Der Quiltshop, in dem alles begann - die komplette Serie (4 Romane)

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Herzerwärmende Serie von Topautorin Patricia Thayer, die sich um einen charmanten kleinen Quiltshop dreht. Vier Frauen zähmen die wilden Herzen von vier umwerfenden Helden.

EIN QUILT, EIN KUSS - EIN HEIRATSANTRAG

"Meine Mama ist im Himmel. Hilfst du mir, ihren Quilt zu Ende zu nähen?" Es schimmert in den Augen der Kleinen, die in Jennys Handarbeits-Shop steht. Natürlich will Jenny ihr helfen! Aber dazu muss sie Gracies Papa überzeugen, den distanzierten, aber attraktiven Witwer Evan …

WOHIN DER STURM UNS TRÄGT

Hier liegen also meine Wurzeln! Jade kommt nach Kerry Springs, zu den vermögenden Merricks - wegen eines dunklen Familiengeheimnisses. Nichts ist für sie also abwegiger, als sich unsterblich in den schweigsamen Sloan, Sohn der Dynastie, zu verlieben! Und nichts gefährlicher …

GEHEIME GEFÜHLE FÜR DICH

Lilly will nur eins: Ruhe und Frieden für sich und ihre Kinder. Doch damit ist es schlagartig vorbei, als Noah Cooper in Kerry Springs auftaucht. Gegen ihren Willen fühlt Lilly sich vom ersten Moment an zu ihm hingezogen. Auch wenn sie bald ahnt, dass er etwas vor ihr verbirgt …

UND DIESMAL IST ES FÜR IMMER

Der sexy Rancher Matt Rafferty bringt Alisas Herz ganz schön auf Trab. Aber Vorsicht: Vor drei Jahren hat er sie schon einmal zutiefst verletzt, als er sich nach einer gemeinsamen Nacht einfach aus dem Staub gemacht hat. Und warum sollte das jetzt plötzlich anders sein?


  • Erscheinungstag 19.01.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775742
  • Seitenanzahl 520
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Patricia Thayer

Der Quiltshop, in dem alles begann - die komplette Serie (4 Romane)

IMPRESSUM

Ein Quilt, ein Kuss – ein Heiratsantrag erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2011 by Patricia Thayer
Originaltitel: „Little Cowgirl Needs a Mom“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA
Band 4 - 2014 Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Anna-Pia Kerber

Umschlagsmotive: ThinkstockPhotos /moremarinka

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733774516

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Jenny Collins stand vor dem Schaufenster vom Blind Stitch Quilt Shop und betrachtete das Schild in der Auslage.

Quilt-Kurse für Anfänger: Demnächst jeden Mittwoch und Samstag. Jeder ist willkommen!

Nun gab es kein Zurück mehr. Sie hätte niemals auf Allison hören sollen. Schließlich war sie Englischlehrerin an der Highschool und keine Expertin für das Nähen von Quilts.

Aber sie wollte ihre Freundin nicht enttäuschen, die immer an sie geglaubt hatte, selbst nachdem für Jenny an ihrem alten Wohnort eine Welt zusammengebrochen war.

Allison war die Besitzerin vom Blind Stitch Quilt Shop. Sie hatte Jenny den Job als Managerin gegeben und ihr sogar angeboten, in dem Apartment über dem Laden zu wohnen – solange sie wollte.

Wie lange würde Jenny in Kerry Springs, einer kleinen, verschlafenen Stadt in Texas, bleiben wollen? Sie hatte keine Ahnung. Die Ladentür wurde geöffnet und riss Jenny aus ihren Gedanken. Millie Roberts steckte den Kopf heraus und lächelte. Die zierliche Dame war Jennys Teilzeitangestellte, und die beiden Frauen verband schon jetzt eine herzliche Freundschaft.

Millie mochte zwar schon an die Siebzig sein, doch der quirligen Frau merkte man das Alter kaum an. „Wir haben gerade eine neue Lieferung bekommen“, sagte sie und winkte Jenny hinein. „Es sind die Stoffe, die Allison bestellt hatte.“

Jenny folgte ihr in den Laden. „Das ist gut, denn langsam ging uns das Material aus.“

„Kein Wunder. Du hast ja in den letzten Tagen fast alles verkauft.“

Jenny sah sich im Laden um. Die hohen Wände zierten zahlreiche, farbenfrohe Flickendecken. Es waren Sonderanfertigungen nach Allisons Entwürfen. Jennys Freundin war nicht nur die Besitzerin des Quilt Shops, sondern auch selbst unglaublich geschickt im Nähen.

Die bunten Patchworkdecken waren auf breite Rahmen und Ständer aufgezogen, sodass man die filigrane Handarbeit bewundern konnte. Es gab Wolle und Stoffe in allen nur erdenklichen Farben. Ein langer Schneidetisch teilte den Raum. Der Tisch ging in eine Theke über, auf der eine altmodische Kasse stand. Vor der Theke waren mehrere große Pakete aufgestapelt.

„Oje“, seufzte Jenny. „Allison hat wohl das ganze Warenlager aufgekauft.“

Jenny öffnete ein Paket und nahm vorsichtig die eingerollten Stoffbahnen heraus. Millie beugte sich neugierig über ihre Schulter.

Im nächsten Moment betrat ein hübsches kleines Mädchen mit dunklem Haar den Laden. Sie trug Jeans, ein pinkfarbenes T-Shirt und weiße Turnschuhe. Sie lächelte schüchtern.

Jenny legte die Stoffbahn beiseite. „Hallo. Ich bin Jenny Collins.“

„Und ich bin Grace Anne Rafferty. Aber alle nennen mich Gracie.“

„Schön, dich kennenzulernen, Gracie. Das ist Millie.“

„Hi, Gracie.“ Millie lächelte dem Mädchen freundlich zu, dann fuhr sie fort, die Pakete auszupacken.

„Was kann ich für dich tun, Gracie?“

„Ich habe das Schild gelesen. Ich will, dass Sie mir helfen, meinen Quilt fertig zu nähen.“

Jenny wand sich. Wie sollte sie dem Kind schonend beibringen, dass es für so eine Aufgabe zu jung war? „Weißt du, eigentlich ist das kein Kurs für Kinder.“

„Ich bin schon acht Jahre alt und weiß, wie man näht. Ich habe auch schon einen Quilt … also, meine Mommy hat mit dem Quilt angefangen, aber jetzt kann sie ihn nicht fertig machen.“

Jenny sah sie mitfühlend an. Sie spürte die tiefe Trauer, die hinter den großen, blauen Augen des Mädchens verborgen lag.

„Ich würde dir gern helfen, Gracie. Aber die Kurse sind leider nur für Erwachsene.“

Die Kleine ließ enttäuscht die Schultern sinken. „Aber ich muss den Quilt fertig nähen. Ich hab’s ihr doch versprochen.“

Jenny beugte sich zu ihr hinunter. „Vielleicht sollten du und deine Mommy den Quilt gemeinsam fertigstellen. Wie wäre es, wenn sie an unserem Kurs teilnimmt?“

Das Mädchen schüttelte traurig den Kopf. Ihr dunkler Pony fiel über ihre Augen, in denen plötzlich dicke Tränen standen. „Das kann sie nicht. Sie ist im Himmel.“

Evan Rafferty verließ hastig den Eisenwarenladen. Zweimal hatte er den Laden bereits abgesucht, doch seine Tochter war nirgends zu finden. In der Hoffnung, es sei ihr hier womöglich langweilig geworden, eilte er zu seinem Truck.

Doch hier war sie auch nicht.

Evans Herz begann zu rasen.

Er konnte nicht einmal auf seine eigene Tochter aufpassen. Womöglich hatte Megan recht gehabt, und er war einfach nicht zum Vater geschaffen.

Panisch rannte er an zwei weiteren Läden vorbei, dann hielt er abrupt inne.

Blind Stitch. Er las das Schild im Schaufenster. Hatte die Kleine nicht etwas von einem Quilt gesagt?

Evan zog die Tür auf und eilte in den Laden. Plötzlich hörte er die helle, vertraute Stimme seiner Tochter, die ihn noch immer bewegte, weiterzumachen. Seine zauberhafte kleine Tochter gab seinem Leben einen Sinn – obwohl er in den letzten anderthalb Jahren oft an dem Punkt gewesen war, an dem er am liebsten alles hingeworfen hätte.

