Der Kuss des Piloten

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Um sie herum nur die Einsamkeit der kanadischen Wildnis, schneebedeckte Berggipfel, das Rauschen des Windes in den dichten Wäldern. Und an ihrer Seite Will, der Mann, dem sie zu gerne ihre ganze Liebe schenken würde: Savanna wähnt sich am Ziel ihrer Träume! Sie spürt, dass sie mit Will eine Familie gründen und endlich glücklich werden könnte. Wenn der Busch-Pilot nur nicht so dickköpfig wäre! Obwohl auch er sich in sie verliebt hat, will er seine Freiheit nicht verlieren. Mit den Waffen einer Frau macht sich Savanna daran, ihn vom Glück wahrer Liebe zu überzeugen …


  • Erscheinungstag 21.07.2012
  • Bandnummer 1847
  • ISBN / Artikelnummer 9783864946202
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Will Rubens ließ sich auf den Küchenstuhl sinken und starrte zum Telefon.

Dennis war … tot? Das konnte nicht sein. Sein Bruder lebte in Mittelamerika und rettete anderen Menschen das Leben …

Vor seinem inneren Auge tauchte das verschwommene Bild des groß gewachsenen dunkelblonden Mannes mit Brille auf, den er das letzte Mal vor drei Jahren in Washington State gesehen hatte.

Mein Gott, Dennis.

Eine Frau aus Honduras hatte in der letzten halben Stunde drei Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen und ihn dringend gebeten, sie so schnell wie möglich zurückzurufen. Will hatte nichts davon mitbekommen, weil er mit dem kleinen Josh für die bevorstehende Baseballsaison der Little League trainiert hatte.

Als Mitglied bei Big Brothers – einer Organisation, die Paten an Kinder vermittelte – kümmerte er sich öfter um den Elfjährigen, der Halbwaise war. Doch Will selbst profitierte auch von dem Arrangement. Die ehrenamtliche Tätigkeit dämpfte nämlich seine Schuldgefühle, weil er nicht konsequent genug dafür gesorgt hatte, dass Elke und Dennis in Alaska geblieben waren.

Gewissensbisse, die nur allzu berechtigt gewesen waren, wie sich jetzt herausstellte: Denn wenn die Frau aus Honduras recht hatte, waren Dennis und Elke jetzt tot. Der letzte Rest seiner Familie einfach ausgelöscht. Als hätten Dennis und Elke nie existiert.

Mit zitternder Hand fuhr sich Will über das Gesicht. Ob die Frau ihn verwechselt haben konnte? Nein, sie hatte ausdrücklich ihn sprechen wollen. Die schreckliche Nachricht musste also stimmen.

Wann hatte er eigentlich zuletzt mit Dennis telefoniert? Vor einem Jahr? Vor zwei? Richtig, es war vorletztes Jahr im Juni gewesen. Ein verkrampftes Gespräch von zehn Minuten, das nirgendwohin geführt hatte. Eher wie zwischen Fremden als unter Brüdern.

Will hob den Kopf und blinzelte in die Abendsonne, die durch das Küchenfenster schien. Seine Augen brannten. Dennis, was zum Teufel hast du nur in Honduras gesucht, was du nicht genauso gut hier finden konntest?

Aber Will wusste ganz genau, warum sein Bruder vor zehn Jahren nach Mittelamerika gegangen war. Und ihm war durchaus klar, warum ihre Beziehung sich zuletzt nur noch auf einen Anruf alle zwei Jahre reduziert hatte. Weil Elke fortgewollt hatte. Aber konnte er ihr das wirklich vorwerfen?

Will stand auf, um die drei Nachrichten auf der Mailbox nochmals abzuhören. Nur um ganz sicherzugehen, dass das Ganze kein Missverständnis war.

Er nahm sich einen Kugelschreiber und ein Blatt Papier, drückte die Abspieltaste und lauschte dem Zurückspulen und Klicken des alten Geräts. Piep. „Hallo. Ich habe eine dringende Nachricht für Will Rubens. Hier ist Savanna Stowe, S-t-o-w-e, aus Honduras. Ich hoffe, ich habe die richtige Nummer gewählt. Ich wohne zurzeit in der Shepherd Lodge. Meine Handynummer ist …“ Der Anrufbeantworter gab den Zeitpunkt der Nachricht bekannt: Mittwoch, achtzehn Uhr zwölf.

