Der Kuss der schönen Fremden

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Schüsse fallen, und verletzt erkennt der breitschultrige Rafe, dass es gefährlich ist, die schöne April zu lieben. Denn irgendwer scheint etwas dagegen zu haben, dass April, die ihr Gedächtnis verloren hat, in seinen starken Armen Schutz findet ...


  • Erscheinungstag 27.01.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755201
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Rafael Sanchez schob den Stetson zurück, richtete sich im Steigbügel auf und betrachtete das Tal, das sich vor ihm erstreckte. Nach dem morgendlichen Wolkenbruch war die Luft sauber, doch es hatte Überschwemmungen gegeben. Rafe musste nach seinem Vieh sehen.

Da hörte er ein Stöhnen. Rafe stockte, sah sich genauer um und entdeckte neben der Straße etwas Gelbes. Büsche und Blumen blühten um diese Jahreszeit noch nicht. Ob das Geräusch von dort gekommen war?

Als er das Pferd den steinigen Hang hinuntertrieb, erkannte er, dass es sich um ein gelbes Stück Stoff handelte.

Rafe bekam Gänsehaut, aber nicht von der Kälte. Hier stimmte etwas nicht.

Unter dem gelben Stoff zeichnete sich ein Körper ab – der Körper einer Frau. Hastig trieb er das Pferd weiter und stieg neben der Fremden ab. Sie lag mit dem Gesicht nach unten. Das Haar war blond, fast von der gleichen Farbe wie die Jacke.

Die Frau stöhnte.

„Hallo!“ Rafe kniete sich neben sie. „Miss, sind Sie verletzt?“ Vorsichtig berührte er sie an der Schulter. „Miss?“

Sie öffnete die Augen und versuchte, ihn anzusehen, verzog jedoch schmerzhaft das Gesicht und schloss die Augen wieder. Und sie schaffte es nicht, sich auf den Rücken zu drehen.

„Nicht bewegen“, warnte er, stand auf und holte die Wasserflasche, löste das Halstuch und befeuchtete es. Als er ihre Wange berührte, hielt die Frau seine Hand fest und zog sie an die Schläfe. Rafe konnte die Stelle nicht sehen, fühlte jedoch eine Beule.

Langsam öffnete sie erneut die Augen. „Danke.“ Diesmal half er ihr, sich umzudrehen. Auf eine solche Schönheit war er nicht vorbereitet. Von Frauen wie dieser träumten die meisten Männer nur.

An der Schläfe hatte sie eine dunkle Schwellung. Behutsam wischte Rafe die Blutspuren weg. „Haben Sie noch andere Verletzungen?“, fragte er.

„Ich glaube nicht“, erwiderte sie verwirrt.

„Lassen Sie mich nachsehen.“ Er wartete auf ihre Erlaubnis.

„Einverstanden.“

Er strich über Arme und Beine, fand jedoch nichts. Erst als er ihren linken Knöchel berührte, rang sie nach Luft.

„Tut mir leid.“ Ganz sachte tastete er den Fuß ab. „Scheint ziemlich schlimm zu sein. Ich weiß nicht, ob der Knöchel gebrochen ist. Sicherheitshalber bringe ich Sie zum Arzt, auch wegen der Wunde am Kopf.“

Sie nickte und biss sich auf die Unterlippe. Rafe wartete auf keine Antwort, reichte ihr das Halstuch und stand auf.

„Wohin gehen Sie?“, fragte die Frau ängstlich.

Er kauerte sich neben sie, um mit ihr auf gleicher Höhe zu sein, und nahm den Stetson ab. Vielleicht wirkte er dann nicht ganz so einschüchternd. „Ich hole mein Pferd her. Das ist einfacher.“

Nachdem er den Hut wieder aufgesetzt hatte, führte er das Pferd zu der Fremden, beugte sich herunter und hob sie hoch. Sie verzog vor Schmerzen das Gesicht.

„Legen Sie die Arme um meinen Nacken“, verlangte er. Als sie gehorchte, hob er sie in den Sattel. Mit der einen Hand am Sattelhorn und der anderen an der Taille der Frau schwang er sich selbst in den Sattel, rückte sie vor sich zurecht und achtete darauf, nicht gegen ihren Knöchel zu stoßen. „Geht es so?“

Sie nickte.