Langsam ging er an den hohen Gestellen mit Flickendecken vorbei und zwang sich, ruhig zu atmen. Dann sah er eine blonde Frau, die mit seiner Tochter redete. „Gracie Anne Rafferty.“

Sie wirbelte schuldbewusst herum. „Oh. Hi, Daddy.“

„Du weißt doch, dass du nicht einfach weglaufen darfst.“ Seine Stimme wurde sanfter. „Ich konnte dich nirgendwo finden.“

„Tut mir leid“, sagte Gracie mit tränenerstickter Stimme. „Du warst so beschäftigt, da habe ich gedacht, ich sehe mir die Quilts allein an.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln. Es erinnerte Evan an ihre Mutter.

„Das ist kein Grund, ganz allein rauszugehen.“

„Mr Rafferty, ich bin Jenny Collins.“ Die blonde Frau machte einen Schritt auf ihn zu und stellte sich vor Gracie. „Ich bin die neue Managerin des Blind Stitch.“

Evan musterte die junge Frau. Sie war groß und schlank und hatte ein sympathisches Lächeln. Als er in ihre großen, dunklen Augen sah, spürte er ein seltsames Ziehen im Bauch.

„Es tut mir leid, dass Sie sich wegen Gracie Sorgen gemacht haben“, fuhr sie fort. „Ich wusste nicht, dass sie ohne Erlaubnis hier hereingekommen ist.“

Evan versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Was denken Sie denn, wenn ein kleines Mädchen ganz allein hier reinspaziert?“

Die Frau lächelte ihn noch immer an, doch das kurze, ärgerliche Blitzen in ihren Augen war ihm nicht entgangen. „Ich dachte, ihre Eltern würden gleich nachkommen.“ Dann sah sie Gracie liebevoll an. „Bevor du das nächste Mal kommst, fragst du deinen Vater um Erlaubnis, ja?“

Die Kleine wischte die Tränen aus ihrem Gesicht. „Okay.“

„Schön. Magst du dir vielleicht das Gesicht waschen, bevor dich dein Vater nach Hause bringt?“ Dabei sah sie Evan herausfordernd an.

Eine ältere Dame kam durch die Tür im hinteren Teil des Ladens. „Hallo, Evan.“

Evan lächelte, als er Millie Roberts erkannte. Vor vielen Jahren war sie Lehrerin in Kerry Springs gewesen. Und ein aktives Mitglied in der Kirche, die auch er damals besucht hatte. Er tippte grüßend an seinen Hut. „Hallo, Mrs Roberts.“

„Ich zeige Gracie, wo sie sich waschen kann“, sagte sie und legte den Arm um Gracies Schulter.

Nachdem die beiden den Vorraum verlassen hatten, wandte sich Jenny wieder an Evan. „Könnte ich Sie für eine Minute sprechen, Mr Rafferty?“

„Wozu? Gracie wird ohnehin nicht wiederkommen.“

„Warum nicht? Darf sie nicht lernen, wie man einen Quilt macht? Sie hat mir erzählt, dass ihre Mutter einen genäht hat. Und dass sie sehr unglücklich ist seit … seit einiger Zeit.“

Auf keinen Fall wollte Evan über sein Privatleben sprechen. Schon gar nicht mit einer Fremden. „Das soll nicht Ihre Sorge sein. Außerdem ist Gracie zu jung.“

Jenny musterte den Mann. Er hatte eine undurchdringliche Miene aufgesetzt, doch es war nicht zu übersehen, dass er genauso unglücklich war wie seine Tochter.

Vom ersten Moment an hatte Jenny sich dem kleinen Mädchen verbunden gefühlt. Vielleicht, weil ihre eigene Kindheit auch nicht besonders glücklich gewesen war.

„Sie könnten noch einmal mit ihr darüber reden“, schlug Jenny vor.

„Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie sich da heraushalten.“

Jenny nickte. „Ihre Tochter ist in den Laden gekommen und hat mich um Hilfe gebeten. Ich helfe gern. Vielleicht können wir uns ja gemeinsam etwas überlegen, damit sie den Quilt fertig nähen kann.“

„Nein, danke. Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben.“

Erleichtert sah er zu, wie Gracie von Millie in den Laden zurückgebracht wurde. „Komm, Gracie. Wir müssen jetzt zurück zur Ranch.“

Er drehte sich abrupt um und ging zur Tür. Er wusste selbst nicht, warum er plötzlich so ruppig war – sowohl zu seiner Tochter als auch zu der fremden Frau. Er kannte sie ja nicht einmal. Aber genau das war das Problem.

Diese Frau …

Ärgerlich riss er die Tür auf.

„Was für ein Idiot“, murmelte Jenny. Sie ging zum Schaufenster und beobachtete, wie Mr Rafferty seiner Tochter in den Wagen half. Der große Truck war ein ziemlich neues Modell und trug das Logo: Triple R Ranch auf der Tür.

Der Rancher ging um den Wagen herum. Jenny betrachtete ihn von hinten. Er war groß und athletisch. Unter der Jeans zeichneten sich muskulöse Oberschenkel ab, und das Hemd ließ erahnen, wie breit seine Schultern und wie kräftig seine Arme waren. Unter dem breitkrempigen Cowboyhut konnte sie dichtes, schwarzes Haar sehen.

Wie er sie angesehen hatte!

Er hatte unglaublich fesselnde, blaue Augen. Sie konnte noch immer die Hitze spüren, die ihr unter seinem Blick in die Wangen gestiegen war. Doch als sie ihm ihre Hilfe angeboten hatte, hatte sie eher das Gefühl gehabt, dass sein Blick so schneidend wie eine scharfe Klinge wurde.

Fabelhaft. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich wieder einmal zu einem Mann hingezogen – und dann war er genauso unhöflich und arrogant wie die meisten anderen, auf die sie hineingefallen war. Genau wie ihr Stiefvater.

Nein, sie würde nicht noch einmal ihre Zeit an jemanden wie Evan Rafferty verschwenden.

Sie dachte daran, was die Kleine über ihre Mutter gesagt hatte. Dann hatte der Mann also vor Kurzem seine Frau verloren …

Wider Willen spürte sie ein tiefes Mitgefühl – für Evan, nicht nur für seine hinreißende Tochter.

Sie sah zu, wie Evan den Truck auf die Straße lenkte. Gracie winkte aus dem Wagenfenster.

Jennys Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Am liebsten hätte sie die Kleine in die Arme geschlossen. Na schön, dieser Cowboy hatte definitiv ein Ass im Ärmel: das süßeste kleine Mädchen der Welt.

Millie stellte sich neben sie ans Fenster. „Du solltest mit diesem jungen Mann nicht so hart ins Gericht gehen. Er hat eine Menge durchgemacht.“ Sie sah Jenny traurig an. „Er hat erst vor einem Jahr seine Frau verloren. Megan hieß sie.“

„Was ist passiert?“

„Sie hatte Krebs.“ Millie seufzte. „Sie hat furchtbar gelitten. Und Evan muss nicht nur ihren Tod verkraften, sondern auch seine Tochter großziehen und sich um seine Ranch kümmern. Ich kann verstehen, dass seine Nerven mit ihm durchgingen, als er die Kleine vorhin nicht finden konnte.“

Jenny nickte. Sie hatte keine Kinder, doch sie hatte erlebt, was ihre Freundin Allison durchgemacht hatte, nachdem ihre Tochter bei einem Autounfall fast ums Leben gekommen war. Sie setzte ein unbeschwertes Lächeln auf. „Dann lass uns wieder an die Arbeit gehen. In zwei Wochen soll der Anfängerkurs beginnen.“

Sie ging um den Schneidetisch herum und öffnete eine Tür, die ins Nebengebäude führte. Dieses Gebäude hatte Allison erst kürzlich dazugekauft.

Jenny blieb einen Moment im Türrahmen stehen. Noch wirkte der neue Raum ziemlich kahl. Aber sie konnte sich schon sehr gut vorstellen, wie es hier bald aussehen würde. Als Klassenzimmer für den Quilt-Kurs war er bestens geeignet. Und sobald sie die Nähmaschinen aus dem Lager geholt hatten, konnte es losgehen.

