Der Playboy und die schöne Ärztin

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Wie demütigend war es für Grace, als Liam damals über ihre Verführungsversuche nur lächelte! Aber jetzt braucht er sie verzweifelt: Als Physiotherapeutin soll sie ihm wieder auf die Beine helfen. Jeder seiner Schritte geht in Richtung Heilung - und vielleicht in Richtung Liebe?


  • Erscheinungstag 23.09.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719487
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Und nun kommt die größte Hürde …“, murmelte Liam Carter und stemmte sich mit einiger Mühe aus dem sehr bequemen Sofa in James Rothsbergs Büro in der Hollywood-Hills-Klinik.

„Welche Hürde?“, erkundigte James sich verwundert, nachdem er sich aus Höflichkeit ebenfalls erhoben hatte.

Wieso hatte er das gesagt? James brauchte schließlich nicht zu wissen, wie heikel Liams Plan war.

„Zu gehen“, erklärte Liam knapp und hoffte, dass James sich mit dieser Erklärung zufriedengeben würde.

„Ich kann Ihnen gern einen Rollstuhl holen lassen. Jemand vom Pflegepersonal könnte Sie nach unten in die Physiotherapie bringen.“

„Nein“, wehrte Liam lächelnd ab. Auch wenn er stark humpelte und sein Fuß höllisch wehtat, war er nicht bereit, sich diese Blöße zu geben. „Das schaffe ich schon.“

Es war acht Jahre her, seitdem er Grace das letzte Mal gesehen hatte, und er würde ihr auf Augenhöhe entgegentreten. Egal, wie schmerzhaft es war.

Vorsichtig ging er zur Tür, immer darauf bedacht, unter minimaler Belastung des verletzten Fußes die Balance zu halten.

James kam um seinen Schreibtisch herum und streckte Liam zum Abschied die Hand entgegen. „Machen Sie sich darauf gefasst, dass Grace Ihnen Krücken verpassen wird.“

Stirnrunzelnd sah Liam den Klinikdirektor an. Das durfte keinesfalls geschehen. Wenn irgendjemand ihn in einem Rollstuhl oder auch nur mit Krücken sah, würde diese Neuigkeit sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Und es würde unweigerlich die Frage gestellt werden, ob er für das Projekt noch geeignet war.

Liam zwang sich zu einem Lächeln, schüttelte James’ Hand und wandte sich dann zur Tür. „Bestimmt gibt es einen Kompromiss. Grace war immer gut darin, kreative Lösungen zu finden.“

Das war sie wirklich gewesen, damals, als sie noch Freunde waren. Bevor ihre Freundschaft in dieser schrecklichen und zugleich unglaublichen Nacht abrupt zu Ende gegangen war.

Sie hatten viele schöne gemeinsame Jahre gehabt. Unschuldige Jahre, in denen Hormone noch keine allzu große Rolle gespielt hatten. Doch diese besagte Nacht sorgte dafür, dass ihr Wiedersehen alles andere als normal sein würde.

Aber er wollte unbedingt, dass Grace ihn behandelte …

Mit zusammengebissenen Zähnen humpelte er langsam in Richtung Fahrstuhl. Die Hollywood-Hills-Klinik machte ihrem Ruf wirklich alle Ehre. Alles wirkte sehr elegant und stilvoll. Allerdings war Liam nicht in der Stimmung, den Luxus zu bewundern.

Auch nach zwei Tagen und mit der besten Gipsschiene, die sein Assistent auftreiben konnte, durchzuckte ihn bei jedem Schritt ein stechender, nahezu unerträglicher Schmerz. Es kam ihm sogar so vor, als wären die Schmerzen in seinem Knöchel seit seinem kleinen Sportunfall noch schlimmer geworden. Doch obwohl es wirklich wehtat, ließ die Aussicht, Grace Watson nach all den Jahren wieder gegenüberzustehen, seine Schritte schneller werden.

Ob sie sich sehr verändert hatte? Oder war sie noch immer das schlanke, sportliche Mädchen von damals? Vielleicht war seine Nervosität vollkommen überflüssig. Acht Jahre waren eine lange Zeit. Es konnte gut sein, dass das Knistern zwischen ihnen sich schlicht und einfach in Wohlgefallen aufgelöst hatte.

