Der Hauch von Skandal

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Niemals wieder will die schöne Witwe Joanna heiraten! Und so tut sie alles, um einen zudringlichen Verehrer abzuwehren - vor seinen Augen küsst sie spontan den berühmten Polarforscher Alexander, Lord Grant. Zwar schürt ihre skandalöse Tat die Gerüchteküche. Doch da Alex nur kurz in London weilt, wird sie ihn nie wiedersehen müssen, glaubt Joanna. Bis eine Testamentsklausel sie zwingt, in die Arktis zu reisen. Ein gewagtes Abenteuer voller ungeahnter Gefahren und prickelnder Leidenschaft beginnt, denn nur einer kann sie auf ihrer Reise beschützen: Alex! Und Schneestürme und Eisbären sind harmlos gegen seinen verführerischen Charme …


  • Erscheinungstag 29.04.2012
  • Bandnummer 249
  • ISBN / Artikelnummer 9783864941801
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Nicola Cornick

Geschichte faszinierte Nicola Cornick schon als Kind. Stapelweise las sie historische Romane und sah sich Kostümfilme an – und sie tut es noch immer! Nach ihrem Geschichtsstudium in London hatte Nicola verschiedenste Jobs, ehe sie sich ganz dem Schreiben widmete. Wenn sie nicht am Schreibtisch sitzt, entspannt sie sich bei Spaziergängen auf dem Land.

Wie unsere Zeitung erfahren hat, wollen die schöne verwitwete Lady JW und der schneidige Lord G sich gemeinsam auf die skandalträchtige, abenteuerliche Reise in die öden Weiten der Arktis begeben. Wie die Leser unseres Blattes bereits wissen, ist Lord G dadurch berühmt geworden, dass er im Alleingang eine Route durch die Äußere Mongolei entdeckt und kartografisch erfasst hat. Erst kürzlich ist er wieder in London eingetroffen, umjubelt wegen seiner Heldentaten im eisigen Norden. Wenn es einen Mann gibt, der Lady JW sicheres Geleit geben kann auf ihrer gefährlichen Reise mit dem Ziel, das uneheliche Kind ihres verstorbenen Gatten nach Hause zu holen, dann ist das mit Sicherheit Lord G.

Lady JW ist bekanntermaßen eine für ihre Eleganz und ihren Stil berühmte Ikone der Gesellschaft. Ist es möglich, dass sie erneut ein Auge auf einen Abenteurer geworfen hat, nachdem sie schon einmal einem wagemutigen Freibeuter angetraut war? Falls dem so ist, kann man über ihren eventuellen Erfolg nur spekulieren, denn es heißt, sein Herz sei genauso kalt wie der Schnee in der Arktis …

The Gentleman’s Athenian Mercury

London, 3. Juni 1811

Meine Fantasien ein Heer,

das ich befehle;

mit einem Pferd aus Luft und glühendem Speer

ziehe ich in die Wildnis.

Gerufen von geisterhaften Rittern und Schatten

muss ich mich auf den Weg begeben,

bis weit hinter das Ende der Welt.

Mich dünkt, es ist keine leichte Reise.

Aus Tom O’Bedlam’s Song,

anonym, um 1600

1. Kapitel

Begriffserklärung: Eine Strohwitwe ist eine Ehefrau, deren Ehemann nach zeitlich begrenzter Abwesenheit zu ihr zurückkehren wird, beispielsweise nach einer Reise. Das „Stroh“ bezieht sich dabei auf die Matratze, die mit Stroh gefüllt wurde. Die „Witwe“ bleibt also allein zurück auf Stroh/auf der Matratze. Dabei schwingt vielleicht mit, dass die verlassene Geliebte verärgert darüber ist, sich mit „Stroh“ begnügen zu müssen. Der Begriff wird mit einem „leicht maliziösen Unterton“ verwendet, eine interessante, etwas undurchsichtige Beschreibung.

London, Mai 1811

Er hatte sich verspätet. Um ganze achtzehn Monate.

Alex Grant verharrte auf den Stufen zu Lady Joanna Wares Londoner Stadthaus in der Half Moon Street. Wenn er erwartet hatte, irgendein Anzeichen von Trauer zu entdecken, so wurde er jetzt gründlich enttäuscht. Es gab keine zugezogenen schwarzen Vorhänge vor den Fenstern, und das Vorhandensein eines großen silbernen Türklopfers verriet, dass Besucher durchaus willkommen waren. Wie es schien, hatte Lady Joanna kaum zwölf Monate, nachdem die Nachricht vom Tod ihres Gatten sie ereilt haben musste, die Trauerzeit beendet.

Alex betätigte den silbernen Türklopfer, und die Haustür glitt lautlos auf. Ein in düsteres Schwarz gekleideter Butler stand vor ihm. Es war noch weit vor der schicklichen Zeit für einen Besuch. Dem Butler gelang es, diese Mitteilung – und seine Missbilligung darüber – durch ein kaum merkliches Hochziehen seiner Augenbrauen zum Ausdruck zu bringen.

„Guten Morgen, Mylord. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

Mylord. Der Mann kannte ihn gar nicht, trotzdem hatte er seinen gesellschaftlichen Rang sofort mit einiger Exaktheit einordnen können. Beeindruckend. Nichts anderes hätte Alex von dem Butler einer so berühmten und umschwärmten Dame der gehobenen Gesellschaft wie Lady Joanna Ware erwartet. Die Begrüßung war auch nicht gerade ermutigend; eine stumme Warnung vielleicht, dass Lady Joanna für einen Vertreter seiner Klasse nicht zu sprechen war.

„Ich möchte Lady Joanna meine Aufwartung machen.“

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Eigentlich verspürte er nicht das geringste Verlangen, Lady Joanna zu sehen. Allein das Gefühl, es seinem verstorbenen Kameraden schuldig zu sein, hatte ihn dazu bewegt, dessen Witwe aufzusuchen. Das Fehlen jeglichen Anzeichens von Trauer über den Verlust eines so herausragenden und geachteten Ehemanns wie David Ware verstimmte Alex zutiefst, und sein Wunsch, die Bekanntschaft mit Lady Joanna zu erneuern, wurde immer geringer.

Der Butler verstand sein Werk zu gut, um ihn wie einen Händler draußen auf der Treppe stehen zu lassen. Er trat einen Schritt zurück und gab den Weg in die Eingangshalle frei, auch wenn sich auf seinen Zügen unverändert Zweifel widerspiegelten. Ein in schwarz-weißem Schachbrettmuster gehaltener Marmorfußboden erstreckte sich bis zu einer eleganten, geschwungenen Treppe. Zwei livrierte Diener – offenbar eineiige Zwillinge, wie Alex feststellte – waren wie Statuen rechts und links vor einer Tür postiert. Aus dem Zimmer hinter dieser Tür war eine erregte Frauenstimme zu vernehmen, die den erhabenen Eindruck aristokratischer Eleganz jäh zunichtemachte.

„Cousin John! Erheben Sie sich bitte, und hören Sie auf, mich mit diesen lächerlichen Heiratsanträgen zu belästigen! Abgesehen davon, dass Sie mich langweilen, missbrauchen Sie meinen neuen Teppich. Ich habe ihn gekauft, damit man ihn bewundert; nicht, damit aufdringliche Verehrer auf ihm knien.“

„Lady Joanna ist verlobt“, teilte der Butler Alex mit.

„Ganz im Gegenteil“, widersprach Alex. „Sie hat soeben verkündet, das nicht zu sein.“ Er durchquerte die Halle, zog die Tür auf, ignorierte, wie der Butler entrüstet nach Luft schnappte, und erfreute sich an dem verblüfften Ausdruck auf den bisher maskenhaft attraktiven Gesichtern der Lakaien.

Der Raum, den er betrat, war eine sonnendurchflutete, in frischem Gelb und Weiß gehaltene Bibliothek. Im Kamin brannte ein Feuer trotz der Wärme des Maimorgens. Ein kleiner, grauer flauschiger Hund, dessen Fell oben auf dem Kopf mit einer blauen Schleife zusammengebunden war, lag auf einem Läufer vor dem Kamin. Auf seine Art wirkte das Tier genauso hübsch wie die Lakaien. Es hob den Kopf und sah Alex aus braunen Augen abschätzend an. In der Luft hing der Duft von Lilien und Bienenwachs. Der gesamte Raum strahlte eine einladende Wärme aus. Alex, der seit mehr als sieben Jahren kein festes Heim hatte und sich auch nicht nach einem gesehnt hatte, blieb wie angewurzelt stehen. Sich in einem solchen Raum zu entspannen, sich ein Buch aus einem der Regale zu nehmen und sich einen Brandy aus der Karaffe einzuschenken, in einem der üppigen Sessel am Kamin zu versinken … All das kam ihm auf einmal äußerst verlockend vor.

