ich Sie nach Hause begleiten?“

„Glauben Sie mir, ich kenne meinen Weg.“

Adam biss die Zähne zusammen. Dann fragte er in kühlem, höflichem Ton: „Werden Sie mir wenigstens gestatten, Ihnen in den Sattel zu helfen? Oder sollen wir hier stehen bleiben, bis die Sonne untergeht?“

„Ja, danke“, sagte sie zögernd.

Er umfasste ihre Taille und hob sie mühelos auf den Rücken der Stute. Weil er etwas Zeit gewinnen wollte, um sich zu beruhigen, überprüfte er das Zaumzeug.

Sie war so leicht wie eine Feder. Und so verdammt arrogant. Heißer Zorn ließ seinen Puls rasen, doch noch ein ganz anderes Gefühl stieg in ihm auf, das ihm viel gefährlicher erschien. Er schaute zu ihr hinauf und tätschelte den Hals der Stute. „Alles in Ordnung. Nun sollten Sie aufbrechen.“

Wortlos nickte sie ihm zu und ritt davon.

Während er ihr nachschaute, kniff er seine Augen zu Schlitzen zusammen. Er war noch immer wütend und konnte den frostigen Glanz in ihrem Blick nicht vergessen. So verächtlich hatte sie seinen Namen ausgesprochen. „Mr Davenant hat genauso wenig ein Recht auf dieses Land wie die Krähen da drüben bei den Bäumen!“

Sie hatte ihn nicht erkannt. Aber eines stand fest – sie hasste Adam Davenant wie die Pest. Wer sie war, hatte er bereits erraten. Ihrem Bruder drohten sehr große Schwierigkeiten. Mit mir.

2. KAPITEL

London, zwei Monate später

Geistesabwesend nahm Belle Marchmain ein rosa Band vom Ladentisch und legte es wieder hin, allerdings an die falsche Stelle. „Ich hoffe, das ist ein alberner Scherz, Edward.“

Draußen über der Geschäftsstraße The Strand dämmerte der Abend, die Leitern der Laternenanzünder klapperten. Normalerweise genoss Belle diese ruhige Zeit nach einem anstrengenden Tag. Wenn ihr Geschäft geschlossen war, pflegte sie zufrieden die Stoffballen aus kostbarer Seide und aufwendig gewebtem Jacquard zu betrachten.

Sie selbst trug stets eines der extravaganten Ensembles, die ihren Ruhm in der Londoner Modewelt begründet hatten. Schließlich war es ihr Modesalon, in dem die elegantesten und ausgefallensten Modelle der ganzen Stadt entworfen und angefertigt wurden.

Jetzt fand sie ihre Aufmachung – eine schwarz-grün gestreifte Jacke über einem passenden Seidenrock und grüne Bänder in den schwarzen Locken – lächerlich und frivol angesichts des drohenden Desasters.

Sie war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte inzwischen gelernt, ihr Leben und die allmählich fortschreitende Demütigung ihrer einst so stolzen Familie zu meistern. Vor fünf Jahren war sie auch über den Tod ihres Gemahls, der sie mittellos zurückgelassen hatte, hinweggekommen. Aber nun spürte sie, wie sich eine eiskalte Angst in ihr ausbreitete.

Der Anblick ihres Bruders vor der gläsernen Ladentür hatte sie nicht überrascht. Sie wusste, dass er seit zwei Wochen im Grillon’s Hotel an der Albemarle Street wohnte. „Um Geschäfte zu erledigen und alte Freunde zu treffen“, hatte er ihr bei einem Besuch vor ein paar Tagen erklärt.

Offensichtlich warf Edward das Geld zum Fenster hinaus. Das Grillon’s war teuer, ebenso seine neue Kleidung: eine Seidenweste, ein Gehrock aus feinem blauen Wollstoff und elegante gelbe Pantalons. Nun saß er lässig neben dem Ladentisch, voller Vertrauen in die Fähigkeiten seiner älteren Schwester, seine Probleme wieder einmal für ihn zu lösen.