Von Nick, ihrem Bruder, wusste Liam, dass Grace sich auf Physiotherapie spezialisiert hatte. Zu ihren Patienten gehörten mehrere Profisportler, die sie nach Verletzungen wieder fit machte. Bestimmt würde sie also auch ihm helfen können. Er musste sie nur überreden, es auch zu tun. Dafür war es absolut notwendig, dass er ihr letztes, desaströses Treffen nicht erwähnte. Inzwischen waren sie schließlich beide erwachsen, und Erwachsene blendeten ständig unerfreuliche Sachen aus.

Als der Fahrstuhl im Untergeschoss hielt, stieg Liam aus. Je näher die Begegnung mit Grace rückte, desto aufgeregter wurde er.

Er brauchte nur seine Rolle zu spielen. Eine Rolle, in der er so tat, als hätte sich das Bild von ihr in dieser schwarzen, sündhaft knappen Unterwäsche nicht für immer in sein Gedächtnis eingebrannt.

Unglaublich, dass es schon acht Jahre her war.

Er öffnete die Tür zu dem großen Behandlungsraum und wusste sofort, dass sie nicht da war. Er spürte es einfach.

Am anderen Ende des Ganges entdeckte er den Eingang zur Schwimmhalle. Falls Grace irgendwo in diesem Gebäude war, dann vermutlich dort.

In Südkalifornien waren Swimming-Pools nichts Ungewöhnliches, und er konnte sich noch gut daran erinnern, dass sie jede freie Minute in dem Pool im Garten ihrer Eltern verbracht hatte.

Langsam näherte er sich dem Beckenrand und entdeckte sie sofort. Gerade hatte sie eine Bahn beendet und wendete unter Wasser. Obwohl er das Gesicht der Schwimmerin nicht erkennen konnte, wusste Liam mit absoluter Sicherheit, dass es Grace war. Ihre Bewegungen waren ihm noch genauso vertraut wie damals. Mit anmutigen, aber dennoch kräftigen Bewegungen schwamm sie in die entgegengesetzte Richtung.

Wie eine Meerjungfrau.

Er schüttelte den Kopf und bemerkte, dass er trotz seiner Nervosität lächelte. Zumindest das hatte sich nicht geändert.

Vielleichte würde ja alles so sein wie früher, und Gracie streckte ihm gleich ihre Hand entgegen, damit er ihr aus dem Wasser half. Natürlich nur, um ihn dann mit einem Ruck zu sich ins Becken zu ziehen.

Eine weitere Wendung, und sie kam wieder auf ihn zugeschwommen. Noch hatte sie ihn nicht entdeckt, und so trat Liam einige Schritte zurück, um sie nicht zu überrumpeln. Die guten alten Zeiten waren schließlich vorbei.

Er sah, wie sie sich am Beckenrand festhielt, und hörte ihren keuchenden Atem. Anscheinend hatte sie bemerkt, dass sie nicht mehr allein war, denn während sie aus dem Wasser stieg, blickte sie sich suchend um.

Liam stockte der Atem. Grace hatte ihre Schlaksigkeit verloren und stattdessen verführerische Kurven bekommen. Ihre Haut war sonnengebräunt und glänzte golden, und ihr schwarzer Bikini sah fast genauso aus wie die Unterwäsche, die sie an jenem Abend getragen hatte.

Als ihre Blicke sich trafen, ließ Grace sich wieder ins Becken zurückfallen. Eine Wasserfontäne spritzte auf – und dann herrschte Stille.

„Grace?“

Hatte sie sich etwa verletzt? War sie mit dem Kopf auf den Boden geknallt? Das Wasser war sicher nicht sonderlich tief. Besorgt humpelte Liam zum Beckenrand.

Dank ihres jahrelangen Trainings und ihrer Selbstbeherrschung gelang es Grace, sich so weit zu beruhigen, dass sie beim Abtauchen nicht panisch das Chlorwasser einatmete.

Diese breiten Schultern.

Das dunkle Haar.

Und dann diese kristallblauen Augen.

Liam Carter.

Was zum Teufel machte er hier?

