Der Preis der Ehre

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Wie verzaubert ist Lucas del Fuentes von der jungen Alanna Desmond. Auf der Flucht durch Feindesland, findet der stolze spanische Schiffskommandant Zuflucht und Leidenschaft in den Armen der blonden englischen Rose. Zärtlich nennt er sie seine wilde Hexe - doch seinen Treueschwur auf König und Vaterland darf er als Ehrenmann nicht vergessen! Deshalb muss er seine Geliebte verlassen und gen Spanien in See stechen! Da erfährt er, dass Alanna in großer Gefahr schwebt. Nun steht der spanische Adelige vor der schwersten Entscheidung seines Lebens: Soll er auf sein Herz hören oder seine Ehre über alle stellen?


  • Erscheinungstag 18.12.2018
  • Bandnummer 41
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779986
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Irland, September 1588

Die wütenden Wogen brandeten weiterhin an die Felsenküste, doch das wilde Heulen des Sturms schien nachgelassen zu haben. Ganz sicher war sich Lucas da allerdings nicht; seine um das kleine Feuer zusammengedrängten Gefährten setzten ihre Gebete jedenfalls unentwegt fort.

„Dios te salve Maria, llena eres tu gracia…“

Obwohl so religiös wie jeder andere auch, wandte Lucas Rafael del Fuentes den Männern und deren verzweifelten Anrufungen der Heiligen Jungfrau den Rücken. Da er der Ansicht war, Gott und die Heiligen halfen jenen, die sich selbst halfen, begab sich der hochgewachsene Spanier zum Ausgang der Höhle, um die Stürme genauer abzuschätzen, die jetzt seit fast einem ganzen Tag gewütet hatten. Sogleich rief ihn eine scharfe Stimme zurück.

„Ihr braucht vielleicht niemanden, del Fuentes, doch könntet Ihr nicht für Eure Männer etwas Trost, ein paar ermutigende Worte, ein Gebet erübrigen? Euer Mangel an Glauben verängstigt sie noch mehr.“

„Hättet Ihr nicht meilenweit im Landesinneren unbedingt Jagd auf diesen Eber machen müssen, brauchten wir jetzt keine Gebete, Alvarez. Wir wären rechtzeitig zum Schiff zurückgelangt“, entgegnete Lucas gereizt. Als Anführer des Landekommandos, das zwecks Beschaffung von Nahrungsmitteln für das in der Schlacht gebeutelte Schiff ausgeschickt worden war, missfiel es ihm sehr, dass sie die vereinbarte Zeit der Rückkehr auf die „Santa Maria Encoronada“ nicht hatten einhalten können.

„Möglicherweise sind wir hier nicht wegen meiner Jagd zurückgeblieben, sondern deswegen, weil der Kapitän Euch unbedingt loswerden wollte“, höhnte Alvarez, der nie eine Gelegenheit ausließ, um del Fuentes zu provozieren.

„Die ‚Santa Maria Encoronada‘ wäre niemals ohne uns abgesegelt, wenn Alonso das hätte vermeiden können“, gab Lucas zurück. Ihn ärgerte die Arroganz und die Unfähigkeit seines Kameraden, dessen einzige Qualifikation – egal, wofür – darin bestand, dass er der Patensohn Philipps II. von Spanien war.

„Und an Carlos’ Tod bin ich wohl auch noch schuld, was?“

„Das müsst Ihr Euch selbst beantworten. Ich würde ihn jedenfalls nicht hinter dem verletzten Eber her ins Unterholz gehetzt haben, gleichgültig, wie sehr es mich nach frischem Fleisch gelüstet hätte.“ Trotz dieser recht sanft geäußerten Worte sprühten seine grünen Augen Funken wie das Feuer, mit dem die edlen Toledaner Klingen gehärtet wurden.

Lucas del Fuentes war zwar zu jeder Zeit eine beeindruckende Erscheinung, doch jetzt, da seiner großen, muskulösen Gestalt die Spannung so deutlich anzusehen war, hätte es kaum jemand für klug gehalten, seine Autorität herauszufordern. Allerdings gab es auch kaum jemanden, der so wenig Verstand besaß wie Alvarez.

Bisher hatte Lucas es tunlichst vermieden, den Edelmann vor den Matrosen zu kritisieren, doch nun verlor er langsam die Geduld. Juan Felipe Alvarez merkte ihm indessen die Wut nicht an und setzte seine Sticheleien fort.

„Ich hätte natürlich wissen müssen, dass Ihr kein Herz für die Jagd habt. Euer englisches Blut hält Euch immer davon ab, Gefahren einzugehen, nicht wahr, Señor? Da Ihr nur zur Hälfte ein Spanier seid, habt Ihr einfach keinen Mut für Männersport“, spottete Juan, der hinter vorgehaltener Hand „El Pavoreal“, der Pfau, genannt wurde. Obwohl eher dicklich von Gestalt und dickköpfig von Benehmen, hatte ihm sein übertriebener Stolz und seine Aufgeblasenheit diesen Beinamen eingetragen.

„Der einzige sogenannte Sport, in dem Ihr ein Experte seid, Don Juan, ist die Hurerei“, entgegnete Lucas gefährlich leise. „Was das Kämpfen betrifft, so pflege ich meine Männer anzuführen und ihnen nicht nachzufolgen, wie es Eure Gewohnheit ist.“

Plötzlich schien sich die seit Langem bestehende Reibung zwischen den beiden Männern in Funken zu entladen. Die Hitze des wütenden Konflikts sowie Blutgeruch schienen die dunkle Höhle zu erfüllen. Sogar die verängstigten Matrosen ließen sich von dem Wortwechsel zwischen den beiden Offizieren von ihren Rosenkränzen ablenken.

El Pavoreal nahm Kampfstellung ein und stieß mit der Stiefelspitze in den Sand. Lucas presste die Lippen zusammen. Er und Juan waren früher schon aneinandergeraten und würden das zweifellos auch wieder tun. Während er eine solche Szene vor seinen Männern bisher vermieden hatte, würde es ihm heute ein Vergnügen sein, etwas von seinem Zorn loszuwerden, der heißer denn je in ihm brannte, seit das „Große Unternehmen“ Spaniens von den Engländern zum Scheitern verurteilt worden war. Jetzt sollte Alvarez einmal den wirklichen Lucas del Fuentes kennenlernen, der sich nicht die Beschränkungen auferlegen musste, wie sie von einem Offizier an Bord eines Schlachtschiffes im Krieg erwartet wurden.

„Wenn Ihr Manns genug seid, nur zu“, forderte er Alvarez auf und beobachtete, wie dieser sich vor seinem Publikum spreizte. Der Dummkopf zweifelt offenbar nicht an seinem Erfolg, dachte Lucas und freute sich schon darauf, ihn zu verprügeln und ihn damit zu demütigen.

Bevor Juan Alvarez etwas entgegnen konnte, spürten alle, dass sich die bedrohliche Atmosphäre im Inneren der Felsenhöhle mit einmal entspannte, denn draußen schwiegen plötzlich die Naturgewalten. In der überraschenden Stille war nur ein Vogelschrei zu hören.

An Juan vorbei schaute Lucas zum Höhleneingang. Sollte sich das Schicksal etwa gewendet haben, und sie konnten sofort aufbrechen, um an Bord der „Encoronada“ zu gelangen? Wahrscheinlich war Alonso, der Kapitän, mit dem Schiff so dicht wie nur möglich vor der Küste geblieben, um die Männer wieder aufzunehmen, sobald sich das machen ließ. Die Gefahren, die an den irischen Küsten lauerten, waren allen bekannt, und jedermann wollte hier so schnell wie möglich wieder fortkommen.

Als gestern Abend das Unwetter losbrach, hatten die Männer des Landekommandos ihr kleines Boot aufs Ufer gezogen und ausgeräumt; wenn jetzt alle mit anfassten, sollte das Beladen nicht allzu lange dauern. Ein wenig Tageslicht blieb ihnen noch, und nachdem sie fast einen ganzen Tag lang in der Höhle gesessen hatten, war ihnen ein wenig Bewegung nur recht.

„Mir wäre es lieber, wenn wir unsere Differenzen jetzt und hier beilegen könnten, Juan, doch für dergleichen haben wir keine Zeit. Wir müssen uns unserer Pflicht beugen und versuchen, zur ‚Encoronada‘ zurückzukehren. Vamos!“ In seiner natürlichen Rolle als Führer hatte Lucas überhaupt nicht daran gedacht, zuerst den anderen Offizier zu konsultieren, und auf diesen Fehler stürzte sich El Pavoreal sofort.

„Ich nahm an, die Sicherheit unserer Männer hätte bei Euch stets Vorrang“, sagte Juan herausfordernd. „Habt Ihr etwa vergessen, dass uns Alonso vor den gefährlichen einheimischen Barbaren gewarnt hat? Ihr befehlt, dass wir uns hinauswagen, obwohl wir keine anderen Waffen besitzen als unsere Messer?“

„Ich sehe keine andere Möglichkeit. Falls wir hierbleiben, wird uns Alonso niemals finden; dagegen werden uns die Iren wahrscheinlich entdecken. Im Übrigen wird Alonso vor der Küste vor Anker gehen, sobald der Seegang dies zulässt. Wir sollten also bereit sein.“

„Bueno, Señor, doch die Sache zwischen uns bleibt noch zu klären. Fürs erste geht Ihr den Männern voran, und ich werde folgen“, fügte Juan höhnisch hinzu, um das letzte Wort zu haben. Hinter meinem Rücken traue ich Euch nämlich nicht.“

Alanna Desmond O’Donnell blieb auf halber Höhe des Pfades stehen, der von dem steinigen Strand hinauf zu der düsteren Turmburg führte, welche sich über dem Rand der Klippe erhob.

