Der Löwe von Florenz

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In Florenz passiert das, wovon Nicola schon lange träumt: Die Farenzes erkennen ihren Sohn Paul als Erben der Farenze-Unternehmen an - und Nicola verliebt sich. Doch es fällt ihr schwer, ihrem jungen Glück mit Domenico Farenze zu trauen, denn sie befürchtet, dass er nur mit ihren Gefühlen spielt …


  • Erscheinungstag 14.03.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755973
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Nicola kam gerne zeitig, wenn sie das erste Mal in einer neuen Umgebung kochte. Küchen waren genauso unterschiedlich wie Menschen, fand sie, und es zahlte sich aus, eine halbe Stunde einfach nur damit zu verbringen, sich mit dem Arbeitsplatz vertraut zu machen. Später beim Kochen half dies, Zeit zu sparen.

An diesem Abend befand Nicola sich in einem engen, vollgestopften Raum, ganz am Ende eines schmalen Ganges. Die Wohnung selbst hingegen schien elegant und geräumig zu sein, wie sie durch einen flüchtigen Blick bei ihrer Ankunft bemerkt hatte, ehe die Gastgeberin sie eilig in die Küche geführt hatte.

Die Küchenschränke waren winzig und schlecht beleuchtet. Der Kühlschrank stand in eine Ecke gequetscht und enthielt so gut wie keine Lebensmittel. Und die Arbeitsplatten waren viel zu niedrig, sodass Nicola sich bücken musste, um überhaupt zu sehen, was sie tat.

„Fürchterlich, nicht wahr?“, lächelte die Frau des Hauses entschuldigend, die etwa im selben Alter war wie Nicola, jedoch ausgesprochen exquisit gekleidet. Das glänzende dunkle Haar trug sie aufgesteckt, sodass es ihren schlanken Hals und die gebräunten Schultern freiließ. Ihre Erscheinung ließ einen leicht südländischen Einschlag vermuten, obwohl ihr Akzent sie eindeutig als Engländerin auswies.

Nicola erwiderte das Lächeln.

„Es wird schon gehen, machen Sie sich keine Gedanken. Ich habe schon in schlimmeren Küchen gekocht als dieser hier.“

Mrs. Christiansen verzog die Mundwinkel.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es noch schlimmer sein könnte! Ich bin ja so froh, Sie zu sehen, das können Sie sich gar nicht vorstellen! Ich habe erst vor sechs Wochen mein Baby bekommen und versuche noch immer verzweifelt, mit dieser neuen Situation fertig zu werden. Mein Mann hat nun einmal von Zeit zu Zeit diese wichtigen Dinnerpartys, sie sind Teil seines Jobs, wissen Sie. Er ist sehr verständnisvoll, aber ich spüre, dass er im Grunde genommen erwartet, ich solle in der Lage sein, das Baby zu versorgen und die Party zu organisieren.“

„Die Männer erwarten von uns immer, dass wir zaubern können“, stimmte Nicola lächelnd zu. „Ich weiß, wie das ist.“

„Sehen Sie, und deshalb rief ich Ihre Agentur an. Übrigens, Ihren Menüvorschlag finde ich großartig. Ich liebe Bœuf en croûte! Sie sind also sicher, dass Sie in dieser Küche hier arbeiten können?“

„Oh, das Bœuf en croûte ist bereits fertig. Ich habe es zu Hause in meiner eigenen Küche schon zubereitet und mitgebracht. Ich brauche es nur noch aufzuwärmen. Keine Sorge, der Geschmack wird dadurch keineswegs beeinträchtigt. Ich habe es in Aluminiumfolie eingepackt.“ Nicola begann, ihren Korb auszupacken in der Hoffnung, dass Mrs. Christiansen sie allein lassen würde, damit sie mit der Arbeit anfangen konnte.

Die junge Hausfrau war jedoch offensichtlich gelangweilt und fühlte sich ein wenig einsam. Sie lehnte an der Tür und beobachtete Nicola interessiert.