Sie zog sich erneut am Beckenrand hoch und rollte sich nach Luft schnappend zur Seite. Bestimmt sah sie gerade wie ein Walross aus.

Wie ein Walross im Bikini.

Verglichen mit ihrem letzten Zusammentreffen war aber selbst dieser unvorteilhafte Anblick harmlos.

Oje, ihr letztes Zusammentreffen …

Plötzlich war sie wieder ein achtzehnjähriges College-Girl, das gerade die Blamage seines Lebens hinter sich hatte. Am liebsten hätte sie sich wieder ins Schwimmbecken fallen lassen. Für immer.

Bevor ihre Schamesröte vom Gesicht auf den restlichen Körper überging, sprang sie auf und schnappte sich ein Handtuch, das sie wie einen Schutzschild um ihren Körper wickelte.

Das alles konnte einfach nicht wahr sein.

Vielleicht hatte sie Halluzinationen. Eine Chlorvergiftung oder so etwas. Wahrscheinlich Sauerstoffmangel. Ja, das musste es sein.

Sie brauchte sofort eine Sauerstoffmaske.

Alternativ konnte sie auch einfach verschwinden. Möglichst schnell, bevor er ihre Panik bemerkte. Oder ihre Narben. Narben, die unmissverständlich zeigten, wie dumm sie gewesen war.

Dabei wollte sie ihn so gern glauben lassen, dass sie die Katastrophe halbwegs unbeschadet überstanden hatte. Er hatte sie danach ja nicht einmal im Krankenhaus besucht. Nicht, dass sie das gewollt hätte …

Abwehrend hob er seine Hände, doch sein Blick verriet, dass er besorgt war. Besorgt und betroffen. Sie hatte diesen Blick schon einmal gesehen. Das gleiche Stirnrunzeln, die gleiche Haltung. Allerdings in einer anderen Situation …

Und sie trug mehr oder weniger das gleiche peinliche Outfit.

Wie traurig, dass diese albtraumhafte Situation nicht nur ein Resultat von Sauerstoffmangel war.

„Es geht dir gut.“

Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber ich war gerade hier, und da dachte ich … Na ja, ich wollte kurz Hallo sagen.“

Während er sprach, ging er rückwärts in Richtung Ausgang, wobei er sich ungefähr so graziös bewegte wie Grace bei ihrem ersten Versuch, aus dem Pool zu steigen. Es war nicht zu übersehen, dass er den einen Fuß viel stärker belastete als den anderen.

Grace knotete das Handtuch über ihrer Brust fest und betrachtete dann interessiert seine Füße. Nicht nur, weil sie den Grund für sein Humpeln herausfinden wollte, sondern vor allem, weil sie so vermeiden konnte, ihn direkt anzusehen.

Sofort fiel ihr auf, dass sein rechtes Fußgelenk in einer Schiene steckte.

Sie räusperte sich, um den Kloß in ihrem Hals loszuwerden. „Normalerweise bist du ein besserer Schauspieler, oder?“

Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust, als wollte sie sich noch besser vor seinen Blicken schützen. Oder als wollte sie verhindern, dass er Parallelen zwischen dieser Situation und ihrem letzten Treffen zog.

Tu so, als wäre das alles hier vollkommen normal. Lass dir nicht anmerken, dass du am liebsten Hals über Kopf verschwinden würdest. Sag irgendwas Normales.

„Kann ich etwas für dich tun, Liam?“ Sie gab sich immer große Mühe, bei neuen Patienten professionell zu wirken. Auch wenn Liam natürlich kein normaler Patient war. In diesem Augenblick war nichts normal. Sie kam sich vor wie in einem schlechten Film. Oder wie in einem dieser Albträume, in denen man plötzlich nackt und unvorbereitet vor der Prüfungskommission in der Uni stand.

Wie sollte eine Frau mit einem Mann umgehen, der in ihrer Jugend ihr bester Freund gewesen war, doch mit dem sie seit Jahren nichts zu tun gehabt hatte? Noch dazu, wenn sie sich diesem Mann vor Jahren in Unterwäsche präsentiert hatte? Gab es für solche Situationen irgendwelche Handlungsempfehlungen?