Jenny ging durch den Raum und sah durch das große Fenster auf der Frontseite. Millie folgte ihr. „Was hältst du davon, wenn wir hier vorn einen großen, runden Tisch hinstellen? Und dazu ein paar bequeme Stühle.“

Millie strahlte. „Dann könnten die Frauen sich hier zum Quilten treffen. Und zum Reden …“

„Genau. Sie könnten sich gegenseitig Tipps geben … Viele von Allisons Kunden sind ohnehin Freunde und Nachbarn. Und wir würden ihnen einen Ort bieten, an dem sie sich austauschen können. Wir könnten es Quilter’s Corner nennen – wie eine gemütliche Näh-Ecke.“

Millies Lächeln wurde breiter. „Das wird bestimmt ein großer Erfolg.“

Jenny nickte. Sehr gut. Doch da gab es noch etwas anderes, das an ihr nagte. Vergiss Rafferty, sagte sie sich. Du hast schon genug um die Ohren. Aber ständig musste sie an seine Tochter denken. Wie konnte sie Gracie helfen?

Plötzlich kam ihr eine Idee. „Millie, wenn ich die Kurse für die Erwachsenen auf Mittwoch- und Samstagmorgen verschiebe, dann hätten wir Samstagnachmittag doch noch Zeit für etwas anderes. Wie wäre es mit einem Kurs für Mädchen?“

Die alte Dame musterte sie. „Das ist ziemlich viel Aufwand – dafür, dass nur ein einziges kleines Mädchen seinen Quilt fertig nähen will.“

War das wirklich alles, was Gracie wollte? Jenny dachte an ihre eigene Kindheit zurück. Immer hatte sie im Schatten ihrer übermächtigen Stiefbrüder gestanden. Ihr Stiefvater hatte sie ignoriert. Doch das Schlimmste war, dass ihre Mutter das alles hatte geschehen lassen.

Vielleicht ging es Gracie seit dem Tod ihrer Mutter ähnlich, und sie fühlte sich abgeschoben. Aber war eine Achtjährige wirklich zu jung, um an einem Nähkurs teilzunehmen?

Nein.

Jenny sah Millie an. „Glaubst du, einige unserer Kursteilnehmerinnen wären bereit, einem kleinen Mädchen zu helfen, ihren Quilt fertigzustellen?“

Millie nickte langsam. „Sicher. Aber das wird keine leichte Aufgabe. Megan Rafferty war eine Expertin, wenn es ums Quilten ging. Sie hat damals einige Quilts auf dem Kunsthandwerkermarkt verkauft. Aber du hast schon recht. Das könnte Gracie helfen. Vor allem, da sie in einem reinen Männerhaushalt lebt.“ Sie lächelte schelmisch. „Diese Rafferty-Männer sind schon sehr attraktiv.“

Jenny dachte an Evan und an den qualvollen Ausdruck in seinen Augen. Schon war sie ihm gegenüber milder gestimmt.

Reiß dich zusammen, Jenny, er ist kein Mann für dich!

Am nächsten Nachmittag machte sich Jenny mit einem Stapel frisch gedruckter Handzettel auf den Weg zu Kerry Springs Grundschule. Sie hoffte, die Schulleiterin Lillian Perry von ihrem Projekt überzeugen zu können.

Als sie in das Büro gebeten wurde, war Jenny überrascht. Die Frau, die ihr lächelnd die Tür öffnete, war nicht viel älter als Jenny selbst. Sie war ausgesprochen hübsch und hatte langes, braunes Haar.

„Tut mir leid, dass Sie warten mussten, Ms Collins“, sagte sie und bat Jenny, Platz zu nehmen.

„Bitte nennen Sie mich doch Jenny.“

„Gern. Und ich bin Lilly. Ich habe gehört, Sie haben gerade den Blind Stitch übernommen.“

„Das hat sich aber schnell herumgesprochen.“

„In so einer kleinen Stadt ist das kein Wunder. Außerdem ist meine Mutter Beth Staley Stammgast im Blind Stitch.“

„Oh, natürlich. Sie ist eine Freundin von Millie.“

„Was kann ich für Sie tun, Jenny?“

Jenny kam direkt zur Sache. „Ich hatte gehofft, Sie könnten mir dabei helfen, ein bisschen Reklame für einen Quilt-Kurs für Kinder zu machen.“ Sie reichte Lilly die Handzettel. „Er ist kostenlos.“

Lilly überflog den Flyer. „Klingt interessant.“ Dann sah sie Jenny aufmerksam an. „Und sehr … großzügig.“

„Naja, eigentlich ist es so eine Art Gemeindedienst. Ich weiß ehrlich gesagt noch gar nicht, wie viele Frauen ich letztendlich als freiwillige Helfer gewinnen kann. Ich werde auch Ihre Mutter fragen, ob sie mitmachen möchte. Meine Idee war, die Kunst des Quilt-Nähens an die folgende Generation weiterzugeben.“

Lilly beugte sich vor und stützte die Arme auf den Schreibtisch. „Ich bin sicher, dass meine Mutter das Projekt lieben wird“, sagte sie. „Sie versucht schon lange vergeblich, meine Tochter Kasey zum Nähen zu bringen. Vielleicht könnte man sie dafür begeistern, wenn noch mehr Mädchen in ihrem Alter nähen lernen würden.“

In der folgenden halben Stunde gingen die beiden Frauen gemeinsam Jennys Plan durch.

„Der Blind Stitch wird etwas Material für den Kurs spenden. Wir werden zwar Stoffe und Garne zur Verfügung stellen, hoffen aber, dass die Mädchen auch eigene Sachen mitbringen, wie zum Beispiel alte Kleidung. Recycling ist ja gerade ein großes Thema“, erklärte Jenny.

„Oh, das gefällt mir“, sagte Lilly begeistert. „Dann können die Mädels auch noch etwas über ihre Familiengeschichte erfahren – und lernen, stolz darauf zu sein. Ich bin gern bereit, Ihre Flyer in den höheren Klassen zu verteilen.“ Sie stand auf. „Es wird gleich läuten. In den Pausen lasse ich mich öfter auf dem Schulhof sehen. Ich bin zwar Schulleiterin, aber ich bleibe gern in Verbindung mit den Kids.“

„Ja, das habe ich auch gern getan“, stimmte Jenny zu. „Meine Schüler waren allerdings ein bisschen älter und schon auf der Highschool.“

Lilly warf ihr einen Seitenblick zu. „Unterrichten Sie nicht mehr?“

Jenny hatte nicht vor, ins Detail zu gehen. „Ich habe mir für dieses Schulhalbjahr eine Auszeit genommen“, sagte sie vage. „Im Herbst werde ich an meine Schule zurückkehren.“

Die Schulglocke ertönte. Jenny folgte Lilly auf den Hof. Die Schüler strömten aus dem Gebäude in die warme Frühlingssonne und freuten sich sichtlich, dass der Unterricht für heute beendet war. Trotzdem hielten einige inne, um ihre Schulleiterin zu grüßen oder ihr zuzuwinken. Erst jetzt wurde Jenny bewusst, wie sehr sie das vermisste.

Plötzlich rief jemand ihren Namen. Jenny drehte sich um und sah Gracie, die freudig auf sie zulief. „Jenny! Was machst du hier?“

„Hi, Gracie. Ich bin wegen Mrs Perry gekommen.“

Die Kleine sah von Jenny zu Lilly und lächelte schüchtern. „Hallo, Mrs Perry.“

„Hallo, Gracie. Jenny hat mir erzählt, dass sie in ihrem Laden einen Quilt-Kurs für Mädchen machen will.“

Gracie machte große Augen. „Wirklich?“

„Wirklich.“ Jenny war froh, dass Gracie die Idee gefiel. „Vielleicht kannst du ja auch mitmachen und an dem Quilt deiner Mutter arbeiten.“

Die Kleine nickte aufgeregt, doch bevor sie antworten konnte, rief jemand ihren Namen.

Jenny fuhr herum. Evan Rafferty stand sichtlich ungeduldig neben seinem Truck.

Gracies Lächeln erlosch. „Ich glaube nicht, dass mein Dad das erlaubt.“ Sie drehte sich um und rannte auf Evan zu.