„Carl schläft gerade, und ich muss mich nur noch umziehen. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein?“

Nicola schüttelte den Kopf. „Nein, danke, ich schaffe es schon. Hier, die Suppe ist in dieser Thermosflasche. Das ist die Pastete, sehen Sie? Und hier die frischen Sardinen. Ich muss nur noch die Gemüse kochen, das ist alles. Aber selbst das habe ich teilweise schon vorbereitet.“

Mrs. Christiansen lachte. „Sie haben alles bis ins Kleinste geplant, nicht wahr? Ich wünschte, ich wäre so tüchtig wie Sie, aber ich bin als Hausfrau ein hoffnungsloser Fall. Ich kann nicht kochen, ich gerate schon in Panik, wenn das Baby zu niesen anfängt. Und ich hasse Bügeln.“

Nicola blickte auf. „Haben Sie keine Haushaltshilfe?“

„Doch, es kommt täglich jemand. Aber ich würde gern imstande sein, es selbst zu tun.“ Sie schwieg einen Augenblick. „Ich habe gleich nach der Schule geheiratet. Mein Mann ist während unserer Ehe drei Mal versetzt worden. Wir haben in Rio gelebt, in Mailand und jetzt hier in London. Im Ausland ist es viel einfacher, Hausangestellte zu finden, als hier.“

„Oh ja, das habe ich schon gehört“, antwortete Nicola, die sich rasch und geschickt an die Arbeit machte. Das seidige schwarze Haar hatte sie locker im Nacken zusammengebunden, sodass es ihr beim Arbeiten nicht ins Gesicht fiel. „Wie hat Italien Ihnen gefallen?“

„Nun …“ Mrs. Christiansen lachte. „Ich …“ Sie sprach nicht weiter, da es läutete. „Oh, entschuldigen Sie. Ich muss aufmachen.“

Nicola stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als die Tür hinter der jungen Frau ins Schloss fiel. Jetzt konnte sie wenigstens ungestört arbeiten, ohne sich verpflichtet zu fühlen, nebenbei auch noch Konversation machen zu müssen. Die Arbeit ging ihr wesentlich besser von der Hand, wenn sie sich darauf konzentrieren konnte.

Das Essen war fast fertig zum Servieren, als die Gastgeberin in die Küche zurückkehrte. Nicola stand vor dem Herd und überwachte sorgfältig die verschiedenen Töpfe.

„Nun, wie sieht es aus?“, erkundigte sich Mrs. Christiansen. Das korallenfarbene Kleid, das sie trug, verlieh ihrem Teint einen wunderbaren Schimmer. Ihre dunklen Augen glänzten vor Aufregung, und ihre Lippen schienen voller als zuvor.

„Ich bin so weit, wenn Sie es auch sind“, gab Nicola zurück und lächelte. Sie hatte eine weiße Schürze über ihr schlichtes schwarzes Kleid gebunden und sich dadurch kurzerhand in eine Serviererin verwandelt.

Die junge Frau seufzte. „Fantastisch! Mein Mann wird sehr zufrieden sein. Ich habe gerade einen Blick ins Esszimmer geworfen. Es sieht fabelhaft aus. Ich bewundere Ihre Gelassenheit und Tüchtigkeit wirklich sehr. Oh, wie heißen Sie eigentlich? Und nennen Sie mich doch bitte Carla.“

„Ich heiße Nicola.“ Ihr Lächeln war warm und herzlich. Sie mochte Carla. Mit ihrer freundlichen Art unterschied sie sich von den Leuten, für die Nicola sonst häufig arbeiten musste. Manche von ihnen schienen zu glauben, sie sei so etwas wie ein Roboter, eine Maschine ohne Verstand und Gefühl, der es nichts ausmachte, wenn sie abfällig oder gar beleidigend behandelt wurde. „Soll ich dann jetzt auftragen?“

„Ja, bitte. Ich werde die Gäste bitten, sich ins Esszimmer zu begeben. Viel Glück!“ Und Carla verschwand mit einem fröhlichen Lächeln.