Aber warum hatte sie nicht von Mittelamerika aus angerufen, sondern von Starlight? Was zum Teufel machte sie hier in Alaska?

Will notierte sich ihren Namen: Savanna Stowe. Sie hatte eine schöne Stimme. Ein bisschen Südstaatenakzent, gedehnt und heiser.

Piep. „Mr Rubens, ich weiß, dass Sie direkt nach Ihrer Landung nach Hause gefahren sind. Jemand am Flughafen hat mir das gesagt. Ich muss wirklich dringend mit Ihnen reden. Es geht um Ihren Bruder Dennis. Sie können mich jederzeit in der Shepherd Lodge anrufen oder besser noch, Sie kommen direkt hierher und sagen an der Rezeption Bescheid. Ich komme dann sofort runter in die Lobby.“ Sie wiederholte ihre Telefonnummer. Mittwoch, neunzehn Uhr fünf.

Piep. „Mr Rubens, ich verstehe nicht, warum Sie nicht auf meinen Anruf reagieren! Entweder sind Sie nicht zu Hause, oder Ihr Bruder ist Ihnen egal!?“

Will schnaubte verächtlich. Wie anmaßend!

„Na schön, dann werde ich Ihnen eben auf diesem Wege mitteilen, warum ich hier bin, auch wenn ich das lieber persönlich getan hätte. Ihr Bruder Dennis und seine Frau sind am Sonntag bei einem Flugzeugabsturz in den Bergen südlich des Rio Catacamas ums Leben gekommen. Bitte kommen Sie zur Shepherd Lodge. Ich muss dringend mit Ihnen reden.“ Mittwoch, zwanzig Uhr dreiundzwanzig. Der Anrufbeantworter schaltete sich aus.

Will runzelte die Stirn. Dennis und Elke waren also tot. Okay, das hatte er schon beim ersten Mal verstanden. Aber in seinem Schock hatte er das Wichtigste vergessen: seinen Sohn – Dennis’ Sohn. Savanna Stowe hatte ihn gar nicht erwähnt.

Christopher war vor elf Jahren dank einer Samenspende von Will gezeugt worden, und zwar in einer Klinik in Anchorage, Alaska.

Savanna legte den Hörer auf. Shane Shepherd an der Rezeption hatte ihr gerade mitgeteilt, dass Mr Will Rubens in der Lobby angekommen war. Sie hatte Shane gefragt, ob er Rubens kannte, da sie sich in den letzten siebzehn Jahren ein gesundes Misstrauen angewöhnt hatte. Anscheinend kannten sich die beiden tatsächlich und gingen gelegentlich zusammen angeln. Sie hatte Rubens ausrichten lassen, ihr noch zehn Minuten Zeit zu geben und dann nach oben in ihre Hotelsuite zu kommen.

Sie öffnete die Tür zum Schlafraum und warf einen Blick auf den zehnjährigen Christopher. Der trug Schlafanzug und saß im Schneidersitz auf der geblümten Überdecke seines Betts und wedelte mit der linken Hand, während er den rechten Zeigefinger in ein kleines Loch an der Ferse seiner linken Socke steckte. Mit leiser und monotoner Stimme murmelte er vor sich hin.

Sie ließ den Jungen gewähren. Die letzten zwei Tage waren für sie beide sehr anstrengend gewesen. Sie waren erst mit dem Auto von Cedros bis nach Tegucigalpa gefahren und von dort über Los Angeles nach Anchorage geflogen. Das letzte Stück nach Starlight hatten sie in einem kleinen Flugzeug zurückgelegt.

Sie hatte Christopher ein Beruhigungsmittel gegeben, auch wenn sie sonst strikt gegen so etwas war. An den herabgezogenen Mundwinkeln und den schweren Lidern über den blauen Augen – Elkes Augen – erkannte sie die vollkommene Erschöpfung des Jungen. Wenigstens würde er heute Nacht anständig schlafen können.

Sie betrat das Zimmer. „Christopher?“, fragte sie leise.

Er wedelte weiter mit der Hand und murmelte vor sich hin.

