Der Landarzt und das Citygirl

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Für Cara ist nichts schlimmer, als die Kleinstadtpraxis ihres Vaters zu übernehmen. Bis sie dort mit ihrem Rivalen Dr. Sloan Trenton zusammenarbeiten muss. Wenn er nur nicht so attraktiv wäre! Sosehr sie ihn hassen will, sehnt sie sich heimlich immer mehr nach ihm …


  • Erscheinungstag 27.01.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505383
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Auf den ersten Blick strahlte die schlanke, rothaarige Frau auf der vordersten Bank der Friedhofskapelle zwar Selbstvertrauen und Eleganz aus. Doch während sie die Beileidsbekundungen entgegennahm, ballte sie ihre Hand, in der sie ein zerknülltes Taschentuch hielt, immer wieder zur Faust. Dr. Sloan Trenton hätte diese Hand gern in seine genommen, damit die Frau die nächsten Tage besser überstehen würde. Sie könnten sich gegenseitig in ihrer Trauer unterstützen.

Doch ganz gleichgültig, wie sehr er glaubte, Dr. Cara Conner zu kennen – für sie war er ein Fremder.

Seit Sloan im vergangenen Jahr in der Arztpraxis in Bloomberg, Alabama, angefangen hatte, hatte Preston immer wieder begeistert von seiner Tochter gesprochen, die in Manhattan in der Notaufnahme arbeitete. Sloan hatte deswegen viel an sie gedacht, seit sie sich gestern zum ersten Mal persönlich getroffen hatten.

Er war bei Preston Conners Haus vorbeigefahren, um zu kondolieren. Als er auf die Klingel drückte, hatte sein Herz wie verrückt geschlagen: Endlich würde er sie treffen. Trotz seiner Trauer über Prestons Herzinfarkt hatte er nicht wegbleiben können. Er wollte sie sehen und ihr sein Beileid ausdrücken. Er hatte das Gefühl, jemand hätte sein eigenes Herz in Stücke gerissen. Preston hatte ihn immer wie einen Sohn behandelt, und so etwas hatte Sloan vorher nie gekannt.

Wahrscheinlich verspürte er deshalb auch diese enge Verbindung zu Prestons Tochter. Doch Caras Reaktion hatte ihn schockiert.

Sie war nicht direkt unhöflich gewesen, aber gefreut hatte sie sich über seinen Besuch nicht. Nicht einmal hereingebeten hatte sie ihn, und so hatte er dort auf der Veranda gestanden, vor dem Haus, zu dem Preston ihm einen Schlüssel gegeben hatte. Er war sich unerwünscht vorgekommen, ausgeschlossen von einem Ort, an dem er sich endlich zu Hause gefühlt hatte.

Vielleicht war es nur die Trauer, schließlich hatte sie gerade ihren Vater verloren. Doch sein Gefühl sagte ihm, dass ihre Abneigung tiefer ging als das.

Sloan schluckte den Kloß herunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte, wie immer, wenn ihm erneut klar wurde, dass sein Freund und Mentor tot war. Er ging einen Schritt näher auf den Sarg zu, neben dem er den ganzen Abend gewacht hatte.

Dr. Preston J. Conner war der beste Mensch und der beste Arzt gewesen, den Sloan je gekannt hatte. Er war der Arzt, der Sloan werden wollte.

Nur knapp fünf Meter entfernt stand Cara in einem eng geschnittenen Rock und schwankte leicht auf ihren schwarzen Stilettos. Sloan ging auf sie zu, fest entschlossen sie aufzufangen, falls sie umkippen sollte. Doch ohne auch nur in seine Richtung zu sehen, verließ sie den Raum und sah nicht mehr, dass er seinen Blick nicht von ihr lassen konnte.

Er entschuldigte sich bei dem Bankdirektor und dem Priester, mit denen er sich eben unterhalten hatte, und folgte Cara hinaus.

Er ging um die Ecke in den Garten. War er eigentlich ein Stalker, wenn er ihr so folgte? Oder nur besorgt um sie, weil sie gerade einen großen Verlust erlitten hatte?