Sechs Personen saßen an dem Esstisch, als Nicola mit dem Servierwagen eintrat. Der Hausherr, ein blonder, sonnengebräunter Hüne, hatte seinen Platz am gegenüberliegenden Ende des Tisches.

Der Schein der schlanken roten Kerzen erleuchtete sanft die Gesichter der Anwesenden. Gläser und Silberbesteck reflektierten das warme Licht.

Die Unterhaltung erstarb für einen Moment, und Nicola begann, die Suppe zu servieren. Danach machte sie erneut die Runde und bot denjenigen, die die Suppe abgelehnt hatten, frische Sardinen und Pastete an. Dann zog sie sich still zurück und belud den Wagen mit dem Hauptgang und einem Salat als Alternative. Es gab Gäste, die ein festliches Dinner ruinierten, weil sie bestimmte Gerichte nicht mochten, und Nicola sorgte daher immer dafür, dass sie für alle Fälle auch einen Eier- oder Krabbensalat reichen konnte.

Heute Abend allerdings fand der Hauptgang allgemeinen Zuspruch. Der zarte Braten in seinem köstlichen Teigmantel ließ allen das Wasser im Mund zusammenlaufen, und die in Butter geschwenkten Gemüse waren die perfekte Beilage.

Nicola servierte gerade einer jungen Frau mit kurzen blonden Haaren, da merkte sie, wie sie beobachtet wurde. Sie warf einen Blick über den Tisch und begegnete den Augen eines Mannes, der ebenso wie das Gastgeberehepaar einen sonnengebräunten Teint besaß. Seine Augen unter dem dunklen, welligen Haar waren von einem kühlen, klaren Grau, mit denen er Nicola prüfend betrachtete. Als der Unbekannte die instinktive Abneigung in ihren Augen sah, lächelte er leicht amüsiert.

Rasch wandte Nicola den Blick ab und widmete sich wieder ihrer Aufgabe, aber in ihr blieb das unbehagliche Gefühl zurück, dass sie diesen Mann schon einmal irgendwo gesehen hatte. Nachdem sie alle Gäste bedient hatte, lächelte Carla Christiansen ihr zu.

„Vielen Dank, Nicola!“

Diese erwiderte das Lächeln, und als sie den Servierwagen wieder hinausschob, fing sie einen erneuten Blick des Unbekannten mit den grauen Augen auf, ausdruckslos und doch eindringlich.

Bin ich dem Mann schon einmal begegnet? Nicola grübelte darüber nach. Vielleicht bei einer anderen Dinnerparty so wie dieser hier? Im letzten Jahr war sie zu vielen solcher Gelegenheiten gerufen worden. Es war unmöglich, sich all die Gesichter der jeweiligen Gäste zu merken, auch wenn Nicolas Gedächtnis für Namen und Gesichter im Allgemeinen ausgezeichnet war.

Warum nur vermittelt mir dieser Unbekannte ein derartiges Gefühl von seltsamer Vorahnung? Normalerweise neigte Nicola nicht zu solch eigenartigen Dingen.

Nach einer Weile kehrte sie mit dem Dessert in das Esszimmer zurück, und als sie dabei hörte, wie einige Gäste sich in schnellem Italienisch unterhielten, verstärkte sich ihr ungutes Gefühl.

Ach, Unsinn, ermahnte sie sich, das ist doch kein Grund, alarmiert zu sein. London ist voll von Italienern, und weshalb sollte mich ausgerechnet einer von ihnen erkennen?

Dennoch war Nicola erleichtert, als sie endlich den Tisch abräumen konnte und anfing abzuwaschen.

Sie war beinahe fertig, da wurde die Küchentür geöffnet. Nicola wandte sich um in der Erwartung, dass es sich um Mrs. Christiansen handelte.

Es war der grauäugige Fremde.