Auf dem Nachttisch lag sein eingeschweißter Tagesplan. Sie legte ihn zu ihm aufs Bett, damit er einen Blick darauf werfen konnte.

„Hast du dir schon die Zähne geputzt?“

„Ja.“

„Gut gemacht. Es wird Zeit zum Schlafengehen. Sieh mal …“ Sie zeigte auf den Punkt, den Christopher bereits abgehakt hatte. „Schlafenszeit.“

„Okay.“ Gehorsam streckte Christopher die Beine und kroch unter die Bettdecke. Savanna legte den Tagesplan auf den Nachttisch zurück. Sie würde später im Bett neben der Tür schlafen. Fremde Orte und Betten machten dem Jungen nämlich Angst, und mitten in der Nacht aufzuwachen und nicht zu wissen, wo er war, konnte traumatisierend für ihn sein.

Sie beugte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Gute Nacht, mein Kleiner“, sagte sie, ohne mit einer Antwort zu rechnen. Christopher hatte den Blick bereits auf einen Schmutzstreifen an der Wand gerichtet.

Leise schaltete sie die Nachttischlampe aus und ging zur Tür, wo sie wartete, bis sie ihn leise schnarchen hörte – ein sicheres Indiz dafür, dass er schlief. Schlaf schön, mein Schatz. Sie schlüpfte hinaus und machte die Tür halb hinter sich zu.

Im Badezimmer warf sie einen Blick in den Spiegel. Will Rubens durfte nicht den Eindruck gewinnen, dass sie zu müde war, um sich richtig um den Jungen zu kümmern. Leider waren die tiefen Linien zwischen ihren Augen und die dunklen Ringe darunter nur schwer zu verbergen.

Ein Gähnen unterdrückend, fuhr sie sich mit der Bürste durch das unordentliche und ungewaschene rote Haar. Früher einmal wäre so etwas für sie ein halber Weltuntergang gewesen, aber seitdem sie in der Dritten Welt arbeitete, regten sie solche Banalitäten nicht mehr auf.

Was ist, wenn Dennis’ Bruder sich weigert? Dann bleibe ich eben drei Monate, wie im Testament festgesetzt, bis er sich an den Jungen gewöhnt hat.

Sollte sich Will Rubens danach jedoch immer noch stur stellen, würde sie Christopher mit nach Tennessee nehmen. Auch das hatte Dennis testamentarisch verfügt, wenn auch nur als letzte Option.

Sie nahm einen Lippenstift aus ihrem Kulturbeutel. Aber wozu der Aufwand? Das hier war schließlich kein Date. Sie traf Rubens nur wegen Christopher – und aus Respekt vor dem Letzten Willen zweier Menschen, die ihr sehr viel bedeutet hatten.

Kurz darauf klopfte es an die Tür.

Showtime. Wenn Christopher nicht dringend seinen Schlaf bräuchte, hätte sie es vorgezogen, das Gespräch mit Rubens in der Lobby zu führen. Oder auch gar nicht …

Savanna warf einen Blick durch den Türspion auf einen groß gewachsenen Mann, der die Hände in die Hosentaschen geschoben hatte. Er blickte gerade nach links. Sein Gesicht war durch das gewölbte Glas nur verzerrt zu erkennen, aber seine Silhouette mit dem dunkelblonden Haar sah Dennis erschreckend ähnlich.

Dann drehte er den Kopf und sah direkt in ihre Richtung. Da der Flur nur schwach erleuchtet war, konnte sie seine Augenfarbe nicht erkennen. Dafür jedoch seinen grimmigen Gesichtsausdruck. Nein, er sah er doch nicht aus wie sein Bruder. Ganz und gar nicht.

Ein ungutes Gefühl unterdrückend, schob Savanna den Riegel zurück und öffnete die Tür. „Mr Rubens?“

Seine leuchtend blauen Augen weiteten sich bei ihrem Anblick überrascht. „Ms Stowe?“

Sie streckte die Hand aus. „Schön, Sie kennenzulernen.“

Er nickte. Sein Händedruck war fest und warm. Savanna zog ihre Hand zurück und trat beiseite. „Tut mir leid, dass ich Sie nicht unten treffen konnte.“

Sie winkte ihn herein und schloss die Tür. Als sie sich wieder zu Rubens umdrehte, stand er neben dem Couchtisch. Er hatte eine solche Präsenz, dass der Raum plötzlich winzig klein wirkte.