Nun, vielleicht doch nicht …

Das Verlockendste war sicherlich die Frau, die an einem der hohen Fenster stand. Die Sonne zauberte goldene und kupferrote Reflexe in ihr üppiges kastanienbraunes Haar. Ihr Gesicht war oval; ihre blauvioletten Augen standen weit auseinander über einer kleinen geraden Nase und einem beinahe unschicklich sinnlichen Mund. Sie war nicht schön im landläufigen Sinn; dazu war sie zu groß, zu schlank, zu kantig und ihr Gesicht zu auffallend, aber das spielte nicht die geringste Rolle. In ihrem kirschroten Tageskleid mit einem farblich passenden Haarband war sie einfach atemberaubend. Nein, keine Spur von Trauerkleidung, nicht einmal das sittsame Lavendelblau der Halbtrauer, da war nur vibrierende Lebensfreude.

Alex konnte gerade noch registrieren, wie reizvoll sie war und wie dieser Reiz etwas tief in seinem Innern ansprach, da hatte sie ihn schon entdeckt und eilte quer durch das Zimmer auf ihn zu.

„Liebling! Wo warst du nur? Ich warte schon seit Stunden auf dich!“ Sie warf sich in seine Arme. „War wieder so viel Verkehr am Piccadilly?“

Sie fühlte sich warm und nachgiebig in seinen Armen an, als wäre sie eigens für ihn geschaffen worden. Das Gefühl der Vertrautheit traf ihn wie ein Schock. Sie duftete nach Sommerblumen. Einen kurzen Moment lang hielt sie ihm ihr Gesicht zugewandt; in ihren großen violetten Augen standen Furcht – ausgerechnet! – und eine stumme Bitte. Dann legte sie ihm eine Hand in den Nacken und küsste ihn auf den Mund, als meinte sie es wirklich, wirklich ernst.

Es war erstaunlich und von der ersten Sekunde an erregend. Alex’ Körper reagierte sofort auf die Verführung, die von ihren Lippen ausging, so kühl, so weich und so verlockend. Bei nüchterner Betrachtung wäre ihm vielleicht der Gedanke gekommen, dass dieser Kuss seiner zweijährigen Enthaltsamkeit ein überaus stürmisches Ende setzte, aber in diesem Augenblick konnte er nur ihren Körper an seinem spüren und das grenzenlose Verlangen, auf der Stelle mit ihr ins Bett zu gehen – bevorzugt in ihres, da es höchstwahrscheinlich näher lag als sein eigenes.

Hitze durchströmte seinen Körper, hell aufloderndes Begehren. Doch da löste Lady Joanna sich bereits wieder aus seinen Armen und ließ ihn zurück mit der Verheißung des Paradieses und einer ziemlich unangenehmen Erregung. Eine Sekunde lang ruhte ihr Blick auf seinen Lippen, und er hätte beinahe laut aufgestöhnt. Ihre violetten Augen blitzten vor Übermut auf, als sie den Blick tiefer wandern ließ.

„Liebling, du freust dich ja tatsächlich, mich zu sehen!“

Sie nannte ihn Liebling, weil sie keine Ahnung hatte, wer er war, wie Alex plötzlich begriff. Um die verräterische Reaktion seines Körpers zu verbergen, suchte er Zuflucht hinter einem Schreibtisch aus Rosenholz, auf dem sich Bücher stapelten. Lächelnd nahm er ihre Herausforderung an. Wenn sie sich skandalös benehmen konnte, würde er ihr in nichts nachstehen. Das zumindest hatte sie verdient, weil sie ihn benutzt hatte, ohne ihn zu kennen und das Geringste für ihn zu empfinden.

„Wer würde das nicht, Liebste?“, antwortete er. „Gewiss ist meine Ungeduld nur allzu verzeihlich. Mir ist, als hätte ich dein Bett schon vor Tagen verlassen und nicht erst vor wenigen Stunden …“ Er ignorierte ihr hörbares Ringen nach Luft und wandte sich dem dritten Anwesenden im Zimmer zu, einem ziemlich rotgesichtigen Mann mittleren Alters, der die Szene aus hervortretenden Augen und offenen Mundes verfolgt hatte. „Ich habe bedauerlicherweise Ihren Namen nicht mitbekommen, Sir“, meinte Alex gedehnt, „aber ich fürchte, für Ihre Liebeserklärung ist es ein wenig zu spät. Lady Joanna und ich …“ Er ließ den Satz unvollendet und bedeutungsschwer im Raum stehen.

„Liebling!“ Joannas Stimme klang vorwurfsvoll, doch Alex hörte auch einen deutlich verärgerten Unterton heraus. „Es gehört sich nicht für einen Gentleman, unsere Beziehung publik zu machen.“

Alex trat zu ihr, nahm ihre Hand und küsste die Innenseite des Handgelenks. „Verzeih mir“, murmelte er, „ich dachte, du hättest bereits mit diesem bezaubernden Kuss bewiesen, wie nahe wir uns stehen.“ Ihre Haut fühlte sich wunderbar weich unter seinen Lippen an. Ungestümes Verlangen regte sich in ihm. Er hatte sich niemals unüberlegt in eine Affäre gestürzt, doch nach dem Tod seiner Frau hatte es ihm an weiblicher Gesellschaft nie gemangelt – angenehme, unkomplizierte Beziehungen ohne tiefere emotionale Bindungen. Diese Frau jedoch, David Wares alles andere als trauernde Witwe, war für ihn tabu. Sie war die Witwe seines besten Freundes, der ihn noch dazu davor gewarnt hatte, ihr zu vertrauen. All die Gründe, warum er sich von Joanna Ware fernhalten sollte, waren ihm bewusst, sein Körper hingegen ließ keinen Zweifel daran, dass Alex sie zwar vielleicht nicht schätzte – aber begehrte. Über alle Maßen sogar.

Wie lästig. Unmöglich.

Anscheinend schätzte Lady Joanna ihn noch weniger als er sie, denn sie entriss ihm ihre Hand. Ihre Wangen waren leicht gerötet, und ihre Augen funkelten kalt. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir verzeihe.“ Ihr Tonfall klang warnend. „Ich bin äußerst verärgert über dich, Liebling.“ Das letzte Wort stieß sie gepresst hervor.

„Das bezweifle ich nicht, Liebling.“

Gefesselt von dieser verwirrenden Mischung aus Verlangen und Feindseligkeit hatte er den Mann beinahe vergessen, der sich nun steif verneigte. „Mir scheint, ich bin hier mehr als überflüssig. Madam.“ Er sah Joanna aufgebracht an, nickte Alex kurz zu und verließ die Bibliothek, wobei er die Tür geräuschvoll hinter sich zuschlug.

Einen Moment lang herrschte Stille, nur unterbrochen vom Knistern des Feuers im Kamin. Dann drehte Joanna sich zu ihm um und ließ den Blick prüfend über Alex’ Gesicht gleiten. Ihre Augen wurden schmal, als sie ihn von Kopf bis Fuß betrachtete, die Hände in die Hüften gestemmt, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Jetzt, da sie allein waren, war von Freude über seine Anwesenheit nichts mehr zu spüren. Ihr Zorn und ihre Anspannung waren beinahe greifbar. Dann …

„Wer zum Teufel sind Sie?“, fragte sie.

Tatsächlich wusste sie genau, wer er war. Es lag nur daran, dass dieser Kuss sie ihrer üblichen Fassung beraubt hatte. Joanna konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal geküsst hatte, und damals war es ihr Ehemann gewesen. Das jedoch hatte sich nie annähernd so süß, so erregend und so durch und durch verrucht angefühlt wie diesen Mann hier zu küssen. Nur ganz leicht, flüchtig und oberflächlich hatte sie die Lippen auf seine legen wollen. Doch sobald er von ihrem Mund Besitz ergriffen hatte, war in ihr das Verlangen erwacht, sein Gesicht, seinen Körper mit den Fingern zu erkunden, zu schwelgen in seinem Duft und seinem Geschmack. Dieses Verlangen war so stark gewesen, dass ihr allein beim Gedanken daran die Knie weich geworden waren. Heißes Begehren hatte sie durchströmt, sie, die nicht damit gerechnet hatte, in ihrem Leben noch einmal so etwas zu empfinden.