„Du hilfst mir doch, Belle?“, bat er in schmeichlerischem Ton. „Wie ich höre, ist dein kleiner Laden recht gewinnbringend.“

In diesem Moment trat eine junge Frau mit braunen Locken aus dem Hinterzimmer. „Madame, darf ich den Mädchen sagen … Oh, verzeihen Sie, ich wusste nicht, dass Sie Besuch haben.“

Gabrielle, die französische Assistentin, knickste vor Edward, dessen Augen – wie Belle ärgerlich feststellte – voller Wohlgefallen aufleuchteten.

„Ja, Gabby, schicken Sie Jenny und Susan nach Hause und danken Sie ihnen für ihre gute Arbeit.“

„Natürlich, Madame, nur … da wäre noch etwas …“, begann Gabby.

„Später“, fiel Belle ihr ins Wort.

Als die Französin in das Hinterzimmer zurückkehrte, starrte Edward ihr nach, bevor er auf sein Thema zurückkam. „Ich brauche nur ein bisschen mehr Geld, Belle.“

„Um deine Hotelrechnung zu bezahlen? Oder noch mehr neue Kleidung? Ich muss meine eigenen Schulden begleichen und kann nicht auch noch für deine aufkommen. Dafür verdiene ich zu wenig.“ Seufzend sank sie auf einen der zierlichen vergoldeten Stühle, die für ihre Kundschaft bestimmt waren.

„Aber dein Salon läuft großartig.“ Eifrig rückte Edward mit seinem Stuhl näher an sie heran. Nun konnte er in einen Spiegel schauen und seine elegante Erscheinung bewundern. Er war zwei Jahre jünger als seine Schwester und ähnelte ihr mit seinen schwarzen Haaren und grünen Augen. Allerdings verrieten seine Züge eine gewisse Charakterschwäche, die man bei Belle vergeblich suchte. „Du hast so viele Kundinnen. Und Angestellte!“

„Nur Gabby, zwei Näherinnen und Matt, einen Handlanger, der nur ein paar Stunden pro Woche für mich arbeitet.“

„Immerhin führst du ein Luxusleben. Ständig wirst du zu Bällen und Soireen eingeladen. Und als du Charlotte und mich besucht hast, erwähntest du, dass du vielleicht einen zweiten Laden in Bath eröffnen willst.“

„Daraus wird nichts“, antwortete sie mit gepresster Stimme.

„Hm …“ Sichtlich gelangweilt ergriff Edward einen kleinen Seidenfächer. „Hübscher Tand.“

„Edward, sicher wäre es besser, du würdest mir alles erzählen.“

Das tat er. Schweren Herzens hörte sie ihm zu. Wie üblich hatten andere seine Notlage verursacht, ihn selbst traf wieder einmal keine Schuld.

Mit einundzwanzig Jahren hatte Edward den Hathersleigh-Familienbesitz in der Nähe von Bath geerbt und ein Jahr später seine große Liebe Charlotte geheiratet. Damals lebte Belle bereits in London. Bei jedem ihrer Treffen hatte er ihr versichert, dass das Landgut mehr als genug Gewinn bringen würde.

Vor etwa einem Jahr hatte er ihr jedoch gestanden, er habe einen Großteil der Ländereien an einen Nachbarn verkauft – Adam Davenant. Diesen Mann kannte sie nicht, wusste aber, dass er Land in ganz England besaß und sich nur selten in Somerset aufhielt. Schon ihr Vater hatte die Familie Davenant verabscheut und sie als Emporkömmlinge bezeichnet.

Musstest du das Land verkaufen, Edward?“, hatte sie damals gefragt.

„Ja. Und er war daran sehr interessiert. Du weißt ja, wie diese Neureichen sind, Belle. Sie wollen sich möglichst viel Grund und Boden aneignen, weil sie glauben, dann würden sie respektabel.“

Belle bedauerte den Verlust des Landbesitzes rings um Sawle Down. Insgeheim hatte sie darauf gehofft, dass sich ihr Bruder nun darauf konzentrieren würde, die Erträge des verbliebenen Familienguts bei Bath zu steigern.

Wie sich herausstellte, war die Summe, die Davenant für das Land bezahlt hatte, geradezu lächerlich gewesen. Dank des plötzlichen Preisanstiegs für Baumaterial machte er jetzt ein Vermögen mit dem alten Steinbruch, den er wieder eröffnet hatte.

Das hat er gewusst – und hat uns absichtlich betrogen.