„Möchten Sie sich nicht setzen?“, fragte sie, wobei sie seinem Blick auswich.

Rubens nahm Platz. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er eine schwarze Jeans, schwarze Stiefel und eine marineblaue Bomberjacke über einem grauen Polohemd trug. Als er zu ihr hochblickte, sah sie die Trauer in seinen Augen und empfand plötzlich Mitleid. „Möchten Sie einen Kaffee?“ Sie zeigte auf die kleine Kochnische.

„Nein danke.“ Der dunkle Klang seiner Stimme jagte ihr einen Schauer über den Rücken. „Wenn es Ihnen recht ist, würde ich gern wissen, was mit meinem Bruder passiert ist. Abgesehen davon, dass er gestorben ist.“

Savanna blieb neben dem Fernsehtisch stehen. „Er und Elke waren auf dem Weg nach Comayagua. Sie wollten sich dort mit einem Spezialisten für Dickdarmprobleme treffen. Dennis hatte einen Patienten, bei dem ein Großteil des Darms entfernt werden musste, und dieser Chirurg sollte die Operation übernehmen.“

Als sie merkte, dass sie unbewusst die Hände rang, setzte sie sich Rubens gegenüber – dem Mann, der genaugenommen Christophers leiblicher Vater war. „Elke hatte ihn ausnahmsweise dabei begleitet, da Dennis …“ Savanna senkte den Blick und stellte dabei fest, dass ihre Fingernägel dringend wieder geschnitten werden mussten. „Er wollte mal wieder Zeit mit ihr allein verbringen. Sie hatten kaum Gelegenheit, etwas als Paar zu unternehmen. Das Leben in Mittelamerika ist nicht immer leicht, Mr Rubens. Vor allem nicht mit …“

… Christopher. Sie hob den Blick zu Will und sah ihn herausfordernd an, damit er gar nicht erst auf die Idee kam, seinen Bruder und seine Schwägerin für leichtsinnig oder verantwortungslos zu erklären. Dennis war nämlich das krasse Gegenteil des Mannes gewesen, der da vor ihr saß – wenn sie Elkes Erzählungen Glauben schenken konnte.

„Wo befinden sich die Leichen?“, fragte er.

„Sie sind beim Absturz …“ Savanna musste schlucken. „Das Flugzeug ist verbrannt, zu Asche verbrannt. Wir haben gestern eine kleine Gedenkfeier abgehalten.“

Schweigend starrte der Mann auf seine Hände, die er zwischen den Knien zusammengepresst hatte. „Und wo ist der Junge?“

Savanna spürte, dass er innerlich sehr angespannt war. Und dass er am liebsten woanders wäre.

„Christopher schläft.“ Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Schlafzimmertür. „Nebenan.“

Was!? Er ist hier?“ Rubens drehte den Kopf ruckartig nach links. „Sie haben ihn nach Alaska gebracht?“ Sind Sie denn verrückt geworden?

Savanna zuckte die Achseln. „Ja, habe ich. Er ist der Grund für unser Gespräch hier. Der Letzte Wille Ihres Bruders war, dass Christopher bei Ihnen leben soll, falls ihm und Elke … falls sie sterben sollten, bevor er volljährig ist.“

Rubens starrte sie entgeistert an. „Soll das ein Witz sein? Ich kann den Jungen unmöglich bei mir aufnehmen. Ich fliege den ganzen Sommer über Touristen in die Wildnis und im Winter zum Skifahren in die Berge. Wie soll ich mich da um ein Kind kümmern?“ Abrupt stand er auf und ging zwischen Fernseher und Flur hin und her, wobei er sich mit der Hand durchs Haar fuhr. „Es geht einfach nicht“, murmelte er. „Meine Arbeitszeiten …“

„Mr Rubens, beruhigen Sie sich bitte.“

Er lachte auf. „Ich soll mich beruhigen? Meine Liebe, erst teilen Sie mir mit, dass mein Bruder und seine Frau tot sind, und dann hauen Sie mir auch noch um die Ohren, dass ich seinen Sohn erben soll? Wie soll ich Ihrer Meinung nach sonst auf solche Neuigkeiten reagieren?“