Von sich konnte er das nicht behaupten. Sie drückte sich so fest an ihn, dass sein Körper sich aufführte wie der eines Jugendlichen, der seine Hormone nicht kontrollieren konnte. Dabei war er ein Mann des Gesetzes, der dieser Frau helfen wollte!

Rafe wendete das Pferd und ritt den Hang wieder hinauf. Durch die Neigung wurde die Frau gegen ihn gedrückt. Jetzt fühlte er jeden Zentimeter ihres Körpers durch ihre nasse Kleidung hindurch. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Offenbar war sie in den Regen geraten. Als sie fröstelte, legte Rafe den Arm fester um sie, um sie zu wärmen.

„Ich mache Sie ganz nass“, wandte sie schwach ein.

„Keine Sorge. Sobald wir die Ranch erreichen, gebe ich Ihnen trockene Sachen. Dann erst fahren wir zum Arzt.“ Er versuchte, sich abzulenken. „Wieso waren Sie denn bei dem Unwetter im Freien?“

Sie sah ihn verwirrt an. „Wie bitte?“

„Was haben Sie bei dem Unwetter gemacht? Und wie kommen Sie überhaupt in diese einsame Gegend?“ Er ließ den Blick über das raue Land gleiten, das sein Zuhause war. „Ich habe keinen Wagen und auch kein Pferd gesehen.“

Sie schwieg eine Weile, ehe sie antwortete. „Ich erinnere mich nicht.“

„Was heißt, Sie erinnern sich nicht?“, fragte er.

Sie richtete die grünen Augen ängstlich auf ihn. „Ich weiß nicht, was ich hier gemacht habe.“

„Erzählen Sie mir, woran Sie sich erinnern“, schlug er vor. „Dann sehen wir weiter.“

Sie blickte zum Horizont, biss sich auf Unterlippe und schwieg.

„Was haben Sie heute Morgen hier draußen gemacht?“, fragte er behutsam, um ihr Gedächtnis anzuregen. „Waren Sie zu Fuß unterwegs? Hatten Sie ein Pferd? Oder haben Sie irgendwo Ihren Wagen abgestellt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich nicht“, wiederholte sie und warf ihm einen scheuen Blick zu.

„Woran erinnern Sie sich dann?“, drängte er.

Sie schloss die Augen. „An nichts“, flüsterte sie verstört.

„An gar nichts?“

„Nein. Ich weiß nur, dass ich wach wurde und Sie sah.“

„Schlimme Geschichte, wenn ich Ihre einzige Erinnerung darstelle“, sagte er leise lachend.

Sie sah ihm in die Augen, und es berührte ihn so tief, dass er hastig den Blick zu den vor ihm liegenden Hügeln richtete. Er hatte eine völlig durchnässte Frau mit einem verletzten Fuß und ohne Gedächtnis gefunden – und plötzlich begehrte er sie. Was für ein unmöglicher Zeitpunkt!

Der Ritt zum Ranchhaus dauerte ungefähr eine Viertelstunde. Die Frau seufzte erleichtert. Ihre Zähne klapperten, und sie zitterte am ganzen Körper. Rafe stieg ab und hob sie vom Pferd.

„Sie haben ein schönes Haus“, sagte sie, als er die Stufen zur Veranda hinaufstieg.

„Danke.“ Rafe war auf das Ranchhaus, das sein Großonkel gebaut hatte, stolz. Nachfolgende Generationen hatten es erweitert und modernisiert. Im Arbeitszimmer des Großonkels hingen Bilder der Kavallerieeinheit, der er angehört hatte. Dort standen auch der ans Internet angeschlossene Computer, der Laserdrucker und das Faxgerät.

Rafe lebte zwar im Llano Estacado meilenweit von der Zivilisation entfernt, hatte jedoch Verbindung zur modernen Welt. Für einen Texas Ranger war das unerlässlich.