Und nun, in der friedlichen Londoner Abenddämmerung, verkündete Edward, die Ernte des letzten Sommers sei schlecht gewesen, weil der Regen den Weizen ruiniert habe. „Und die Steuern, Belle! Seit einem Jahr verlangt diese verdammte Regierung Steuern für Gerste, für Ackergäule, für alles, was wächst oder sich bewegt!“ Dann erinnerte er seine Schwester an die längst fällige Dachreparatur von Hathersleigh Manor. „Leider hat Onkel Philip das Herrenhaus sträflich vernachlässigt.“

Vor vierzehn Jahren war der Vater der Geschwister gestorben und sein Bruder, der bärbeißige Philip Hathersleigh, hatte das Landgut bis zu Edwards Volljährigkeit verwaltet. Belle stand dem Onkel nicht besonders nahe, seiner zänkischen Frau Mildred noch weniger. Trotzdem hatte sie den Eindruck gewonnen, dass er ein besonnener Mann war, dessen Ratschläge Edward leider nicht befolgte. Schließlich hatte Philip aufgegeben und sich mit seiner Gattin auf seinen eigenen Landsitz im Norden zurückgezogen.

„Kümmere dich um die Verwaltung des Guts, junger Mann“, hatte er Edward grimmig empfohlen, „und lass dich von einem Advokaten beraten, wenn du dein Erbe beisammen halten willst.“

Diese Ermahnungen ignorierte Edward. Bei ihrem Besuch im März hatte Belle seinen Schreibtisch gesehen – er war übersät mit vernachlässigten Akten, ungelesener Korrespondenz und überfälligen Rechnungen.

„Also hast du dich wegen des neuen Daches und der Steuern verschuldet“, bemerkte sie kühl. „Nun, die Einkünfte aus dem Landgut sollten diese Ausgaben durchaus decken.“

„Tja – im Februar, kurz vor deinem Besuch, habe ich einige Schafe von dem Weideland verkauft, das jetzt Davenant gehört.“

„Was?“ Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab.

Edwards Wangen röteten sich. „Weil er so reich ist, dachte ich, er würde es nicht bemerken.“

„Also hast du ihn bestohlen. Um Himmels willen …“

Er sprang auf und wanderte umher, die Hände in den Taschen seines eleganten Gehrocks vergraben. „Bestohlen? Wohl kaum. Da er sich nicht um seine Zäune kümmert, gerieten die Schafe auf meine Wiesen. Und verdammt noch mal, Belle – eher könnte man behaupten, er habe mich bestohlen! Für das Land, das er mir abkaufte, hat er viel zu wenig bezahlt. Und nun … Bedauerlicherweise vermisste er die Schafe, und ich habe einen Brief seines Anwalts erhalten.“

Reglos saß Belle auf ihrem Stuhl. So hart habe ich für dieses neue Leben gekämpft. Ich will den Salon nicht wieder verlieren.

„Vor zwei Monaten besuchte er mich.“

„Wie ist er?“, fragte sie leise.

„Widerwärtig, ein typischer bäurischer Neureicher. Er meinte, ich sei ein Dieb! Als würden ein paar Schafe eine Rolle für ihn spielen!“

„Bist du deshalb nach London gekommen?“ Mit bebenden Fingern drehte sie ihren schmalen Ehering.

„Ja. Davenant verlangte ein weiteres Treffen. Stell dir vor, das verlangte er! Er sagte, er wäre bereit, mich noch einmal in Hathersleigh Manor aufzusuchen, falls ich das vorziehen würde. Aber das will ich nicht, so kurz vor der Geburt des Babys.“

Das verstand sie. In den letzten beiden Jahren hatte ihre arme Schwägerin zwei Fehlgeburten erlitten, und Belle wollte sich gar nicht vorstellen, was geschehen mochte, wenn Charlotte auch dieses Baby verlieren würde.