Vor zwei Stunden hatte sich der wilde Sturm gelegt, die See war zur Ruhe gekommen, und die nachfolgende Stille hatte Alanna dazu bewogen, wie in ihrer Kindheit den Strand nach Schätzen abzusuchen, die Mananaan MacLir, der alte irische Meeresgott, vielleicht während seiner letzten Raserei aufs Ufer geworfen haben mochte.

Während sie mit leeren Händen jetzt wieder hinaufstieg, spielte eine leichte Brise in ihrem dichten blonden Haar, als wollte der nun besänftigte Mananaan MacLir sie glauben machen, dass er nicht nur grausam, sondern auch freundlich und liebevoll sein konnte. Alanna gab der Versuchung nach, unterbrach ihren Aufstieg und ließ den Blick über das Meer schweifen. Bei dem großartigen, majestätischen Bild verstand sie, weshalb die frühen Kelten geglaubt hatten, der Ozean wäre ein mächtiges Lebewesen.

Was immer die Kirche auch lehren mochte, das ewige Tosen der Wellen sorgte dafür, dass der alte Meeresgott nie in Vergessenheit geriet. Ein tiefes Gefühl für das Land und die Gewässer Irlands lag dem ganzen Volk im Blut und hielt den Glauben lebendig, der sonntags nachmittags nach der heiligen Messe im Flüsterton von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde.

So ketzerisch er auch sein mochte, manchmal erwies sich der Aberglaube der Alten als wahr. Hatte nicht gestern der gelbe Sonnenuntergang den Strand mit purem Gold übergossen? Und hatte nicht heute der rachsüchtige Mananaan MacLir das Meer in einen zornigen Riesen verwandelt, der ganze Schiffe zwischen seinen schaumbedeckten Kiefern zermalmte?

Obwohl sie über die uralten Geschichten ihrer Ahnen nur wenig nachdachte, kannte Alanna sie alle auswendig. Die irischen Götter und Helden waren so sehr ein Teil ihres Lebens, dass sie ganz unwillkürlich gleich nach dem Abzug des Unwetters zum Strand hinuntergelaufen war, ohne wirklich zu erwarten, Mananaan MacLirs großzügige Geschenke vorzufinden. Dennoch war sie gespannt gewesen, zu sehen, was das Meer auf die irische Erde gespült hatte.

Alanna musste über ihre eigene Torheit lächeln. Wenn es nicht irgendwo in den Nebeln des Ozeans eine verborgene Brutstätte für Männer gab, die heldenhafter waren als diejenigen, welche in ihrer eigenen Welt lebten, dann konnte das Meer ihr wohl kaum etwas schenken, das ihr gequältes Herz mit Freude zu erfüllen vermochte. Nein, so herrliche Geschenke überstiegen selbst Mananaan MacLirs Vermögen.

Dennoch würden Irlands Legenden wie das Land selbst immer in ihr wohnen, und es war vollkommen gleichgültig, welche ausländische Macht Irland für sich beanspruchte. Bei dem letzten Gedankengang blitzten Alannas blaue Augen wie das vom Sturm aufgewühlte Meer unter ihr.

Leise seufzend wandte sie den Blick hinauf zu den abweisenden Festungsmauern. Sie sollte jetzt endlich weitergehen, doch die so deutlich britische Atmosphäre, die in der Turmburg herrschte, hielt sie noch davon ab.

Einst hatte Alanna den Wohnturm hoch oben auf der Klippe geliebt, der, wenn man ihn bei bedecktem Morgenhimmel vom Wasser aus betrachtete, so aussah, als schwebte er auf einer Wolke. In jenen Tagen hieß die frühere Wohnstatt ihrer Mutter noch Radharc Alainn – schöner Ort. Jetzt war die kleine Festung zur Residenz des Bruders ihrer Mutter und dessen Gattin geworden und wurde Castlemount genannt. Dieser Name war so englisch wie die gegenwärtige Burgherrin, obwohl die Lady auf irischem Boden geboren war.

Bei dem Gedanken an die englische Gemahlin ihres Onkels Grady verzog Alanna angewidert das Gesicht. Radharc Alainn gab es jetzt nicht mehr, und die Turmburg stellte für sie keinen Zufluchtsort mehr dar. Alanna war nur froh, dass sie Castlemount morgen bei Sonnenaufgang verlassen würde. Es wurde wirklich Zeit, dass sie wieder ins irische Leben, in das heiße Herz und die wilde Seele ihrer schönen Heimat zurückkehrte.

Als sie sich noch einmal umschaute, merkte sie, dass ihr augenblicklicher Standpunkt – auf halbem Wege zwischen der rauen irischen Küstenlinie und der anglisierten Festung – ihre eigene Existenz widerspiegelte. Ihr Schicksal war es, in der Mitte gefangen zu sein.

Einerseits zog es sie zu dem freien, irischen Leben bei ihrem Ziehvater Kevin O’Donnell, und andererseits fühlte sie sich gebunden an die verwandtschaftlichen Verpflichtungen gegenüber Grady MacWilliams von Castlemount, obwohl dieser sich mit den Engländern verbündet hatte, um den Besitz der Familie MacWilliams nicht zu verlieren.

Solche gegensätzlichen Loyalitäten zwangen Alanna dazu, ihre Zeit zwischen der irischen Rebellenfestung oben im Norden und der anglisierten Turmburg im Süden aufzuteilen. Als verwitwete Frau reiste sie zwischen den beiden Orten hin und her, fand jedoch nirgendwo eine wirkliche Heimstatt.

So schlecht habe ich es doch gar nicht, sagte sie sich schließlich. In ihren vierundzwanzig Lebensjahren hatte sie genug vom Leben gesehen, um zu wissen, dass es den meisten irischen Witwen nicht so gut ging wie ihr. Sie hatte immerhin zwei Beschützer in Kevin und Grady. Diese beiden liebten sie und hatten sie nicht gezwungen, wieder zu heiraten oder in ein Kloster zu gehen.

Für jetzt hatte sie zwar genug von Castlemount und dem englischen Leben hier, und sie war auch der englischen Kleidung überdrüssig, die sie auf Cordelias Anordnung innerhalb der Burgmauern tragen musste. Doch ihr Aufenthalt hier war ja schon fast beendet.

Morgen früh würde sie Castlemount und Onkel Gradys Gattin hinter sich lassen und auf das Land der O’Donnells zurückkehren. Dort würde sie das alte Leben wieder aufnehmen und bei Kevin O’Donnell persönlich wohnen, bei dem Mann, dem ihre Eltern sie anvertraut hatten, als ihr eigenes Heim im Krieg zerstört worden war. Und sie würde zufrieden sein mit dem Platz, den er ihr neben dem Herd anwies – jedenfalls so lange, bis ihre Sehnsucht nach der Verwandtschaft ihrer Mutter sie wieder nach Castlemount zurückzog.

Alanna raffte die Röcke und setzte ihren Aufstieg auf die Klippe fort.

Als Alanna ihr Gemach im Hauptturm von Castlemount erreicht hatte, war ihre versöhnliche Stimmung wieder verflogen, die das Meer ihr geschenkt hatte. Nicht einmal der Anblick der alten Moira konnte ihre üble Laune verbessern.

„Nun, nun, mein Mädchen! Dass Euer hübsches Gesicht finster ist, kommt ja selten vor“, meinte die treue Dienerin. Sie nahm der jungen Witwe eilfertig den Umhang ab und stocherte das in einem Kohlebecken brennende Feuer auf.

Im sanften Dämmerlicht des Raums sah man dem noch immer schwarzen Haar und den violetten Augen der alten Frau an, dass sie vor Jahrzehnten einmal eine Schönheit gewesen war. Außerdem deuteten Moiras Haarfarbe und ihr Teint darauf hin, dass sie eine Pisoque, eine sagenkundige Erzählerin, war, die freilich meistens nicht von Irlands vorzeitlichen Helden zu berichten wusste, sondern von Curran Desmond, Alannas Vater. Ihre schönsten Geschichten waren jene, die in Currans Kämpfertagen spielten oder die davon erzählten, wie er Alannas Mutter entführte, um sie dann zu der Seinen zu machen.

Weil Alanna der alten Frau zugetan war, bemühte sie sich, ihr zuliebe ein Lächeln aufzusetzen. Moira MacReynolds ließ sich indessen nicht täuschen.

„Es ist doch vollkommen unwichtig, dass Ihr am Strand nichts gefunden habt“, stellte sie fest, weil sie bemerkt hatte, dass Alanna mit leeren Händen zurückgekehrt war, und nun meinte, das sei der Grund für ihre Verstimmung. „Als Ihr noch ganz klein wart, habe ich Euch erzählt, dass Mananaan MacLir manchmal einen Schatz auf die Klippen wirft, um ihn im nächsten Augenblick wieder fortzunehmen, wenn man gerade dachte, man besäße ihn schon.“

„Ach Moira, du vergisst, dass ich kein Kind mehr bin“, meinte Alanna lachend. „Wirklich, mein Spaziergang am Strand war sehr erfreulich.“

„Was hat Euch denn dann so verärgert?“, wollte die alte Dienerin wissen. „War sie es wieder?“

„Ist es nicht immer Cordelia?“ Alanna gab es auf, sich zu verstellen. Sie setzte sich ans Feuer und nahm den Becher entgegen, den Moira ihr in die Hand drückte, denn sie wusste, dass das Gemisch aus heißer, gewürzter Milch und Whiskey ihr guttun würde.