„Verantwortungsbewusst.“

Rubens blieb stehen und starrte sie an. „Sie halten mich also für verantwortungslos!? Haben Sie eine Ahnung, wie schwer es ist, einen Hubschrauber mit sechs Personen an Bord in die Berge zu fliegen?“

„Ja, habe ich“, antwortete Savanna nur mühsam beherrscht. „Würden Sie bitte in einem normalen Tonfall sprechen? Sie wecken Christopher sonst noch mit Ihrem Geschrei auf.“

„Ich habe nicht geschrien.“

„Sie haben eindeutig die Stimme gehoben.“

„Aber nicht geschrien“, beharrte er.

„Okay, einigen wir uns darauf, dass wir uns nicht einigen.“ Savanna ignorierte Wills verächtliches Schnauben. „In diesem Augenblick ist nur relevant, dass Sie Christophers Vormund sind.“ Und sein leiblicher Vater.

Will setzte sich wieder in Bewegung. „Wie kam Dennis nur auf die Idee, mich als Vormund einzusetzen? Ich habe doch überhaupt keine Ahnung von Kindern!“

„Das stimmt nicht“, antwortete Savanna ruhig. Wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre, wäre sie angesichts Wills verblüfftem Gesichtsausdruck in lautes Gelächter ausgebrochen. „Sie arbeiten ehrenamtlich für Big Brothers und trainieren das Little-League-Team für die Sommersaison.“

Das wusste sie von Elke, die Savanna mehr über Will Rubens erzählt hatte, als ihr lieb gewesen war.

Will seufzte genervt. „Da konnte wohl jemand den Mund nicht halten.“

„Ich hätte es sowieso herausgefunden. Ich habe nämlich vor der Reise ein paar Erkundigungen über Sie angestellt.“

Zum Beispiel hatte sie Elkes Großmutter Georgia Martin und Starlights Bürgermeister Max Shepherd, den Besitzer der Lodge, kontaktiert. „Ich wollte nicht einen Zehnjährigen aus seiner gewohnten Umgebung reißen und in diese eisige Tundra verpflanzen, ohne zu wissen, mit wem er es die nächsten zehn Jahre zu tun haben wird.“ Sie zeigte auf das rostfarbene Sofa. „Würden Sie sich bitte wieder hinsetzen, damit wir alles Nötige besprechen können?“

„Sie sind Lehrerin, oder?“, grummelte er und folgte ihrer Bitte.

„Ja. Zurzeit unterrichte ich Schüler mit besonderem Förderbedarf, aber eigentlich bin ich Englischlehrerin. Elke und ich waren an der Uni in Stanford Zimmergenossinnen und wurden beste Freundinnen. Wir blieben auch nach ihrer Hochzeit mit Dennis in Kontakt. Dann zog ich nach Cedros, um zu unterrichten.“ Sie schwieg einen Moment, um die Informationen bei ihm sacken zu lassen. „Als Christopher in die dritte Klasse kam, baten Elke und Dennis mich, eine spezielle Verhaltenstherapie für ihn zu entwickeln.“

„Eine Verhaltenstherapie?“ Rubens warf einen beunruhigten Blick in Richtung Schlafzimmer. So, als befürchte er, dass der Junge gleich mit gefletschten Zähnen auftauchen würde. „Wie diese Nannys im Fernsehen?“

„Nein, ich helfe Kindern mit autistischen Störungen.“

Will brauchte eine Weile, um diese Information zu verdauen. „Er ist Autist?“

„Ja“, bekräftigte sie. „Wie Sie vermutlich wissen, leidet Christopher unter dem Asperger-Syndrom. Das ist eine milde Form von Autismus“, fügte sie hinzu.

„Nein. Dennis hat nie etwas davon erwähnt!“

Sie hatte Mühe, den Blick von Wills unglaublich blauen Augen loszureißen. „Das tut mir leid, Mr Rubens. Vielleicht hatte er Angst, es Ihnen mitzuteilen.“

„Ich bin sein Bruder!“ Will schüttelte den Kopf. „Ich war sein Bruder.“ Seine Augen hatten ein faszinierendes Blau. „Er hätte es mir sagen müssen.“

Ach Dennis, dachte Savanna innerlich seufzend. Warum hast du deinen Bruder nicht vorgewarnt? Das Kind ist schließlich von ihm. „Stimmt, das hätte er tun müssen.“ Dass Dennis es nicht getan hatte, sagte vermutlich eine Menge über Will Rubens aus. Und zwar nichts Gutes.