Zumindest musste er sicherstellen, dass es ihr gut ging. Preston hatte ihn schließlich mit seinen letzten Worten gebeten, sich um Cara zu kümmern.

Sie saß auf einer Bank und blickte in den Himmel. Das fahle Mondlicht beschien sie gerade so hell, dass er sehen konnte, dass sie etwas sagte. Doch er war zu weit entfernt, um sie zu verstehen.

Es fühlte sich an, als drückte ihm jemand sein Herz zusammen. Er hatte noch nie etwas so Schönes gesehen wie dieses Bild von ihr im blassen Mondlicht.

Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren, aber erst, nachdem er noch kurz sah, dass auch Cara in seine Richtung blickte.

Ihre Blicke trafen sich für einen Moment und sie sah, wie er sie beobachtete. Großartig. Jetzt würde sie wirklich denken, dass ein Stalker hinter ihr her war.

Aber die Ursache des Krachs nahm nun seine volle Aufmerksamkeit in Anspruch: Mrs. Goines, eine kleine, alte Dame mit bläulichen Haaren, war auf ihrem Weg aus dem Gebäude die drei Stufen hinuntergefallen. Sloan wusste, wie stur sie war. Auf Hilfen wie die angebrachte Rampe wollte sie sich nicht verlassen. Sie wollte einfach nicht zugeben, dass sie behindert war. Doch offenbar hatte sie ihr Gleichgewicht verloren und war gestürzt.

Er erreichte die kleine Dame fast so schnell wie die Frau, die hinter ihr gegangen war – ihre Tochter, wenn Sloan sich richtig erinnerte.

„Mom? Alles klar?“ Sie beugte sich über ihre Mutter, die vor Schmerzen stöhnte.

„Ich kann mich nicht bewegen.“ Mrs. Goines sah Sloan an und stöhnte noch einmal. „Ich komme nicht mehr hoch.“

Sloan verzog das Gesicht, als er überlegte, wie sie gefallen und gelandet sein musste. Die rechte Hüfte und Schulter hatten wohl das meiste Gewicht abbekommen. Er hatte sie schon mehrfach in der Praxis behandelt, seit er nach Bloomberg gekommen war. Sie kämpfte bereits seit über zehn Jahren mit Osteoporose und nahm Biophosphonate, um ihre spröden Knochen zu stärken – aber natürlich hatten die dem Sturz nicht standgehalten.

„Bewegen Sie sich nicht, Mrs. Goines“, bat er sie ruhig und zuversichtlich. „Ich schaue Sie mir gleich an, aber Sie müssen ins Krankenhaus und sich röntgen lassen.“

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Cara, die zu ihnen trat und sich neben Sloan hockte. Sie nahm die Hand der alten Frau in ihre und blickte sie so mitfühlend an, dass Sloan der Atem stockte.

„Mrs. Goines“, schimpfte sie mit einem Zwinkern im Auge, das Sloan von den Fotos in Prestons Sprechzimmer kannte. „Sind Sie etwa wieder das Geländer heruntergerutscht? Das hat mein Dad Ihnen doch verboten.“

Die schmerzerfüllte Miene der alten Dame entspannte sich ein wenig. „Daran erinnerst du dich wohl, Liebes?“

„Ich bin doch schließlich hier aufgewachsen. Ich erinnere mich auch daran, wie Sie mir immer einen Pfirsich extra gegeben haben, wenn ich in der Schule an der Essensausgabe stand. Können Sie mir sagen, wo wir sind?“

Die Frau runzelte die Stirn. „Wenn du das nicht weißt, brauchst du wohl einen Arzt, nicht ich. Wir sind bei der Totenwache deines Vaters, Liebes.“

„Das stimmt“, sagte Cara und vermied es, zu erklären, dass sie mit ihrer Frage Mrs. Goines’ neurologischen Zustand prüfen wollte. „Haben Sie sich Ihren Kopf angeschlagen?“

„Schön wär’s. Dann würde es vielleicht nicht so weh tun.“

„Vielleicht nicht, aber ich bin trotzdem froh, dass Sie es nicht getan haben.“ Cara sah ihr in die Augen und überprüfte im schwachen Licht der Straßenlaternen die Pupillen der liegenden Frau. „Können Sie mir sagen, wo es am meisten wehtut?“

Mrs. Goines ignorierte Sloan nun vollständig und beantwortete stöhnend Caras Fragen.