„Die nun wieder!“ Die alte Frau schnaubte verächtlich. In ihrem Alter fühlte sie sich berechtigt, sich ebenfalls einen Becher vollzuschenken, ohne ihre Herrin erst um Erlaubnis zu bitten. Unterdessen äußerte sie weiter ungefragt ihre Meinung. „Sie weiß doch nichts von unserem Denken – und schon gar nichts von dem, was uns am Herzen liegt. Weshalb lasst Ihr Euch von so einer verärgern?“

„Manchmal lässt sich die Gattin meines Onkels eben schwer ignorieren.“

„Was hat die alte Hexe denn nun wieder getan?“

„Sie hat sich auf mich gestürzt, sobald ich durch die kleine Pforte bei den Stallungen in die Burg zurückkehrte, und …“

„Da gehört sie auch hin – in die Ställe, zu den übrigen Pferden und dem Mist“, warf Moira ein, und das Feuer in ihren Augen strafte ihre vielen Altersfalten Lügen.

„Wie dem auch sei, ich wollte ihr aus dem Weg gehen, doch die große Lady von Castlemount war gerade von einem Inspektionsritt über ihre Ländereien zurückgekehrt. Als sie mich sah, erriet sie, wo ich gewesen war, und begann sofort mit ihrer Predigt. Sie erklärte mir, wenn ich einen ordentlichen und natürlich der englischen Krone ergebenen Ehemann hätte, würde ich keine Zeit mehr haben, mich solchen unangemessenen Tätigkeiten zu widmen.“

„Ich hoffe, Ihr habt der alten Vogelscheuche geantwortet, wenn Ihr einen Mann wolltet, der Euch das Bett wärmt, würdet Ihr Euch auch einen nehmen, und zwar einen irischen.“ Moira leerte ihren Becher. „Kaum zu fassen – jetzt will sie Euch auch noch einen englischen Gemahl verordnen!“

„So ist es. Das Thema hat sie zwar früher bereits angeschnitten, doch diesmal scheint es ihr damit ernst zu sein. Da Cordelia selbst kinderlos ist, vermute ich, sie will mich mit einem ihrer zahlreichen Verwandten verheiraten, damit das MacWilliams-Land in ihrer Familie bleibt, wenn Grady einmal dahingegangen ist. Sie kann sich freilich ausdenken, was sie will – für mich kommt das überhaupt nicht infrage!“, erklärte Alanna hitzig. „Seit Seans Tod kann mich kein Mann mehr in Versuchung führen, und schon gar keiner, in dessen Adern englisches Blut fließt.“

„Sie kann Euch auch nicht zu einer solchen Ehe zwingen; also hört einfach nicht auf sie. Morgen um diese Zeit seid Ihr schon weit von ihrer giftigen Zunge entfernt. Und nun lasst mich Euer Haar bürsten und aufstecken, bevor Ihr zum Nachtmahl hinuntergeht und Euch von Eurem Onkel verabschiedet. Wenn Ihr nicht bald bei Tisch erscheint, wird Cordelia womöglich Euer Abendessen an die Hunde verfüttern. Also kommt jetzt.“

Obwohl Alanna von Natur aus nicht besonders folgsam war, lächelte sie, tat, wie ihr geheißen, und unter Moiras geschickten Händen schien sich ihr Haar in schimmerndes Gold zu verwandeln. Während der Kamm der alten Dienerin seine Wunder wirkte, dachte Alanna darüber nach, dass es wohl kaum Probleme gab, für die Moira MacReynolds keine Lösungen wusste; Grady MacWilliams’ Nichte durfte sich glücklich schätzen, eine solche Verbündete zu haben.

Lange nach der lästigen Abschiedszeremonie erwachte Alanna aus tiefstem Schlaf, sobald jemand ihre Schulter berührte. Instinktiv fasste sie den Dolch, der stets griffbereit an ihrer Seite lag. Obwohl sie sich in dem Haushalt ihres Onkels durchaus sicher fühlte, hatten die ständigen Unruhen in ihrem Heimatland sie gelehrt, dass es eine wirkliche Garantie für Sicherheit niemals gab. Wollte man überleben, musste man sogar auf einer Burg und selbst im eigenen Schlafgemach ständig auf der Hut sein.

Als Alanna unmerklich die Augen einen Spalt öffnete, stellte sie sowohl erleichtert als auch verärgert fest, dass es sich bei dem Eindringling nur um Cordelia handelte. Weshalb allerdings ihre Tante zu dieser Stunde im Nachtkleid hier auftauchte, war der jungen Frau unerfindlich.

„Aufstehen, Mädchen. Steht sofort auf!“ Dass die Lady den Befehl auf englisch erteilte, ließ ihn noch barscher und unvernünftiger erscheinen.

„Was gibt es denn, Cordelia?“ Alanna machte sich nicht die Mühe, ihre Ungehaltenheit zu verbergen. Sie hatte sich heute bereits zweimal mit der Frau abgeben müssen; sie musste sich doch wohl deren Vorhaltungen nicht schon wieder anhören? „Wollt Ihr mir eine neuerliche Predigt halten über den heiligen Bund der Ehe und meine Pflicht, mich wieder zu verheiraten, verehrte Tante?“

„Dein Onkel verlangt deine sofortige Anwesenheit in der Großen Halle“, erwiderte Cordelia kurz angebunden, ohne auf die spöttische Frage ihrer Nichte einzugehen. „Falls du seiner Aufforderung indessen nicht nachzukommen wünschst …“

Sie unterbrach sich, als Alanna die Bettdecke fortschob und darunter die höchst unschickliche kurze Tunika zum Vorschein kam, welche die junge Frau statt des feinen englischen Nachtgewandes trug, das Cordelia zur Verfügung gestellt hatte. Bei diesem Anblick wurde ihre Miene noch saurer; offensichtlich hatten alle Versuche nicht gefruchtet, die die Herrin von Castlemount unternommen hatte, um Alanna Desmond O’Donnell zu anglisieren. Vermutlich brachte es das Mädchen sogar noch fertig, sich blau anzumalen, wie es seine heidnischen Vorfahren getan hatten.

„Ungeachtet der Dringlichkeit des Befehls meines Gemahls wirst du selbstverständlich nicht in dieser Gewandung hinuntergehen!“

Ohne erst um Erlaubnis zu bitten, wühlte Cordelia in den Truhen mit der englischen Kleidung, welche Alanna tragen musste, wenn sie sich in Cordelias Haushalt befand, und die sie bei ihrer Abreise zurückzulassen hatte, weil die Burgherrin der Meinung war, was sich in Gradys Besitz befand, gehöre auch ihr, seiner Gattin. Wenn sie schließlich nicht gewesen wäre, würde dann nicht der gesamte MacWilliams-Besitz an die englische Krone gefallen sein?

Cordelia zog einen angemessenen, schweren Nachtmantel aus einer Truhe und legte ihn über Alannas Bett. „Stell dir nur vor, welchen Aufstand es geben würde, wenn eine Verwandte des Herrn von Castlemount nur mit einem irischen Lumpen bekleidet aufträte!“

Alanna schlug die kostbar bestickte Bettdecke ganz zurück und erhob sich. Den beißenden Kommentar, der ihr auf der Zunge lag, schluckte sie vorsichtshalber herunter. Irischer Lumpen – also wirklich!

Sie strich über den weichen Wollstoff der alten Tunika. Natürlich konnte sie nicht in dieser Gewandung Gradys seltsamem Befehl nachkommen – allerdings nicht deswegen, weil es sich um ein irisches Kleidungsstück handelte, sondern weil es ihre eine Schulter und die Beine unbedeckt ließ. Die Tunika war nämlich für einen Mann, einen Krieger, gemacht worden. Alanna hatte sie selbst für Sean, ihren Gatten, genäht, bevor dieser wenige Monate später erschlagen worden war.

Sie wandte Cordelia den Rücken, legte die Tunika ab und tauschte sie gegen den steifen, einengenden englischen Nachtmantel aus. Eilig knüpfte sie die Bänder über der Brust zusammen und drehte sich dann wieder zu der Herrin von Castlemount um. Bei Cordelias Anblick wurde es Alanna wieder einmal deutlich bewusst, welches Opfer ihr Onkel Tag für Tag auf sich nahm, um das Land der Familie zusammenzuhalten.

„Hat Grady zu viel getrunken, dass er mir jetzt noch ein letztes Mal Lebewohl sagen will, bevor ich morgen in der Frühe abreise?“, fragte sie leise. „Oder glaubt er, er könnte mich dazu überreden, noch hier zu bleiben? Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb er mich sonst in die Große Halle befiehlt, zumal der ganze Haushalt schon im Bett liegt.“ Bei einer Gemahlin wie dir, fügte sie im Stillen hinzu, hat er auch jeden Grund, sich zu betrinken.

„Dein Onkel Grady betrinkt sich nicht“, stellte die große, eckige Frau mit scharfer Stimme fest und richtete sich steif auf. „Allerdings würde ich es auch verstehen, wenn dein unstetes Leben den armen Mann schließlich in derartige Ausschweifungen triebe.“

„Wie dem auch sei“, fuhr sie fort, „mein Gatte lässt dich nicht kommen, weil er dich umstimmen will oder weil er noch einmal tränenreich von dir Abschied nehmen möchte. So ungern ich es auch zugebe, er benötigt deine Dienste. Es sind einige Gefangene gemacht worden, die weder der englischen noch deiner merkwürdigen keltischen Sprache kundig sind. Vielleicht ist die Ausbildung nun doch noch von einigem Nutzen, die deine im Kloster erzogene Mutter dir törichterweise hat angedeihen lassen. Grady meint, du könntest in der Lage sein, dich mit den Ausländern auf lateinisch zu verständigen.“

„Wäre Bruder Galen denn für diese Aufgabe nicht besser geeignet?“

„Lord MacWilliams vertraut nur den Seinen, und ganz gewiss nicht diesem Mönch, diesem papistischen Scharlatan, der in deiner Begleitung hierher reiste. Ich selbst sehe auch nicht ein, weshalb eine unverheiratete Frau bei dem Verhör anwesend sein sollte. Wenn du es wünschst, entschuldige ich dich bei dem Herrn des Hauses; dann können wir die Männer sofort hinrichten, ohne dich noch weiter zu belästigen.“

„Cordelia, Ihr wisst ganz genau, dass ich keine grüne Jungfer mehr bin, der man den Anblick männlicher Gefangener ersparen muss“, sagte Alanna und stieg über die Bündel, die für ihre morgige Abreise schon geschnürt waren.