Will fuhr sich wieder mit der Hand durchs Haar, bis er plötzlich so aussah, als sei er gerade aus dem Bett gestiegen. Hastig wandte Savanna den Blick ab.

„Aber wahrscheinlich habe ich es nicht anders verdient“, fuhr Will fort. „Dennis und ich … unser Verhältnis ging den Bach runter, nachdem …“

Er holte tief Luft. „Hören Sie, Ms Stowe, ich kann mich unmöglich um den Jungen … um Christopher kümmern. Durch meine Arbeit bin ich oft meilenweit von zu Hause entfernt, und mein Job ist sehr riskant. Mit einem Hubschrauber kann ständig etwas passieren. Mein Leben ist also absolut nicht kindertauglich, schon gar nicht für ein Kind mit Problemen. Sagen Sie dem Anwalt meines Bruders, dass er sich mit mir in Verbindung setzen soll. Ich gebe ihm die Erlaubnis, den Jungen in Pflege zu geben oder von einer vertrauensvollen Familie adoptieren zu lassen.“

„Mr Rubens …“

Sie hörten ein Geräusch und drehten sich erschrocken zur Schlafzimmertür um.

Christopher stand mit flatternden Händen da. Er hatte sich den Schlafanzug ausgezogen und eine Jeans und ein blaues Sweatshirt übergestreift.

„Mit-einem-Hubschrauber-kann-ständig-etwas-passieren“, wiederholte er mechanisch im Stakkato-Ton.

Als Rubens keuchte, sah der Junge ihn an. „Daddy?“

Oh Gott, er verwechselt Will mit Dennis, dachte Savanna. Hastig griff sie nach ihrem Exemplar seines Tagesplans und eilte damit auf den Jungen zu. „Christopher, das ist dein Onkel Will. Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, dass wir nach Alaska zu deinem Onkel fahren?“ Ungefähr hundert Mal. „Das ist er.“

„Warum sieht Onkel Will wie Dad aus?“

„Weil er sein Bruder ist.“ Wenn auch wesentlich größer und kräftiger. Und seine Augen haben eine andere Farbe. Dennis hatte braune Augen gehabt. „Wir unterhalten uns morgen früh darüber, ja? Jetzt ist es Zeit fürs Bett.“ Sie hielt den Plan hoch und zeigte auf eine eingekreiste Zahl – die Nummer zehn. „Siehst du? Schlafenszeit. Zieh deine Sachen aus und den Schlafanzug wieder an.“

„Okay.“ Christopher drehte sich um und verschwand im Schlafzimmer.

„Entschuldigen Sie uns bitte einen Moment“, sagte Savanna zu Rubens, um den Jungen wieder ins Bett zu bringen.

Kurz darauf lehnte er sich gegen den Türrahmen. „Kann ich etwas tun?“, fragte er.

„Nein, wir sind so gut wie fertig.“

„Ist er immer so?“

Savanna sah Will gereizt an. „Ich komme gleich wieder zu Ihnen, Mr Rubens. Dann können wir weiterreden.“

Anstatt zu gehen, beobachtete er sie. Unter seinem Blick wurde ihr unangenehm heiß. Der Mann war irgendwie anders als alle anderen Männer, denen sie bisher begegnet war. Sie war in der Dritten Welt vielen übertrieben selbstbewussten arroganten Typen begegnet – in der Regel waren sie bewaffnet –, doch Will Rubens hatte kein Gewehr nötig, um einschüchternd zu wirken.

Sie deckte Christopher sorgfältig zu. „Gute Nacht, mein Kleiner“, flüsterte sie. „Schlaf schön.“

Der Junge schloss die Augen. Savanna wartete, bis sie ihn leise schnarchen hörte, und strich ihm zärtlich das Haar aus der Stirn – er hatte das gleiche dunkelgoldene Haar wie sein Vater. Sie knipste das Licht aus und gab ihm einen Kuss auf die Schläfe. Christopher mochte Umarmungen und Küsse nur, wenn er selbst danach verlangte, sodass Savanna sich meistens mit kleinen gestohlenen Momenten wie diesem hier begnügen musste.