„Oder hast du einen Termin bei einem meiner Kollegen?“

Bitte, Gott, jetzt wäre der richtige Zeitpunkt für einen Blitzschlag. Ersatzweise könnte sich auch der Boden vor mir auftun. Oder eine Ohnmacht! Ja, ich könnte in Ohnmacht fallen.

Ob es Schauspielkurse gab, in denen man lernen konnte, auf Kommando ohnmächtig zu werden?

„Ich wollte nur …“ Liam gab es auf, ihr etwas vorzumachen. „Nein, ich bin deinetwegen hier.“ Er humpelte wieder auf sie zu und ließ resigniert seine Schultern hängen. „Ich habe mir den Knöchel verstaucht. Und da ich gerade einen wirklich vollen Terminkalender habe …“

Es ging um eine Behandlung. Ihr Wiedersehen war also kein Zufall. Immerhin gab ihr diese Wendung die Möglichkeit, in den Physiotherapeuten-Modus zu wechseln. Sie brauchte also nicht länger darüber nachzudenken, ob sich unter ihrem Bikini-Top ihre Brustwarzen genauso abzeichneten wie damals unter ihrem Push-up-BH. Sie konnte ganz professionell sein.

Sie würde ihn untersuchen, ihm ein paar gute Ratschläge geben und ihn dann an einen ihrer Kollegen verweisen.

Ein großartiger Plan.

Doch zuerst musste sie sich anziehen.

Benimm dich ganz normal. Als wäre alles in Ordnung.

„Schaffst du es, allein in den großen Behandlungsraum zu gehen?“ Sie sah ihn gerade lange genug an, um das irritierte Stirnrunzeln auf seinem viel zu attraktiven Gesicht wahrzunehmen. Und sie freute sich darüber, dass es ihr gelungen war, ruhig und professionell zu klingen.

„Natürlich.“

„Prima. Dann trockne ich mich schnell ab und ziehe mich an. Danach untersuche ich dich. Setz dich am besten in einen der Liegestühle, und leg deinen Fuß hoch. Das wird den pochenden Schmerz lindern.“ Sie klang wirklich sehr vernünftig.

Liam zögerte kurz und nickte dann. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und hinkte hinaus. Nachdem die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, ging Grace schnurstracks in die Umkleidekabine.

Ob Nick ihn hergeschickt hatte? Ihr Bruder war noch immer mit Liam befreundet. Die Freundschaft hatte die vielen Jahre überdauert, selbst wenn Liam zunehmend weniger Zeit hatte, mit seinem alten Kumpel Nick abzuhängen. Oder was die beiden auch immer taten, wenn sie zusammen waren. Grace wusste es nicht so genau, denn seit Jahren vermied sie es, über Liam zu sprechen oder auch nur über ihn nachzudenken. Leider war das in L. A. gar nicht so einfach, denn selbst wenn sie nur im Supermarkt eine Tube Zahnpasta kaufen wollte, grinste er ihr garantiert von irgendeinem Plakat oder einer Titelseite entgegen.

DER HEISSESTE MANN DER WELT!

Wie schafft Hollywood-Megastar Liam Carter es, so durchtrainiert zu sein?

Hollywoods begehrtester Mann spricht über Liebe, Sex und Zukunftspläne.

Blablabla.

Ganz zu schweigen von den Schlagzeilen, die sie heute Morgen am Kiosk gesehen hatte. Sämtliche Regenbogenblätter berichteten darüber, wie Liam das Leben seiner Exfreundin zerstört hatte, die nun Trost in Drogen und Alkohol suchte.

In Windeseile zog Grace sich an, band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und schlüpfte in ihre Sandalen.

Sie würde ihn untersuchen und ihm sagen, was er tun musste, um so schnell wie möglich wieder auf die Beine zu kommen. Sie würde ihm Krücken besorgen, vielleicht eine andere Schiene anlegen und dann einen Krankengymnasten suchen, der zu ihm nach Hause kam und mit ihm die notwendigen Übungen machte.

Hauptsache, sie brauchte es nicht selbst zu tun.

Es sollte jemand sein, der noch nie seinen Stolz über Bord und sich selbst einem Mann an den Hals geworfen hatte, der ganz offensichtlich nicht interessiert war.

Jemand, dem klar war, dass man einen Bad Boy niemals ändern konnte.