Ihre Tante schien es mit der Exekution dieser Gefangenen ja sehr eilig zu haben. Vielleicht sind es ja gar keine Männer vom Kontinent, sondern irische Rebellen, die schlau genug sind, ihre Sprache in diesem englischen Haushalt nicht zu verraten, überlegte Alanna. Sofort eilte sie aus dem Gemach, um ihnen zu helfen, falls es sich tatsächlich um Iren handelte – oder um ihrem Onkel zu helfen, falls dem nicht so war.

Mit stolz erhobenem Kopf ging sie an der missmutigen Cordelia vorbei. Die überzeugte Anhängerin der englischen Krone mochte Radharc Alainn zu Castlemount und den Flaith, den Häuptling der MacWilliams’, zu dem Lord einer anglisierten Burg gemacht haben, doch es würde ihr nie gelingen, den irischen Geist auszulöschen, der diese Ländereien erfüllte. Niemals!, schwor sich Alanna.

Die zahlreichen Fackeln, die in den Nischen der höhlenartigen Halle brannten und sie mit ihrem Rauch erfüllten, vermittelten den Gefangenen den Eindruck, die Hölle betreten zu haben und nun von Dämonen bewacht zu werden. Die barbarischen Umstände hatten die Matrosen eingeschüchtert und die beiden spanischen Edelleute erzürnt.

Juan Alvarez wurde jedoch sehr schnell bescheidener, nachdem ihm seine großtuerischen Tiraden einen kräftigen Fausthieb aufs Kinn eingetragen hatten. Jetzt stand er still und furchtsam bei den anderen. Lucas del Fuentes war es gelungen, sich zu beherrschen und die Lage mit der Sachlichkeit eines erfahrenen Soldaten abzuschätzen. Die Freiheit, vielleicht sogar das Überleben selbst hingen von seiner Fähigkeit ab, eine Fluchtmöglichkeit zu finden und zu ergreifen.

Aus diesem Grund hatte er vom ersten Moment ihrer Überwältigung und Gefangennahme an seine Unkenntnis der englischen Sprache vorgegeben. Schließlich schienen diese Menschen hier Verbündete der englischen Königin zu sein; Lucas und seine Männer waren dagegen Elizabeths Feinde – ihre unterlegenen Feinde. Hatten sie sich nicht auf der Rückreise von König Philipps wenn auch gescheitertem Angriff auf England befunden, als der wilde Sturm sie an das Gestade dieses primitiven Landes geworfen hatte?

Sollten die Burgherren jetzt merken, dass er ihrer Sprache mächtig war, würden sie ihn der Folter unterwerfen. Es war also besser, die groben Kerle in dem Glauben zu lassen, es gäbe keine Möglichkeit, ihn zur Preisgabe von Informationen über die spanische Flotte und sein eigenes Schiff zu zwingen. Außerdem war diese List für Lucas noch von einem weiteren, sehr wichtigen Vorteil: Die Häscher sprachen völlig frei vor den Gefangenen, weil sie ja dachten, diese würden kein Wort verstehen. Und das mochte sich am Ende als die einzige Chance erweisen, wie er und seine Männer sich aus dieser entwürdigenden Lage befreien konnten.

Lucas war seinem Vater außerordentlich dankbar dafür, dass dieser so klug gewesen war, Anne Talbot, eine Engländerin, zu ehelichen. Hätten sich seine Eltern nicht am Hofe der Maria I. Tudor und des Gemahls Philipp von Spanien verliebt, bestünde jetzt für ihn, Lucas, nicht die geringste Hoffnung. Es blieb nur die Frage, wie er sich die Kenntnis der Sprache seiner Mutter zunutze machen konnte.

Im Augenblick sah es so aus, als hätten diese ungehobelten Iren, die hier in ihrer dürftig ausgestatteten Burg „Engländer“ spielten, die Hoffnung begraben, sich mit den Fremden auf englisch zu verständigen. Lucas wusste jedoch, dass sie es noch nicht endgültig aufgegeben hatten herauszufinden, wer ihre Gefangenen waren und was sie hierher geführt hatte. In einem letzten Versuch hatte nämlich der Herr des Hauses ein mürrisches Weib beauftragt, irgendjemanden herbeizuholen, der Lateinisch sprach.

Wahrscheinlich würden sie jetzt von einem Geistlichen verhört werden, und Lucas überlegte schon, ob sich der Kirchenmann dazu würde bewegen lassen, dem barbarischen Lord einen Gnadenakt zu empfehlen. Schließlich wurde doch für gewöhnlich Edelleuten die Möglichkeit geboten, sich von ihren Familien freikaufen zu lassen. Das war eine in der ganzen Christenheit geübte Praxis. Und wenn sich Lucas dann verpflichtete, das Lösegeld für seine Matrosen aufzubringen, könnte deren Leben möglicherweise ebenfalls gerettet werden.

Ja, ein freundlich gesinnter Geistlicher würde sein Bittgesuch vermitteln – vorausgesetzt, der Mann war dem Papst und nicht der Kirche von England verpflichtet.

Obwohl das englische Gesetz in Irland den Glauben Roms verbot, wusste Lucas von irischen Rebellen, die den spanischen Hof besucht hatten, dass diese Religion nach wie vor gedieh. Viele Häuser hielten sich ihre eigenen Priester, wie sie es schon immer getan hatten. Jetzt musste man es eben nur im Geheimen tun. Und so wurde es möglicherweise auch in diesem Haus hier gehandhabt.

Plötzlich kam Bewegung in die Männer, die Lucas umstanden. Er schaute sich um, sah, dass niemand zu der Gruppe der Gefangenen hinzugekommen war, und blickte dann zur Treppe hinüber.

Eine junge Frau schritt die Stufen herunter. Mit ihrem fließenden weißen Gewand und dem im Fackellicht schimmernden goldblonden Haar wirkte sie wie die Güte und die Unschuld persönlich, wie ein gnadenreicher Engel, der in die Höhle des Satans hinabgeschwebt war. Lucas betete inbrünstig darum, dass sich die junge Frau tatsächlich als Rettungsengel erweisen würde.

Natürlich war das nicht der erhoffte Priester, doch Lucas gelangte zu dem Schluss, dass ihm ein weiches weibliches Herz denselben guten Dienst leisten konnte. Und wie er es gewöhnt war, wenn er es mit Frauen zu tun hatte, beschloss er, von Anfang an die Führungsrolle zu übernehmen, wobei er sich nicht von seiner absoluten Nacktheit ablenken ließ, die ihn eigentlich mit Scham und Schande erfüllen sollte.

2. KAPITEL

Während Alanna die kalten Steinstufen in die halbdunkle, verräucherte Große Halle hinabstieg, vermochte sie Grady und seine Kämpfer an der gegenüberliegenden Seite des riesigen Saals kaum richtig zu erkennen, doch ihre Stimmen hallten von den nackten, rußüberzogenen Wänden wider. Rasch ging sie über den binsenbestreuten Fußboden zu ihrem Onkel.

„Hier bin ich, Grady.“ Sie hielt vor dem grauhaarigen Mann an, der mit ärgerlichem Gesicht inmitten seiner laut durcheinanderredenden Krieger stand.

„Ja, und da sind sie.“ Mit seinem Kopfnicken deutete der Burgherr in eine nur spärlich beleuchtete Ecke. Seine Stimme klang ruhig und verriet nicht sein Entsetzen. Wieder sah er die Gefangenen prüfend an und betete im Stillen darum, dass sein Verdacht falsch war.

Grady MacWilliams hätte jedoch schwören mögen, dass es sich bei den Ausländern um Spanier handelte – und nicht um Italiener oder Portugiesen. Spanier an seinem Küstenabschnitt! Nach allem, was er über Philipps Flotte gehört hatte, konnte das nichts anderes als eine Invasion bedeuten.

Alannas Blick folgte dem ihres Onkels. Dort in der dunkelsten Ecke der Halle drängten sich Castlemounts Gefangene zusammen. Überrascht von dem, was sie sah, ließ sie sich ihre Genugtuung nicht anmerken. Keltisches Blut floss also noch immer in Gradys Adern, so sehr sich Cordelia auch bemüht hatte, ihn zu zivilisieren! Der Übung früherer Zeiten folgend, hatte Grady den Gefangenen deren Kleidung abnehmen lassen, sodass die Fremden jetzt splitternackt waren. Alanna konnte sich gut vorstellen, was die züchtige Cordelia davon hielt.

Trotz der fehlenden Kleidung erkannte Alanna sofort, dass die Männer keine Iren waren; ihre Haut war zu dunkel, und der Schnitt ihres Haupthaars sowie der Bärte war zu fremdartig. Keiner der Gefangenen trug einen „Glib“, die dicke Stirnlocke, die irische Freie trotz des englischen Verbots gern so stolz herzeigten.