Vor der Fliegengittertür blieb er stehen. „Ich habe die Hände voll. Könnten Sie die Tür öffnen?“

Die Frau zog am Griff. Rafe drückte die Tür mit der Schulter weiter auf und wartete, bis sein Schützling auch die eigentliche Haustür öffnete, die nach innen aufschwang. Er ging direkt ins Bad, setzte die Frau auf den Toilettendeckel und reichte ihr ein Handtuch.

„Ziehen Sie die nassen Sachen aus.“ Er drehte sich um und gab ihr seinen Bademantel. „Ich warte draußen. Wenn Sie etwas brauchen, rufen Sie.“

„Ja, danke.“

Er trat auf den Korridor und schloss die Tür. Am liebsten hätte er in der Praxis angerufen und gemeldet, dass er eine Patientin mit einer Beule am Kopf, Gedächtnisverlust und verletztem Knöchel brachte. Doch es war besser, er ließ die Unbekannte nicht zu lange allein. Also nahm er den Hut ab, hängte ihn auf den Kleiderständer in der Ecke des Wohnraums und wartete vor der Tür des Badezimmers.

„Ich bin fertig!“, rief sie, sobald sie sich ausgezogen und abgetrocknet hatte und in den Bademantel geschlüpft war.

Die Tür öffnete sich. Der Mann – sie wusste nicht einmal seinen Namen – kam herein. In diesem Albtraum war er wie ein Fels in der Brandung – attraktiv, hochgewachsen, dunkles Haar und braune Augen, in denen eine Frau sich verlieren konnte.

„Ich habe alles geschafft, bis auf …“ Sie blickte auf die Jeans hinunter. „Ich brauche Hilfe, um sie über den verletzten Fuß zu ziehen.“

Er kauerte sich hin, zog Jeans und Slip über den Fuß und legte die Sachen auf den Wannenrand. Sie wurde verlegen, als er ihre Unterwäsche berührte.

„Wie heißen Sie?“, fragte sie.

Er blickte überrascht hoch. Das schwarze Haar fiel ihm in die Stirn und betonte seine dunkle Haut.

„Als ich Sie eben rufen wollte, wurde mir klar, dass ich Ihren Namen nicht kenne.“ Sie lachte nervös. „Meinen allerdings auch nicht.“

Er legte die Hand auf ihr Knie. Der Bademantel glitt zur Seite. Bei seiner Berührung fühlte sie ein heftiges Prickeln. Er zog hastig die Hand zurück.

„Machen Sie sich keine Sorgen“, meinte er. „Der Zustand ist bestimmt nur vorübergehend.“

„Wie heißen Sie?“, wiederholte sie.

„Rafael Sanchez.“ Er reichte ihr die Hand. „Ich führe diese Ranch und bin gleichzeitig Ranger.“

Ranger waren harte, unabhängige Männer, die in Texas für Recht und Ordnung sorgten. Wenn er ein Ranger war, hieß das also, dass sie in Texas war.

Sie ergriff seine Hand. „Ich hatte Glück, dass ein Ranger mich gefunden hat.“

„Machen Sie sich wegen Ihres Gedächtnisses keine Sorgen. Ich verstehe nicht viel von Amnesie, aber Sie werden sich schon wieder an alles erinnern. Wahrscheinlich ist die Beule am Kopf schuld.“

Sie wollte aufstehen, doch er hob sie hoch. Prompt öffnete sich der Bademantel wieder und bot ihm freien Blick auf ihre Beine. Ihre Blicke trafen sich, und wenn sie gar nichts wusste, so stand doch eines fest: Er sah in ihr nicht nur eine Schutzbefohlene, sondern auch eine Frau. Sie bekam Herzklopfen, als sie den Bademantel wieder schloss.

„Soll ich Ihnen ein T-Shirt geben?“, fragte er. „Sie könnten es unter dem Bademantel tragen.“

„Ja, bitte.“

Behutsam setzte er sie wieder auf den Deckel der Toilette, verließ das Bad und kam kurz darauf mit einem T-Shirt und Shorts zurück. „Rufen Sie mich, wenn Sie fertig sind“, sagte er, reichte ihr die Sachen und wartete draußen, bis sie angezogen war.