„Neulich trafen wir uns in meinem Hotel“, fuhr Edward fort. „Davenant hatte diverse Papiere bei sich. Darauf hatte er alles penibel aufgelistet, was mit seinen Schafen zusammenhing. Würde ein Gentleman so etwas nicht seinem Verwalter überlassen? Aber nein, er hatte seinen gesamten Viehbestand gründlich geprüft. Verdammt, seine verschiedenen Unternehmungen müssen ihm Tausende pro Woche einbringen!“ Ärgerlich sprang Edward von seinem Stuhl auf. „Trotzdem erklärte er mir, er könne den Verlust dieser verflixten Schafe nicht hinnehmen.“

Draußen auf dem Strand schlenderten gut gelaunte Leute vorbei, vermutlich auf dem Weg zu den Clubs in der St. James’s Street. Belle wartete, bis das fröhliche Gelächter verhallt war, dann fragte sie: „Ahnt Charlotte irgendetwas von alledem?“

„Natürlich nicht!“, rief ihr Bruder entsetzt. „Sie soll auch nichts erfahren. Wie empfindsam sie ist, weißt du ja.“

Und wenn ich empfindsam wäre? Diese Antwort verkniff sie sich, denn Edward würde niemals etwas anderes in ihr sehen als seine tüchtige, vernünftige ältere Schwester. Nun musste sie nachdenken. Womöglich würde sich dieses neue Problem zu einer Katastrophe entwickeln.

Gewiss, Adam Davenant hatte es nur auf Edward abgesehen, nicht auf sie. Doch waren nicht auch ihr Salon und ihre geringen Ersparnisse gefährdet? Würde sie alles verlieren, was sie sich seit dem Tod ihres Gatten so hart erarbeitet hatte?

Entschlossen kämpfte sie gegen die in ihr aufsteigende Angst und zwang sich zur Ruhe. „Würde Mr Davenant einer Ratenzahlung zustimmen? Dann könntest du die Schulden im Lauf einiger Monate begleichen.“

„Großer Gott, daran zweifle ich. Dieser Mann ist unglaublich habgierig.“ Mit einer fahrigen Geste strich sich Edward das Haar aus der Stirn und entblößte unabsichtlich eine helle, längst verheilte Narbe. „Er verlangte, dass ich das Geld innerhalb einer Woche in sein Haus in Mayfair bringe, sonst würde er die Behörden informieren.“

Für einige Sekunden presste Belle die Hände an die Schläfen.

„Bitte, du wirst mir doch helfen?“, flehte Edward und sank wieder auf seinen Stuhl. „Meine Frau, das Baby, unser Zuhause … Wenn ich im Gefängnis lande – das wäre schrecklich …“

Schon immer hatte Belle gewusst, dass der einst so angesehene Landsitz der Hathersleighs dem Untergang geweiht war. Ihre Familie hatte schon Generationen vor ihr einen zu verschwenderischen Lebensstil gepflegt.

Außerdem hatte sie sich mit ihren eigenen düsteren Zukunftsaussichten auseinandersetzen müssen, nachdem ihr Gemahl bei einem von Wellingtons letzten Feldzügen gefallen war. Sie hatte entscheiden müssen, ob sie zu Edward nach Hathersleigh Manor ziehen oder ihren Lebensunterhalt selbst verdienen sollte. Zwar hatte sie niemals ernsthaft erwogen, ihrem Bruder zur Last zu fallen, doch der Gedanke an eine Anstellung als Gouvernante oder Gesellschafterin war ihr unerträglich erschienen. Gewisse Angebote sogenannter Gentlemen stießen sie ebenfalls ab.

Dann war ihr eine rettende Idee gekommen. Sie konnte ausgezeichnet nähen und sie interessierte sich für Mode. Also beschloss sie, einen Modesalon in London zu eröffnen, und ignorierte die Missbilligung ihres Bruders.

Ihre Entwürfe waren kühn und auffällig. Ungeheuerlich, wie einige Matronen der feinen Londoner Gesellschaft befanden. Der kleine Salon lag in einer guten Gegend, am Strand. Zusammen mit Gabby bewohnte Belle die beiden Räume im oberen Stockwerk. Bald erregten ihre Modelle die Aufmerksamkeit vornehmer Kundinnen, die der eintönigen Pastellfarben müde waren und nach reizvollen neuen Farben und Schnitten Ausschau hielten. Dennoch verdiente sie kein Vermögen. Sie war froh, wenn ihre Einnahmen für die Miete, die Gehälter der Angestellten und die Rechnungen reichten. Wie um alles in der Welt sollte sie Edwards Schulden bezahlen?