„Guten Abend“, sagte er in perfektem Englisch. „Ich hoffe, ich belästige Sie nicht, aber ich wollte Sie gern sprechen, ehe Sie uns verlassen.“

„Entschuldigen Sie“, erwiderte sie steif. „Ich bin sehr beschäftigt. Und falls das Essen nicht zu Ihrer Zufriedenheit ausgefallen sein sollte …“

Er schnitt ihr mit einer kurzen Handbewegung das Wort ab.

„Das Essen war exzellent. Es hat nichts mit dem zu tun, was ich Ihnen zu sagen habe. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre, aber …“

In diesem Augenblick erschien Mrs. Christiansen an seiner Seite.

„Domenico? Was machst du denn in der Küche?“, rief sie erstaunt aus, lächelte dann jedoch belustigt. „Oder ist das etwa eine zu indiskrete Frage?“

Der hoch gewachsene Südländer schien einen Moment lang zu zögern, bevor er zu lachen begann. „Ich wollte deine Köchin zu diesem großartigen Dinner beglückwünschen … Wenn ich da so an einige andere Essen denke, die ich bereits unter deinem Dach genossen habe, meine liebe Carla!“

Während die beiden miteinander sprachen, entdeckte Nicola einen kaum wahrnehmbaren italienischen Akzent in dem ansonsten einwandfreien Englisch. Am meisten trat er hervor, wenn sie gegenseitig ihre Namen aussprachen.

„Geh zurück zu den anderen, Domenico! Ich habe etwas mit Nicola zu besprechen.“ Liebevoll schob Carla ihn zur Tür hinaus.

Er gehorchte lächelnd, wandte sich aber noch einmal zu Nicola um, ehe er die Tür hinter sich schloss, und warf ihr einen scharfen Blick zu.

„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll“, meinte Carla warmherzig. „Durch Sie ist der Abend ein voller Erfolg geworden. Die Geschäftsfreunde meines Mannes waren außerordentlich beeindruckt, und ich bin sicher, ich werde gleich mit Fragen über Sie bestürmt werden. Sagen Sie, finden Sie diese Art von Arbeit wirklich befriedigend? Ich meine, Sie kochen also gerne?“

„Sehr gern sogar“, gab Nicola mit einem Lächeln zurück.

„Und arbeiten Sie jeden Abend?“

„Beinahe jeden Abend, ja.“

„Aber empfinden Sie das nicht auch manchmal als eine Last? Wäre es Ihnen nicht lieber, Sie würden tagsüber arbeiten, in einem Hotel zum Beispiel? Oder in einem guten Londoner Restaurant?“

„Die meisten wirklich guten Hotels und Restaurants stellen lieber Männer ein. Es ist komisch, aber Frauen sind in diesem Bereich der Branche im Nachteil. Aber ich arbeite gern in Privathäusern, wo ich die Leute kennen lernen kann. Und dadurch, dass ich für die Agentur arbeite, kann ich mir auch meine Arbeitszeit aussuchen. Es ist für mich durchaus möglich, einmal eine Woche lang nicht zu arbeiten, ohne dass ich mich deshalb allzu unbeliebt mache. Manchmal arbeite ich mehrere Tage lang gar nicht und dann wieder wochenlang jeden Abend. Auf diese Weise gleicht sich das finanziell ganz gut aus.“

„Sie sind vermutlich nicht verheiratet, oder?“, seufzte Carla.

Nicola wurde blass. „Nein.“

„Oh, es tut mir leid. Ich wollte nicht aufdringlich wirken“, entschuldigte Carla sich sogleich. „Offen gesagt, ich mochte Sie auf Anhieb, und unsere Gäste heute Abend sind Geschäftspartner meines Mannes, keine Freunde, außer Domenico natürlich.“ Und wieder leuchtete ihr Gesicht auf, als sie seinen Namen aussprach.