„Entschuldigen Sie mich, Lilly. Ich habe mit jemand zu reden.“ Das wird nicht leicht, dachte sie und straffte sich. „Mr Rafferty.“ Sie begrüßte ihn mit einem zuckersüßen Lächeln. „Hätten Sie eine Minute Zeit?“

Evan schloss die Wagentür, sodass Gracie nicht mithören konnte. „Ich habe es wirklich eilig. Außerdem habe ich gestern schon alles gesagt.“

„Ich dachte, da es um Ihre Tochter geht, würden Sie sich einen Moment Zeit nehmen.“

Evan rückte seinen Hut zurecht. Er sah in ihre großen, samtig-braunen Augen und hatte das Gefühl, dass ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Rasch wandte er den Blick ab. „Da haben Sie falsch gedacht. Ich muss jetzt wirklich weiter.“ Hauptsache, weg von Ihnen. Er öffnete die Fahrertür, stieg schnell ein und fuhr davon.

Fassungslos und wütend starrte Jenny dem Wagen hinterher. Wie konnte dieser Mann sie einfach so stehen lassen?

Na schön, dann musste sie sich eben etwas anderes einfallen lassen, um Gracie zu helfen. Es war nicht das erste Mal, dass sie für ein Kind kämpfen würde.

Sie weigerte sich, das Mädchen aufzugeben. Das Mädchen und – wenn sie ehrlich war – auch nicht den Vater.

2. KAPITEL

Am nächsten Nachmittag lenkte Jenny ihren Kleinwagen vorsichtig vom Highway auf eine schmale Schotterstraße. Nach etwa einem halben Kilometer fuhr sie unter einem hohen Torbogen hindurch, auf dem in großen, eisernen Lettern Triple R Ranch stand.

Zum ersten Mal kamen ihr Zweifel. Es war vermutlich keine gute Idee, hier einfach unangemeldet aufzutauchen. Doch wann immer ein Kind in Schwierigkeiten steckte, musste sie ihm helfen.

Schließlich wusste sie, wie es war, allein zu sein. Als sie in Gracies Alter gewesen war, hatten ihre älteren Stiefbrüder immer auf ihr herumgehackt. Niemand hatte sich für sie eingesetzt. Ihre Mutter hatte sich vor Jennys Hilferufen verschlossen und auf die Seite ihres Mannes gestellt. Und später hatte sie Jenny sogar dafür verantwortlich gemacht, dass es zu dem großen Zerwürfnis in der Familie gekommen war.

Familie? Nein. Das waren sie ohnehin niemals gewesen.

Ob das der Grund war, warum sie Lehrerin geworden war? Schließlich gab es nichts Schöneres, als einem Kind dabei zu helfen, sein Potenzial zu erkennen und seine Träume zu verwirklichen.

Doch in einem Fall war sie trotz aller Bemühungen gescheitert. Luis Garcia hätte die Fähigkeit gehabt, auf eines der besten Colleges des Landes zu gehen. Wochenlang hatte sie ihm dabei geholfen, Bewerbungen zu schreiben, um ein Stipendium zu bekommen.

Dann war Luis eines Tages in eine Prügelei geraten, weil er einen schwächeren Schüler verteidigen wollte. Plötzlich war ein Messer im Spiel gewesen. Doch obwohl das kleine Taschenmesser nicht Luis gehörte, hatten später alle gegen ihn ausgesagt – und der Direktor hatte ihnen geglaubt. Und Luis sofort von der Schule verwiesen.

Jenny hatte ihn angefleht, Luis wenigstens noch zu den Prüfungen zuzulassen, aber der Direktor hatte keine Ausnahmeregelung geduldet.

Frustriert hatte sie sich freistellen lassen. Sie brauchte die Zeit, um sich über einiges klar zu werden. War sie als Lehrerin vielleicht zu emotional?

Und jetzt stürzte sie sich Hals über Kopf in den nächsten Konflikt. Sie hatte überhaupt kein Recht, sich in das Leben der Raffertys einzumischen. Aber wenn ein Kind um Hilfe rief, musste sie antworten. Und Gracie hatte um Hilfe gerufen.

Als die Ranch in Sicht kam, fuhr Jenny langsamer. Zur Linken erstreckte sich eine große Weide, auf der etwa ein Dutzend Rinder grasten. Zur Rechten stieg das Land sanft an und erstreckte sich in einem weitläufigen Weinberg, an dem sich schwere Rebstöcke aneinanderreihten. Die Frühlingssonne schien. Es war ein erhabener Anblick.

Jenny passierte eine große Scheune mit angrenzendem Gehege, bevor sie das Haupthaus sehen konnte. Es war ein zweistöckiges, mit Schindeln bedecktes Farmhaus. Die Fassade war in Grau gehalten, während die Fensterläden in einem leuchtenden Burgunderrot gestrichen waren.

Eine große, einladende Veranda nahm die ganze Frontseite ein. Die niedrigen Stufen führten auf eine Frühlingswiese, die von einem Lattenzaun eingefasst wurde.

Die Ranch wirkte sehr gepflegt.

Jenny lenkte den Wagen auf den kiesbestreuten Stellplatz neben dem Rasen und schaltete den Motor aus. Bevor sie die Tür öffnete, atmete sie tief ein und straffte die Schultern. Dann stieg sie aus und ging mit klopfendem Herzen auf das Haus zu.

Doch gerade, als sie die Hand nach der Klingel ausstrecken wollte, wurde die Tür geöffnet.

Ein stattlicher, in die Jahre gekommener Mann trat auf die Veranda. Er war groß und stämmig, hatte dichtes, schneeweißes Haar und ein breites Lächeln. „Na, junge Frau?“

Der Mann hatte einen starken irischen Akzent. Sein Lächeln war so einnehmend, dass Jenny ihn unwillkürlich ins Herz schloss. „Hallo, mein Name ist Jenny Collins. Ich würde gern mit Mr Rafferty sprechen.“

Der Mann nickte. Sein Grinsen wurde eine Spur breiter. „Und welcher von uns ist der Glückliche? Ich bin Sean“, sagte er mit einer leichten Verbeugung. „Oder suchen Sie einen meiner Söhne, Evan und Matthew?“

Oh. Jetzt war offensichtlich, woher Evan sein umwerfendes Aussehen hatte. Schade nur, dass er nicht auch den Charme seines Vaters geerbt hatte.

„Ich suche Evan.“ Sie fuhr sich nervös durchs Haar. „Ich würde gern mit ihm sprechen, wenn er nicht … allzu beschäftigt ist.“

„Er ist gerade nicht zu Hause. Warum kommen Sie nicht herein und trinken so lange eine Tasse Tee mit mir?“

Jenny zögerte. „Ich will Sie wirklich nicht stören. Ich kann auch hier auf der Veranda warten.“

Sean breitete die Arme aus. „Eine hübsche junge Frau wie Sie würde mir wirklich den Tag versüßen. Bitte kommen Sie doch herein.“

Jenny musste lächeln. „Vielen Dank. Das ist sehr freundlich.“

Sean führte sie durch den Flur und an einer wunderschönen Treppe mit kunstvoll verziertem Handlauf vorbei in den hinteren Teil des Hauses.

„Die Küche ist das Herz des Hauses. Bei den Raffertys spielt sich alles hier ab.“ Sean trat zur Seite und bot Jenny einen Platz an.

Sie sah sich um. Die Küche war geschmackvoll eingerichtet und mit allem erdenklichen Komfort ausgestattet. Ein besonderer Blickfang war die Arbeitsplatte aus Marmor.

Und dann der Duft: Er erinnerte Jenny an frische Kräuter, warmes Brot und feinen, schwarzen Tee. Dieser Duft war wie das Gefühl, nach Hause zu kommen.

„Sie haben ein wundervolles Haus, Mr Rafferty.“

Der Mann nahm eine Kanne aus dem Kühlschrank und schenkte Jenny ein Glas Eistee ein. „Sean“, verbesserte er.

„Nur, wenn Sie mich Jenny nennen“, gab sie lächelnd zurück.