Während die Seidenballen im flackernde Kerzenlicht schimmerten, schaute Belle ihren Bruder eindringlich an. „Es wäre sinnlos, dich nach der Höhe der Summe zu fragen, denn ich kann sie ohnehin nicht aufbringen. Aber ich werde zu Mr Davenant gehen.“

„Was?“ Entgeistert starrte er sie an. „Verdammt will ich sein, wenn du vor diesem elenden Emporkömmling zu Kreuze kriechst!“

„Noch nie im Leben bin ich vor irgendwem zu Kreuze gekrochen“, erwiderte sie ärgerlich. „Ich werde einfach erklären, du hättest einen schweren Fehler gemacht …“

Entrüstet sprang er auf und wollte protestieren, doch Belles ernster Blick bewog ihn zu schweigen, und er setzte sich wieder.

„… du hättest einen schweren Fehler gemacht“, wiederholte sie, „und du wärst ihm dankbar, wenn er dir gestatten würde, deine Schulden in Raten abzuzahlen, innerhalb von – drei Jahren?“

„Drei Jahre“, murmelte er und zog einen Schmollmund wie ein kleiner Junge. „Ja, das müsste möglich sein. Wir leben in harten Zeiten. Was nicht für Davenant gilt. Zum Teufel mit dem unverschämten Kerl …“

„Nach meinem Besuch bei ihm werde ich dir mitteilen, was ich erreicht habe“, unterbrach sie ihn in ruhigem Ton.

„Also gut, geh zu ihm.“ Edward stand auf und begann erneut umherzuwandern. „Und versprüh deinen Charme. Was mir gerade einfällt, Belle … Wenn du noch einmal heiratest – natürlich nicht Davenant, sondern einen anderen wohlhabenden Gentleman … Damit wären alle unsere Probleme gelöst. Du siehst nicht übel aus. Natürlich dürftest du die Männer nicht mit deinen kapriziösen Kleidern und deiner scharfen Zunge abschrecken.“

„Sei versichert“, entgegnete sie frostig, „ich habe nicht vor, jemals wieder zu heiraten.“

„Wie du meinst.“ Gleichmütig zuckte er mit den Schultern. „Etwa eine Woche werde ich noch im Grillon’s bleiben.“ Er setzte seinen Hut auf und überprüfte sein Spiegelbild. „Gib mir Bescheid, wenn die Sache mit Davenant geklärt ist.“

„Edward“, sagte sie unvermittelt, „du wirst doch nicht in eine dieser Spielhöllen gehen?“

„In eine Spielhölle?“ Er fuhr zu ihr herum. „Niemals. Und vielen Dank für deine Hilfsbereitschaft, Belle. Eines Tages werde ich mich revanchieren.“

Mit beschwingten Schritten verließ er den Salon, während Belle wie versteinert auf ihrem Stuhl sitzen blieb.

Zögernd erschien Gabby aus dem Hinterzimmer. „Haben Sie jetzt Zeit für mich, Madame? Ich wollte Ihnen von einigen Schwierigkeiten berichten.“

„Welche Schwierigkeiten?“, fragte Belle, von neuer Sorge erfüllt.

„Jenny hat mir davon erzählt. Als wir gerade bei Lady Tindall Maß für ihr neues Kleid nahmen, kam eine Kundin herein und beklagte sich, dass eine Manschette von der Pelisse abgerissen sei, die sie letzte Woche bei uns gekauft hatte.“

„Was hat Jenny gemacht?“

„Sie behob den Schaden sofort und die Dame ging. Jenny meinte, die Kundin sei sehr unfreundlich gewesen und habe betont, sie würde in Zukunft unseren Salon meiden.“

„Nun, vermutlich sind wir ohne sie besser dran“, meinte Belle besänftigend, und Gabby ging erleichtert nach hinten, um in der Werkstatt aufzuräumen.

Belle war froh, dass die lebhafte Französin sich bei ihr beworben und als tüchtige Arbeitskraft erwiesen hatte. Außerdem konnte sie großartig mit der Kundschaft umgehen und verstand sich sehr gut mit den beiden anderen Mädchen, die für Belle arbeiteten.