„Wow, der schläft ja schnell ein“, kommentierte Rubens von der Tür aus. „Ich wünschte, das wäre bei mir auch so.“

„Bis er acht war, fiel ihm das Einschlafen sehr schwer. Er wurde schon beim kleinsten Geräusch wieder wach.“ Rubens’ Silhouette zeichnete sich vor dem erleuchteten Wohnzimmer ab. Er lehnte noch immer im Türrahmen und sah sie an. Instinktiv verschränkte Savanna die Arme vor der Brust.

„Ich habe noch nie ein Kind ganze Sätze wörtlich wiederholen hören“, sagte er leise.

„Chris ist hochintelligent, Mr Rubens. Man könnte sogar sagen ein Genie. Aber er ist Autist, was bedeutet, dass er sich anders als die meisten anderen Kinder entwickelt. Wenn Sie ihn zum Beispiel fragen, was eine kleine Einheit ist, würde er vielleicht ‚Elektronen um den Kern eines Helium-Atoms‘ antworten.“

„Wirklich?“, fragte Will beeindruckt.

„Wirklich.“

Er blickte an ihr vorbei auf den Jungen. „Klingt, als sei er etwas Besonderes.“

„Er ist unglaublich.“

Rubens richtete den Blick wieder auf sie. „Sie mögen ihn“, stellte er fest.

„Ich liebe ihn“, antwortete sie, ohne zu zögern.

Wills Blick war unglaublich intensiv. „Wie lange haben Sie für meinen Bruder gearbeitet?“

„Drei Jahre lang. Zunächst nur zwei Mal die Woche, aber da Elke wie eine Schwester für mich war …“ Sie warf einen Blick aufs Bett. „Als Christopher geboren wurde, baten sie mich, seine Patentante zu werden.“

Will schwieg.

„Wie dem auch sei“, fuhr Savanna verunsichert fort, „Elke verringerte ihre Arbeitszeit im Krankenhaus, um nachmittags bei Christopher sein zu können. Ich habe ihr beigebracht, mit den spezifischen Eigenheiten des Jungen umzugehen und einen strikten Tagesablauf für ihn zu entwickeln.“ Und noch Tausende weiterer Strategien, die zu erklären jetzt aber zu weit führen würde.

„Warum hat es bis zur Diagnose so lange gedauert?“

„Weil Elke und Dennis erst Verdacht schöpften, als Christopher drei wurde. Er fing damals erst an zu sprechen, wiederholte jedoch nur, was man zu ihm sagte. Er hat auch nicht mit den alterstypischen Sachen gespielt.“ Sie seufzte. „Am Anfang hat Elke versucht, allein mit der Situation fertig zu werden, aber sie war einfach überfordert. Und da kam ich ins Spiel.“

Will stand noch immer unbeweglich da. „Ich habe bisher noch nie mit solchen Kindern zu tun gehabt.“

„Dann lernen Sie es eben.“

Er stieß sich vom Türrahmen ab und ging zur Tür der Suite. „Bitten Sie den Anwalt, mich zu kontaktieren, Ms Stowe. Ich möchte, dass Sie den Jungen wieder mitnehmen.“

„Mr Rubens …“

Als er sich zu ihr umdrehte, sahen seine Augen eiskalt aus. „Sie haben meine Telefonnummer. Rufen Sie mich morgen früh an, dann reden wir weiter. Gute Nacht.“ Er trat in den Flur hinaus und zog die Tür hinter sich zu.

Savanna klopfte das Herz bis zum Hals. Kein Zweifel, Will Rubens hatte absolut keine Ähnlichkeit mit Dennis, der sehr liebevoll und fürsorglich gewesen war. Ein Mensch wie Will konnte für Christophers Entwicklung fatal sein. Sie durfte den Jungen unmöglich guten Gewissens bei ihm zurücklassen.

Dennis, wie hast du nur so verantwortungslos sein können?

Will warf seine Autoschlüssel auf den Küchentisch. Was sollte er nur mit diesem Kind – und dieser Frau, verdammt noch mal – anfangen? Warum hatte sie den Jungen so weit nach Norden gebracht, ohne ihn vorher zu kontaktieren? Und Dennis … was zum Teufel hatte der sich dabei gedacht? Hatte er überhaupt nachgedacht?