„Sie brauchen mich nicht zu tragen“, wandte sie ein, als er sie wieder hochhob, doch es war angenehm, Rafes starke Arme zu fühlen.

Er blieb in der Küche stehen und deutete mit einem Kopfnicken auf den Nagel neben der Hintertür. „Könnten Sie meine Schlüssel nehmen?“

In der Garage setzte er sie auf den Beifahrersitz seines Wagens, nahm die Schüssel und holte den Stetson aus dem Haus. Neben der offenen Fahrertür blieb er stehen.

„Ich muss erst mein Pferd absatteln.“

Sie nickte und sah zu, wie er das Pferd vom Zaun losband und in den Stall führte.

Wieso fühlte sie sich zu einem Fremden hingezogen? Vielleicht lag es daran, dass sie sich selbst fremd war. Sie betrachtete den Ringfinger, an dem nichts darauf hindeutete, dass sie einen Ring getragen hatte. Es gab nicht einmal eine helle Stelle. Aber womöglich war sie trotzdem verheiratet, und ein Dutzend Kinder warteten daheim auf sie. Jedenfalls sollte sie auf diesen Mann nicht so stark ansprechen.

Rafael stieg einige Minuten später ein. Auf der Fahrt in die Stadt sagte er kein Wort. Wahrscheinlich gingen ihm ähnlich viele Fragen durch den Kopf wie ihr.

„Wohin fahren wir?“, fragte sie.

„Nach Saddle. Die Ärztin dort ist als Notärztin ausgebildet. Sie zog hierher, als sie den Hilfssheriff heiratete.“

„In welchem Bezirk sind wir?“

„Brewster, größer als Connecticut, Rhode Island, New Jersey und Delaware.“

„Big Bend“, sagte sie automatisch.

„Ja“, bestätigte er. „Der Big Bend National Park liegt im Süden des Bezirks. Erinnern Sie sich an noch etwas?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht einmal, wieso mir das eingefallen ist.“

„Vielleicht stammen Sie aus Texas. Die meisten Menschen in Texas wissen über den Big Bend Bescheid und kennen auch den Bezirk, in dem er liegt. Außerdem sprechen Sie wie eine Texanerin. Kommt Ihnen übrigens die Gegend bekannt vor?“

Sie betrachtete die Berge in der Ferne. „Nein.“

„Also, ich vermute, dass Sie in Alpine wohnen oder jemanden in der Gegend von Saddle besuchten.“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Weil ich in Saddle jeden kenne. Außerdem habe ich Sie an einer Landstraße und nicht in der Nähe der Fernstraße gefunden. Sie waren vermutlich nicht auf der Durchfahrt. Ich werde mich später erkundigen, ob jemand Sie erwartet.“

Das hörte sich ganz so an, als wollte Rafe sie nicht verlassen, und das fand sie in ihrer Lage sehr beruhigend.

Während der restlichen zehn Minuten nach Saddle fiel kein Wort mehr. Es handelte sich um eine sehr kleine Stadt mit drei Straßen. An zwei Straßen standen Wohnhäuser, in der dritten gab es eine Tankstelle, ein Restaurant, ein Postamt, das Büro des Sheriffs und eine Futtermittelhandlung.

Rafe parkte vor dem ersten Gebäude. Auf einem kleinen Schild neben der Tür stand „Arzt“. Er kam auf die Beifahrerseite, öffnete die Tür und trug seinen Schützling ins Haus.

„Hi, Marv, Sarah“, sagte er, als sie den Warteraum betraten. „Wie macht sich euer Sohn am College?“

„Es gefällt ihm in der Großstadt“, antwortete Marv.

Rafe lächelte. Lubbock war höchstens im Vergleich zu Saddle eine Großstadt. „Sag George, er soll nicht zu schnell fahren. Die Highway Patrol hält immer nach College-Studenten Ausschau.“

Die beiden warteten offenbar darauf, dass Rafe ihnen die Frau auf seinen Armen vorstellte. Er lächelte jedoch nur höflich und betrat einen kurzen Korridor. Die Tür des Untersuchungsraums öffnete sich, und eine Frau in einem Labormantel und ein etwa Sechzehnjähriger kamen heraus.