Natürlich schadete es keineswegs, dass Matt in Gabby verliebt war. Der ernsthafte, ehrbare Matt Bellamy arbeitete meistens in den Stallungen seines Bruders weiter unten in der Straße, hatte aber den Beruf des Schreiners erlernt. In Belles Auftrag hatte er den Salon hergerichtet und war immer noch für sie tätig. Obwohl Gabby ihn gnadenlos neckte und hänselte, konnte er nicht verhehlen, was er für sie empfand.

Ihre Angestellten bereiteten Belle keine Sorgen – im Gegensatz zu ihrem Bruder. Wenn er auch beteuert hatte, er würde keine Spielhöllen aufsuchen, erinnerte sie sich nur zu genau, wie oft er schon den Verlockungen des Kartenspiels erlegen war.

Von dieser Schwäche hatte ihn die Ehe mit Charlotte geheilt, zumindest hoffte Belle darauf. Aber nun drohten neue Gefahren. Voller Unbehagen dachte sie an die Begegnung mit dem Steinbrucharbeiter in Sawle Down.

„Verschwinden Sie“, hatte sie ihn angeherrscht. Warum war sie so unfreundlich gewesen? Wegen seiner einfachen, staubigen Kleidung? Weil er für Davenant arbeitete?

Sie kannte diesen Mann nicht. Doch eins stand fest: Wenn er erfuhr, wie sehr sie ihn an jenem Nachmittag beleidigt hatte, war Edward verloren. Und sie selbst ebenso …

3. KAPITEL

London, vier Tage später

Obwohl Adam Davenant erst am Vortag die Einladungen verschickt hatte, waren alle Gentlemen an diesem Nachmittag erschienen. Den Grund dafür glaubte er zu kennen: Bisher hatten nur wenige Angehörige der feinen Gesellschaft sein Haus in der Clarges Street betreten und nun konnten sie kaum erwarten, es zu betreten, um die Einrichtung zu begutachten und seinen Reichtum abzuschätzen.

Während er sie begrüßte, beobachtete er, wie sie die kostspieligen, aber schlichten Möbel registrierten. Die Anzahl der livrierten Lakaien, die edlen Weine, die erlesenen Speisen auf dem Buffet. Alles war perfekt. So musste es auch sein, denn diese Leute würden ihn nur allzu gern wegen seiner niederen Herkunft verachten.

Der Wein floss in Strömen. Ein Fehler, überlegte Adam, als das Stimmengewirr am Esstisch anschwoll. Schließlich stand er von seinem Platz am Kopfende der Tafel auf und schnitt das geschäftliche Thema an, das ihn zu dieser Einladung bewogen hatte. „Kommen wir zur Sache, Gentlemen. In den Steinbrüchen von Somerset wird hervorragendes Baumaterial gefördert. Da London immer schneller wächst und immer mehr gebaut wird, entsteht ein profitabler Markt. Auf alle Investoren warten hohe Gewinne. Heute möchte ich mit Ihnen über den Transport der Steine sprechen.“

In Schwarz gekleidet, mit einem schneeweißen Krawattentuch, strahlte er die Autorität eines Mannes aus, der es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen und Macht auszuüben. Die Macht des Geldes.

Nachdem er die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden gewonnen hatte, zeigte er auf eine Landkarte, die hinter ihm an der Wand hing. „Um das Gestein aus Somerset zum Kennet-und-Avon-Kanal und von dort auf der Themse nach London zu befördern, brauchen wir eine Bahnstrecke.“

„Da gibt es bereits Transportwege, Davenant!“, rief jemand.

„Offenbar meinen Sie die Pferdefuhrwerke, ich aber rede von einer Dampfeisenbahn. Davon würden alle profitieren, die landwirtschaftliche und andere Produkte nach London schaffen wollen, nicht nur Steine. Die Beförderungszeit wird halbiert, der Gewinn verdoppelt.“

Einige Männer nickten zustimmend.

Lord Rupert Jarvis jedoch, der mehr getrunken und gegessen hatte als alle anderen, spottete: „Zweifellos meinen Sie, Ihr Profit wird sich verdoppeln, Davenant. Nicht meiner.“

Der blonde Lord besaß nicht nur große Ländereien in Somerset, sondern auch ein Transportunternehmen mit Kutschen und Frachtwagen, die in ganz Südengland unterwegs waren. Verständlicherweise sah er in einer Eisenbahnlinie eine gefährliche Konkurrenz.