Trotz der ernsten Situation musste Sloan ein Lächeln unterdrücken. Cara hatte sich ganz plötzlich verändert: Die trauernde Tochter war verschwunden, stattdessen hockte dort eine selbstsichere Ärztin, die den Überblick über die Situation hatte. Wahrhaftig die Tochter ihres Vaters.

Sie war effizient und gründlich und kam schnell zu derselben Schlussfolgerung wie Sloan. „Sie muss geröntgt werden. Ich glaube, wir sollten sie nicht bewegen. Sie müssen einen Krankenwagen rufen.“

Er nickte und zeigte auf sein Telefon, das er schon ans Ohr gehoben hatte. „Ich brauche einen Ambulanzwagen vor Greenwood’s Funeral Parlor“, sagte er der Disponentin am anderen Ende der Leitung. „Ich habe hier eine zweiundneunzigjährige Frau, die gefallen ist und nicht aufstehen kann. Wahrscheinlich eine Fraktur der rechten Hüfte und vielleicht des rechten Humerus.“

Dann warteten sie – Cara, Sloan und noch einige Menschen, die sich zusammengefunden hatten, um zu sehen, was passiert war. Schließlich kam der Notarztwagen angerast.

Bud Arnold und sein Partner Tommy Woodall eilten zu der Stelle, an der Mrs. Goines immer noch in einem merkwürdigen Winkel auf den Betonstufen lag. Bei den Schmerzen, die sie hatte, wäre es zu gefährlich gewesen, sie zu bewegen. Sie hätten nur weitere Verletzungen riskiert. Sie hatten lediglich versucht, es ihr so komfortabel wie möglich zu machen.

„Hey, Dr. Trenton.“ Die Sanitäter begrüßten ihn und wandten sich dann zu der stöhnenden Frau.

„Mrs. Goines, bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie schon wieder das Geländer herunterrutschen wollten“, sagte Bud, sobald er seine Patientin erkannte.

Offensichtlich gab es eine Geschichte dazu. Sloan würde sie später danach fragen. Vielleicht wenn er sie am Morgen im Krankenhaus traf, bevor er zu Prestons Beerdigung ging – denn sicherlich würde sie heute Nacht dortbleiben müssen.

„Hey, Bud.“ Cara grüßte ihn ebenfalls, woraufhin Bud vor Überraschung fast die Augen aus dem Kopf fielen.

„Ja, ist es denn … Das ist doch Cara Conner. Schön dich zu sehen, Süße.“ Offensichtlich erinnerte er sich erst dann daran, weshalb sie in der Stadt war, und schien seine fröhliche Begrüßung zu bereuen. „Tut mir leid wegen deinem Dad. Er war so ein guter Mann. Der beste Arzt, den ich kannte.“

„Danke, Bud.“ Sie atmete tief ein. „Aber jetzt müssen wir uns um diese gute Frau hier kümmern. Die rechte Hüfte ist gebrochen, bei der rechten Schulter bin ich mir nicht sicher. Vielleicht ist sie nur aus dem Gelenk gesprungen. Das rechte Schlüsselbein ist auch gebrochen.“

Cara schob Mrs. Goines’ Kragen zur Seite. Ganz deutlich war eine große Beule zu sehen, aber zum Glück hatte es den Knochen nicht durch die Haut gedrückt.

„Da magst du recht haben, Doc“, sagte Bud zustimmend. „Lass uns diese hübsche Lady in die Notaufnahme bugsieren.“

Die zwei Sanitäter holten die Trage und positionierten sie so, dass sie Mrs. Goines daraufschieben konnten.

Cara und Sloan knieten sich daneben und passten auf, dass sie die beiden Sanitäter nicht störten, aber während des Transfers dafür sorgen konnten, Mrs. Goines so gut wie möglich zu stabilisieren.