„Rafe, was machst du denn hier?“, fragte die Frau.

„Ich habe dir eine Patientin gebracht“, erwiderte er lächelnd.

„Was bist du doch für ein großzügiger Bruder.“ Die Ärztin deutete in den Raum. „Wartet da drinnen, während ich mit Bens Eltern spreche.“

Rafe nickte und setzte seine Patientin auf den Untersuchungstisch.

„Das ist Ihre Schwester?“, fragte sie erstaunt.

„Ja.“ Es war die größte Überraschung seines Lebens gewesen, als er vor anderthalb Jahren nach dem Tod seiner Mutter in ihrem Nachlass den Namen seines Vaters fand. Nachdem er monatelang auf diesen Mann wegen seines Verhaltens wütend gewesen war, hatte endlich die Neugier gesiegt. Er hatte George Anderson in dessen Büro in Midland aufgesucht.

Die Eröffnung, dass er einen Sohn hatte, war für den Ölmagnaten zuerst ein Schock und dann eine Freude gewesen.

Zufällig war eine von Rafes Schwestern kurz vorher nach Saddle gezogen und hatte den hiesigen Hilfssheriff geheiratet. Nun hatte Rafe, einziges Kind einer alleinstehenden Frau, auf einmal eine Familie.

Die Ärztin kam herein. „Also, was kann ich für euch beide tun?“

„Diese Frau hier muss untersucht werden.“

Seine Schwester blieb abwartend an der Tür stehen.

„Nach dem Wolkenbruch heute Morgen kontrollierte ich mein Vieh und fand sie neben der Straße.“

„Hat unsere Patientin auch einen Namen?“, fragte Alex.

Er nickte. „Das schon, nur erinnert sie sich an absolut nichts, nicht mal an ihren Namen. Als sie zu sich kam, sah sie mich vor sich.“

Alex schüttelte den Kopf. „Was für ein Schock für die arme Frau.“ Lächelnd näherte sie sich dem Untersuchungstisch. „Irgendwelche Verletzungen?“

Rafe deutete auf den Kopf seines Schützlings. „Sie hat eine Beule am Kopf und einen geschwollenen Knöchel. Ich vermute, er ist nur geprellt und nicht gebrochen.“

„Schön. Warte in meinem Sprechzimmer, während ich unsere Jane Doe untersuche.“ Nachdem ihr Bruder den Raum verlassen hatte, reichte sie der Patientin die Hand. „Ich bin Dr. Alexandra Grey, Rafes Schwester.“

„Freut mich, Dr. Grey. Ich würde Ihnen gern meinen Namen nennen, aber … ich kenne ihn nicht.“

„Sie brauchen aber einen, fürs erste zumindest. Wie wäre es mit Sheila? Bridget? Nein, Madeline.“ Die Ärztin wartete vergeblich auf eine Reaktion der Patientin. „April“, erklärte sie, als ihr Blick auf den Wandkalender fiel. „April passt zu Ihnen.“

Die Frau nickte. „Der Name gefällt mir.“

„Also, April, dann sehen wir uns Ihren Kopf und den Fuß an.“

Rafe ging in Alex’ Sprechzimmer auf und ab und blieb stehen, als sich die Tür des Untersuchungsraums öffnete und Alex herauskam.

„Ich muss Aprils Knöchel röntgen. Im Lager habe ich einen Rollstuhl.“

„Sie heißt April?“ Rafe blickte an seiner Schwester vorbei zu der Frau. „Erinnert sie sich auch daran, was sie auf meinem Land gemacht hat?“

„Nein. Sie erinnert sich an gar nichts.“

„Und wieso hast du sie April genannt?“

„Weil wir beide der Meinung waren, dass es ihr passt“, erklärte Alex.

„April“, wiederholte er und betrachtete die hübsche blonde Frau in seinem Bademantel.

Zwanzig Minuten später saßen sie alle in Alex’ Sprechzimmer.