Interessiert sah Nicola sie an. Sie schien sehr an diesem Mann mit dem grauen Augen zu hängen. Ob die beiden verwandt sind oder vielleicht alte Freunde?

Carla ging auf die Tür zu. „Ich werde die Agentur wissen lassen, wie zufrieden ich bin, wenn ich die Rechnung bezahle. Würde es Sie kränken, falls ich Ihnen ein Trinkgeld gäbe?“

„Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, aber Trinkgelder kommen in einen gemeinsamen Topf. Vielen Dank, dass Sie es angeboten haben, bitte fügen Sie es jedoch dem Rechnungsbetrag hinzu.“

„Ach, das finde ich so unpersönlich“, meinte Carla betrübt. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, machte sie ein wunderhübsches Armband von ihrem Handgelenk los und reichte es Nicola. „Natürlich ist es nur Modeschmuck, aber bitte, behalten Sie es als ein Andenken. Wir werden London bald verlassen und nach Italien zurückgehen. Es wird Ihnen gut stehen, die grünen Steine passen zu Ihren schönen Augen.“

Nicola war gerührt. „Wie lieb von Ihnen! Herzlichen Dank. Ich werde es in Ehren halten.“

Sie ging früh, da sie fürchtete, Domenico würde sie noch einmal aufsuchen, sobald Carla wieder bei ihren Gästen war.

Die Wanduhr im Flur schlug gerade zwölf, als Nicola die Tür zu der Wohnung aufschloss, die sie mit ihrer Schwester Vanessa und ihrer Schulfreundin Bess Walsh teilte.

Die beiden waren schon zu Bett gegangen. Vanessa ging nie nach halb elf schlafen. Sie arbeitete als Fotomodell und war momentan sehr gefragt, da ihr eleganter, katzenhaft geschmeidiger Typ der augenblicklich gefragten Mode offenbar genau entsprach. Vanessas Leben war durch eherne Gesetze geregelt. Unbarmherzig zwang sie sich dazu, jeden Morgen um sieben aufzustehen, nahm ein ausgedehntes Bad, ehe sie frühstückte, wobei dieses Frühstück aus nichts weiter als Orangensaft und schwarzem Kaffee bestand. Danach brauchte sie eine geschlagene Stunde, um sich anzuziehen. Pünktlich verließ sie das Haus und arbeitete viele Stunden lang hart. Vanessa aß immer nur gerade so viel, um sich am Leben zu erhalten, damit sie nur ja kein einziges Gramm zunahm und ihr Körper dem Schlankheitsdiktat ihrer Branche genügte.

Bess dagegen war eher klein und rundlich, besaß riesige braune Augen und unglaublich dichtes, weiches Haar, seidig und ebenfalls braun. Sie war Nicolas älteste Freundin. Die beiden kannten sich von der ersten Schulklasse an, waren immer auf dieselben Schulen gegangen und hatten auch dasselbe Hauswirtschafts-College besucht.

Nachdem sie ihre Ausbildung beendet hatten, hatten sich ihre Wege für kurze Zeit getrennt. Für Nicola waren diese sechs Monate ohne Bess die ereignisreichsten ihres Lebens gewesen. Und als sie Bess wieder getroffen hatte, war Nicola ein anderer Mensch geworden. Zu der Zeit war sie froh gewesen über Bess’ Mitgefühl und freundliche Hilfsbereitschaft.

Bess hatte begonnen, als Hauswirtschaftslehrerin zu arbeiten, und war nun schon drei Jahre an einer Schule in der Nachbarschaft tätig. Nicola, die bei der Freundin viel Unterstützung erfahren hatte, fragte sich im Augenblick jedoch, wie lange ihr Leben noch in gemeinsamen Bahnen verlaufen würde. Denn Bess hatte sich zusehends mit einem Kollegen, einem Mathematiklehrer, angefreundet, der von ähnlich ruhiger und freundlicher Wesensart war wie sie selbst. Zwar stellten sie ihre Gefühle füreinander nicht zur Schau, aber Nicola hegte doch den Verdacht, dass die beiden sich sehr nahe gekommen waren.