Er nickte. „Außerdem ist das gar nicht mein Haus. Es gehört meinem Sohn Evan und seiner kleinen Tochter.“ Er wurde ernst. „Matthew und ich sind vor einem Jahr hier eingezogen, um Evan zu helfen, nachdem er seine Frau verloren hatte.“

Jenny sah den Kummer in seinen Augen. „Das tut mir sehr leid. Für Sie alle.“

„Danke. Es war wirklich eine harte Zeit für meinen Sohn und die Kleine.“ Nachdenklich sah er aus dem Fenster. „Naja, aber bisher haben wir das ganz gut hingekriegt.“ Er grinste. „Ich bin kein Rancher, das ist Evans Metier. Und neuerdings auch Matts.“

„Dann gehört Ihnen der Weinberg?“

Sean schüttelte den Kopf. „Nein, der gehört auch Evan. Ich bin hier nur der Koch. Und der Tellerwäscher.“

Jenny mochte diesen Mann. Ob Evan genauso gewesen war, bevor seine Frau gestorben war? „Sie sollten das nicht so herunterspielen, Sean. Ich habe das Gefühl, Sie tun weit mehr, um die Familie zusammenzuhalten.“

Sean hob die Braue. „Wissen Sie was? Ich mag Sie, Jenny. Wie lange leben Sie schon in Kerry Springs?“

„Vor zwei Jahren habe ich den Sommer über hier gearbeitet. Und vor einem Jahr war ich noch einmal zu Besuch. Jetzt bin ich zurückgekommen, um den Blind Stitch zu leiten, den Quilt Shop in der Main Street.“

„Ah, den Laden kenne ich. Er ist gegenüber von Rory’s Bar and Grill. An den Wochenenden arbeite ich immer dort.“

„Tatsächlich? Ich bin leider noch nicht dort gewesen.“

„Netter Laden. Ein bisschen Billard und Dart hier und da, freitags und samstags ein bisschen Tanzen. Sie sollten mal vorbeischauen.“ Er sah sie an. „Aber jetzt bin ich neugierig. Wie ist mein Sohn in einen Quilt Shop geraten?“

„Es geht um Gracie. Sie kam in den Laden und fragte mich, ob ich ihr dabei helfen könnte, nähen zu lernen.“

„Das überrascht mich gar nicht“, meinte Sean. „Sie spricht oft von dem Quilt ihrer Mutter.“

„Deswegen bin ich hier. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, sie in den nächsten Kurs aufzunehmen.“

Zum ersten Mal runzelte Sean zweifelnd die Stirn. „Na, dann viel Glück.“

„Daddy? Darf ich Carrie besuchen?“

Evan bog vom Highway ab und fuhr auf die Schotterstraße zur Triple R Ranch. Im Rückspiegel warf er Gracie einen flüchtigen Blick zu. „Nicht, wenn du am nächsten Morgen zur Schule musst.“

„Es ist ja nicht heute Abend. Aber Carrie gibt bald eine Party. Eine Pyjama-Party.“ Sie zögerte. „Alle meine Freundinnen werden hingehen. Ich möchte auch dabei sein.“

Evan missfiel der Gedanke. Er war noch nicht bereit, seine kleine Tochter allein aus dem Haus zu lassen. Fragend sah er Matt an, der auf dem Beifahrersitz saß.

Früher hätte sein Bruder nicht gezögert, seine Meinung zu äußern. Doch seit er aus Übersee zurückgekehrt war, hielt er sich ziemlich zurück. Er stürzte sich mit vollem Eifer in die Arbeit auf der Ranch und hatte sich in der Hütte hinter dem Haupthaus eingerichtet, das für gewöhnlich vom Vorarbeiter der Ranch bewohnt wurde.

Sein Vater dagegen war weniger zurückhaltend, wenn er fand, dass Evan seine Tochter aus übertriebener Vorsicht isolierte.

„Daddy, es ist eine Pyjama-Party“, wiederholte Gracie. „Carries große Schwester wird uns schminken und unsere Fußnägel lackieren.“

Evans Schultern verkrampften sich. Gracie war viel zu jung dafür. „Ich werde darüber nachdenken.“

Selbst Matt konnte sich nun nicht mehr beherrschen. „Hey, Evan, gib dir einen Ruck. Gracie braucht eben auch mal einen Mädelsabend.“

„Ich glaube nicht, dass ihr etwas fehlt, wenn ihre Fußnägel nicht lackiert sind“, grollte Evan.

„Woher willst du das wissen? Du bist kein kleines Mädchen. Und wir wollten schließlich auch typische Jungs-Sachen machen, als wir klein waren.“

Evan und Matt hatten keine sorgenfreie Kindheit erlebt – vor allem, nachdem ihre Mutter sie verlassen hatte. Sie waren sich sehr oft selbst überlassen gewesen. Doch auch wenn es schwierig war, ohne Mutter aufzuwachsen, hatten sie von ihrem Vater viel Liebe erfahren. Und das hatte vieles ausgeglichen.

„Richtig“, murrte Evan. „Und denk daran, wie oft uns das in Schwierigkeiten gebracht hat.“

Matt grinste. „Wir haben es überlebt, Evan. Kinder müssen eben ihre eigenen Erfahrungen machen und lernen, damit umzugehen.“

„Gracie musste im letzten Jahr schon genug durchmachen. Können wir es jetzt dabei bewenden lassen?“

„Warum? Nur weil du nicht damit umgehen kannst? Gracie hat jedenfalls kein Problem. Du bist derjenige, der nicht loslassen kann.“

In diesem Moment erblickte Evan das fremde Auto. Er parkte den Truck wie üblich hinter dem Haus und stieg aus. Schon von draußen konnte er Gelächter hören. Er zog die Küchentür auf – und erstarrte.

Jenny Collins saß am Küchentisch und sprach mit seinem Vater.

Sie trug dunkle Jeans, eine rote Bluse und eine kurze, schwarze Jacke. Die hohen Stiefel brachten ihre langen Beine zur Geltung. Das lange, blonde Haar fiel in weichen Wellen auf ihren Rücken.

Bei ihrem Anblick spürte Evan ein seltsames Kribbeln im Bauch.

„Oh, Mann“, murmelte Matt.

Sean wandte sich um. „Ah, da seid ihr ja.“

Jetzt drängte sich auch Gracie an Evan vorbei in die Küche. „Jenny!“, rief sie freudig, „schön, dass du uns besuchst!“

„Hallo, Gracie.“ Jenny lächelte. Dann warf sie Evan einen schnellen Blick zu. „Ich hoffe, das ist kein Problem.“

Evan nahm den Hut ab und hängte ihn an die Garderobe. Er sah nicht sonderlich begeistert aus. „Gracie, bring deine Bücher nach oben und zieh deine Sachen zum Spielen an.“

Für einen Moment sah es so aus, als wolle sie widersprechen, doch stattdessen ging sie zur Tür. „Geh nicht weg, Jenny!“, rief sie über die Schulter. „Ich bin gleich zurück. Ich will dir etwas zeigen.“

Jenny sah Evan herausfordernd an. Dann wandte sie sich an das kleine Mädchen: „Ich verspreche dir, nicht wegzugehen, bis du wiederkommst.“

Sie sahen Gracie nach. Doch bevor Evan das Wort ergreifen konnte, sagte Sean: „Jenny, das ist mein Sohn Matt.“

Jenny nickte dem Mann zu. Er sah aus wie Evan, nur dass er im Gegensatz zu seinem Bruder ein offenes, freundliches Lächeln zeigte. Außerdem hatte er einen Schlafzimmerblick, den er gekonnt einsetzte.

„Freut mich sehr, Jenny“, sagte er und ergriff ihre Hand. „Sie müssen neu in der Stadt sein, sonst wären Sie mir längst aufgefallen.“

Jenny lachte. „Freut mich auch, Matt. Ich bin tatsächlich neu in der Stadt. Ich habe gerade den Quilt Shop übernommen. Deswegen bin ich auch hier: Ich möchte Ihren Bruder überzeugen, dass Gracie viel Spaß an einem Nähkurs hätte.“

„Eine wunderbare Idee“, stimmte Matt zu.

Jetzt schaltete sich Evan ein: „Das ist überhaupt keine gute Idee. Ich habe keine Zeit, Gracie immer in die Stadt zu fahren.“

Noch gab Jenny nicht auf: „Ich bin sicher, dass wir dafür eine Lösung finden können, Mr Rafferty. Gracie hat mir erzählt, wie gern sie ihren Quilt fertig nähen würde.“

Evan runzelte die Stirn. „Ich habe keinen Quilt gesehen.“

Plötzlich hatte Jenny das Gefühl, ein Geheimnis verraten zu haben. „Vielleicht sollten Sie Ihre Tochter selbst danach fragen.“

„Das habe ich auch vor.“

Jenny wusste nicht, was sie jetzt tun sollte. Evan hatte ihr eine Abfuhr erteilt, aber sie konnte das Haus nicht verlassen, bevor sie Gracie noch einmal gesehen hatte.