„Ich vermute, es sind Spanier“, sagte Grady mürrisch. „Stelle fest, wer sie sind und was sie hier wollen. Einer oder zwei von ihnen waren wie Edelleute gekleidet; sie müssen doch gebildet genug sein, um Lateinisch zu verstehen.“

Alanna war nur froh, dass die Gefangenen keine aufrechten Söhne Irlands waren und dass sie sich selbst nicht zu entscheiden brauchte, ob sie ihren Onkel oder ihre Landsleute verraten musste. Also trat sie vor, um Gradys Bitte nachzukommen.

Sie bemerkte, dass sich vier Männer aneinandergedrängt hatten, um sich gegenseitig zu wärmen und gleichzeitig ihre Blößen zu verbergen. Und dann sah sie den fünften Mann, der etwas abseits von den anderen stand. Seine Haltung unterschied sich erheblich von der seiner bedauernswerten Gefährten. So wie er aussah, war er mit Sicherheit ein Aristokrat und ein Soldat. Niemand sonst würde so großartig dastehen, und die große Narbe über seiner Hüfte stammte zweifellos von einem in der Schlacht empfangenen Säbelstreich.

Alanna schätze den Mann so sachlich ab, wie sie ein erstklassiges Ross beurteilt hätte. Sie bemerkte seinen tadellosen Körperbau, seine langen Beine und seine breite Brust. Seine edlen Züge wirkten stolz, und sein Gesichtsausdruck unerschrocken. Nur ungern musste Alanna zugeben, dass sie einen echten Kämpfer vor sich hatte, auch wenn er möglicherweise aus Spanien stammte.

Mit dem Blick verfolgte sie das feine dunkle Haar, das seine Brust bedeckte, sich dann zu einer schmalen Linie verjüngte und sich weiter unten wieder verbreiterte. Ja, dieser Mann war fraglos gut proportioniert, und in bestimmter Beziehung hatte die Natur ihn ganz besonders großzügig ausgestattet.

Dass er sich als Gefangener auf einer feindlichen Burg befand und noch dazu nackt war, hatte ihn nicht im geringsten gedemütigt. Er erwiderte Alannas sachlich abschätzenden gleicherweise, bis sie sich vorkam, als wäre sie diejenige, die unbekleidet vor seinen grünen Augen stand. Errötend zog sie ihren züchtigen Nachtmantel fester zusammen, was der Fremde mit einem lässigen Lächeln und einem Kopfnicken quittierte.

Im Stillen verdammte Alanna ihn wegen seiner Arroganz und wollte das gerade mit Worten zum Ausdruck bringen, als Grady sie wieder an ihre Aufgabe erinnerte.

„Nun fang schon an, Mädchen“, befahl er. „Stelle fest, wer sie sind, und vor allem frage sie, was sie hier wollen. Gnade ihnen Gott, wenn mir ihre Antworten nicht gefallen.“

„Gottes Gnade ist das Einzige, worauf sie hoffen können“, fügte Cordelia hinzu, die ebenfalls in die Halle gekommen war und jetzt neben Gradys Schulter stand. „Von uns wird ihnen keine zuteil werden.“

„Qui estis – wer seid ihr?“, fragte Alanna in steifem Latein, wobei sie den arroganten Mann mit Nichtachtung strafte und statt seiner die Gruppe der anderen Gefangenen anredete. Es war schon viele Jahre her, seit sie zum letzten Mal diese antike Sprache für etwas anderes benutzt hatte als für Gebete oder geistliche Gesänge, und deshalb musste sie sich jetzt sehr darauf konzentrieren.

„Wir sind nur arme Seeleute, die leider vom Kurs abgekommen sind.“ Die tiefe Stimme lenkte Alannas Aufmerksamkeit wieder auf den Mann zurück, der es vorgezogen hatte, sich von den anderen abzusondern. Sein Latein war ebenso makellos wie seine Gestalt.

„Du bist also der Sprecher für diese Leute?“, fragte Alanna und bemühte sich, möglichst fest zu sprechen.

„Jawohl“, antwortete er nur. Seine durchdringenden grünen Augen zwangen sie dazu, sich ihm wieder zuzuwenden und ihn anzuschauen.

Alanna war die Tochter von Curran Desmond und deshalb auch mit dem großen Gerald Fitzgerald verwandt. Unter ihrem eigenen Volk hatte sie stets ein freies Leben geführt. Wegen ihres schönen Gesichts und ihres seidigen Haars behandelten die Männer sie immer so, als wäre sie etwas ganz Besonderes, eine Frau, die man verwöhnen und der man alles durchgehen lassen musste. Niemand, nicht einmal ihr eigener Ehemann, hätte es gewagt, ihr seinen Willen aufzuzwingen, wie es jetzt dieser Gefangene tat.

Da sie eine solche Haltung nicht gewohnt war, kämpfte sie gegen die Empfindungen an, die dieser Mensch in ihr auslöste. Dabei fühlte sie sich wie ein Lachs, der im eisigen Fluss gegen die Angelleine ankämpfte, die ihn ans Ufer ziehen wollte, wo er dann verspeist werden würde. Genauso würde dieser Fremde sie auch verspeisen, bekäme er denn die Gelegenheit dazu.

Sein wirr gelocktes rabenschwarzes Haar wies ihn als ein Geschöpf der Nacht aus, doch seine sonnengoldene Haut zeigte, dass er dem Tag gehörte. Dieser Fremde war eine absolut widersprüchliche Erscheinung; einerseits bestach sein blendendes Aussehen, und andererseits glomm der Funke der Gefahr in seinen Augen. Was jedoch am meisten beunruhigte, das war die dominierende Haltung, die er an den Tag legte. Alanna fröstelte es trotz ihres schweren Nachtmantels.

Wovor habe ich denn Angst?, fragte sie sich ärgerlich und versuchte, die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Dies hier war schließlich nur ein unbewaffneter, unbekleideter Mann, dem sie in der sicheren Halle ihres Onkels gegenüberstand. Dennoch lauerte Gefahr in diesen seegrünen Augen, und Alanna war nicht so dumm, diese Bedrohung zu übersehen. Sie raffte ihre Kraft zusammen und wollte die Befragung gerade wieder aufnehmen, als der Fremde sie schon unterbrach, ehe sie angefangen hatte.

„Was ist dies für ein Ort, an dem ich und meine Gefährten so schäbig behandelt werden?“, fragte er so kühn, als führte er hier das Kommando.

„Ich stelle hier die Fragen!“, erklärte Alanna entschlossen. „Wie lautet dein Name, und welcher Nation gehörst du an?“

Er betrachtete sie einen Moment lang, als müsste er es sich erst überlegen, ob er überhaupt antworten sollte. Dann sprach er, und seine tiefe, volltönende Stimme hallte ein wenig in der stillen Halle wider.

„Ich bin Lucas Rafael del Fuentes“, sagte er und hob dabei stolz das Kinn. „Meine Heimat und die meiner Gefährten ist Spanien. Und wer seid Ihr? Die Tochter dieses Hauses?“

„Wer ich bin, ist nicht von Bedeutung“, entgegnete Alanna; ihr Hass auf alle Spanier verdrängte das Mitgefühl, das sie vielleicht für eine Handvoll Außenseiter gehabt haben mochte, die sich in einer misslichen Lage befanden.

„Oh, da unterschätzt Ihr Euch“, versetzte Lucas gewandt. Die junge Frau war offensichtlich gebildet, obwohl es Dinge gab, welche er ihr selbst gern beigebracht hätte. Sie besaß das Gesicht einer Madonna, und dennoch hatte sie etwas von einer Verführerin an sich. Das dichte honigblonde Haar hing ihr ungebunden und vom Schlaf zerzaust über den schlanken Rücken. Obwohl sie ein sehr züchtiges Gewand trug, strahlte sie eine gewisse Wildheit aus, so als wäre sie gerade mit dem Wind galoppiert.

Trotz aller ihrer ungezähmten Schönheit jedoch hatte Lucas noch niemals eine Frau gesehen, die königlicher gewirkt hätte als sie, nicht einmal an Philipps Hof. Wären seine und ihre Lage vertauscht, und wäre die Frau seine Gefangene, würde er ihr ganz andere Fragen stellen als die, welche sie beantwortet zu haben wünschte.

„Sei versichert, Spanier, dass ich weder mich noch dich unterschätze. Was hat dich und deine Gefährten auf irischen Boden geführt?“ Alanna schaffte es, Haltung zu bewahren, während sie sich bemühte, die Erinnerungen an Sean und ihren Vater zurückzudrängen. Doch wie sollte sie jetzt nicht an den unnötigen Tod der beiden vor acht Jahren denken? Wie sollte sie vergessen, dass es die Spanier gewesen waren, die die Schuld daran trugen?

Die Empfindungen, die sich in dem Gesicht der jungen Frau spiegelten, entgingen Lucas nicht. Jetzt hing sein Leben und das seiner Männer jedoch von seinem Verstand sowie seinem Kämpferinstinkt ab, nicht von dem Zauber der großen blauen Augen der Dame, die ihn befragte. Er wollte sich keinesfalls dazu verleiten lassen, eine Aussage zu machen, die fatale Folgen für ihn und seine Leute hatte. Äußerste Vorsicht war jetzt geboten, und als erfahrener Soldat wusste er, dass allein das Überleben zählte.