Sogar Vanessa, die von anderen Menschen wenig mitbekam, hatte neulich bemerkt: „Bess sieht sehr nach Brautschleier aus. Wir werden uns wohl eine neue Mitbewohnerin suchen müssen.“

Mitbewohner waren leicht zu finden, aber wo sollte Nicola einen neuen, zuverlässigen Babysitter für Paul hernehmen?

Auf Zehenspitzen schlich sie in das Zimmer, das sie mit ihm zusammen bewohnte. Ein schwaches Nachtlicht beschien sein Bettchen. Er lag zusammengerollt auf der Seite, eine Hand an der Wange, die Lippen leicht geöffnet, und die langen dichten Wimpern beschrieben einen Halbkreis um seine geschlossenen Augen. Das dunkle Haar, die goldfarbene Haut und die feinen Gesichtszüge waren so vertraut. Seufzend stand Nicola da und sah auf ihn hinunter. Er sieht von Tag zu Tag mehr aus wie sein Vater, dachte sie. Und manchmal fragte sie sich, ob sie das würde ertragen können. Dann wiederum gab es Zeiten, da wusste sie, Paul würde die Wunden, die sie zurückbehalten hatte, heilen.

Ich könnte ihn niemals verlieren! Sie wandte sich ab und ging leise zurück ins Wohnzimmer zum Telefon. Im Dunkeln wählte sie und wartete. Es läutete lange, schließlich nahm jedoch jemand ab.

„Ja, wer ist da?“, hörte sie eine verschlafene und recht ärgerliche Stimme sagen.

„Drew, ich bin’s, Nicola.“

„Nicola? Du gütiger Himmel, Mädchen, weißt du, wie spät es ist? Du weißt doch, dass ich wochentags immer früh ins Bett gehe!“

„Es tut mir wirklich leid, aber es ist dringend“, antwortete sie.

„Ist irgendetwas Grauenvolles bei deinem Auftrag passiert? Nicola, es hat dich doch wohl keiner belästigt, oder? Ich habe so etwas schon immer befürchtet.“

„Nein, Drew. Es …“

„Hast du das Essen anbrennen lassen? Und sie sind explodiert? Ich werde zu deiner Verteidigung kommen, meine Liebe. Reg dich nicht auf …“

„Drew, würdest du mir bitte zuhören!“

Er holte tief Luft und lachte. „Sorry, meine Schuld. Sprich dich aus, ich bin ganz Ohr.“

„Ganz spitze Zunge, meinst du wohl!“

„Darling, sei doch nicht so garstig!“

„Drew, jetzt hör endlich auf, mich ständig zu unterbrechen! Also, falls jemand dich nach meinem Namen und meiner Adresse fragen sollte, wirst du sie demjenigen nicht geben, okay? Ganz egal, was er sagt, ja?“

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Nicola wusste, dass Drew nachdachte. Er war viel zu klug, als dass man etwas vor ihm verheimlichen konnte.

„Darling“, meinte er schließlich. „Du kennst unsere Regel: nur die Vornamen. Weder Nachnamen noch Adressen. Daran habe ich mich immer eisern gehalten, stimmt’s?“

„Ja, das weiß ich. Aber …“

„Dieses Mal ist es etwas anderes?“ Seine Stimme klang nachdenklich. „Höchst interessant. Wieso denn genau? Wer ist hinter dir her? Ein abgeblitzter Liebhaber?“

„Mitnichten“, erwiderte sie bestimmt. „Ich denke, ich werde mir ein paar Tage freinehmen, Drew. Könntest du bitte die Buchungen, die du für mich angenommen hast, stornieren?“

„Ich werde morgen einen Blick ins Buch werfen. Komm am besten früh vorbei, dann bezahle ich dich und kann dir dann auch bestätigen, dass du eine Weile frei bist.“

„Danke, du bist ein wahrer Freund.“ Nicola legte auf und ging müde ins Badezimmer.