Glücklicherweise griff Sean ein. „Gracie will Ihnen bestimmt ihr Projekt zeigen, Jenny. Und wir möchten, dass Sie mit uns zu Abend essen.“

Sie zögerte.

„Es gibt mein berühmtes Rinderragout“, sagte er augenzwinkernd.

Jenny spähte vorsichtig zu Evan. Sein abweisender Blick sagte mehr als deutlich, dass sie gehen sollte. Doch davon ließ sie sich nicht einschüchtern.

„Vielen Dank. Ich nehme die Einladung gern an.“

Dann hörten sie, wie Gracie die Treppe hinunterstürmte. Atemlos kam sie in die Küche gerannt. „Du bist noch da!“

Jenny strich der Kleinen über den Kopf. „Natürlich, das habe ich dir doch versprochen.“

„Und sie bleibt zum Abendessen“, warf Sean ein. „Warum zeigst du ihr nicht, wo sie sich die Hände waschen kann?“

Gracies Augen leuchteten vor Freude. „Willst du auch mein Zimmer sehen?“

„Sehr gern.“ Jenny erhob sich und streckte den Arm aus. Ohne zu zögern nahm Gracie ihre Hand und zog sie aus der Küche.

Als sie außer Hörweite waren, wandte sich Evan wütend an seinen Vater. „Was zum Teufel tust du da?“

„Das nennt man Gastfreundschaft“, erwiderte Sean. „Etwas, das dir neuerdings wohl fremd ist. Es wird wirklich Zeit, dass du mal wieder aus der Höhle herauskommst, in die du dich vergraben hast. Vielleicht ist es das, was du willst – aber deine Tochter braucht mehr.“

Matt stieß ihm spielerisch den Ellenbogen in die Seite. „Genau, Kumpel. Und das ist eine verdammt hübsche Lady. Wenn Dad sie nicht eingeladen hätte, dann hätte ich es getan.“

Sean hob die Hand. „Immer schön langsam, Matt. Jenny ist schließlich wegen Gracie hier. Sogar sie hat erkannt, dass das Kind mehr braucht. Siehst du“, sagte er und sah Evan an. „So schnell steht die Hilfe vor der Tür.“

Evan gefiel nicht, dass sich jeder um ihn herum in sein Leben einmischen wollte. Er wollte in Ruhe gelassen werden.

Sein Vater wurde ernst. „Der Kleinen würde ein bisschen weibliche Gesellschaft guttun. Also, mein Sohn: Betrachte dieses Geschenk nicht, als sei es ein Fluch.“

Jenny sah sich um. Die Wände in Gracies kleinem Zimmer waren in einem freundlichen Sonnengelb und Lavendelblau gestrichen. Der Holzfußboden war mit einem weichen Läufer bedeckt, und in einem Wandregal reihten sich mehrere Puppen. Auf dem Bett lag eine bunte Flickendecke.

„Meine Mutter hat sie mir zum Geburtstag genäht, als ich sechs wurde.“

Jenny begutachtete den Quilt mit dem hübschen Herzchen-Muster. Auf jedem einzelnen Stoffquadrat prangte ein pinkfarbenes Herz in einer aufwendigen Umrahmung, und in die Borten waren unzählige kleine Schleifchen eingenäht. Es war eine ausgezeichnete Arbeit. „Die ist wirklich hübsch“, sagte Jenny. „Deine Mutter war sehr geschickt.“

Gracie lächelte. „Sie hat noch viel mehr gemacht.“ Sie gab Jenny ein Zeichen, ihr zu folgen. Am Ende des Flures öffnete sie eine Tür, die in ein weiteres Schlafzimmer führte.

In dem Moment, in dem sie eintrat, wusste Jenny, dass sie sich in Evans Schlafzimmer befand. Sie durfte nicht hier sein. Und doch konnte sie nicht anders. Auf dem großen Himmelbett lag eine marineblaue Tagesdecke.

Gracie ging zielstrebig auf eine Zedernholztruhe am Fußende des Bettes zu. „Sie sind alle hier drin. Daddy hat sie weggeräumt, nachdem Mommy … gestorben ist.“

Jenny fühlte sich wie ein Eindringling. „Vielleicht sollten wir die uns ein andermal ansehen.“ Sie sah sich rasch im Raum um. Auf der Kommode befanden sich mehrere gerahmte Familienfotos. Evan sah auf den Bildern jünger und unbeschwerter aus. Neben ihm stand eine dunkelhaarige Frau, die ein Kleinkind in den Armen hielt: Gracie.

Sie wirkten wie eine perfekte, kleine Familie.

Jenny wandte sich rasch ab. „Ich will nicht, dass wir Ärger bekommen, Gracie.“

Die Kleine zog mit aller Kraft am Deckel der Truhe. „Aber mein Quilt ist da drin“, sagte sie verzweifelt. „Er gehört mir.“

Das ließ Jenny keine Wahl. Sie half der Kleinen, die schwere Truhe zu öffnen und die Schätze herauszunehmen. Wunderschöne Decken kamen zum Vorschein. Ganz oben lag, sorgfältig gefaltet und mit einem Band zusammengehalten, ein blauer Quilt mit einem hübschen, roten Schleifenmuster. Die Verzierungen waren so akkurat, als hätte man sie mit Lineal und Zirkel gemacht.

„Schau, hier ist er!“, rief Gracie aufgeregt. Sie nahm den Quilt aus dem Plastiküberzug und breitete ihn vorsichtig auf dem großen Bett aus. Ein aufwendiges Muster aus verschlungenen Eheringen zierte die untere Hälfte.

„Mommy und ich haben die Farben zusammen ausgesucht“, sagte Gracie leise. „Aber sie konnte ihn nicht mehr fertignähen. Sie musste die ganze Zeit im Bett bleiben.“ Gracie sah Jenny mit großen, traurigen Augen an.

Diesem Blick konnte Jenny nicht widerstehen. Sie setzte sich auf das Bett und hob die Kleine behutsam auf ihren Schoß.

Gracie lehnte den Kopf an Jennys Schulter. „Ich konnte sie nicht mehr so oft sehen, weil sie immer geschlafen hat.“

Jenny hatte keinen Zweifel daran, dass Megan bis zum Schluss gekämpft hatte, um für ihre Tochter da zu sein. „Deine Mommy hätte sicher alles gegeben, um mehr Zeit mit dir zu verbringen. Aber die Krankheit war stärker. Und trotzdem hat sie noch die Kraft aufgebracht, dir so einen schönen Quilt zu machen.“

Gracie sah zu ihr auf. Tränen liefen über ihre Wangen. „Das hat sie auch gesagt. Als ich mich von ihr verabschiedet habe, hat sie gesagt, dass ich den Quilt fertig machen soll. Und ich hab’s ihr versprochen. Ich muss das machen.“

Evan stand im Flur vor der halb geöffneten Schlafzimmertür.

Das hier war immer Megans Reich gewesen. Sie hatte den Raum eingerichtet und dekoriert, alles in dem Versuch, einen perfekten Rückzugsort zu schaffen. So sah es auch aus – zumindest für einen Außenstehenden.

Doch für Evan war es nie eine Zuflucht gewesen. Heute weniger denn je, denn heute nagten die Schuldgefühle an ihm, sobald er auch nur an Megan dachte. Er hatte seine Frau enttäuscht. Und jetzt enttäuschte er seine Tochter.

Und nun, da er mit ansah, wie sich seine Tochter einer völlig Fremden öffnete, fühlte er noch einen weiteren Schmerz. Gracie wandte sich nie an ihn, um sich von ihm trösten zu lassen.

Als Jenny plötzlich aufsah und sich ihre Blicke begegneten, war er es, der sich wie ein Eindringling fühlte. Erschrocken hielt sie den Atem an. Behutsam wischte sie eine Träne von Gracies Wange. „Was hat dir deine Mommy noch gesagt?“

Gracie überlegte. „Dass ich ein braves Mädchen sein soll. Und dass ich Daddy helfen soll, weil er ganz allein sein wird.“ Ihre blauen Augen glänzten vor Tränen.