„Auf drei heben wir Sie auf die Trage“, erklärte Bud seiner Patientin.

Mrs. Goines schrie vor Schmerz auf, aber es dauerte nur wenige Sekunden.

Sloan sah Cara an und lächelte. „Du solltest nach Bloomberg zurückkommen. Wir zwei wären ein gutes Team.“

Ihre Augen wurden schmal, als hätte er etwas Obszönes gesagt. „Wir sind kein Team“, sagte sie so leise, dass nur er es hörte. „Und ich komme nie zurück nach Bloomberg.“

Sie stand auf, beugte sich vor und sagte etwas zu der alten Dame, die nun auf der Trage festgebunden war. Sie schoben sie zum Notarztwagen. Dann nickte Cara Bud und Tommy zu und verschwand wieder im Bestattungsinstitut.

Langsam richtete Sloan sich auf. Was hatte er nur getan, um Prestons Tochter so wütend zu machen?

Und warum hatte er gerade nach dieser Frau ein solches Verlangen wie noch nach keiner Frau zuvor?

Menschen, die Cara ihr ganzes Leben lang gekannt hatte, schüttelten ihr die Hand, umarmten sie und drückten ihr feuchte Küsse auf die Wangen. Sie sagten ihr, wie wundervoll ihr Vater gewesen sei, welch große Bedeutung er in ihrem Leben gehabt habe und wie er sich immer wieder auch außerhalb von offiziellen Sprechzeiten um sie alle gekümmert habe – über dreißig Jahre lang, die er hier in Bloomberg praktiziert und gelebt hatte. Als ob Cara nicht wusste, wie er sich stets für seine Patienten aufgeopfert hatte.

Das wusste sie nur zu gut.

Alle schwärmten plappernd um sie herum und seufzten, wie tragisch es war, dass die Stadt einen so geliebten Menschen verloren hatte. Es war nett gemeint, aber jedes mitleidige Wort stach ihr tief ins Herz.

Ihr Blick fiel auf einen Fremden in der Menge. Allerdings war er wohl nur ihr fremd, denn auch er erhielt von allen Beileidsbekundungen. Ihr Magen krampfte sich zusammen und wurde Teil des riesigen Knotens, aus dem ihr Innerstes zu bestehen schien.

Warum schüttelten sie ihm die Hand, warum umarmten sie ihn, drückten ihm feuchte Küsse auf die Wange? Sogar die kleine, alte Mary Jo Jones mit ihrer Arthritis? Warum behandelten sie ihn, als hätte er einen genauso großen Verlust erlitten wie sie?

Preston war ihr Vater gewesen, ihre Familie.

Sloan Trenton war doch ein Außenseiter. Sein Vater hatte ihn vor etwa einem Jahr zu sich in die Praxis geholt, nachdem er offensichtlich endgültig die Hoffnung aufgegeben hatte, dass sie, Cara, seine Nachfolgerin werden würde.

Vielleicht war „Außenseiter“ zu viel gesagt. Cara wusste nicht, wie oft ihr Vater Sloan als den Sohn bezeichnet hatte, den er nie gehabt hatte. Und wie beeindruckend er den talentierten Arzt fand, mit dem er sich die Praxis geteilt hatte. Immer, wenn sie telefoniert hatten, ging es um Sloan – Sloan hat dies, Sloan hat das …

Dieser großartige Kerl liebte Bloomberg und seine Einwohner fast so sehr wie Preston Conner selbst. Sloan gab sich vollkommen für die Stadt hin, und das hatte ihren Vater daran erinnert, wie er selbst vor dreißig Jahren gewesen war. Nur dass er selbst verheiratet gewesen war.

Wobei Bloombergs begehrenswertester Junggeselle sicherlich nicht noch Single war, weil ihm die Gelegenheiten fehlten.

Sloan. Sloan. Sloan. Würg. Würg. Würg.

Dr. Sloan Trenton konnte in den Augen ihres Vaters nichts falsch machen, und das nahm Cara ihm sehr übel. Natürlich hatte ihr Vater sie geliebt, aber nie hatte er sie so sehr bewundert. Sie hatte zu viel von der Liebe zur Großstadt in sich, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, zu viel Groll darüber, wie sehr Bloomberg das Leben ihrer Familie vereinnahmt hatte. Ihr Vater hatte es nicht verstehen können oder wollen.