Es war fast Mittemacht, als sie schließlich erschöpft in Schlaf fiel.

Sie träumte von Paolo, folgte ihm durch viel endlose Traumlabyrinthe, seine schlanke Gestalt immer gerade außer Reichweite und doch so nah. Einmal drehte er sich um und lächelte ihr zu, aber seine Züge lösten sich auf, und Nicola starrte plötzlich in das Gesicht des Fremden, dem sie am Abend begegnet war. Sie erwachte tränennass vor Enttäuschung.

Da hörte sie Paul rufen: „Mummy … auf! Jetzt, Mummy … will aufstehen!“

Es war halb acht. Nicola fühlte sich müde und zerschlagen. Sie hob Paul aus seinem Bettchen und trug ihn ins Badezimmer hinüber. Vanessa, im kurzen weißen Bademantel, kam gerade herausgeschwebt und hinterließ das Badezimmer wie immer in einer Duftwolke und mit beschlagenen Fenstern.

Sie küsste Paul, lächelte ihre Schwester flüchtig an und verschwand in Richtung Küche.

Als Nicola ihren kleinen Sohn in die Küche trug, hatte Bess bereits das Frühstück für ihn gemacht. Orangensaft und ein gekochtes Ei standen auf dem Tablett seines Hochstuhls bereit.

Paul machte sich gleich ans Werk. Er war ein guter Esser, und während er sich sein Ei schmecken ließ, setzte Nicola sich ebenfalls, um an einem Stückchen Toast zu knabbern.

„Ein Ei würde dir gut tun“, meinte Bess, die sie prüfend anblickte. „Du siehst heute Morgen ziemlich mitgenommen aus. Wirst du etwa krank?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe schlecht geschlafen.“

„Paul zahnt, hm?“

„Nein, das war es nicht. Eher meine eigenen Gedanken“, sagte Nicola.

„Was ist denn los?“ Bess sah sie beunruhigt an.

„Eigentlich gar nichts. Ich glaube, ich brauche einfach einmal eine Pause. Ich habe in letzter Zeit sehr viel gearbeitet und Drew deshalb gebeten, mir ein paar Tage freizugeben.“

„Gute Idee“, nickte Bess. „Bald wird Paul groß genug sein für den Kindergarten. Dann könntest du dir einen Halbtagsjob tagsüber suchen.“

Als Nicola die Agentur betrat, grinste Drew ihr breit entgegen.

„Ich hatte schon zwei Anfragen deinetwegen, Darling. Eine von einem Mann mit einer sehr tiefen Stimme. Ich habe ihn abblitzen lassen, und er hat sich nicht allzu sehr aufgeregt. Und kurz danach kam ein Anruf von der Frau, für die du gestern Abend gearbeitet hast. Sie wollte deine Adresse, um dir noch einmal persönlich zu danken, wie sie sagte, aber ich habe abgelehnt. Sie war ziemlich hartnäckig, aber es hat ihr nichts genützt. Sie meinte, sie wolle dich für heute Abend noch einmal haben. Ich habe ihr jedoch gesagt, dass du für die ganze nächste Woche anderweitig verplant bist, und das hat sie schließlich überzeugt.“

„Ich danke dir, Drew. Das war sehr nett.“ Nicola merkte, dass sie zitterte, und hoffte, dass man es ihr nicht ansah.

Drew blickte sie aufmerksam an. „Also, heraus mit der Sprache. Was wird hier gespielt, Nicola? Bei dem Kerl kann ich das ja noch verstehen, aber was ist mit der Frau?“

„Ach, das ist einfach zu kompliziert.“

Drew stellte ihr einen Scheck aus und reichte ihr eine Kopie der Aufträge.

„Das sind die Jobs, die du gemacht hast, das dein Anteil am Trinkgeld …“ Er erklärte ihr die Details.