Evans Augen, dachte Jenny unwillkürlich.

„Ich weiß aber nicht, wie.“

Jenny schluckte. „Alles braucht seine Zeit. Vielleicht solltet ihr alle schönen Momente gemeinsam erleben. Und ihr solltet euch Geschichten über deine Mommy erzählen, sodass du dich immer an sie erinnern wirst.“

Gracie lächelte. „Ich kann ihm erzählen, wie viel Spaß es gemacht hat, Mommy beim Nähen zu helfen. Vielleicht lässt er mich dann in deinen Kurs gehen.“ Sie schlang die Arme um Jennys Hüfte. „Ich bin so froh, dass du hergekommen bist.“

Jenny blinzelte die Tränen aus den Augen. Vorsichtig spähte sie in den Flur. Sie konnte Evan ansehen, dass die Worte seiner Tochter auch sein Herz berührt hatten.

Aber das war nicht alles.

Ihre Blicke trafen sich.

Zum ersten Mal wurde Jenny seine männliche Ausstrahlung bewusst. Darunter verborgen lag eine Trauer, die sie nur allzu gut kannte. Die Einsamkeit, die schon so lange an ihr nagte.

Und plötzlich wurde ihr klar, dass sie sich keinem der Raffertys entziehen konnte.

3. KAPITEL

Eine Stunde später saß Evan am Küchentisch und starrte nachdenklich in sein Weinglas. Es fiel ihm schwer, in das Lachen mit einzustimmen. Unauffällig beobachtete er Gracie und Jenny.

Es ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, wie sich die beiden im Schlafzimmer unterhalten hatten. Diese Frau hatte so schnell einen Zugang zu seiner Tochter gefunden, dass er fast neidisch wurde.

Dann sah Evan zu Matt. Auch dieser schien völlig vernarrt in die junge Frau zu sein. Sein Bruder war kaum wiederzuerkennen. Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr erinnerte er Evan wieder an den fröhlichen, sorglosen Mann von früher.

Evan begann sich für Jenny zu interessieren.

Aber war das verwunderlich? Schließlich war er seit langer Zeit mit keiner Frau mehr zusammen gewesen. Selbst Monate vor ­Megans Erkrankung war er ihr nicht mehr nahegekommen. Ihr Verhältnis war alles andere als innig gewesen.

Es war also wenig überraschend, dass eine hübsche junge Frau seine Fantasie beflügelte.

Evan trank einen Schluck Wein. Er genoss den Geschmack und empfand Stolz, dass der Wein aus seinen eigenen Trauben gekeltert war. Der Wein aus der roten Zinfandeltraube entfaltete einen wunderbaren Geschmack von Erdbeer- und Himbeernuancen, in die sich der dunkle Ton der Eiche mischte.

In diesem Moment wandte sich sein Vater leise an ihn. „Sieh sie dir an.“ Er wies mit einer Kopfbewegung zu Jenny und Gracie. „Die beiden gehen so selbstverständlich miteinander um, als würden sie sich schon ewig kennen. Es ist eine Freude, ihnen zuzusehen.“

Evan wusste, wie sehr Gracie ihre Mutter vermisste. Er hasste ihren traurigen Blick und ihr nächtliches Schluchzen. Und noch viel mehr hasste er seine Hilflosigkeit. Gracie und Megan waren sich sehr nahe gewesen.

Er musterte Jenny. Auch sie hatte diese natürliche, liebevolle Art, mit Kindern umzugehen. Und mit seiner Familie. Aber Evan brauchte keine hübsche Frau in seinem Leben – er musste dafür sorgen, dass Gracie nicht noch einmal im Stich gelassen wurde. „Gracie, es wird langsam Zeit für dich, ins Bett zu gehen.“

Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte die Kleine protestieren, doch dann stand sie artig auf. „Jenny, sagst du mir gute Nacht, nachdem ich mich gewaschen habe?“

Jenny warf Evan einen flüchtigen Blick zu. „Sicher. Ich helfe hier schnell aufräumen, dann komme ich zu dir rauf.“

Gracie huschte zufrieden die Treppe hinauf.

Sean wandte sich an Evan. „Warum zeigst du unserem Gast nicht deinen Weinberg? Es ist noch hell genug für eine kleine Tour.“ Er sah Jenny an und blinzelte verschwörerisch, als wollte er sagen: Du wolltest mit Evan sprechen, das ist die Gelegenheit.

Zerknirscht zuckte Evan die Schultern, nahm seinen Hut von der Garderobe und winkte Jenny, ihm zu folgen.

Jenny spürte, wie wenig ihm der Gedanke gefiel. Das ärgerte sie. Sie war es gewohnt, von anderen Menschen gemocht zu werden – außer von ihren Stiefbrüdern. „Sie müssen das nicht tun, Mr Rafferty.“

„Evan“, sagte er knapp und deutete auf einen kleinen Golfwagen. „Nenn mich Evan.“

Sie nickte und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

Schweigend fuhren sie an der Scheune vorbei und auf einen holprigen Pfad, der hinauf in den Weinberg führte. Es war ein wundervoller Frühlingsabend. Eine friedliche Stille herrschte auf dem Berg.

Nach etwa einer halben Meile hielt Evan an und stieg aus. Jenny hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

Die Abendsonne tauchte die Weinstöcke in ein sanftes, rotgoldenes Licht.

„Na schön, Evan. Eine Führung ist wirklich nicht nötig. Ich bin nur gekommen, um mit dir über Gracie zu reden. Ich hatte nie vor, mich selbst zum Essen einzuladen und deine kostbare Zeit zu stehlen.“

Er blieb so abrupt stehen, dass sie fast gegen seinen Rücken gestolpert wäre. Sie geriet ins Straucheln.

Unwillkürlich streckte Evan die Hand aus und umfasste ihren Oberarm.

Ein Schauer rann durch ihren Körper. Sie hob den Kopf.

Ihre Blicke trafen sich.

Jenny wagte kaum zu atmen.

Evans Blick streifte ihren Mund. Dann schüttelte er unmerklich den Kopf und ließ sie so plötzlich los, als habe er sich an ihr verbrannt.

Fluchend wandte er sich ab und sah hinab ins Tal. „Ich weiß, wie unhöflich ich mich in deinem Laden verhalten habe. Ich habe keine Entschuldigung dafür – außer, dass ich wegen Gracie besorgt war.“

Bei der Erinnerung an den Schrecken, den ihm Gracies plötzliches Verschwinden eingejagt hatte, verzog er schmerzhaft das Gesicht.

„Das ist doch verständlich“, räumte Jenny ein. „Sie hätte nicht einfach weglaufen dürfen.“

„Manchmal habe ich das Gefühl, dass sie immer weniger Zeit mit mir verbringen will.“

„Sie wird eben älter“, sagte Jenny tröstend. Der Schmerz in seinem Gesicht versetzte ihr einen Stich ins Herz. „Aber es ist offensichtlich, dass sie dich anhimmelt.“

Er straffte sich. „Das glaube ich kaum. Es fällt uns beiden schwer, einander näherzukommen. Gracie und ihre Mutter standen sich dagegen immer sehr nahe.“

„Das muss sehr hart sein. Für euch beide.“

„Ich komme schon zurecht.“

Langsam schlenderten sie an den langen Reihen der Weinreben vorbei zum Hügelkamm hinauf.

„Du hast Glück, dass du Sean und Matt hast, die dir helfen“, sagte Jenny nachdenklich. Sie hatte so etwas in ihrer Familie nie erlebt.

Evan musterte sie prüfend von der Seite. Was dachte sie wohl über Matt? Sein Bruder war immer schon aufgeschlossener gewesen. Vor allem, wenn es um Frauen ging. Ob sie sich von ihm angezogen fühlte?

Na und? Evan wollte schließlich keine Beziehung. Bisher hatte er nur Enttäuschungen erlebt.

Mittlerweile hatten sie den Hügelkamm erreicht. Zur anderen Seite fiel der Berg sanft ab. Evans Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als er das verlassene Gebäude dort unten auf der Lichtung sah. Es war nie fertiggestellt worden und wirkte wie ein riesiges, hölzernes Skelett. Vor zwei Jahren hatte er das Projekt aufgeben müssen – und zugleich seine zukünftigen Träume begraben.