Von ihrem Vater hatte sie zwar die Liebe zur Medizin geerbt, doch sie war nicht willens gewesen, sich ihr Leben von dieser immer fordernden Stadt bestimmen zu lassen. Ihr war die Anonymität einer Notaufnahme in der Großstadt tausend Mal lieber.

Sie schnaufte verärgert.

Das große, schlanke Objekt ihrer Feindseligkeit konnte ihren Seufzer nicht gehört haben, nicht über all die Stimmen und die Entfernung hinweg. Doch Sloan drehte sich zu ihr, als hätte sie seinen Namen gerufen. Seine kupferbraunen Augen waren mit Besorgnis gefüllt, als er sie ansah und ihren Blick hielt.

Abschätzig sah sie zurück. Es war ihr egal, was er dachte, alles war ihr egal. Da war nur der riesige Krater in ihrem gebrochenen Herzen. Sie konzentrierte ihre ganze negative Energie auf Sloan, als trüge er die Schuld an ihrem Verlust, als hätte er ihren Vater vor dem Tod beschützen können.

Sie mochte ihn nicht, wollte nicht, dass er hier war. Alles an ihm störte sie. Und das war schon seit gestern der Fall, als sie ihn auf der Treppe stehen sah, während sie gerade einen enormen Heulanfall hinter sich gebracht hatte. Niemand hatte sie so sehen sollen, erst recht nicht dieser Wunderknabe.

Jetzt konnte sie in seinen Augen unter den kohlschwarzen Brauen erkennen, dass er wusste, wie feindselig sie ihm gegenüber eingestellt war. Das kannte er bestimmt gar nicht: Ihr Vater hatte ihn geliebt. Die Menschen liebten ihn. Seine pechschwarzen Haare, diese faszinierenden Augen, ein attraktives Gesicht und ein Körper, der – das musste sie trotz ihrer Trauer und schlechten Laune zugeben – an einem kalifornischen Strand besser aufgehoben wäre als hier in der Kleinstadt. Die Frauen liebten ihn. Warum nicht auch sie?

„Cara, wir werden deinen Dad im Krankenhaus so vermissen“, sagte Julie Lewis. Julie war seit der Grundschule Caras beste Freundin gewesen. Sie setzte sich neben sie auf die Veranda und nahm sie fest in die Arme.

Cara lehnte sich an die vertraute Schulter und war dankbar, dass sie den Augenkontakt mit Sloan unterbrechen konnte. Julies leichtes, blumiges Parfüm weckte Erinnerungen daran, wie sie damals als Teenager angefangen hatten, Make-up und Parfüm zu tragen. Ihre Freundin war dem zitronigen Duft treu geblieben.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es sein wird, seine laute, tiefe Stimme nicht mehr auf den Gängen zu hören“, fuhr Julie fort und schüttelte langsam den Kopf. Ihre langen, braunen Locken kitzelten Cara im Gesicht.

Cara hatte neulich im Internet gelesen, dass Julie mittlerweile im Krankenhauslabor als Phlebologin arbeitete.

„Diese Stadt hat wirklich etwas verloren.“

„Ja“, stimmte Cara zu und entspannte etwas in der Wärme, die ihre Freundin ausstrahlte. Sie waren gemeinsam aufgewachsen, aber mittlerweile hörten sie kaum noch etwas voneinander, nur ab und zu schrieben sie sich etwas über Facebook. Seit ihrer Zeit an der Uni hatte Cara praktisch zu all ihren Freunden aus Bloomberg den Kontakt verloren. Sie war so beschäftigt gewesen und wollte außerdem Distanz zu ihrer Geburtsstadt schaffen. Sie hatte sich vollends darauf konzentriert, überall beste Leistung zu liefern und ihren Vater nicht zu enttäuschen.

Allerdings geschah das dann doch – und zwar so gründlich, wie es nur ging: Sie entschied sich, nicht nach Bloomberg zurückzukommen und dort seine Praxis zu übernehmen.