In L. A. musste es doch mindestens einen Menschen geben, auf den diese Beschreibung zutraf.

Liam ließ sich im Behandlungsraum in den erstbesten Sessel fallen, obwohl es kein Liegestuhl war.

Grace war offensichtlich alles andere als glücklich darüber, ihn wiederzusehen. Das war ihm früher nie passiert. Vielleicht stand sie einfach ein wenig unter Schock und brauchte nur ein paar Minuten, um sich zu fangen.

Oder diese ganze Sache hier war ein riesengroßer Fehler.

Wenn man es so weit gebracht hatte wie er, barg jede neue Beziehung – egal, ob geschäftlich oder privat – ein gewisses Risiko. Viel zu viele Menschen hatten keine Skrupel, vertrauliche Informationen an die Regenbogenpresse zu verkaufen. Seitdem es das Internet gab, war alles nur noch schlimmer geworden. Privatsphäre war inzwischen ein seltenes und kostbares Gut für Stars wie Liam. Es erschreckte ihn immer wieder, wie schnell und tief man bei schlechter Publicity abstürzen konnte.

Deshalb war er hier.

Es konnte zwar sein, dass Grace ihn nicht sehen wollte, doch er vertraute ihr. Sie würde niemals Informationen über ihn an die Presse durchsickern lassen. Außerdem arbeitete sie in einer Klinik, die für ihre Diskretion bekannt war.

Andererseits war ihr Verhältnis ziemlich vorbelastet …

Mühsam stand er auf und ging zum nächsten Liegestuhl. Es würde schon schwierig genug werden, sie zu überreden, seine Behandlung zu übernehmen. Er hielt sich besser an ihre Anweisungen.

Kaum hatte er sich gesetzt, da kam sie auch schon hereingeeilt. Wieder wich sie seinem Blick aus. Man brauchte kein Experte zu sein, um ihre Körpersprache zu verstehen.

Das Vermeiden von Blickkontakt war ein untrügliches Zeichen für Verletzlichkeit. Oder dafür, dass man etwas verbergen wollte. Liam vermutete, dass es gerade ihre Verletzlichkeit war, die sie verbergen wollte.

Sie verschwand in einem Büro und rief ihm durch die offene Tür nur kurz zu, dass sie gleich wieder da wäre, um sich seinen Knöchel anzusehen.

Seitdem er ein berühmter Filmstar geworden war, hatte Liam es nicht oft erlebt, so behandelt zu werden. Die allermeisten Menschen schenkten ihm bereitwillig ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit.

Alle außer Grace.

Das Problem mit dem peinlichen Vorfall vor acht Jahren war, dass Liam nicht genau wusste, ob er generell nicht darüber reden sollte oder ob ihm einfach nur die richtigen Worte dafür fehlten. Die Vorstellung, den Zwischenfall anzusprechen, verursachte ihm Übelkeit. Wenn Grace es noch nicht einmal schaffte, ihn auch nur anzusehen, dann war der passende Zeitpunkt für diese Unterhaltung vermutlich noch nicht gekommen.

„Vielen Dank, dass du dir Zeit für mich nimmst“, sagte er viel zu förmlich und so laut, dass sie ihn in dem Büroraum hören musste.

Wie würde er sich einem anderen Physiotherapeuten gegenüber verhalten? Vermutlich wäre er charmant und unterhaltsam – wie es sich für einen Filmstar gehörte. Er durfte nur keine peinlichen Pausen entstehen lassen.

„Mein neuer Film kommt in den nächsten Tagen in die Kinos. Ich muss zu drei verschiedenen Filmpremieren und habe jede Menge Werbeauftritte. Diese Sache mit meinem Fuß hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt passieren können.“

Grace kam in den Behandlungsraum zurück. Sie trug nun einen Trainingsanzug, der zwar nicht sonderlich schick war, ihre Kurven jedoch sehr vorteilhaft betonte. Sobald sie sich bückte, konnte Liam einen Blick auf ihre goldschimmernde Haut erhaschen.

„Was ist denn genau passiert?“ Sie hatte sich einen Stuhl herangezogen und setzte sich ans Fußende des Liegestuhls. Erst jetzt sah sie ihn an.