„April hat eine leichte Gehirnerschütterung“, stellte Alex fest, „und einen verstauchten Knöchel. Weitere Probleme konnte ich nicht feststellen.“

„Abgesehen davon, dass sie sich an nichts erinnert.“

„Vielen Dank, dass du mich darauf hingewiesen hast, Bruderherz“, erwiderte Alex. „Ohne dich hätte ich das nicht gewusst.“

„Hast du eine Ahnung, wann ihr Gedächtnis wieder einsetzen wird?“

„Nein.“ Alex lächelte April zu. „Das könnte morgen oder auch nie sein.“

„Großartig“, murmelte Rafe.

„Die meisten Patienten erlangen ihr Gedächtnis wieder“, sagte Alex beruhigend, als April sie ängstlich ansah. „Nur wenige erinnern sich nie an ihre Vergangenheit.“ Sie wandte sich an Rafe. „April muss den Knöchel eine Zeitlang entlasten und das Bein hochlagern. Wärme beschleunigt die Heilung. Ich kann ihr Krücken leihen.“ Alex stand auf und holte die Krücken aus dem Lager.

„Danke“, sagte Rafe.

Die Ärztin lehnte sich an den Schreibtisch. „Jetzt müssen wir nur noch klären, wo April in der nächsten Zeit bleibt.“

„Könnte sie bei dir wohnen?“, fragte Rafe seine Schwester.

„Das Baby hat gerade die Windpocken. Es wäre besser, wenn April bei den Greggs auf der Ranch bleibt.“

„Ich dachte, ich könnte …“ April verstummte. „Ich meine … ich dachte, ich könnte … bei Ihnen bleiben“, sagte sie zu Rafe.

Sie sah ihn so hoffnungsvoll an, dass er sie nicht enttäuschen konnte. Und schließlich war er alt genug, um sein Verlangen zu kontrollieren. „Mir soll es recht sein.“

April lächelte zum ersten Mal, und Alex stellte fest, dass die beiden offenbar sehr gut miteinander zurechtkamen.

„Dann wäre das Problem gelöst“, entschied Alex. „Brauchen Sie etwas zum Anziehen?“

„Meine Sachen waren nass“, erklärte April. „Darum habe ich sie in Rafes Haus gelassen.“

„Also, wenn Sie etwas brauchen, genügt ein Anruf“, versicherte Alex. „Schätzungsweise haben wir die gleiche Größe. Rafe, du musst April in den nächsten Stunden im Auge behalten. Sollte sie schläfrig oder benommen werden, ruf mich. Sie muss wach bleiben, damit wir kontrollieren können, ob alles in Ordnung ist.“

Rafe stand auf und reichte April die Krücken. Als sie sich darauf stützte, klaffte der Bademantel von der Taille abwärts auf. Rafe hatte wieder Gelegenheit, ihre Beine zu betrachten.

„Ich sollte April eine Hose leihen“, meinte Alex. „Dann kann sie leichter mit den Krücken umgehen.“

Rafe nickte, und April lächelte dankbar.

„Sie können sich im Untersuchungsraum umziehen.“

Fünf Minuten später kam April in einer blauen Trainingshose aus dem Untersuchungsraum. Unter Rafes T-Shirt trug sie offensichtlich nichts.

Alex betrachtete Rafe prüfend. „Vielleicht sollte ich ihr auch noch die Jacke holen.“

„Das wäre sehr gut“, meinte April und wurde rot.

Alex erfüllte ihr den Wunsch. „Da hast du in der nächsten Zeit ganz schön viel zu tun“, sagte sie zu Rafe, während April sich umzog.

„Ich hatte schon schwierigere Aufgaben“, wehrte er ab.

April kam im Trainingsanzug aus dem Untersuchungsraum. Rafes Sachen hielt sie in der Hand.

„Jetzt sehen Sie fast wie eine Ärztin oder Schwester aus“, stellte Alex fest. „Vielleicht sind Sie auf dem Gebiet tätig. Was meinst du, Rafe?“

„Ich meine, dass du lieber Ärztin bleiben und nicht Detektiv spielen solltest“, erwiderte er und griff nach seinem Hut.

„Manchmal, Rafael, erinnerst du mich dermaßen an Dad, dass es geradezu unheimlich ist.“

Er verzog das Gesicht. Seine Beziehung zu George Anderson war nach wie vor ein heikles Thema. „Können wir gehen?“, fragte er April.