„Ich frage dich noch einmal“, sagte Alanna ungehalten, weil die Unverschämtheit des Mannes sie immer wütender machte. „Weshalb seid ihr hier?“

„Nachdem uns ein heftiger Sturm vom Kurs abbrachte, lockte uns die Aussicht auf Nahrung und Süßwasser an Euer schönes Gestade“, antwortete Lucas, um dann spöttisch hinzuzufügen: „Allerdings war es die Gastfreundschaft Eures eigenen Hauses, die uns dazu verleitete, hier zu verweilen.“

Wenn er seine Situation so auf die leichte Schulter nimmt, ist der Mann entweder irre oder bewundernswert tapfer, fand Alanna. Die letztere Möglichkeit wollte sie jedoch lieber nicht in Betracht ziehen, ebenso wenig wie Mananaan MacLirs Launen, der gemäß der Legende doch Reichtümer und keine spanische Gefahr zu Irlands Küsten bringen sollte.

„Was hast du von ihm erfahren?“, drängte Grady. „Wer sind sie, und weshalb fanden wir sie auf MacWilliams-Land?“

„Er hat zugegeben, dass sie Spanier sind“, informierte Alanna ihren Onkel. Sie sprach nun wieder englisch. „Zu welchem Zweck sie hergekommen sind, hat er mir nicht gesagt. Er hat ihre Anwesenheit nur damit erklärt, dass sie hier ihre Vorräte auffüllen wollten.“

„Spanier, ja?“, rief Cordelia. „Das habe ich ja gleich gesagt. Wie konnten sie es wagen, in MacWilliams-Land einzudringen? Wir sollten so schnell wie möglich ihrer elenden Existenz ein Ende bereiten.“ Das Knurren der Hunde und die unheimlichen Schatten, die das Fackellicht an die Mauern warf, ließen Cordelias Forderung um so makabrer klingen.

Alanna hatte Lucas del Fuentes genau beobachtet und war nun davon überzeugt, dass ihre Tante und ihr Onkel mit deren Annahme recht hatten; keiner der Ausländer verstand ein Wort Englisch, nicht einmal der gebildete Sprecher, denn als Cordelia die sofortige Exekution der Gefangenen forderte, hatte er nicht mit der Wimper gezuckt. Man brauchte sich also wohl nicht vorzusehen, wenn man sich in englischer Sprache vor den Spaniern unterhielt.

„Cordelia, wir dürfen sie nicht hinrichten, solange wir nicht genau wissen, weshalb sie hier sind“, wandte Grady ein. „Wir haben doch von der spanischen Flotte gehört, die Philipp gegen Elizabeth ausgeschickt hat. Falls diese Männer ein Teil dieses Unternehmens sind, will ich wissen, wie die Sache ausgegangen ist. Was, wenn die Spanier ihren Überfall auf England siegreich abgeschlossen haben und nun ihre Aufmerksamkeit auf uns lenken?“

„Das wäre ein Grund mehr, sie sofort zu beseitigen“, gab die Burgherrin zurück.

Während Cordelia und Grady weiter über die Frage debattierten, beobachtete Alanna die Gefangenen. Die meisten hatten ganz offensichtlich Angst und blickten sie um Hilfe heischend an. Unwillkürlich spürte Alanna Mitleid mit ihnen, schob dieses Gefühl jedoch rasch wieder beiseite, indem sie sich das Angedenken an Sean, ihren gefallenen Ehemann, und an ihren Vater wieder vor Augen führte.

Die beiden würden heute noch auf ihrem eigenen reichen Land leben, wenn Philipp von Spanien sein Versprechen gehalten und Verstärkung nach Smerwick geschickt hätte, als James Fitzmaurice, der Hauptmann von Desmond, rebellierend gegen die Engländer angetreten war. So jedoch hatte Spanien nur leere Worte und eine einzige kleine Kompanie unerfahrener Männer gesandt, und das waren zudem in der Hauptsache auch noch Italiener gewesen.

Das Ergebnis war ein leichter Sieg der Briten gewesen. Streitkräfte der Königin hatten an den Aufständischen ein Exempel statuiert. Smerwick war zum Schauplatz eines so brutalen und würdelosen Gemetzels geworden, wie es selbst Irland noch nie zuvor gesehen hatte. Seit diesem Tag hasste Alanna Spanien ebenso, wie sie England hasste.

Mein Herz scheint weich zu werden, warf sie sich selbst vor, während sie wieder vor sich sah, auf welch schreckliche Weise ihr Vater und Sean umgekommen waren. Wie kann ich auch nur die Spur von Mitleid für diese hinterhältigen Spanier empfinden?, fragte sie sich.

Dennoch sträubte sich etwas in ihrem Inneren dagegen, Cordelia ihre Stimme zu geben. Vielleicht lag das an ihrer Auffassung von Ehre, von Recht und Unrecht. Möglicherweise widerstrebte es ihr auch nur, der Gemahlin ihres Onkels recht zu geben, gleichgültig, worum es sich handelte. Das wurde sofort durch das bestärkt, was Cordelia als Nächstes sagte.

„Teile ihnen mit, dass wir loyale Untertanen Königin Elizabeths sind – und keine simplen Iren“, forderte die Lady von Castlemount von Alanna, ohne deren Gefühle oder die ihres eigenen Gatten zu bedenken. „Das wird sie schon das Fürchten lehren!“

„Möglicherweise, mein Täubchen, wäre es am besten, sie glauben zu lassen, wir tendierten zu den Rebellen“, gab Grady mit Engelsgeduld zu bedenken. „Vielleicht fällt es ihnen dann leichter, uns die benötigten Informationen zu geben.“

„Für unsere verehrte Königin ist mir zwar kein Opfer zu groß, doch jetzt verlangst du von mir in der Tat Ungeheuerliches, Grady MacWilliams. Und weshalb willst du dich im Übrigen als irgendein unheiliger Rebellenlord ausgeben, wenn einem Spanier, der ein Freund sein will, nicht mehr zu trauen ist als einem Feind? Das wird selbst deine streitsüchtige Nichte bestätigen müssen.“

Obgleich Grady nichts lieber getan hätte, als seiner geifernden Gattin den Hals umzudrehen, gelang es ihm, seinen Zorn zu zügeln. Er dachte jetzt an Smerwick und fluchte leise. So viele Tote, und wofür? Alannas Vater und ihr Ehemann mochten Rebellen gewesen sein, doch kein Ire verdiente einen Tod, wie sie ihn erlitten hatten – und alles nur, weil sie Philipp von Spanien vertraut hatten.

Grady schwor sich im Stillen, diesen Fehler nicht zu wiederholen, und setzte das Gespräch mit seiner Gemahlin fort. „Vielleicht hast du ja recht, meine Liebe. Den Spaniern ist tatsächlich nicht zu trauen. Ich wollte ja auch nur so schnell wie möglich in Erfahrung bringen, ob die Leute der gefangenen Männer vorhaben, uns durch Invasion oder durch Freundschaft zu zerstören. Ich werde mich jedoch deinen Wünschen beugen und nicht für sie den Rebellen spielen.“

Bei Gradys kriecherischen Worten packte Alanna die Wut. Wen interessierte es, ob die Gattin ihres Onkels eine entfernte Verwandte von Black Tom, Earl of Ormand und Vetter der Königin war? Diese Tatsache machte sie doch nicht zur Königin von Irland und berechtigte sie nicht dazu, zu verlangen, dass stets alles nach ihrer Nase ging! Und ganz gewiss gestattete es ihr nicht, die Ehre von Radharc Alainn zu besudeln, gleichgültig, welchen Namen sie der Burg auch geben mochte.

Obwohl Alanna weder den Engländern noch den Spaniern viel Sinn für Integrität zutraute, wollte sie es nicht zulassen, dass diese englische Hexe den alten Sitz der MacWilliams’ noch weiter entehrte, indem sie uralte Traditionen ignorierte. Es war gängige Praxis, den Familien gefangener Edelleute anzubieten, ihre Angehörigen freizukaufen, und dabei spielte die Nationalität keine Rolle.

Freilich wusste Alanna tief im Inneren, dass sie jetzt nicht nur von der Tradition bewegt wurde. Obwohl ihr Reichtümer wenig bedeuteten, bedauerte sie es, dass niemals ein „Eraic“ – ein Blutgeld – für ihren Gatten und ihren Vater gefordert worden war. Wenn man jetzt ein Lösegeld für diese Ausländer hier verlangte, würde das ein Ausgleich dafür sein. Das Angedenken an Curran Desmond und Sean O’Donnell, den Mann, der der Sohn ihres Ziehvaters und ihr Gemahl gewesen war, würde eine angemessene Ehrung erfahren. Mit einer Hinrichtung dieser jämmerlichen Spanier wäre das niemals zu erreichen. Vater und Sean sind mehr wert, dachte Alanna, und diese Überlegung bewog sie, sich wieder einmal gegen ihre Tante zu stellen.

„Ich liebe die Spanier noch weniger als jeder von euch beiden“, begann sie. „Ich bin indessen ein sehr praktisch denkender Mensch. Weshalb diese armseligen Kreaturen umbringen, wenn man zumindest für die Adeligen unter ihnen ein ihrem Rang entsprechendes Lösegeld fordern kann? Weshalb wollt ihr euch mit ihrem Blut die Hände beschmutzen, wenn ihr euch mit ihrem Gold die Taschen füllen könnt?“

Bei dieser Bemerkung leuchteten Gradys Augen gierig auf, und Lucas hörte die Worte ebenfalls mit Genugtuung. Die junge Frau hatte ohne sein Dazutun die Sprache auf Lösegeld gebracht. Das war durchaus vielversprechend. Ehe jedoch die Frage zwischen Onkel, Tante und Nichte weiter diskutiert werden konnte, stürmte einer von Castlemounts Mannen in die Große Halle.