Doch das hier war Alex Grant, der beste Freund – selbst in Gedanken benutzte sie diese Bezeichnung voller Verachtung – ihres fehlgeleiteten Gatten. Ein Forscher und Abenteurer wie David; ebenfalls immer rund um den Globus unterwegs. Stets auf der Suche nach Krieg, Ruhm oder Abenteuer, irgendeiner geheimnisvollen Handelsroute nach China oder etwas ähnlich Sinnlosem. Sie erinnerte sich jetzt sehr gut an ihn. Alex Grant war Davids Trauzeuge gewesen, als sie vor zehn Jahren geheiratet hatten.

Es versetzte ihr immer noch einen Stich, wie glücklich und hoffnungsvoll sie an jenem Tag gewesen war. Hohe Erwartungen und schlechte Menschenkenntnis sollten das Rezept für eine unglückliche Ehe werden, doch an jenem sonnigen Maimorgen hatten die Enttäuschungen noch in ferner Zukunft gelegen. Und an diesem Tag hatte sie auch Alex Grant kennengelernt. Er war schon damals so unglaublich attraktiv gewesen, wenn auch mit etwas weicheren Zügen als heute. Und er hatte eine Ehefrau dabeigehabt, ein hübsches, kleines blondes Geschöpf. Annabel? Amelia? Irgendetwas mit A. Joanna konnte sich nicht genau an ihren Namen erinnern, wohl aber daran, dass sie Alex immer bewundernd angesehen hatte und so charmant und oberflächlich, wie ein Püppchen gewesen war.

Ihr schlechtes Gewissen regte sich. Normalerweise küsste sie die Ehemänner anderer Frauen nicht, weil sie es hasste, dass so viele andere Frauen den ihren geküsst hatten. Davids Untreue war kein Geheimnis gewesen, dennoch hatte sie nicht die Absicht, ihm nachzueifern. Wie es aussah, war es in mehr als einer Hinsicht ein Fehler gewesen, Alex zu küssen. Ihr war ohnehin immer noch schwindelig wegen ihrer verblüffenden körperlichen Reaktion auf seine Berührung, nun kam obendrein der Zorn darüber hinzu, dass auch er nichts weiter war als ein elender Schürzenjäger.

Alex verbeugte sich. Das tat er sehr elegant, obwohl sie versucht hatte, ihn wie einen ungehobelten Seemann in seiner verblichenen Kapitänsuniform abblitzen zu lassen – ungeachtet der Tatsache, dass diese Uniform ihm viel zu gut stand und seine breiten Schultern schmeichelhaft zur Geltung brachte. Er war ein Mann von großer körperlicher Präsenz; seine Haltung strahlte Autorität und Kraft aus.

Genau wie David … Sie erschauerte.

„Alexander, Lord Grant, zu Ihren Diensten, Lady Joanna“, sagte er.

„Mehr zu meinen Diensten, als ich verlangt habe“, gab Joanna kühl zurück. „Ich wünsche keinen Liebhaber, Lord Grant.“

Er lächelte, weiße Zähne blitzten in dem gebräunten Gesicht auf. „Ich bin untröstlich.“

Lügner. Sie wusste, er konnte sie ebenso wenig leiden wie sie ihn. „Das bezweifle ich. Wie kommen Sie dazu, etwas so Unerhörtes anzudeuten?“

„Wie kamen Sie darauf, mich zu küssen, als bedeute es Ihnen etwas, obwohl dem nicht so war?“

Wieder vibrierte die Luft zwischen ihnen vor Anspannung. Ach ja, der Kuss. Ein Punkt für ihn. Noch nie zuvor hatte sie einen Fremden mit solcher Leidenschaft geküsst. Sie bewegte wegwerfend die Hand. „Wären Sie ein Gentleman, dann hätten Sie eher so getan, als wären wir Verlobte und kein Liebespaar!“ Sie sah ihn aufgebracht an. „Aber da Sie bereits eine Ehefrau haben, wäre Ihnen das wahrscheinlich schwergefallen.“

Einen Moment lang wirkte er verwirrt, dann hatte er sich wieder gefangen. „Ich bin Witwer“, sagte er.

Joanna musste ihm zugestehen, dass er sich ohne Umschweife ausdrückte. Ganz anders als David, der immer versucht hatte, sich mit wortreichen Komplimenten beliebt zu machen, schien dieser Mann fast bis zur Schroffheit kurz angebunden. Die Meinung anderer war ihm eindeutig gleichgültig, sei sie nun gut oder schlecht.

„Das tut mir leid“, erwiderte sie förmlich. „Ich erinnere mich an Ihre Frau. Sie war sehr charmant.“

Seine Miene wurde schlagartig verschlossen, kalt, abweisend … Er hatte ganz offensichtlich keine Lust, über Annabel … Amelia oder wie immer sie auch geheißen haben mochte zu reden. „Ich danke Ihnen“, gab er knapp zurück. „Aber ich dachte eigentlich, ich wäre hier, um Ihnen mein Beileid auszusprechen und nicht umgekehrt.“

„Wenn Sie unbedingt Ihrer Höflichkeitspflicht nachkommen wollen …“ Joanna konnte sich ebenfalls kurz und bündig ausdrücken, vor allem wenn sie verärgert war.

„Trauern Sie denn nicht um ihn?“ In seiner Stimme schwangen Missbilligung und Zorn mit.

„David ist vor über einem Jahr gestorben“, erwiderte Joanna. „Wie Sie sehr wohl wissen, Sie waren ja dabei.“

Alex Grant hatte ihr aus der Arktis geschrieben, wo Davids letzte Mission, eine Nordosthandelsroute über den Pol zu entdecken, in den endlosen eisigen Weiten – buchstäblich – ein Ende gefunden hatte. Der Brief war so knapp und sachlich gewesen wie der Mann selbst, obwohl sie zwischen den Zeilen seine tiefe Betroffenheit über den Verlust eines so edelmütigen Kameraden hatte spüren können. Diese Betroffenheit konnte Joanna nicht teilen, daher tat sie auch erst gar nicht so als ob.

Alex’ düsterer Blick ruhte auf ihr. Sie merkte, wie angestrengt er seinen Zorn mittlerweile im Zaum halten musste. Seine Verachtung war nicht zu übersehen.

„David Ware war ein großer Mann“, meinte er gepresst. „Er hat etwas Besseres verdient als das hier …“ Er zeigte auf den hellen, freundlichen Raum, der frei von jeglichem Anzeichen der Trauer war.

Er hat etwas Besseres verdient als Sie …

Joanna hörte die Worte, auch wenn er sie nicht ausgesprochen hatte. „Wir hatten uns auseinandergelebt“, stellte sie ruhig fest und ließ sich den Schmerz in ihrem Innern nicht anmerken. „Sie waren sein Freund, Sie müssen davon gewusst haben.“

Sein Mund wurde zu einer schmalen Linie. „Ich wusste, dass er Ihnen nicht vertraut hat.“

Joanna zuckte die Achseln. „Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Soll ich zu meinen vielen Sünden nun auch noch die der Heuchelei hinzufügen und so tun, als ginge mir sein Tod nahe?“

Ein wilder, leidenschaftlicher Ausdruck huschte über seine Züge, und Joanna wäre fast vor ihm zurückgewichen, bis sie merkte, dass Loyalität dahintersteckte, nicht Wut.

„Ware war ein Held!“, sagte er.

Das hatte sie nun schon so oft gehört, dass sie hätte schreien mögen. Anfangs hatte sie das auch geglaubt; einem düsteren Pfarrhaus auf dem Land entkommen, mitgerissen von Davids verwegenem Naturell. Betrogen von ihm, noch bevor die Tinte auf der Heiratsurkunde getrocknet war, und Jahre später wieder und noch schändlicher betrogen … Sie ballte die Hände zu Fäusten, ihre Handflächen waren feucht und heiß. Alex Grant beobachtete sie viel zu aufmerksam, und sie zwang sich, sich zu entspannen. „Natürlich war er das“, stimmte sie leichthin zu. „Alle sagen das, also muss es wohl stimmen.“

„Und doch scheint es, als spielten Sie bereits mit dem Gedanken, ihn zu ersetzen“, bemerkte Alex. „In den Klubs höre ich Geschichten, dass Ihre Verehrer sich geradezu darum schlagen, Ihre Hand zu gewinnen.“

Einen Moment lang brachte seine Unverblümtheit sie zum Schweigen, aber dann erwachte ihr Zorn erneut, stärker als zuvor. Was hatte David diesem Mann bloß von ihr erzählt? Genug, um ihr mit heftiger Ablehnung zu begegnen – so viel stand fest. Seine Abneigung trat nicht offen zutage, doch Joanna konnte sie beständig unter der Oberfläche schwelen spüren, ganz gleich wie leidenschaftlich er sie auch geküsst haben mochte.