„Ja.“

„Ist dein Mann im Büro?“, fragte er Alex, während er hinter April das Haus verließ.

„Ich nehme es an, aber ich habe seit heute früh nicht mehr mit ihm gesprochen.“

„Wir besuchen ihn.“ Rafe öffnete die Wagentür und hob April auf den Sitz.

„Wer ist ihr Mann?“, fragte April.

„Derek ist der Hilfssheriff von Saddle.“

April wurde weiß wie frischgefallener Schnee.

2. KAPITEL

Natürlich machte Rafe sich über Aprils Reaktion Gedanken. Und vor dem Büro des Sheriffs angekommen, zögerte sie auszusteigen. Seiner Erfahrung nach hielten sich Leute meistens von der Polizei fern, weil sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen waren.

„Ich will mit dem Hilfssheriff sprechen“, erklärte Rafe, nachdem er ausgestiegen war, „damit auch er sich um die Sache kümmert. Haben Sie vielleicht einen Grund, Derek auszuweichen?“

„Ist das denn jetzt wirklich nötig?“, fragte April und verstärkte damit nur sein Misstrauen. „Ich bin nicht für einen solchen Besuch angezogen“, erklärte sie.

Rafe lächelte. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Derek kümmert sich nur darum, was geschehen ist. Außerdem ist er ein sehr guter Polizist. Wenn er Ihnen hilft, finden wir viel eher heraus, wer Sie sind.“

Als er ihr jetzt die Hand entgegenstreckte, stieg sie aus und ließ sich von ihm die Krücken reichen.

Der Hilfssheriff saß hinter dem Schreibtisch und telefonierte, lächelte und sagte: „Sie sind hier. Wir sprechen daheim weiter, Schatz.“

„Vermutlich war das Alex“, sagte Rafe, während der Hilfssheriff aufstand und April die Hand reichte.

„Ja. Ich bin Derek Grey. Und Sie sind bestimmt April. Meine Frau hat mir gerade von Ihnen erzählt.“

Trotz der freundlichen Begrüßung ergriff April nur zögernd Dereks Hand und wich sofort wieder zu Rafe zurück. Derek sah Rafe fragend an, doch der zuckte nur die Schultern und half April auf einen der Stühle vor dem Schreibtisch. Er setzte sich und nahm den Stetson ab.

„Alex hat dir bestimmt erzählt, dass April das Gedächtnis verloren hat. Wir wollen von dir wissen, ob du schon eine auf sie passende Vermisstenmeldung hast. Ich weiß, dass es noch ziemlich früh ist, aber fragen schadet nicht.“

Derek holte eine Akte aus dem Regal hinter dem Schreibtisch. „Das ist die neueste Liste vermisster Personen. Sie stammt von gestern. Mal sehen.“ Er öffnete den Einbanddeckel. „Weißt du, was für einen Wagen sie gefahren hat?“

„Nein“, erwiderte Rafe. „Ich fand sie an der Grenze meines Landes in der Nähe der Bezirksstraße 4. Es war kein Wagen zu sehen, aber am Morgen gab es in dieser Gegend Überschwemmungen. Deshalb war ich auch unterwegs. Ich wollte mein Vieh kontrollieren.“

„Ich fahre später hinaus und sehe mich nach einem Wagen um“, versprach Derek und ging die Liste durch. „Weiblich, eins sechzig, blondes Haar, grüne Augen, Ende Zwanzig, Anfang Dreißig.“ Er hielt den Finger auf eine Stelle und sah April an.

„Ich bin eins fünfundsechzig“, sagte April zu ihrer eigenen Überraschung.

Derek ging die Liste ganz durch und reichte sie Rafe. „Ich finde niemanden, auf den die Beschreibung passen würde.“

Rafe überzeugte sich selbst. „Wenn wir ihren Wagen finden, hilft uns das weiter. Auf diesem Weg können wir ihre Spur verfolgen.“

„Wenn ich etwas erfahre, rufe ich dich an.“

„Ist gut“, antwortete Rafe.

Autor

Leann Harris
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