„Herr!“, keuchte er. „Ich bringe Neuigkeiten. Wir haben gehört, dass in der Blacksod Bay ein spanisches Schiff namens ‚Santa Maria Encoronada‘ vor Anker gegangen ist. Und, Herr, das ist ein Kriegsschiff! Der Kapitän hat seine Männer ausgebootet, und die haben eine Festung eingenommen. Weiter gibt es Gerüchte, nach denen noch andere Schiffe längs der Küste gesichtet wurden. Die heilige Mutter Gottes beschütze uns – die Spanier greifen an!“

Alanna fuhr zu Lucas del Fuentes herum, und jeder Gedanke an seine Rettung war vergessen. Von dem Mann erntete sie indessen nur einen unverschämten, wenn auch fragenden Blick, und da merkte sie, dass sie ganz vergessen hatte, dass er mangels Englischkenntnissen die Nachricht des Boten ja nicht hatte verstehen können. Also kehrte sie zu Latein zurück.

„Auf der Heimreise wart ihr, als euer Schiff vom Sturm aus dem Kurs geblasen wurde, ja?“, zischte sie ihn an. „Und wieso liegt dann ein Kriegsschiff nordwestlich von hier in der Blacksod Bay? Hatten eure Krieger den Befehl, Irland einzunehmen?“

„Meine schöne irische Jungfer, was ich Euch sagte, ist die Wahrheit. Wir segelten zurück nach Spanien und beschlossen, hier an Land zu gehen, um unsere Lebensmittel- und Wasservorräte aufzufüllen.“

„Ich glaube dir kein Wort!“, schrie sie ihn an. „Und nenne mich gefälligst nicht deine schöne irische Jungfer! Ich bin keine Jungfer, sondern eine Ehefrau, die in Smerwick zu einer Witwe gemacht wurde, und zwar wegen Spaniens leerer Versprechungen!“

„Das bedaure ich zutiefst“, sagte er leise, und zum ersten Mal in diesem Gespräch klang seine Stimme wirklich ernst und aufrichtig. „Es tut mit ehrlich leid.“

„Was sagt er?“, wollte Grady wissen.

„Nichts“, antwortete Alanna und wischte das Mitgefühl des Spaniers beiseite. „Er wiederholt nur seine Geschichte und leugnet eine Invasion.“

„Mir ist es gleich, was er sagt“, erklärte Cordelia. „Obwohl wir nicht ganz genau wissen, was wirklich geschehen ist, kann es uns als Hochverrat ausgelegt werden, wenn wir diese Männer am Leben lassen. Dann rettet dich auch meine Beziehung zum Earl of Ormond nicht mehr.“

Mit Befriedigung sah sie Gradys unsicheren Gesichtsausdruck. „Und außerdem“, setzte sie triumphierend hinzu, „bedeutet das Lösegeld wenig. Wozu brauchst du spanisches Gold, wenn du mit Sicherheit von der Krone belohnt wirst, nachdem du deine Loyalität durch die Beseitigung der Feinde unserer Königin bewiesen hast? Ich sage: Tod diesen Männern!“

Grady überlegte sich die Worte seiner Gemahlin. Zwar bezweifelte er, dass er auch nur eine einzige Münze von der geizigen Königin sehen würde – falls sie überhaupt noch in England regierte –, doch die Hinrichtung der Gefangenen war vielleicht trotzdem der sicherste Weg. Wer, außer seinen eigenen Leuten, wusste schließlich überhaupt, dass sich diese Spanier hier auf seiner Burg befanden?

„Sehr wohl also. Wir werden sie im Morgengrauen hängen“, ordnete er an, was seine Nichte überraschte, doch sie widersprach nicht. „Sag es ihnen, Alanna.“

Ja, sag es mir, Alanna, dachte Lucas bitter, ohne sich indes ansehen zu lassen, dass er jedes Wort verstanden hatte. Dennoch tat ihm die junge Frau leid, die so freundlich gewesen war, das Thema Lösegeld ins Gespräch zu bringen.

Lucas hatte den Eindruck, es würde ihr trotz ihrer bitteren Erinnerungen an Smerwick leidtun, ihn und seine Leute hängen zu sehen. Er meinte fast, eine Spur von Mitgefühl in ihren Augen zu erkennen, während sie jetzt versuchte, die passenden Worte zu finden, um ihn über sein Schicksal und das seiner Männer zu informieren. Eigentlich seltsam, dass sich ein solcher Edelstein in einer so groben Fassung wie dieser halbbarbarischen Burg befindet, dachte er.

Alanna musste schlucken, als sie das schöne Gesicht des Ausländers ernst betrachtete. Wegen seiner Falschheit verdient er es, hingerichtet zu werden, sagte sie sich. War durch die Rede des Boten nicht eben bewiesen worden, dass der Spanier gelogen hatte? Trotzdem fiel es ihr schwer, die Worte auszusprechen, die sein Todesurteil besiegelten.

„Was bedeutest du mir?“, flüsterte Alanna wie im Selbstgespräch auf englisch. „Ich werde deinen Tod leichter vergessen, als ich das Ableben so vieler anderer vergessen konnte.“

„Hört auf, in Eurer barbarischen Zunge vor Euch hinzumurmeln, und sprecht mit mir in einer zivilisierten Sprache, die ich verstehen kann“, forderte er arrogant auf lateinisch. Sein Stolz ertrug ihr Mitleid nicht. Obwohl Lucas es sehr bedauerte, dass Alanna diejenige war, die das nun beschlossene Todesurteil aussprechen musste, wollte er die Sache so rasch wie möglich hinter sich bringen.

„Du hast mir gar nichts zu befehlen!“ Alannas Mitgefühl schlug in Wut darüber um, dass sie gedrängt wurde, eine Aufgabe zu übernehmen, die sie abscheulich fand. „Du wirst bald genug merken, was ich zu sagen habe, und es wird dich keineswegs glücklich machen.“

„Es gibt nichts, was Ihr mir sagen könntet, um mich noch unglücklicher zu machen, als ich bereits darüber bin, in Eurem gottverlassenen Land gewaltsam festgehalten zu werden.“

„Dann wisse, Spanier, dass du und deine Männer morgen in der Frühe sterben werdet“, entgegnete Alanna leise und erkannte an dem Aufstöhnen aus der Richtung der anderen Gefangenen, dass zumindest noch ein weiterer der Spanier die lateinische Sprache verstehen musste.

„Ist das die irische Auffassung von Ehre?“, fragte Lucas. „Zieht man es hierzulande vor, ausländische Edelleute umzubringen, statt sie freikaufen zu lassen, wie es nur angemessen und recht wäre? Es ist also wahr, was man über die Iren sagt.“

„Die einzige Ehre, die ich kenne, ist die, welche man braucht, um am Leben zu bleiben. Darüber haben die Iren in den vergangenen Jahrzehnten viel gelernt, und wir werden alles tun, um uns diese Ehre zu erhalten.“

„Schließt das die Ermordung Unschuldiger ein?“

„Das schließt alles mit ein.“

„Könntet Ihr nicht mit dem Herrn dieser Burg verhandeln?“, fragte Lucas, in der Absicht, die Frau als Verbündete zu gewinnen. „Was er vorhat, ist gegen jede Zivilisation und Moral. Es widerspricht den Gesetzen Gottes und der Menschen. Wollt Ihr wirklich nichts unternehmen, um unser Leben zu retten, edle Dame?“ Lucas’ Stimme klang jetzt weich und warm, obwohl die Kälte der Mauern von Castlemount seinen nackten Körper durchdrang.

„Ich lehne es ab, sinnlose Versuche zu unternehmen“, gab Alanna kalt zurück, weil sie keinesfalls den Empfindungen erliegen wollte, die sowohl die gegenwärtige Situation als auch die tiefe Stimme sowie die muskulöse Gestalt des Spaniers in ihr auslösten.

„Was steht uns also bevor? Sollen wir gehängt, gestreckt und gevierteilt werden?“, erkundigte er sich mit einer Verachtung, die mehr über seine Meinung von der Integrität der Iren aussagte, als es Worte vermocht hätten. Er betrachtete Alanna leidenschaftslos, und dabei hätte er schwören können, eben noch ein wenig Mitgefühl oder zumindest Bedauern in ihren Augen erkannt zu haben. Doch nun stand sie da, als bestünde sie aus Eis, und verkündete das Todesurteil mit so wenig Anteilnahme, wie sie sie für ein Schaf aufgebracht hätte, das sie für ihre Tafel schlachten lassen wollte. Jedenfalls war von ihr keine Hilfe zu erwarten.

„Ich nehme an, ihr werdet alle nur gehängt“, antwortete sie. Aufs Neue befielen sie die zwiespältigen Empfindungen, und sie entschloss sich zu dem einzigen Zugeständnis, das sie zu machen bereit war. „Wenn du es möchtest, schicke ich dir meinen Beichtvater.“

„Euren Priester könnt Ihr behalten“, lehnte der stolze Spanier ab.

„Du solltest erst nachdenken, bevor du antwortest“, empfahl Alanna. „Ein Geistlicher könnte für deine Männer von einigem Trost sein.“

„Meine Männer wollen nur das, was ich ihnen erlaube.“

„Und du? Hast du nicht das Bedürfnis, die Beichte abzulegen? Hast du niemals unrecht getan?“, fragte Alanna geringschätzig. Wie konnte dieser Mensch es wagen, mit ihr so zu reden? War es etwa ihre Schuld, dass er und seine Männer an Gradys Küstenabschnitt gelandet waren und gefangen genommen wurden? Irland war grausam zu denen, die es ihre Heimat nannten; sollte es Ausländern besser ergehen?