Nicola steckt den Scheck ein und wollte gehen, da klingelte das Telefon. Drew packte sie wortlos an der Hand, um sie zurückzuhalten.

Er sprach in seinem zuvorkommendsten Tonfall in den Hörer, was bedeutete, dass es sich um einen äußerst wichtigen Kunden handeln musste.

Schließlich legte er auf und verzog das Gesicht. „Sorry, Darling. Das war die Gräfin Navestock. Sie möchte dich für heute Abend engagieren, ein Dinner für zwei, das ihr sehr am Herzen zu liegen scheint. Sie hat speziell nach dir gefragt, und da konnte ich ja schlecht Nein sagen. Sie hat dich schon immer in den höchsten Tönen gelobt.“

„Für zwei? Aber sie hat doch ihre eigene Hausangestellte, die für solche Gelegenheiten kocht. Normalerweise lässt sie uns nur für große, formelle Veranstaltungen kommen!“

„Es scheint, als sei ihre Haushälterin krank. Lebensmittelvergiftung wahrscheinlich.“ Drew lachte. „Nicola, Liebste, es tut mir leid. Aber ich kann es mir nicht leisten, sie zu enttäuschen. Besonders, weil sie uns ständig an ihre Freunde weiterempfiehlt. Diese Art von Mundpropaganda ist Gold wert, wie du weißt.“

Sie stieß einen Seufzer aus. „Ja, vermutlich. Okay, Drew, ich mache es. Was für ein Menü will sie?“

„Das überlässt sie dir. Kauf ein und bring alles mit. Geld spielt keine Rolle.“

„Etwas richtig Besonderes also?“

„Scheint so. Mach zur Abwechslung einmal, wozu du Lust hast, koch deine Lieblingsgerichte.“

Nicola gefiel die Vorstellung. Es war einmal etwas anderes, ein kleines Essen wirklich exquisit zusammenzustellen.

Nicola schob Paul in seinem Sportwagen vor sich her und kaufte in ihren Lieblingsgeschäften ein, wo sie die Köstlichkeiten bekam, die sie wollte. Danach rief sie in der Schule an, um Bess zu fragen, ob diese heute Abend wieder babysitten könnte. Zwar hatte Nicola eine ganze Reihe von Babysittern für die Abende, an denen sowohl Vanessa als auch Bess ausgingen, aber es würde einige Zeit dauern, das zu organisieren.

Bess hatte nichts vor und war neugierig, was die Gräfin betraf. „Ob sie einen Liebhaber eingeladen hat?“

„Sie ist über siebzig!“ Nicola lachte.

„Na und? Dafür gibt es keine Altersgrenze, oder? Es ist allmählich Zeit, dass du dir einen neuen Mann suchst, Nicola. Dein Verstand ist schon ganz eingerostet.“

Nicola antwortete nicht. Der Schmerz durchzuckte sie, sodass sie nichts sagen konnte.

„Oh Nicola, verzeih mir!“, rief Bess. „Ich hätte meine Zunge im Zaum halten sollen, aber ich kann mir nicht helfen. Ich finde, du musst die Vergangenheit hinter dir lassen, und je länger du es aufschiebst, desto schwerer wird es.“

„Wahrscheinlich hast du recht, Bess. Und zweifellos bin ich psychologisch gesehen ein hoffnungsloser Fall. Aber es ist eine Sache, darüber zu reden, und eine vollkommen andere, auch danach zu handeln!“ Nicola wurde ärgerlich.

Autor

Charlotte Lamb
Die britische Autorin Charlotte Lamb begeisterte zahlreiche Fans, ihr richtiger Name war Sheila Holland. Ebenfalls veröffentlichte sie Romane unter den Pseudonymen Sheila Coates, Sheila Lancaster, Victoria Woolf, Laura Hardy sowie unter ihrem richtigen Namen. Insgesamt schrieb sie über 160 Romane, und zwar hauptsächlich Romances, romantische Thriller sowie historische Romane. Weltweit...
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