„Wenn Sie dem Klatsch in den Klubs Glauben schenken, werden Sie alle möglichen Lügen zu hören bekommen“, erwiderte sie. „Sie irren sich, Lord Grant. Ich hege nicht den Wunsch, wieder zu heiraten.“

Nie wieder.

Er zog eine dunkle Augenbraue hoch. „Sie beschränken sich also nur darauf, willkürlich fremde Männer zu küssen?“

Dieser Mann war wirklich provozierend. Mehr noch, er brachte sie zur Weißglut, weil sie ganz genau wusste, dass sie ihm nichts entgegensetzen konnte. Schließlich hatte sie ihn geküsst, nicht umgekehrt. Es war ein spontaner Einfall gewesen, ein verzweifelter Versuch, John Hagan, den Cousin ihres Mannes, in die Schranken zu weisen, der ihr in den letzten Wochen immer beharrlicher und zudringlicher Avancen gemacht hatte. Es sah ihr ähnlich, sich dazu ausgerechnet den einen Mann in London auserkoren zu haben, der nicht nur mitspielen, sondern sie sogar als seine Geliebte darstellen würde.

„Sie werden wahrscheinlich bald merken“, entgegnete sie kühl, „dass Sie einen ziemlichen Aufruhr in der gehobenen Gesellschaft ausgelöst haben, indem Sie so offen von unserer angeblichen Beziehung gesprochen haben. John Hagan wird keine Zeit verlieren, den Skandal weiterzuverbreiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Ihre Absicht war, als Sie gekommen sind, um mir Ihren Kondolenzbesuch abzustatten.“

„Das Stichwort haben Sie mir geliefert.“ Wieder betrachtete er sie mit seinen dunklen Augen beunruhigend aufmerksam. In ihnen war nichts von der Sympathie oder Bewunderung zu erkennen, die Joanna sonst gewohnt war; nur kühle, abschätzende Berechnung. War er wirklich Davids Freund gewesen? Das kam ihr außergewöhnlich vor. Er wirkte ruhig, während David wie Quecksilber gewesen war, das einem durch die Finger rann. Der Zug um seinen Mund war fest und entschlossen, während David schwach und leicht beeinflussbar gewesen war. Alex’ Gesicht wirkte kantig und hart, wie gemeißelt aus dem Gestein seiner schottischen Heimat.

„Also, warum haben Sie mich denn nun geküsst?“ Auch in seinem Tonfall schwang ein leichter schottischer Akzent mit. Er klang exotisch. „Das habe ich Sie schon einmal gefragt, aber Sie scheinen die schlechte Angewohnheit zu haben, Fragen, die Ihnen nicht behagen, nicht zu beantworten.“

Verdammt, das war ihm also auch aufgefallen. Sie hob trotzig das Kinn. „Ich musste … John Hagan dazu bringen, seine Avancen mir gegenüber zu unterlassen“, erklärte sie. Sie schlang die Arme fest um sich, als wollte sie sich vor der kalten Furcht schützen, die sie jedes Mal überfiel, wenn John Hagan in der Nähe war. „Er ist Davids Cousin“, fuhr sie fort, „und als solcher beansprucht er jetzt die Rolle als Familienoberhaupt für sich.“

„Und daher will er nicht nur den Platz seines Cousins beanspruchen, sondern seine Witwe gleich mit?“

Joannas Augen wurden schmal bei seinem Tonfall. „Wie Sie bereits gehört haben.“

„Sie sind da auf eine ziemlich drastische Lösung für Ihr Problem verfallen.“

Es war nicht zu überhören, dass er ihr nicht glaubte, und Joanna reagierte gereizt. „Eine subtilere Absage hätte er nicht akzeptiert. Er bedrängt mich schon seit Wochen.“

„Dann war es ja ein Glück, dass ich zur Stelle war. Oder hätten Sie stattdessen sonst einen der Bediensteten – vielleicht einen Ihrer gut aussehenden Lakaienzwillinge – geküsst?“

Wieder regte sich Joannas Zorn. Selten hatte sie sich so außer sich gefühlt. Irgendetwas an diesem Mann brachte alle ihre Abwehrmechanismen zum Erliegen. Sie konnte nicht bestreiten, dass er beunruhigend attraktiv war, aber sie hatte keinesfalls vor, dieser Attraktivität zum Opfer zu fallen. Männer, so hatte sie herausgefunden, brachten mehr Probleme mit sich, als sie wert waren. Sie zog die Gesellschaft von Hunden vor. Max, der so niedlich auf seinem mit Quasten besetzten Kissen lag, liebte sie mit einer unkomplizierten Hingabe, die alle Aufmerksamkeiten bei Weitem übertraf, die ihr je von wankelmütigen Männern entgegengebracht worden waren.

„Ja, meine Diener sehen wirklich gut aus, nicht wahr?“, erwiderte sie liebenswürdig. „Obwohl ich nicht damit gerechnet hätte, dass Sie sie ebenfalls bewundern.“

„Sie irren sich.“ Alex klang belustigt. „Es war eine rein sachliche Feststellung, dass Sie sich mit attraktiven und kostbaren Dingen umgeben. Die Lakaien, der Hund …“ Er ließ den Blick durch die Bibliothek schweifen; über die Vase mit den Lilien, die Joanna so sorgfältig auf dem Rosenholztisch arrangiert hatte, über das elegante Porzellan auf dem Kaminsims und über ihre kleine Sammlung von Aquarellen.

Aus irgendeinem Grund löste sein prüfender Blick in Joanna das Gefühl aus, als fehlte ihr etwas Wesentliches, als wäre sie oberflächlich und seicht. Sie hatte sich immer gefreut über ihr Stilgefühl und ihr Gespür für geschmackvolle Einrichtungen. Verdammt sollte er sein, wenn er das alles herabsetzte.

„Ich habe auch gehört, dass Sie der Liebling der Londoner Gesellschaft sind“, fuhr er fort. „Ich bin sicher, das ist nicht gelogen, und ich hoffe, Sie sind erfreut darüber.“

„Ja, es ist wirklich sehr bereichernd.“ Sie hatte nie eine Führungsrolle in der Gesellschaft angestrebt, war aber irgendwie dennoch zu Beliebtheit und Bekanntheit gelangt. In Wirklichkeit hatte sie ihre Freunde und Bekannten benutzt, um über ihre Einsamkeit als eine von ihrem Gatten schon vor Jahren verlassene Frau hinwegzukommen, und sie hatte das Leben schätzen gelernt, dass sie sich aufgebaut hatte. In den neun Jahren ihrer Ehe hatte sie vielleicht ein Fünftel der Zeit mit David verbracht, eher sogar noch weniger. Im Gegensatz dazu waren ihre engsten Freunde immer für sie da. „Sie gelangten zu ähnlichem Ruhm, als Sie das letzte Mal in London waren“, erinnerte sie Alex steif.

Vor drei Jahren waren David und Alex von einer Marineexpedition nach Südamerika zurückgekehrt; mit faszinierenden Geschichten, wie sie sich durch den unwegsamen Dschungel gekämpft, antike Ruinen entdeckt und sich gegen seltsame, wilde Geschöpfe zur Wehr gesetzt hatten. Zumindest hatte David damit geprahlt und stolz die Narben herumgezeigt, die die Zähne einer gewaltigen Raubkatze auf seinem Arm hinterlassen hatten. Joanna hatte sich mitleidlos gewünscht, das Tier hätte ihn lieber ganz auffressen sollen, anstatt dafür erschossen zu werden. Sie hatte es gehasst, wie David sich in seinem Ruhm geaalt hatte; wie er sturzbetrunken im Morgengrauen aus irgendeinem Freudenhaus nach Hause gewankt war, nach fremdem Parfüm riechend und mit der Schminke irgendeiner Dirne beschmutzt. Das alles war so billig gewesen. David war prahlend durch London gezogen, von Spieltischen zu Ballsälen und Bordellen. Er war dreist und vulgär gewesen, aber die Leute hatten es ihm nachgesehen, weil das eben zu seinem überwältigenden Gesamtbild gehört hatte. David Ware, der Held, den alle Männer bewunderten … Schmerz und Verlustgefühle brannten in ihr. Bei ihrer Hochzeit hatte sie ein so ganz anderes Leben erwartet, mit einem liebenden Ehemann und einer großen Schar Kinder. Sie war wirklich bemerkenswert naiv gewesen.

Alex hingegen, so glaubte sie sich zu erinnern, hatte das aufgeregte Herumscharwenzeln der feinen Gesellschaft verachtet und sich nach Schottland zurückgezogen, während sein Kamerad die Lorbeeren für ihre Expedition allein einheimste und den Ruhm genoss. Jetzt sah sie, wie sich Alex’ Mundwinkel angewidert nach unten bogen, weil er an seine gesellschaftliche Stellung erinnert worden war.