Er hatte ihre Liebe für die Großstadt einfach nicht verstanden. Er wusste nicht, wie aufregend es war, im Big Apple Medizin zu praktizieren. Schon damals hatte er auch ihre Mutter nicht verstanden, als sie seinetwegen die Großstadt verlassen musste und ihr Herz daran zerbrochen war. Cara wusste es auch nur, weil sie lange Stunden damit verbracht hatte, die Tagebücher ihrer Mutter zu lesen. Sie hatte sich an diese handgeschriebenen Seiten geklammert, denn von Fotos abgesehen waren sie die einzigen Erinnerungen, die sie hatte.

„Armer Sloan.“ Ihre Freundin wandte ihre Aufmerksamkeit dem Mann neben dem Sarg zu. „Er nimmt es wirklich schwer.“

Cara zog eine Grimasse. Natürlich. Bäh. Sie mochte dieses bittere Gefühl nicht, das sie durchströmte. Sie war eigentlich ein sehr positiv eingestellter Mensch, das würden ihr alle bestätigen. Ein richtiger Sonnenschein. Aber ihre Einstellung Sloan gegenüber konnte nur als Gewittersturm bezeichnet werden.

„Er hat zu Preston aufgesehen.“

„Natürlich.“ Cara versuchte, so neutral wie möglich zu klingen. Sie würde nur noch einige Tage bleiben und Bloomberg dann für immer verlassen. Sollte Sloan sich doch für die Einwohner hier aufopfern und sein ganzes Leben hintanstellen. Sie hoffte nur, dass er Junggeselle bleiben würde, denn jemand, der sich so sehr für die Stadt hingab wie er – und wie ihr Vater –, der würde zwar bewundert werden, aber bestimmt kein guter Ehemann und Vater sein.

„Rex hat erzählt, dass Sloan deinen Vater nicht alleine gelassen hat. Er ist mit ihm in der Ambulanz zum Krankenhaus gefahren, hat die Sanitäter unterstützt und ist so lange geblieben, bis dein Dad für tot erklärt wurde.“ Mit sanfter Zuneigung sah sie den attraktiven, aber mittlerweile erschöpft wirkenden Mann an, der von einer weiteren kleinen, alten Dame umarmt wurde. „Armer, armer Sloan“, sagte Julie mitleidig.

Beschämt senkte Cara die Augen. Er war für ihren Vater da gewesen, hatte versucht, ihn wiederzubeleben, hatte es wohl mit einer HLW geschafft, sein Herz vorübergehend wieder zum Schlagen zu bringen, aber es hatte keinen Rhythmus mehr gefunden.

Es war bestimmt der Stress der letzten Tage, der sich bemerkbar machte. Deswegen konnte sie diesen Menschen nicht leiden, der doch so offensichtlich ein wertvolles Mitglied der Gemeinschaft war und den ihr Vater geliebt hatte. Sie sollte sich wirklich schämen.

Eigentlich kannte sie es auch gar nicht, jemanden so vollständig und intensiv abzulehnen. Eigentlich lehnte sie nie jemanden ab. Punkt. Diese Ehre kam Sloan Trenton ganz allein zu.

„Wusstest du, dass er die Little-League-Mannschaft trainiert, in der auch Rex Junior ist?“

Nein, das hatte Cara nicht gewusst.

„Und bei den Pfadfindern ist er als Betreuer dabei.“

Herrje, hatte er auch ein rotes Cape und Strumpfhosen und ein T-Shirt mit einem großen S auf der Brust? Vermutlich würde er sogar in Strumpfhosen gut aussehen. Sie konnte ihn zwar nicht leiden, aber das hieß ja nicht, dass sie blind war. Weshalb sie ihn vielleicht nur noch weniger leiden konnte. Warum konnte er nicht wenigstens irgendein Durchschnittstyp sein, ohne diese unglaublichen Kupferaugen und dieses Lächeln, um das ihn die meisten Hollywoodschauspieler beneiden würden?