„Ich habe gesündigt wie jeder andere auch“, antwortete Lucas eiskalt. „Doch anders als die anderen bereue ich nichts.“

„Dann gehab dich wohl, Lucas del Fuentes, und möge Gott deiner Seele gnädig sein.“

„Und möge Gott der Seele Eurer Kinder gnädig sein, edle Dame, falls sie genauso herzlos sind wie Ihr und genauso aussehen wie Eure Verwandte“, bemerkte Lucas mit einem Kopfnicken in Cordelias Richtung.

Alannas einzige Antwort bestand aus ihrem stahlharten Blick, und dann drehte sie dem Mann den Rücken, während er und seine Gefährten in das Burgverlies abgeführt wurden.

Alanna versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass es nur gerecht war, die Spanier hinzurichten, doch sie musste zugeben, dass die Ereignisse dieser Nacht recht beunruhigend waren. Am liebsten wäre sie aus der Großen Halle geflohen und hätte Castlemount umgehend verlassen, doch da kam ihr eine schlimme Erkenntnis.

Falls Spanien Irland von Westen her angriff, würde Grady sie nicht aus seinem Schutzbereich hinauslassen. Doch wie konnte sie auf einer anglisierten Burg verbleiben, wenn Grady sich mit den Engländern verbündete und die irischen Rebellen möglicherweise die Spanier unterstützten? Wie konnte sie hilflos zuschauen, wenn ihre Landsleute hingeschlachtet wurden? Ihr musste es unbedingt gelingen, Grady dazu zu bringen, sie wie geplant abreisen zu lassen.

„Onkel“, begann sie vorsichtig. „Ihr glaubt doch diese Gerüchte über einen Angriff der Spanier nicht etwa, oder doch?“

„Das soll sich erst noch herausstellen“, antwortete Grady MacWilliams ernst.

„Ich bin mir zumindest sicher, dass die Männer in Eurem Verlies nicht zu einer Invasionsstreitmacht gehören.“

„Bittest du meinen Gemahl etwa um Gnade für sie?“, fuhr Cordelia dazwischen, bevor Grady antworten konnte. „Weil nämlich in diesem Fall …“

„Darum handelt es sich nicht“, unterbrach Alanna sie.

„Weshalb erwähnst du dann die Gefangenen?“ MacWilliams fiel auf, wie sehr doch seine Nichte seiner liebreizenden Schwester glich, und seine Haltung ihr gegenüber wurde freundlicher.

Alanna zögerte. Wie konnte sie diesem Mann sagen, dass sie im Kriegsfall bei dem rebellischen O’Donnell sein wollte? Sie musste ihren Wunsch in Worte kleiden, die Grady akzeptabel finden würde.

„Lieber Onkel, Ihr wart äußerst gütig zu mir“, sagte sie sehr sanft. „Und ich denke, ich darf Eure Großzügigkeit nicht länger ausnützen. Bis jetzt haben wir noch nichts über eine nahende Armee oder über irgendwelche Scharmützel gehört. Gewiss ist die Lage ungefährlich genug, sodass ich zu meinem Ziehvater reisen kann. Ich muss morgen früh aufbrechen, so wie ich es angekündigt hatte.“

Gradys fragendem Blick wich Alanna aus. Sie stand nur schweigend da, sammelte ihre Argumente und wartete auf Widerspruch, der gewiss gleich folgen würde.

„So ein Unsinn!“, erklärte Cordelia, und ihre Stimme war der einer krächzenden Krähe sehr ähnlich.

„Nichts ist, Mädchen. Gar nichts! Selbstverständlich musst du tun, was du geplant hast. Du wirst morgen früh abreisen. Freilich würdest du keinen Schutz benötigen, wenn du verheiratet wärst. Dann würde sich dein Ehemann um dich kümmern. Ist es nicht so, Grady?“

„Nun … ja“, stimmte MacWilliams zu, dessen Gesicht hochrot geworden war. „Also ich meine, natürlich musst du morgen früh aufbrechen. Schließlich dürfen wir dich nicht ganz für uns beanspruchen. Wir dürfen Kevin O’Donnell deine Gesellschaft nicht vorenthalten“, fügte er hinzu. Wegen des Geheimnisses, das er in seinem Inneren hütete, wurde sein Gesicht womöglich noch flammender. „Ich bezweifle auch nicht, dass deine Reise vollkommen sicher sein wird. Dir werden keinerlei Gefahren vonseiten der Spanier zustoßen“, schloss er schwach.

Alanna war verblüfft. Sie hatte angenommen, ihr Onkel würde ihr die Rückreise verbieten. Offenbar jedoch wollte Cordelia sie ebenso schnell loswerden, wie sie selbst darauf bedacht war, Castlemount zu verlassen.

Wie auch immer, sie dachte nicht länger darüber nach. Sie verabschiedete sich noch einmal von ihrem Onkel und eilte dann in ihr Gemach zurück, in der Hoffnung, in dieser aufregenden Nacht doch noch ein wenig Schlaf zu bekommen.

„Ach Alanna – einen Moment noch!“, rief Cordelia durch die nunmehr leere Halle.

„Ja?“

„Bleibst du noch zu den Hinrichtungen am Morgen hier?“ Cordelia hörte sich an wie eine perfekte Gastgeberin, wenn man von dem grimmigen Lächeln absah, welches um ihre schmalen Lippen spielte.

„Wohl kaum“, antwortete Alanna frostig.

„Zu schade, dass du dir so ein spannendes Ereignis entgehen lässt“, seufzte Cordelia. „Nun, ich denke, du wirst in der Zukunft noch eine Menge Hinrichtungen zu sehen bekommen.“

3. KAPITEL

Lucas saß allein in der engen, schmutzigen Zelle und versuchte, sich einen Fluchtplan zu überlegen.

Den Gedanken, sein englisches Erbe dem Herrn dieser ganz offensichtlich anglo-irischen Burg zu offenbaren, verwarf er gleich wieder. Ungeachtet der Nationalität seiner Mutter sowie seiner Kenntnis der englischen Sprache war er doch ein Spanier und hatte an Philipps „Großem Unternehmen“ gegen England teilgenommen. Wenn er jetzt etwas anderes behauptete, um sein Leben und das seiner Männer zu retten, wäre das ehrverletzend, und für Lucas war seine Ehre etwas, das Spanien gehörte; ihm selbst stand es nicht zu, mit ihr nach Belieben zu verfahren, aus welchem Grund auch immer.

Für ihn war die Düsternis in MacWilliams’ Verlies nicht fürchterlicher als die Schwärze der irischen Herzen. Und die junge Frau, die edle Alanna, war die Schlimmste von allen. Wie hatte dieses Land eine solche Schönheit nur so verbittern können? Oder waren alle irischen Frauen so ohne Mitgefühl und Nächstenliebe wie sie? Alanna jedenfalls war ganz anders als die herzlichen, liebevollen Frauen, die er kennengelernt hatte. Dennoch vermutete er, dass unter ihrer kalten Oberfläche die Bereitschaft zur Liebe schlummerte, die nur darauf wartete, geweckt zu werden.

Wie immer er sie auch betrachtete, ein Rätsel war sie allemal. Anfangs hatte er gedacht, er könnte sich ihre jungen Jahre und ihr sanftes Geschlecht zunutze machen, doch dafür hatte sie sich zu hart erwiesen. Gut, sie hatte die Angelegenheit mit dem Lösegeld in die Diskussion gebracht, doch sie hatte schließlich nicht weiter darauf bestanden, als ihr Vorschlag abgelehnt worden war.

Und dann war da noch die Geschichte mit ihrem Ehemann. Wenn sie Philipp die Schuld an seinem Tod gab, bedeutete das, dass ihr Gatte mit den Iren gegen die englischen Herren gekämpft hatte. Trotzdem befand sie sich als Witwe eines Rebellen in dieser eindeutig englischen Burg. Wo mochten ihre Loyalitäten liegen, oder hatte sie gar keine? Gehörte sie zu den Menschen, die sich grundsätzlich dem Sieger zuwandten, wer immer das auch sein mochte?

Doch weshalb machte er sich überhaupt Gedanken über das Mädchen? Alanna ging ihn doch nichts an, und wenn alles so lief, wie MacWilliams es befohlen hatte, würde er, Lucas, keine Gelegenheit mehr haben, sich mit ihr zu befassen. Sie war nichts weiter als eine bittere Erinnerung am Rande, während er sich bis zum Morgengrauen den Kopf über eine Fluchtmöglichkeit zerbrechen musste.

Sosehr er indessen das Bild der bezaubernden Frau zu verdrängen versuchte, es kehrte immer wieder zu ihm zurück. Dabei brauchte er jetzt eine mitleidige Verbündete, und das würde Alanna nie sein. Zwar sah sie aus wie ein Engel, doch eine Seele besaß sie nicht. Allerdings …

Als sich die Idee in seinem Kopf formte, zog ein Lächeln über sein Gesicht. Sie konnte ihm möglicherweise doch von Nutzen sein – sie und ihr Angebot, einen Priester in den Kerker zu schicken. Rasch arbeitete Lucas im Geist die Einzelheiten eines Plans aus.

„Gracias, Alanna“, flüsterte er. „Danke für die Hilfe, die Ihr uns unfreiwillig und unbewusst leisten werdet.“

„Lady Alanna, wacht bitte auf“, flüsterte eine Stimme in dem nur von einer einzelnen Kerze beleuchteten Gemach. Megan, die Scheuermagd, durfte eigentlich den vorderen Wohnturm nicht betreten, doch Padraic hatte ihr erklärt, dass es sich um einen Notfall handelte. Dennoch würde sie ausgepeitscht werden, falls der MacWilliams sie hier erwischte. In ihrer Angst, die schlafende Moira zu wecken, berührte Megan vorsichtig Alannas Schulter.

Autor

Erin Yorke
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