Nur nicht an damals denken! Konzentrier dich auf den Fuß!

„Ich bin beim Joggen umgeknickt.“ Liam griff nach seiner Tasche und fischte einen großen Umschlag heraus. „Hier sind die Röntgenaufnahmen.“

„Und die Ärzte sagen, dass nichts gebrochen ist?“

Vorsichtig hob sie sein Bein an, zog ihm den Schuh aus und fing an, den Verband um die Schiene herum zu lösen. Liam biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz aufzustöhnen.

„Ja, in der Notaufnahme haben sie gesagt, es würde nicht gebrochen aussehen.“

„Okay. Trotzdem könnte es eine Fraktur sein. Vielleicht ein Haarriss. Das würde man erst sehen, sobald es anfängt zu verheilen.“

Das Gleiche hatte er schon zwei Tage zuvor gehört. Obwohl Grace sehr behutsam war, klammerte er sich an den Armlehnen des Sessels fest. Natürlich war ihm klar, dass das nichts nützte, doch irgendwie half es trotzdem.

Um sich abzulenken, betrachtete er Grace, die geschäftig seinen Fuß untersuchte. Liam hatte sich während seiner Schauspielausbildung intensiv mit Körpersprache befasst und wusste genau, dass sie noch immer furchtbar angespannt war.

Der Schock, ihn so unvermittelt wiederzusehen, mochte inzwischen etwas abgeklungen sein, aber sie war noch immer unsicher und etwas ängstlich.

Es war eine blödsinnige Idee gewesen herzukommen.

Inzwischen war der Schmerz so schlimm, dass er mit dem Grübeln aufhörte.

Während sie die elastischen Bandagen abwickelte, wurde das Ausmaß seiner Verstauchung offensichtlich. Grace pfiff leise durch die Zähne und schob sein Hosenbein hoch, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Irgendwie hatte sie es geschafft, seine Haut bis jetzt nicht direkt zu berühren.

„Das mit der Schiene und dem Druckverband war keine besonders gute Idee“, bemerkte sie trocken. „Die Schwellung ist so stark, dass ich im Moment keine Chance habe, die Funktionalität des Gelenks zu überprüfen. Du solltest auf keinen Fall mit diesem Fuß umherlaufen, sondern ihn konsequent kühlen und hochlagern.“

Sie griff nach seiner Wade, und diese erste richtige Berührung sorgte dafür, dass Liams Magen sich zusammenzog und er eine leichte Gänsehaut bekam.

Vorsichtig hob sie sein Bein etwas an und betrachtete die Wadenunterseite. Abgesehen von dem pochenden Schmerz, den dieses Manöver verursachte, war es ein schönes Gefühl, ihre kühlen Hände auf seiner Haut zu haben.

„Tut das hier weh?“, fragte sie und drückte sanft auf seine Wade. Endlich sah sie ihn direkt an.

Liam schüttelte den Kopf und hielt ihrem Blick stand, ohne auch nur zu blinzeln.

Als Grace daraufhin errötete, kam es ihm so vor, als würde sie von innen leuchten. Alles an ihr schien einen goldenen Schimmer zu haben: ihre gebräunte Haut, die darauf hindeutete, dass sie viel Zeit im Freien verbrachte, die hellen Sprenkel in ihren braunen Augen. Ihr Haar war dunkler, als er es in Erinnerung hatte. Früher war es immer von der Sonne ausgeblichen gewesen, doch jetzt war es vom Schwimmen noch feucht und außerdem zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er wusste also nicht, ob sie noch immer wie die typische kalifornische Strandschönheit aussah.

„Es tut ein bisschen weh, aber nicht sehr“, murmelte er. Die ungesagten Dinge und die Spannung zwischen ihnen machten die Situation schwierig, aber nicht unangenehm genug, als dass er seine Pläne geändert hätte. Er wollte, dass Grace ihn behandelte.

„Nach dem Unfall hast du den Fuß hochgelagert, stimmt’s? Daher kommt der schmerzhafte Bluterguss an deiner Wadenrückseite.“ Sie legte sein Bein wieder ab und erklärte Liam, welche Auswirkungen seine Verletzung auf seine Bänder, Sehnen und Muskeln hatte. Doch er hörte überhaupt nicht richtig zu. Das Einzige, woran er denken konnte, war der Kontrast zwischen schwarzer Spitze und goldbrauner Haut …

Sie hatte aufgehört zu reden und sah ihn fragend an. Wartete sie auf eine Antwort?