„Ich bin nicht erpicht auf Ruhm.“ Bei ihm klang es, als hätte sie angedeutet, er wäre in eine ungesetzliche, anstößige Angelegenheit verstrickt. „Sie werden nicht erleben, dass ich um die Gunst der Gesellschaft buhle, solange ich hier bin. Im Gegenteil, ich habe vor, London zu verlassen, sobald ich meine Order von der Admiralität empfangen habe.“

„Dazu muss ich Sie zuerst meines Bettes verweisen“, gab Joanna bissig zurück, „da Sie ja überall verbreitet haben, es für sich beansprucht zu haben.“

Wieder schenkte er ihr dieses beunruhigende, völlig unerwartete Lächeln. Es war das Lächeln eines Gegners, nicht eines Bewunderers. „Ich könnte mir vorstellen, dass Ihnen das viel Vergnügen bereitet“, murmelte er.

„So ist es.“

„Und wie werden Sie vorgehen?“

Joanna neigte den Kopf zur Seite und betrachtete Alex nachdenklich. „Ich bin mir noch nicht sicher. Seien Sie jedoch gewiss, dass es in aller Öffentlichkeit geschehen und sehr demütigend sein wird – und wahrscheinlich werden Sie der Letzte sein, der davon erfährt. Das ist das Mindeste, was Sie verdienen, nachdem Sie mich so in Verlegenheit gebracht haben.“

Sein Lächeln vertiefte sich. „Das war es wert.“

Joanna biss die Zähne aufeinander. Sie war bekannt für ihre kühle Gelassenheit, und daran würde dieser Mann ganz gewiss nichts ändern. Sie wusste, Alex hatte nur behauptet, ihr Liebhaber zu sein, um sie dafür zu bestrafen, dass sie ihn absichtlich benutzt hatte. Das war eine heilsame Lektion für sie, sich nicht mit ihm einzulassen. Wie weit sie auch gehen mochte – er würde noch weiter gehen.

Zunächst einmal würde er jetzt aus ihrem Haus gehen, und darüber war sie froh. Sie hielt ihm die Hand hin. „Nun, Lord Grant, ich danke Ihnen für Ihren Besuch und wünsche Ihnen alles Gute auf Ihren künftigen Reisen.“

Er ergriff wieder ihre Hand. Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, sie ihm überhaupt anzubieten, denn unter seiner Berührung erbebte sie. Einen irrwitzigen Moment lang glaubte sie, er würde sie wieder küssen, und ihr Herzschlag beschleunigte sich. Fast konnte sie die verführerische Wärme seines Mundes auf ihren Lippen spüren, seinen Duft einatmen, ihn schmecken …

„Eine vollkommen angemessene Entlassung, Lady Joanna“, sagte er, ohne ihre Hand loszulassen. „Sollten Sie wieder einmal einen Liebhaber benötigen …“

„Keine Sorge, dann werde ich mich nicht an Sie wenden“, konterte Joanna. „Helden sind nicht nach meinem Geschmack.“ Das Allerletzte, was sie sich wünschte, war ein weiterer Held. Sie hatte geglaubt, in David einen Helden gefunden zu haben. Er war ihr Idol gewesen. Und dann hatte sie herausgefunden, dass er ein Schuft war, ein Idol von geringer Standfestigkeit … in mehrerlei Beziehung.

Alex lächelte sie an, warm und vertraulich, und Schwindel erfasste sie. Ihr war, als hätte sie Fieber und bekäme kaum Luft, bis er endlich ihre Hand losließ.

„Dann wünsche ich Ihnen einen guten Tag“, sagte er.

Er hatte sich verneigt und war gegangen, ehe sie sich wenigstens so weit zusammenreißen konnte, um nach dem Butler zu läuten, damit der ihn hinausbegleitete. Selbst nachdem sich die Tür hinter Alex geschlossen hatte, glaubte Joanna seine Anwesenheit noch immer im Raum zu spüren.

Sie setzte sich auf den Läufer und schlang die Arme um Max, der die Umarmung mit einem nachgiebigen Seufzer über sich ergehen ließ. Ich will keinen neuen Helden, dachte Joanna. Ich wäre eine hoffnungslose Närrin, wenn ich je wieder heiraten würde. Einen Moment lang lauerte der Schmerz an den Grenzen ihres Unterbewusstseins, aber sie war inzwischen so geschickt darin, ihn zu verdrängen, dass er schon bald verflogen war und nichts als das gewohnte Gefühl der Leere in ihr zurückblieb. Joanna bettete das Kinn auf Max’ Kopf und atmete seinen Hundeduft ein. Sein kleiner Körper fühlte sich warm und tröstlich an.

„Wir wollen einkaufen gehen, Max“, sagte Joanna zu ihm. „Genau wie wir das immer tun.“

Einkaufen, Bälle, Feste, Ausritte im Park – diese Gewohnheiten, die Vertrautheit und die Leere lullten sie wieder ein in ein Gefühl der Sicherheit. Genau wie immer.

Als er an der Ecke Half Moon Street in die Curzon Street einbog, dachte Alex über David Wares reizende Witwe nach. Kein Wunder, dass die Männer vor ihrer Tür Schlange standen. Sie war beeindruckend, eine auffallend aparte Frau mit einer kühlen, selbstbewussten Fassade, hinter der sich eine Leidenschaft verbarg, die einen Mann um den Verstand bringen konnte. Sie war ein Preis, eine Trophäe, die größte Eroberung, die ein Mann machen konnte. Wer würde sich nicht eine solche Frau wünschen, die sein Heim zierte und sein Bett wärmte? Alex überlegte, dass er wahrscheinlich der einzige Mann in London war, der Lady Joanna Ware nicht mochte, und selbst das hielt ihn nicht davon ab, sie zu begehren.

Er erinnerte sich an Wares letzte verbitterte Worte, als er vom Fieber geschüttelt auf dem Totenbett gelegen hatte, das Gesicht bleich und schmerzverzerrt: „Ich brauche dich nicht darum zu bitten, dich um Joanna zu kümmern … Sie ist schon immer gut allein zurechtgekommen.“

Alex verstand jetzt, dass sie durchaus diesen Eindruck erwecken konnte. Joanna Ware strahlte eine kühle Selbstzufriedenheit aus, die Männern, die sich eine gefällige, fügsame Frau wünschten, sicher nicht behagte. Dennoch hatte er hinter ihrer Stärke auch Verwundbarkeit gespürt. Er hatte diese Verwundbarkeit in ihren Augen gesehen, als sie ihn benutzt hatte, um John Hagan abzuwehren. Zumindest hatte er das angenommen – aber vermutlich hatte er sich getäuscht. Lady Joanna war zweifellos eine berechnende Frau, die Männer zu ihrem Vorteil benutzte. Ganz sicher hatte sie versucht, ihn zu benutzen, und sich dabei viel mehr eingehandelt, als sie angestrebt hatte.

Lady Joannas Liebhaber … allein bei dem Gedanken spannte sich sein Körper an. Er hatte sich nie für einen fantasievollen Menschen gehalten. Für ihn zählte die kühle Vernunft mehr als alles andere, aber auf einmal stellte er fest, dass seine Fantasie weitaus lebhafter war, als er je vermutet hätte. Mit Joanna Ware das Bett zu teilen, ihr das verlockende kirschrote Kleid vom Körper zu streifen, ihre zarte helle Haut zu entblößen und mit den Lippen zu erkunden, in ihr zu versinken und mit ihr die höchsten Wonnen zu erfahren … Beinahe wäre er gegen einen Laternenpfahl gelaufen. Er fühlte sich lüstern wie ein unerfahrener Jüngling. In ihm brannte ein Verlangen, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Ein Verlangen, das er niemals stillen durfte. Joanna Ware war tabu für ihn. Er mochte sie noch nicht einmal. Außerdem war er ein Mann, der seine körperlichen Bedürfnisse strikt unter Kontrolle hielt und emotionale nie empfunden hatte. Seit Amelias Tod hatte er es so gehalten, und er hatte nicht vor, daran etwas zu ändern.

Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte, obwohl er den Erinnerungen und den Schuldgefühlen wegen des Todes seiner Frau niemals entkommen könnte. Vor den Geistern, die ihn verfolgten, gab es kein Entrinnen. Plötzlich und aus unerfindlichem Grund sah er auch David Wares letzte Worte in einem anderen Licht:

„Joanna … der Teufel soll sie holen.“

Warum um alles in der Welt hatte Ware eine so starke Abneigung gegen seine Frau empfunden? Nein, Abneigung war ein zu mildes Wort dafür. Einen solchen Hass … Alex hob die Schultern und versuchte, die Angelegenheit abzuhaken. Er hatte seine Pflicht erfüllt. Er hatte der nicht gerade trauernden Witwe seine Aufwartung gemacht und darüber hinaus Wares Anwalt einen Brief übergeben, den David ihm kurz vor seinem Tod anvertraut hatte. Die Sache war abgeschlossen, er war seinen Verpflichtungen nachgekommen. Jetzt wollte er sich in sein Hotel zurückziehen und warten, bis die Admiralität ihm mitteilte, wohin er als Nächstes abkommandiert würde. Hoffentlich ließ man ihn nicht zu lange warten. Im Gegensatz zu den meisten Offizieren, die ihren Kurzurlaub genossen, hatte er es eilig, wieder von hier fortzukommen. London im Mai war voller Verheißungen auf den Sommer, dennoch hielt ihn nichts an diesem Ort. Vielleicht war die Stadt mit zu vielen Erinnerungen behaftet. Vielleicht war er zu lange fort gewesen, um sich in England noch zu Hause fühlen zu können. In Wirklichkeit jedoch hatte er gar kein Zuhause. Er hatte keines gewollt, seit sieben Jahren nicht – bis er Joanna Wares Bibliothek betreten und dieses Gefühl von Wärme und Heimat empfunden hatte. Doch solch häusliche Behaglichkeit konnte es für ihn niemals geben.

„Alex!“, rief jemand auf der anderen Straßenseite. Alex drehte sich um und sah einen großen blonden und außerordentlich attraktiven jungen Mann, der sich durch den Strom von Fußgängern und Kutschen kämpfte. Trotz seiner Jugend strahlte er eine große Selbstsicherheit aus und zog die unverhohlen bewundernden Blicke aller Frauen auf sich, an denen er vorüberging – ob jung oder alt, ob leicht zu beeindruckende Debütantin oder ehrbare Matrone. Köpfe wurden gedreht, Unterkiefer klappten herunter. Die Damen klimperten mit den Wimpern und erbebten bei seinem Anblick. Er wiederum bedachte sie mit einem so unverschämten Lächeln, dass Alex unweigerlich mit einigen Ohnmachtsanfällen rechnete. Als der junge Mann breit grinsend bei ihm angekommen war, seufzte Alex resigniert.

„Hältst du mal wieder den ganzen Verkehr auf, Dev?“

„Was sollte ich sonst tun?“, erwiderte sein Cousin und schüttelte ihm lebhaft die Hand. „Es ist wirklich schwer, dich zu erwischen, Alex. Ich verfolge dich schon durch ganz London.“ Sie setzten sich in Bewegung, und Dev passte sein Schritttempo Alex’ leichtem Hinken an.

„Ich dachte, du wärst noch beim Ostindiengeschwader“, meinte Alex. „Wann bist du zurückgekommen?“

„Vor zwei Wochen“, antwortete James Devlin. „Wo bist du abgestiegen? Ich habe im White’s nach dir gefragt, aber sie wussten nichts von dir.“

„Im Grillon’s.“

Sein Cousin starrte ihn an. „Warum um alles in der Welt?“

„Weil es ein gutes Hotel ist, und weil ich nicht gefunden werden wollte.“

Devlin lachte. „Also, das kann ich verstehen. Was hast du angestellt? Ein paar Debütantinnen verführt? Ein oder zwei spanische Handelsschiffe geplündert?“

Alex musste gegen seinen Willen schmunzeln. „Debütantinnen zu verführen ist nicht mein Stil. Und Piraterie auch nicht.“ Er sah seinen Cousin nachdenklich an. „Ich habe gehört, du bist letztes Jahr nach Plymouth gesegelt mit einem am Mast festgebundenen fünf Fuß hohen Kerzenständer aus spanischem Gold.“

„Du irrst“, gab Devlin grinsend zurück. „Das war Thomas Cochrane. Ich hatte einen Diamantlüster am Hauptsegel hängen.“

„Donnerwetter“, entfuhr es Alex ungewollt. „Hat sich das nicht störend auf die Navigation deines Schiffs ausgewirkt? Kein Wunder, dass die Admiralität dich für einen Schlawiner hält.“ Er betrachtete seinen Cousin. Devlin trug eine leuchtend blaue Weste, die zur Farbe seiner Augen passte, und an einem Ohr einen Perlohrring. Das hätte eigentlich unmännlich wirken müssen, doch nicht bei Devlin; wahrscheinlich, weil er so unbestreitbar maskulin aussah. Alex schüttelte den Kopf. „Und dieser Perlohrring macht die Sache auch nicht besser. Wen versuchst du eigentlich zu kopieren? Blackbeard? Um Himmels willen, nimm ihn heraus, falls du vorhast, vor die Admiralität zu treten.“

„Die Damen lieben ihn“, behauptete Devlin. Er warf seinem Cousin einen Seitenblick zu. „Apropos – ich dachte, du könntest in der Stadt sein, um dir eine Braut zu suchen.“

„Ach, dachtest du das?“, gab Alex trocken zurück.

„Weich mir nicht aus“, erwiderte Dev ungerührt. „Jeder weiß, dass Balvenie nach Alasdairs Tod jetzt einen Erben braucht. Und da du ein Faible für gefährliche Abenteuer hast, willst du vielleicht vor deiner nächsten Expedition noch einen zeugen.“

„Das müsste dann ja ziemlich schnell vonstattengehen.“

„Ich sehe, du hast nicht vor, mich in deine Pläne einzuweihen“, stellte Dev fest.

„Gut erkannt.“ Alex hob gereizt die Schultern. Sein schottischer Besitz Balvenie stand tatsächlich ohne Erben da, nachdem sein junger Cousin im letzten Winter gestorben war. Dass der Junge dem Scharlach erlegen war, war an sich schon eine Tragödie, doch erschwerend kam dazu, dass Alasdair der einzige Erbe von Balvenie gewesen war. Solange Alasdair noch am Leben war, hatte Alex erfolgreich dem Druck widerstanden, wieder zu heiraten und einen Erben in die Welt zu setzen. Jetzt war er sich voller Unbehagen bewusst, dass dies noch eine weitere Verantwortung, eine weitere der Verpflichtungen war, die er nicht übernehmen wollte. Der Gedanke, sich eine zimperliche kleine Debütantin oder eine farblose Witwe auszusuchen und sie zu Lady Grant zu machen, nur damit er einen Sohn bekam, war ihm zutiefst zuwider. Überhaupt war eine neuerliche Heirat das Letzte, was er wollte. Und doch – was für eine Wahl blieb ihm, wenn Balvenie auch für die Zukunft gesichert bleiben sollte? Er spürte, wie Schuldbewusstsein und Verpflichtung – seine beiden ständigen unsichtbaren Begleiter – ihn mehr und mehr in die Enge trieben. „Ich habe derzeit keine Heiratspläne, Devlin“, fuhr er müde fort. „Ich würde einen äußerst schlechten Ehemann abgeben.“

„Für manche vielleicht einen vollkommenen“, wandte Devlin ein. „Weil du nie da wärst.“

Um Alex’ Mundwinkel zuckte es belustigt. „Da könnte etwas dran sein.“

Devlin warf ihm einen weiteren Blick zu. „Jedenfalls bin ich froh, dass ich dich gefunden habe, Alex. Ich könnte im Moment etwas Hilfe von dir gebrauchen.“

Alex kannte diesen Tonfall. Den hatte Devlin schon als Kind benutzt, wenn Alex ihn mal wieder aus irgendwelchen Schwierigkeiten retten sollte. Jetzt war Devlin dreiundzwanzig, aber in Schwierigkeiten geriet er nach wie vor gern. Alex dachte, dass Devlin dem Galgen oft nur mit knapper Not entgangen war, indem er seinen berühmten Charme eingesetzt hatte. „Was ist es dieses Mal, Dev?“, fragte er genervt. „Geldmangel kann es unmöglich sein, bei alldem, was du verdienst. Hast du die Tochter eines Admirals verführt? Wenn ja, dann rate ich dir, sie zu heiraten. Das kann nur förderlich für deine weitere Karriere sein.“

„Deine schottisch-calvinistische Erziehung kommt doch immer wieder zum Vorschein“, stellte Devlin erheitert fest. „Ich habe die Tochter eines Admirals verführt, aber ich war weder der Erste noch der Einzige. Und das ist auch nicht mein Problem.“

„Dann bin ich ja mal gespannt“, meinte Alex spöttisch.