2. KAPITEL

„Das ist toll“, sagte Cara zu ihrer Freundin, statt das zu erwidern, was sie wirklich dachte.

Er ist toll.“ Julie stieß Cara mit dem Ellbogen in die Seite, damit sie ihr ein bisschen mehr Platz auf der Bank machte. „Die Frau, die sich diesen Mann schnappt, wird eine glückliche Frau sein.“

Cara runzelte die Stirn. Ihre Freundin dachte doch wohl nicht … Nicht auf der Beerdigungsfeier ihres Vaters … Sie würde doch wohl wissen, dass Cara niemals etwas Ernstes mit einer Mini-Ausgabe ihres eigenen Vaters anfangen würde? Doch Julie nickte und grinste breit.

„Er ist ein guter Mann, Cara.“ Julie himmelte ihn an wie Mr. Perfect. „Ich könnte mir Schlimmeres vorstellen, als jeden Abend zu Sloan Trenton nach Hause zu kommen. Sieh ihn dir doch mal an. Ich liebe meinen Rex, aber hast du schon mal einen heißeren Kerl als den da gesehen?“

Cara wartete schon darauf, dass Julie sich theatralisch Luft zufächeln würde. Was sie einen Moment später auch tat. Cara gelang es gerade so, nicht die Augen zu verdrehen.

„Und so unglaublich es auch scheinen mag: Sein Inneres ist noch besser als sein Äußeres. Er hat wirklich ein Herz aus Gold.“

„Ich habe einen Freund.“ Und Julie hatte einen Ehemann und ein Kind und sollte einen anderen Mann wirklich nicht so ansehen … Als hätte ihn jemand in Schokolade getaucht.

„Dieser schnieke Unfallchirurg, mit dem du seit deinem Praktikum zusammen bist? Ich habe Bilder von euch im Internet gesehen.“ Julie pfiff leise. „Der sieht nicht schlecht aus, aber irgendwie ein bisschen künstlich, oder?“

„John ist wunderbar.“ Zwischen ihnen war nichts künstlich! Sie wollte ihn heiraten. Ihre Beziehung war großartig. Das hatte sie ihrem Vater doch immer erzählt, oder nicht?

„Wunderbar ist gut.“ Julie ließ sich nicht ablenken. „Aber Sloan ist der Hammer. Ich bin mir ziemlich sicher, dass dein Vater ihn extra für dich ausgewählt hat, damit du wieder nach Hause kommst.“

Das dachte Julie?

Nein, sie war schon mehrere Jahre mit John zusammen gewesen, bevor ihr Vater Sloan eingestellt hatte. Er mochte John. Das hatte er ihr gesagt, und Preston Conner war nicht dafür bekannt, mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten. Er hätte es ihr gesagt, wenn er etwas gegen John gehabt hätte. Sie hatte ihm auch schon gestanden, dass sie John heiraten würde, wenn er sie fragen würde.

Das war erst letzten Monat gewesen, als ihr Vater wegen einer Konferenz nach New York gekommen war und sie einige Tage zusammen verbracht hatten. Allerdings hatte John noch nicht gefragt und war in letzter Zeit auch etwas merkwürdig. Er hatte in den vergangenen Monaten aber auch extrem viel arbeiten müssen.

„Warum ist dein Freund nicht mitgekommen?“, fragte Julie missbilligend. „Wenn dein Vater stirbt, sollte er doch bei dir sein.“

„Er ist Unfallchirurg. Er kann sich nicht einfach so freinehmen. Und er hätte ja auch nicht helfen können.“ Das hatte er ihr zumindest ganz deutlich so gesagt, als sie ihn gefragt hatte. Sie wusste natürlich, dass er recht hatte, aber trotzdem hatte ihr seine Gleichgültigkeit wehgetan. Sie hatte ihn nicht dazu gedrängt, alles für sie stehen und liegen zu lassen, aber sie hatte sich gewünscht, dass er es von sich aus tat. Nun ja. Er hätte hier ja wirklich nicht helfen können, und sie konnte es ihm nicht verübeln, dass er nicht mit nach Bloomberg wollte. Er liebte das Leben in der Stadt noch mehr als sie.