Will stützte die Hände gegen die Arbeitsplatte, senkte den Kopf und kämpfte mit den Tränen. Die Trauer und die Schuldgefühle, die in ihm aufstiegen, würden ihn vermutlich noch jahrelang quälen.

Dennis war sein einziger Bruder gewesen. Der einzige Mensch, der sich nach dem Tod ihrer Mutter um den damals erst siebzehnjährigen Will gekümmert hatte und sein letzter lebender Verwandter gewesen war. Will hatte Dennis geliebt. Deshalb hatte er ihm auch das Angebot mit der Samenspende gemacht …

„Du bist mein Bruder“, hatte Will damals gesagt. „Ich mache das für dich.“

Und sie hatten es durchgezogen, gegen den erbitterten Widerstand von Elkes Mutter und Großmutter hinweg. Und dann, nachdem Elke schwanger geworden war, war Dennis für immer mit ihr aus Alaska fortgegangen.

Warum habe ich nicht versucht, den Kontakt aufrechtzuerhalten? fragte sich Will zum etwa tausendsten Mal. Warum hatte er seinen Bruder nicht einfach mal zum Angeln oder Wandern eingeladen? In ihrer Jugend hatten sie solche Dinge doch öfter unternommen. Verdammt, im Zeitalter von E-Mails und Handys war ein solches Verhalten nicht zu entschuldigen.

Und jetzt war es für sie zu spät. Schlimmer noch: zu spät für das Kind.

Auf Wills Anrufbeantworter blinkte eine weitere Nachricht. Er drückte auf die Abspieltaste. „Hey, Will“, hörte er Joshs kindliche Stimme. „Ich dachte, du bist vielleicht schon zu Hause. Also … ich hatte heute Nachmittag jede Menge Spaß. Auch wenn du ständig rumschreist und wirfst wie ein Mädchen.“

Wills Lippen zuckten.

„Nein, das war nur ein Witz“, fuhr der Junge fort. „Danke noch mal, Will. Und bis Samstag!“

Samstag würde Will das Little-League-Team trainieren, bei dem Josh mitspielte.

Will hatte ein schlechtes Gewissen, weil er sich für Josh vorhin nur eine Stunde Zeit genommen hatte. Immer diese Schuldgefühle …

Der Junge hatte sich zwar gar nicht beschwert, aber Will hatte Josh angemerkt, dass er enttäuscht gewesen war. Er hatte sich mehr von ihrer gemeinsamen Zeit versprochen als nur ein paar Wurfübungen im Park – eine Limonade bei Pete’s Burgers zum Beispiel. Doch stattdessen hatte Will ihn schon früh bei seiner Mutter abgesetzt, die mit ihrer Hilfsbedürftigkeit ein weiteres Problem darstellte. Valerie – schade, dass er ihre Gefühle nicht erwidern konnte.

Plötzlich schoss ihm Savanna Stowe durch den Kopf. Die war alles andere als erbärmlich. Im Gegenteil, sie wirkte sehr stark und durchsetzungsfähig. Ihre roten Haare gefielen ihm. Und ihre Augen … sie waren so grün wie Jalapeño-Pfeffer, und ihr Blick doppelt so scharf.

Den Fältchen unter ihren Augen nach zu urteilen, war sie vermutlich Ende dreißig. Die Armut in Mittelamerika und die erbarmungslose Sonne dort forderten bestimmt ihren Tribut.

Er zog seine Jacke aus und warf sie auf einen Stuhl. Er musste dringend unter die Dusche, um den Geruch der gammeligen Hütte des alten Harlan loszuwerden, der ihm nach dem Tod seiner Eltern das Fliegen beigebracht hatte.

Mensch, war es wirklich erst zwölf Stunden her, dass er den Susitna River entlanggeflogen war – Big Su, wie die Einheimischen ihn nennen? Will hatte dem Alten Vorräte gebracht, gemeinsam mit ihm Holz gehackt und ein Loch für ein neues Außenhaus gegraben. Seine Muskeln schmerzten jetzt noch.

Autor

Mary J Forbes
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