Devlin führte Alex wortlos in eine Seitenstraße zu einem nahe gelegenen Kaffeehaus. Im Turk’s Head war es dunkel und warm, es duftete köstlich nach gerösteten Kaffeebohnen und Gewürzen. Die beiden Männer setzten sich an einen Tisch in einer ruhigen Nische. Alex bestellte Kaffe, Devlin Schokolade.

„Schokolade?“, fragte Alex und atmete den süßen Duft des dampfenden Getränks ein, das Devlin serviert wurde.

„Sei froh, dass ich keine Brause mit Veilchenaroma bestellt habe“, erwiderte Devlin lachend. „Francesca ist ganz verrückt danach.“

„Wie geht es deiner Schwester?“, erkundigte Alex sich.

Devlin verzog leicht den Mund. „Ich weiß es nicht. Sie spricht nicht mehr mit mir. Ich glaube, sie ist traurig.“

„Traurig?“, wiederholte Alex erstaunt. Tief in seinem Innern nagte wieder das Schuldbewusstsein. James und Francesca Devlin waren seine einzigen engen Verwandten, und er hatte sie in den letzten Jahren kaum gesehen. Als ihre Mutter, also die Schwester seines Vaters, gestorben war, hatte Alex sein Gewissen beruhigt und David sein Offizierspatent bei der Marine ermöglicht, während er für Francesca ein Haus gefunden hatte, in dem sie mit einer Tante als Anstandsdame wohnen konnte. Danach war er sofort nach Übersee aufgebrochen. Er war kein reicher Mann; er hatte nur sein Gehalt von der Marine und ein kleines Einkommen aus seinen schottischen Besitztümern, aber er nahm seine Verantwortungen ernst – zumindest die materiellen. Was die emotionalen betraf, so war das etwas ganz anderes. Er wollte keine Abhängigkeiten, keine Verpflichtungen. Solche Beziehungen waren ihm eine Last, sie behinderten ihn, sie scheuerten wie ein nasses Tau auf der Haut. Immer hatte er London verlassen und wieder in See stechen wollen, neue Aufgaben und Abenteuer finden, flüchten …

Balvenie braucht einen Erben …

Manchen Verantwortungen konnte man einfach nicht entfliehen. Wieder zuckte Alex die Schultern, als wollte er die unerwünschte Verantwortung abschütteln. David hatte zwar recht, aber er konnte und wollte nicht an eine neuerliche Heirat denken. Das wäre nur eine weitere Last, eine unzumutbare Fessel.

„Braucht Chessie irgendetwas?“, fragte er. „Du hättest es mir sagen sollen, falls sie mehr Geld haben möchte …“

„Nein, das möchte sie nicht.“ Devlin sah ihm direkt in die Augen. „Du bist mehr als großzügig ihr gegenüber, Alex.“ Er runzelte die Stirn. „Chessie braucht Gesellschaft“, fuhr er fort. „Tante Constance ist keine sehr heitere Gesellschaft für ein Mädchen ihres Alters. O doch, sie ist eine gute Frau“, beeilte er sich hinzuzufügen, als er Alex’ hochgezogene Brauen sah, „aber fast ein wenig zu gut, falls du verstehst, was ich meine. Einen Großteil ihrer Zeit verbringt sie in Gebetskreisen, was ja sehr lobenswert ist, aber nicht gerade aufregend für Chessie. Das arme Mädchen möchte nächstes Jahr debütieren, aber ich bezweifle, ob Tante Constance damit einverstanden ist. Wahrscheinlich hält sie so etwas für zu frivol …“ Er verstummte und schob seinen Teller hin und her. „Hör zu, Alex …“ Er sah auf. „Ich brauche deine Hilfe.“

Alex wartete ab. Er merkte, wie nervös Devlin war.

„Es hat mit Geld zu tun“, meinte Dev plötzlich. Die Falten auf seiner Stirn vertieften sich. „Nun, in gewisser Weise, wenn du verstehst.“

„Nicht im Geringsten“, entgegnete Alex. „Was ist aus dem Erlös geworden, den du für den Diamantlüster erhalten hast?“

„Schon längst ausgegeben.“ Dev machte ein trotziges Gesicht. „Die Sache ist die, Alex, ich bin aus der Marine ausgestiegen und habe mir zusammen mit Owen Purchase Anteile an einem Schiff gekauft. Oder zumindest versuche ich die nötigen Mittel dafür aufzutreiben. Wir planen eine Expedition nach Mexiko.“

„Warum Mexiko?“, erkundigte Alex sich knapp.

„Gold“, gab Dev ebenso kurz und bündig zurück.

„So ein Unsinn.“

Dev lachte. „Du glaubst nicht an Geschichten von verborgenen Schätzen?“

„Nein, und du solltest es auch nicht tun. Purchase erst recht nicht.“ Alex strich sich mit der Hand durchs Haar. Würde sein Cousin denn nie erwachsen werden? Er konnte nicht fassen, dass Dev sein Offizierspatent einfach weggeworfen hatte, und das wegen so einer aussichtslosen Mission. „Um Gottes willen, Dev“, meinte er gereizter als beabsichtigt, „musst du dich denn immer auf so verrückte, gefährliche Spielchen einlassen?“

„Besser, als sich den Hintern irgendwo in der eisigen Wildnis abzufrieren auf der Suche nach einer Handelsroute, die es gar nicht gibt“, konterte Dev, und seine Vehemenz überraschte Alex. „Die Admiralität nutzt dich doch nur aus, Alex. Man zahlt dir ein Almosen dafür, dass du dein Leben für die noble Sache des Empire aufs Spiel setzt. Und weil du dich wegen Amelias Tod schuldig fühlst, lässt du dich von einem gottverlassenen Ort zum nächsten schicken …“ Er verstummte, als Alex wütend das Gesicht verzog, und hob beschwichtigend die Hände. „Ich muss mich bei dir entschuldigen. Ich bin zu weit gegangen.“

„Das bist du allerdings“, grollte Alex und versuchte, seinen Zorn zu unterdrücken. Er sprach mit niemandem über Amelias Tod. Da machte er keine Ausnahmen. Außerdem waren Devs unbarmherzige Bemerkungen schmerzhaft, sie kamen der Wahrheit viel zu nahe. Amelia war fünf Jahre zuvor gestorben, und seitdem hatte Alex absichtlich die extremsten, waghalsigsten und gefährlichsten Aufträge angenommen, die es gab. Er wollte es nicht anders. Selbst jetzt, da er hier mit Dev zusammensaß, spürte er das Bedürfnis zu fliehen; den Wunsch, all diesen ermüdenden Verantwortungen und familiären Belastungen den Rücken zu kehren. Das bereitete ihm ein schlechtes Gewissen, auch wenn er einfach nur an Bord eines Schiffes gehen und dorthin segeln wollte, wohin der Wind ihn trieb. Im Moment jedoch saß er in London fest, an die Admiralität gekettet, während diese überlegte, was sie mit ihm anfangen sollte. „Eines Tages“, sagte er und ließ seine Verzweiflung an seinem Cousin aus, „wird dir noch jemand die Kugel geben – und das könnte durchaus ich selbst sein.“

Dev entspannte sich. „Das bezweifle ich nicht“, erwiderte er heiter. „So und nun zu dem Gefallen, um den ich dich bitte …“

„Du hast vielleicht Nerven!“

„Immer. Aber …“, Dev neigte den Kopf zur Seite, „es ist einfach und kostet dich keinen Penny deines eigenen Vermögens. Und schließlich bist du mir etwas schuldig als der große Bruder, den ich niemals hatte.“

Alex seufzte. Obwohl er selbst merkte, dass sein Zorn allmählich verflog, staunte er doch, wie mühelos es Dev gelang, ihn zu umgarnen. Aber schließlich konnte Dev alles um den Finger wickeln, was sich bewegte. „Deine Logik lässt zu wünschen übrig“, fuhr er ihn an. „Aber rede weiter.“

„Du musst heute Abend zu Mrs Cummings’ Ball am Grosvenor Square kommen“, erklärte Dev.

Alex sah ihn an. „Das soll wohl ein Scherz sein.“

„Keineswegs.“

„Dann kennst du mich nach dreiundzwanzig Jahren immer noch nicht sehr gut“, stellte Alex fest. „Ich verabscheue Bälle, Gesellschaften und Feste aller Art.“

„Der hier wird dir gefallen“, versicherte Dev schmunzelnd. „Er findet dir zu Ehren statt.“

„Wie bitte?“ Alex warf seinem jungen Verwandten einen vernichtenden Blick zu. „Jetzt hast du völlig den Verstand verloren.“

„Und du wirst mehr und mehr zu einem Griesgram“, konterte Dev. „Du musst öfter ausgehen und dich amüsieren. Was hattest du heute Abend vor – einen ruhigen Abend mit einem Buch in deinem Hotelzimmer?“

Das, so musste Alex zugeben, kam der Wahrheit gefährlich nahe und klang eher nach einem betagten Verwandten als nach einem nur neun Jahre älteren Cousin. „Was ist daran so falsch?“

Dev lachte. „Ein Ball wird viel amüsanter sein. Außerdem ist Mr Cummings schrecklich reich. Ich muss ihn dazu überreden, meine Reise nach Mexiko zu finanzieren. Also dachte ich …“

„Ich verstehe“, meinte Alex. Er ahnte bereits, was jetzt kommen würde.