„Nicht helfen?“ Julie schnaufte. „Er hätte deine Hand halten und dich trösten können.“

Cara wollte nicht darüber sprechen. Denn sie wusste, dass sie John begleitet hätte, wenn Johns Vater gestorben wäre.

Cara wollte die Unterhaltung beenden und lächelte Julie etwas verkrampft an. Aus den Augenwinkeln sah sie bereits die nächsten Kondolierenden. „Danke, dass du gekommen bist, Julie. Es war schön, dich zu sehen.“

„Das finde ich auch. Nur schade, dass es so traurige Umstände sind.“ Ihre Freundin nahm sie fest in die Arme, und Cara roch erneut das zitronige Parfüm. „Alle hier in Bloomberg vermissen deinen Dad. Und dich übrigens auch.“

Cara reagierte nicht auf den letzten Satz. Ja, die Leute in Bloomberg vermissten ihn, aber seine Tochter vermisste ihn noch viel mehr. Sie hatten mehrmals in der Woche telefoniert. Cara hatte meist erzählt, welche Restaurants sie entdeckt und welche Theaterstücke sie sich angesehen hatte. Manchmal berichtete sie von merkwürdigen Fällen aus der Notaufnahme. Ihr Vater wiederum hatte über Bloomberg und Sloan gesprochen.

Bald schon hatte sie seine Lobeshymnen auf den Goldjungen nicht mehr hören können. Heute hingegen würde sie sich sogar freuen, wenn er das Telefonbuch vorlesen würde – Hauptsache, sie könnte noch einmal seine Stimme hören.

Nach und nach verabschiedeten sich die Gäste.

Sloan war erschöpft. Prestons Tod war schon schlimm genug, aber Mrs. Goines’ Unfall und Caras Worte hatten den Rest des Adrenalins aufgebraucht, das ihn noch am Laufen gehalten hatte.

Als alle gegangen waren, kam der Leiter des Bestattungsinstituts auf ihn zu, um den nächsten Tag zu besprechen. Irving Greenwood war ein pummeliger, fast kahlköpfiger Mann. Das Unternehmen war schon seit drei Generationen und somit seit über hundert Jahren im Besitz der Familie. In Bloomberg gab es viele so alte Einrichtungen. Dieses tiefe Gefühl von Familienzusammenhalt und Zugehörigkeit hatte Sloan an Bloomberg so gefallen.

„Ich frage Cara, was sie machen will“, sagte er zu Greenwood. Sein Herz schlug lauter und er musste sich zum Atmen zwingen, während er den Raum durchquerte. Dort saß sie, die Hände im Schoß gefaltet, die Augen gesenkt. Sie wirkte verloren, allein, zerbrechlich. Er machte sich auf eine unfreundliche Antwort gefasst.

„Hallo“, sagte er sanft. Er wusste nicht, ob sie in Gedanken war oder ihn absichtlich ignorierte. „Mr. Greenwood möchte wissen, was mit den Blumen und Geschenken passieren soll.“

Ihr Gesicht war blass, und als sie ihn ansah, schien es ihm, als hätte sie ganz vergessen, dass es ihn überhaupt gab und wie sie sich gemeinsam um Mrs. Goines gekümmert hatten. „Was meinst du damit?“

Er deutete in den Raum, der aussah wie ein Blumengeschäft. „Die sind alle für dich. Sollen die Gestecke und Sträuße, die nicht am Grab bleiben, morgen Nachmittag ins Haus geliefert werden?“

Sie sah sich all die Blumen, Keramikstatuen, Wolldecken, Bibeln und andere Erinnerungsstücke an. „Um Gottes willen, bitte nicht. Was soll ich denn damit?“

Autor

Janice Lynn
Janice Lynn hat einen Master in Krankenpflege von der Vanderbilt Universität und arbeitet in einer Familienpraxis. Sie lebt mit ihrem Ehemann, ihren 4 Kindern, einem Jack-Russell-Terrier und jeder Menge namenloser Wollmäuse zusammen, die von Anbeginn ihrer Autorenkarriere bei ihr eingezogen sind.
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