„Und? Haben die Ärzte sich dazu geäußert?“

„Wozu?“

„Haben sie über eine OP gesprochen?“

„Eine Operation?“ Nun war er wieder ganz bei der Sache. „Das kommt nicht in Frage. Für so was habe ich absolut keine Zeit. Heute Abend ist die Premiere hier in L. A., zwei weitere finden morgen statt – eine in New York und eine in der Stadt in Virginia, in der wir den Film gedreht haben. Wenn ich dann zurück bin, stehen mehrere Pressekonferenzen an.“

Grace hatte sich zurückgelehnt und sah ihn kopfschüttelnd an. Obwohl sie es nicht sagte, wusste Liam genau, dass sie ihn für einen Idioten hielt. Er kannte diesen Gesichtsausdruck genau, denn er war typisch für die Watsons.

Er musste sich endlich zusammenreißen. Das hier war beruflich, und es brachte absolut gar nichts, über die Vergangenheit zu sinnieren.

„Es muss doch möglich sein, den Knöchel so zu bandagieren, dass er genügend Halt hat. Ich muss noch ein paar Tage durchhalten.“ Er setzte sich aufrecht hin, um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen. „Deshalb bin ich zu dir gekommen, Grace. Ich habe gelesen, dass du Football- und Baseballspieler während des Spiels so wieder zusammengeflickt hast, dass sie weiterspielen konnten. Egal, wie schlimm es hinterher war. Ich brauche nur diese drei, vier Tage. Danach mache ich alles, was du willst. Du bestimmst dann die Behandlung, und ich werde nicht murren, egal, wie lange du mich aus dem Verkehr ziehst. Aber erst muss ich meine Termine abarbeiten.“

„Diese Sportler, von denen du sprichst, hatten nur leichte Verstauchungen. Bei ihnen reichte es, den Knöchel etwas zu stabilisieren. Deine Verletzung ist viel schwerer. Du brauchst Krücken.“

Schon wieder dieser schwachsinnige Vorschlag. „Nein, keine Krücken. Diese Sportler …“

„Ja, ja, ich weiß, diese Sportler sind auch nicht mit Krücken zurück aufs Spielfeld gegangen“, unterbrach sie ihn. Inzwischen klang sie ziemlich gereizt. „Das stimmt zwar, aber wie gesagt – dein Fall ist schwerwiegender. Abgesehen davon habe ich diese Sportler getapt, bevor die Schwellung eingesetzt hatte. Dein Gelenk ist schon massiv geschwollen. Ein Tape würde in deinem Fall nichts nützen.“

„Es gibt doch Medikamente, die ein Abschwellen bewirken.“

„Ja.“ Inzwischen war Grace ruhig und gelassen. Je mehr sie sich auf den beruflichen Aspekt ihres Zusammentreffens konzentrierte, desto sicherer fühlte sie sich. „Es gibt sogenannte Diuretika für chronische Erkrankungen, bei denen sich im Körper zu viel Flüssigkeit ansammelt. Manchmal werden sie auch im Vorfeld von orthopädischen Operationen eingesetzt. Aber niemals für Verletzungen wie deine hier.“

„Könnten wir nicht eine Ausnahme machen und es trotzdem versuchen? Zusammen mit Kühlpacks und Hochlagerung? Vielleicht gelingt es uns ja, die Schwellung so weit zu reduzieren, dass du den Knöchel tapen kannst.“

„Ich weiß nicht …“ Unschlüssig sah sie ihn an und rieb sich die Stirn. Wieder eine Geste, die Unsicherheit ausdrückte. Auch wenn ihre Verlegenheit ihm gegenüber sich gelegt haben mochte, verunsicherte die Situation sie offenbar noch immer. „Ich darf keine Medikamente verschreiben. Am besten rede ich mit Dr. Rothsberg. Bestimmt kennt er jemanden in New York, an den wir dich überweisen können.“

Autor

Amalie Berlin
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