„Sowohl Mr als auch Mrs Cummings sind vollkommen fasziniert von Forschungsreisenden“, sprudelte Dev hervor und hörte sich plötzlich sehr jung an. „Sie finden dich äußerst aufregend. Als sie herausfanden, dass ich dein Cousin bin, nun ja … Sie haben versprochen, mir zu helfen, wenn ich dich dazu überreden kann, auf ihrem Ball zu erscheinen …“

Alex verdrehte die Augen. „Devlin!“, stieß er warnend hervor.

„Ich weiß, aber ich dachte, du würdest trotzdem gern kommen, weil Lady Joanna Ware auch da sein wird und sie ja deine Geliebte ist …“

„Wie bitte?“ Alex stellte seine Kaffeetasse so ungestüm ab, dass der Tisch wackelte.

„Es ist das Gerücht schlechthin“, erklärte Dev. „Ich habe es gerade von Lady O’Hara erfahren, kurz bevor wir beide uns getroffen haben. Du bist zum Stadtgespräch geworden!“

„Aha“, erwiderte Alex. „Ja.“ Seiner Berechnung nach war es gerade eine Stunde her, seit John Hagan die Half Moon Street verlassen hatte. Offensichtlich hatte der Mann keine Zeit vergeudet, die skandalöse Neuigkeit von Lady Joanna Wares vermeintlicher Affäre weiterzuverbreiten, vielleicht um leichter darüber hinwegzukommen, von ihr abgewiesen worden zu sein. Plötzlich erfüllte ihn tiefste Verachtung für John Hagan.

„Ich bewundere dich für deinen Geschmack“, sagte Dev gerade. „Ich habe gehört, Lady Joanna wäre eiskalt – sonst hätte ich mein Glück vielleicht selbst einmal bei ihr versucht.“

„Vergiss es, Junge“, antwortete Alex trocken. Das besitzergreifende Gefühl, das sich seiner beim Gedanken an Joanna Ware bemächtigt hatte, war schockierend heftig. Ihm wurde klar, dass er rein impulsiv reagiert hatte, und das war etwas gänzlich Ungewohntes für ihn. „Und sprich nicht so respektlos über Lady Joanna“, fügte er hinzu und fragte sich im selben Moment, warum um alles in der Welt er das Bedürfnis verspürte, sie zu verteidigen.

Dev zog die Augenbrauen hoch. „Sehr beeindruckend, Alex.“

„Und sie ist nicht meine Geliebte“, ergänzte Alex gereizt.

„Weshalb dann die schlechte Laune?“ Dev schmunzelte. „Oder bist du etwa verstimmt, weil sie nicht deine Geliebte ist?“

„Genug!“, brauste Alex auf.

Dev hob gelassen die Schultern. „Also kommst du nun heute Abend?“ Es gelang ihm nicht, den flehenden Unterton aus seiner Stimme zu verbannen.

„Du hättest Purchase bitten sollen“, erwiderte Alex grimmig. „Der mag so etwas.“

„Purchase speist heute mit dem Prinzregenten“, erklärte Dev. „Eine Einladung, die du meines Wissens ausgeschlagen hast.“

„Ich hasse dieses ganze Berühmtheitstheater.“

Dev lachte. „Aber das hier ist etwas anderes. Dieses Mal geht es um mich.“

Alex dachte nach. Er missbilligte, dass Dev beschlossen hatte, sein Offizierspatent zurückzugeben, aber der Schaden war jetzt nicht mehr rückgängig zu machen. Er konnte versuchen, seinem Cousin den hirnverbrannten Mexikoplan auszureden, aber er bezweifelte, dass er damit Erfolg haben würde. Dev hatte einen Teil der Sturheit seiner Familie geerbt. Auch wusste Alex, dass er wie ein Heuchler dastehen würde, wenn er die Rolle des strengen älteren Bruders spielte. Sicher, seine eigenen Abenteuer hatte er mit der Billigung und Unterstützung der königlichen Marine unternommen, aber welcher Unterschied bestand zwischen einem Mann, der das Abenteuer unter der Flagge seines Landes suchte, und einem, der sich auf andere Art beweisen wollte? Devs Motive waren Mut und das Streben nach Abenteuern und Unabhängigkeit. Und er lief nicht vor irgendwelchen Gespenstern der Vergangenheit davon; ein Vorwurf, den Alex sich zumindest teilweise gefallen lassen musste.

Alex trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte. Wie er Dev bereits dargelegt hatte, verabscheute er gesellschaftliche Anlässe von ganzem Herzen. Dennoch … Wenn er an diesem Abend dorthin ging, um Devlin zu helfen, linderte das möglicherweise ein wenig die Schuldgefühle, die er wegen der Vernachlässigung seiner Familie hatte.

Und er würde Lady Joanna Ware wiedersehen …

Einen Moment lang fühlte er sich so grün hinter den Ohren wie damals als Jüngling in Eton, als er gehofft hatte, einen Blick auf die Tochter des Hausmeisters erhaschen zu können. Sein Verlangen Joanna zu sehen war stark, obwohl ihm bewusst war, dass es das Dümmste war, was er tun konnte. Wenn er eine Frau wollte, sollte er sich lieber eine Kurtisane für eine Nacht suchen. Oder für zwei, je nachdem, wie lange es dauern würde, seine Lust zu befriedigen. Das wäre ehrlich und unkompliziert. David Wares verlockende Witwe zu begehren war weder das eine noch das andere. Die Schwierigkeit bestand nur darin, dass er Joanna Ware wollte und nicht irgendein leichtes Mädchen vom Covent Garden. Mit einer Dirne zu schlafen würde sein Verlangen wahrscheinlich nicht einmal im Ansatz stillen, denn so ein Mädchen wollte er nicht. Er hätte sich natürlich einreden können, dass seine Lust nur die natürliche Konsequenz davon war, dass er monatelang ohne weibliche Gesellschaft hatte auskommen müssen, aber dann hätte er sich selbst einen Lügner nennen müssen.

Joanna Ware. Sie war die fleischgewordene Versuchung. Sie brachte ihn zur Weißglut. Sie war tabu für ihn. Er mochte sie nicht.

Er würde zu dem Ball gehen und sehen, ob sie die Kühnheit besaß, ihn in aller Öffentlichkeit und von Angesicht zu Angesicht als Liebhaber abzuservieren.

Er musste daran denken, wie David Ware ihm auf dem Totenbett den Brief an den Anwalt in die Hand gedrückt und dabei merkwürdig triumphierend gelächelt und gesagt hatte: „Joanna mag Überraschungen, verdammt soll sie sein …“

Alex bezweifelte, dass Lady Joanna selbst über diese ganz spezielle Überraschung erfreut sein würde. Sie hatte nicht damit gerechnet, ihn wiederzusehen. Sie mochte ihn genauso wenig wie er sie.

Devlin wartete immer noch auf seine Antwort. „Also gut“, sagte er langsam. „Ja, ich werde dort sein.“

2. Kapitel

Wie ist Lord Grant eigentlich so?“ Mrs Lottie Cummings, hochgeschätzte Gastgeberin der gehobenen Gesellschaft, skandalträchtige Matrone und eine von Lady Joanna Wares liebsten Freundinnen, beachtete die Gäste nicht, die in ihre Empfangssalons strömten, weil sie von ihrer Freundin mehr über die schockierende Neuigkeit ihrer Affäre in Erfahrung bringen wollte. „Weißt du, ich habe bisher immer nur von ihm gehört, liebste Jo, aber ich habe noch nicht einmal ein Bild von ihm gesehen.“

„Nun ja“, meinte Joanna. „Er ist ziemlich groß.“

Autor

Nicola Cornick
<p>Nicola Cornick liebt viele Dinge: Ihr Cottage und ihren Garten, ihre zwei kleinen Katzen, ihren Ehemann und das Schreiben. Schon während ihres Studiums hat Geschichte sie interessiert, weshalb sie sich auch in ihren Romanen historischen Themen widmet. Wenn Nicola gerade nicht an einer neuen Buchidee arbeitet, genießt sie es, durch...
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