„Es wird für alle Transportmöglichkeiten genug zu tun geben, Lord Jarvis“, entgegnete Adam kühl. „Die Chancen, die uns die Eisenbahn bietet, dürfen wir nicht ignorieren. Wie die Gentlemen vermutlich wissen, nutzt der Minenbesitzer Charles Brandling in Yorkshire schon seit Jahren die Dampfmaschine, um seine Kohle in die Häfen zu bringen. Ich schlage vor, dass wir alle in die neue Somerset-Bahnlinie investieren. Wir werden nicht nur reichlich Gewinn erwirtschaften, sondern auch unseren Männern und den Pferden viel harte Arbeit ersparen.“

„Also stellen Sie sich auf die Seite der Arbeiter, Davenant?“, höhnte Jarvis, der für die grausame Behandlung seiner Angestellten und Tiere berüchtigt war. „Die können verdammt noch mal froh sein, dass sie bei mir genug verdienen, um ihre Frauen und Bälger zu ernähren.“

„Daran zweifle ich nicht.“ Adams Miene war ausdruckslos, nur seine grauen Augen schienen hart wie Granit.

Jarvis lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Zeigen Sie uns mal Ihre geplante Route, Davenant. Sicher haben Sie schon alles durchdacht.“

Adam wandte sich wieder der Landkarte zu und erklärte: „Hier liegt Bath mit den Steinbrüchen im Süden und dem Fluss Avon. Und hier …“, er zeigte auf eine blaue Linie, „… verbindet der Kanal den Avon mit dem Kennet, der wiederum bei Reading in die Themse mündet. Die beste Bahnroute würde von Monkton Sawle zu der Stelle führen, wo der Kanal nach Osten biegt.“

Während Jarvis sich noch eine Scheibe Wildpastete nahm, bemerkte er: „Anscheinend müsste Ihre Bahnlinie mindestens zweiundeinhalb Meilen über mein Land verlaufen.“

„Ja, um den Kanal bei Limpley Stoke zu erreichen – was auch in Ihrem Interesse liegen würde, Sir.“

„Zum Teufel damit!“, fauchte Jarvis und wischte sich einige Krümel von den Lippen. „Jetzt habe ich genug von diesem Unsinn gehört! Ich werde mich verabschieden, um eine wichtigere Verabredung einzuhalten.“

Adam zeigte auf den Teller mit der halb verspeisten Pastete. „Soll einer meiner Lakaien den Rest für Sie einpacken, Lord Jarvis? Es wäre mir sehr unangenehm, wenn Sie mein Haus hungrig verlassen würden.“

Rings um den Tisch erklang leises Gelächter und einer der Gäste applaudierte sogar. Jarvis’ Appetit auf kostenlose Mahlzeiten war allgemein bekannt.

„Fahren Sie zur Hölle, Davenant!“ Ärgerlich stieß Jarvis seinen Stuhl zurück und verließ den Raum. Hinter ihm fiel die Tür krachend ins Schloss.

„Ich stehe auf deiner Seite, Adam“, verkündete Adams Freund Tobias Bartlett.

Auch mehrere andere Gentlemen stimmten dem Plan zu. Dennoch blieb das Problem, dass die geplante Strecke zumindest teilweise über Jarvis’ Land führen müsste, bestehen und wurde lebhaft diskutiert.

„Dieses Stück Land nutzt er ohnehin kaum“, seufzte Bartlett. „Wenn er mit dir verhandelt, könnte ein schöner Profit für ihn herausspringen. Das sollte er eigentlich wissen.“

„Seine Ablehnung beruht sicher nicht auf kommerziellen Erwägungen“, erwiderte Adam leise.

Also stellen Sie sich auf die Seite der Arbeiter, Davenant? hatte Jarvis gespottet.

Adam wünschte sich manchmal, er könnte seine Differenzen mit dem Lord in einem Faustkampf austragen und ihn einfach niederschlagen. Nachdenklich betrachtete er seine kräftigen Hände. In Eton hatten ihn die Schulkameraden nur für eine kurze Zeit „Bergmann Tom“ genannt. Schon bald hatte er sich mit seinen Fäusten Respekt verschafft und auch später allzu dreiste Kritiker auf ähnlich wirksame Weise zum Schweigen gebracht. Mittlerweile wurde er aufgrund seines enormen Reichtums und seines untadeligen Benehmens von einem Großteil der Oberschicht akzeptiert. Vor allem von den Familien des Landadels, die ihre Töchter verheiraten wollten.

Jarvis hingegen wurde wegen seines ungehobelten Verhaltens von vielen verachtet. Ginge es nicht um dieses verdammte Stück Land, würde Adam ihn ignorieren.

„Wenn Jarvis nicht nachgibt, könnten Sie die Bahnstrecke durch das Tal bis Midford verlegen und dann nach Norden führen, Adam“, schlug ein Nachbar aus Somerset vor, der zusammen mit anderen Männern vor der Landkarte stand. „Ich würde sehr gern einen Teil meiner Ländereien verkaufen und an Ihrem Projekt teilhaben.“

„Darüber freue ich mich“, beteuerte Adam. „Irgendwie werden wir ohne Jarvis zurechtkommen. Allerdings müssten wir dann auf der Route nach Norden einige Hügel sprengen.“ Er wies auf die Karte. „Hier – und hier …“

„Das würde sich lohnen“, meinte ein anderer Gentleman. „Vorhin haben Sie die Kohleminen im Nordosten erwähnt, Davenant. Einem Gerücht zufolge will Stephenson oben in Stockton mit seiner Bahn nicht nur Kohle, sondern auch Passagiere befördern. In der Dampfkraft liegt die Zukunft. Deshalb unterstütze ich Ihre Pläne. Und damit Jarvis sein selbstgefälliges Grinsen vergeht. Wie er seine Männer und seine Pferde behandelt – das ist einfach abscheulich. Was unser Projekt betrifft, Mr Davenant … Mr Davenant?“

„Hmmm?“

Es geschah nicht oft, dass Adam sich von seinen Geschäften ablenken ließ. Dennoch wurde seine Aufmerksamkeit, als er beiläufig aus dem Fenster schaute, von etwas anderem gefesselt. Soeben stieg am anderen Ende der Clarges Street eine Frau aus einer schäbigen Kutsche. Sie trug einen großen Strohhut und ein auffälliges Kleid in Türkis und Rosa. Wahrscheinlich eine teure Kurtisane, vermutete Adam, von einem meiner reichen Nachbarn für ein paar vergnügliche Stunden im Bett engagiert.

Achselzuckend wollte er sich wieder seinen Gästen zuwenden. Doch dann hielt er inne. Irgendetwas an der Frau kam ihm bekannt vor. Wie stolz sie aus der lächerlichen Kutsche stieg … Eine schmale Taille und ein hübsch geschwungenes Hinterteil zeichneten sich unter dem Kleid ab, als sie sich auf Zehenspitzen stellte und mit dem Kutscher sprach.

Ja, eindeutig – sie erinnerte ihn an die Reiterin in Sawle Down. So schändlich hatte sie ihn beleidigt. Und er hatte sich das gefallen lassen, statt sie – daran dachte er immer wieder – an sich zu reißen und ihre Schmähungen mit heißen Küssen zu ersticken.

Höchste Zeit, dass er sich wieder um seine Gäste und die Bahnstrecke kümmerte …

Es war tatsächlich Belle, die jetzt auf der Straße stand und sich mit Matt stritt. „Den restlichen Weg kann ich zu Fuß zurücklegen.“

Mit gerunzelter Stirn schaute Matt Bellamy vom Kutschbock herab. „Von hier aus, Mrs Marchmain? Offenbar ist das Haus noch ziemlich weit entfernt.“

Das mag sein. Aber weder Mr Davenant noch sein Personal sollen mich in diesem armseligen alten Vehikel vorfahren sehen.

Sie hatte bereits erfolglos versucht, den Wagenschlag zu schließen. Nun probierte sie es noch einmal, wobei die verdammte Tür beinah aus den Angeln fiel.

Belle hatte eine eindrucksvolle Ankunft vor Davenants Haus geplant und Matt gebeten, sich eine passende Kutsche aus den Stallungen seines Bruders zu leihen. Dann war er um halb drei mit dieser Karre vor ihrem Salon erschienen, und es war ihr nur unter großen Mühen gelungen, ihr Entsetzen zu verbergen.

Autor

Lucy Ashford
Mehr erfahren