Evan drehte sich um und wollte Jenny zurück zum Golfwagen führen, doch sie hatte das Gebäude bereits gesehen. „Was ist das?“

„Das sollte die Kelterei werden.“

„Oh, dann willst du also expandieren?“

„Nicht mehr“, gab er zurück und wandte sich ab.

Sie nickte. „Seit wann gehört dir der Weinberg?“

„Das Land gehörte der Familie meiner Frau, den Kerchers. Damals haben sich viele Deutsche hier in der Gegend angesiedelt, und meine Schwiegereltern haben die Trauben gepflanzt. Vor ungefähr sechs Jahren, nachdem beide gestorben waren, hat Megan alles geerbt. Daraufhin haben wir die Anbaufläche noch vergrößert.“

„Also wurdet ihr von einem Tag auf den anderen Weinbauern.“

„Nicht direkt. Meg war schon Kellermeisterin, als wir uns kennenlernten. Sie hat ihren Abschluss an der Cal Poly gemacht, einer bekannten Fachhochschule in Kalifornien. Ich dagegen bin nichts weiter als ein gewöhnlicher Cowboy.“

Jenny musterte ihn scharf. „Das wage ich zu bezweifeln. Ich wette, du kennst jede einzelne Traube auf diesem Land.“

Ihre Worte sandten ein angenehmes Prickeln über Evans Haut. Schnell sah er in die andere Richtung. „Ich dachte, du wolltest über Gracie sprechen.“

Sie nickte. „Ja, natürlich. Ich würde deine Tochter gern in meinen Nähkurs aufnehmen.“

Er hob die Hand, doch bevor er etwas erwidern konnte, sagte Jenny schnell: „Sie möchte doch nur den Quilt fertigstellen, den ihre Mutter für sie gemacht hat.“

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist“, sagte er abweisend.

Jenny versuchte, ruhig zu bleiben. „Aber für Gracie ist es wichtig. Sie musste so viel durchmachen. Den Quilt zu nähen wäre eine gute Gelegenheit, ihren Verlust zu verarbeiten.“

Evan blieb stehen und sah sie an. Seine saphirblauen Augen brachten sie für einen Moment aus der Fassung. „Und wie soll das gehen?“

Dieser Mann würde sie noch in den Wahnsinn treiben. „Ganz einfach. In den vergangenen anderthalb Jahren hat Gracie in einem reinen Männerhaushalt gelebt. Aber für ein kleines Mädchen ist es wichtig, sich auch mal mit anderen Frauen und Mädchen auszutauschen.“

„Bist du Therapeutin oder so etwas?“

„Nein. Aber schließlich ist deine Tochter auf mich zugekommen. Außerdem musste ich mich gegen drei Stiefbrüder durchsetzen, die mir das Leben zur Hölle gemacht haben – mit einer Mutter, die zu beschäftigt war, um mich zu bemerken.“

Verdammt. Warum war ihr das jetzt herausgerutscht?

Verwundert runzelte Evan die Stirn, doch Jenny gab ihm keine Gelegenheit, nachzufragen. „Ich kenne dich nicht und habe kein Recht, mich in dein Leben einzumischen. Aber ich erkenne, wenn ein Kind um Hilfe ruft.“

„Richtig, du kennst mich nicht. Und du hast keine Ahnung, wie schwer es war, hier alles am Laufen zu halten und gleichzeitig ein Kind zu erziehen.“

Sie holte tief Luft. Hör auf, an deine eigene verkorkste Kindheit zu denken. Hör auf, an Todd zu denken. „Wir sollten zurückgehen. Ich habe Gracie versprochen, ihr Gute Nacht zu sagen.“

Sie drehte sich um, doch Evan hielt sie noch einmal zurück. „Verdammt, Jenny. Ich bin kein so großer Bastard, wie du jetzt vielleicht denkst.“

„Das habe ich nie gesagt.“ Sie schloss für einen Moment die Augen. „Ich hätte nicht herkommen sollen.“ Schon wieder hatte sie sich in fremde Angelegenheiten eingemischt.

„Tja, nun ist es zu spät“, murmelte Evan, als er in den Golfwagen stieg.

Schweigend fuhren sie zurück zum Haus. In der Küche dankte sie Sean noch einmal für die Einladung zum Essen. Zum Abschied zog er Jenny in seine kräftigen Arme und drückte sie an sich.

Jenny genoss seine väterliche Art. Mühsam unterdrückte sie die Tränen, die ihr plötzlich in die Augen stiegen.

Auch Matt zog sie in seine Arme. „Es war mir eine Ehre, dich kennenzulernen, Jenny. Lass dich bloß nicht von meinem Bruder verscheuchen.“

Evan hätte seinen Bruder am liebsten geohrfeigt. Er sah Jenny nach, wie sie die Treppe zu Gracies Zimmer hinaufstieg. Wohlweislich blieb er unten im Flur stehen. Gracie hätte es sicher nicht gefallen, wenn er sich eingemischt hätte.

Matt sah ihr ebenfalls nach. „Sie ist hübsch. Also genau mein Typ.“

„Hey, sie ist Gracies Freundin“, erwiderte Evan ärgerlich. „Nicht deine nächste Eroberung.“

Seit frühester Jugend an hatte sich Matt in der Stadt einen Ruf als Frauenheld gemacht. „Höre ich da etwa Eifersucht?“ Matt schlug seinem Bruder kameradschaftlich auf die Schulter. „Schön, dass du wieder im Rennen bist, Kumpel.“

Jenny öffnete leise die Tür. Gracie saß in ihrem Bett und betrachtete ein Bilderbuch. Als sie Jenny bemerkte, strahlte sie. „Setz dich zu mir, Jenny.“

„Okay. Aber nur für einen Moment.“

„Ist Daddy wütend geworden, weil du mich in deinen Nähkurs holen willst?“

Jenny setzte sich auf die Bettkante und streichelte über Gracies Haar. „Aber nein. Dein Dad und ich haben uns nur ein bisschen unterhalten.“

„Wie fühlst du dich, wenn du dir die Sachen deiner Mutter ansiehst?“

„Ein bisschen traurig. Aber auch glücklich.“ Gracie blickte zu Boden. „Ich wünschte … ich könnte mit ihr reden.“

„Ja, das ist schwer. Aber du kannst noch immer mit ihr reden, weißt du? Deine Mutter wird immer über dich wachen und dir zuhören.“

Gracie nickte. „Ja, Grandpa Sean sagt das auch immer. Mommy ist im Himmel.“

„Richtig. Sie kann dir vielleicht nicht antworten, aber sie hört dir zu. Du solltest ihr alles sagen, wenn du dich dadurch besser fühlst.“

Gracie hob den Kopf. Dann holte sie tief Luft und sah zur Decke. „Mommy? Mommy, ich will den Quilt nähen, aber Daddy will das nicht. Er sagt, ich bin zu klein dafür. Ich glaube, er ist traurig, weil du gegangen bist.“

Jenny zwang sich zu einem Lächeln. „Nur erzähl deiner Mommy etwas, das dich glücklich macht.“

„Ich habe eine Eins im Diktat bekommen. Und noch was …“ Gracie sah aus dem Fenster. „Ich würde gern zu Carries Pyjama-Party gehen, aber Daddy denkt, ich sei noch zu klein.“ Dann sah sie Jenny direkt an. „Kannst du ihn nicht fragen, ob ich gehen darf?“

Oh. Das hatte Gracie also im Sinn. „Das ist eine Sache zwischen dir und deinem Vater.“

„Aber ich muss da hin! Sonst halten mich alle für ein Baby.“ Gracie begann zu schluchzen. „Ich werde überhaupt keine Freunde mehr haben.“

„Aber nein, Gracie. Wahre Freunde halten zu dir.“

In diesem Moment trat Evan ins Kinderzimmer. Wahrscheinlich hatte er Gracies Schluchzen gehört.

„Was ist los?“

Gracie vergrub das Gesicht an Jennys Bluse. „Gar nichts.“

Gar nichts hätte dich bestimmt nicht zum Weinen gebracht.“ Evan warf Jenny einen seltsamen Blick zu. „Wenn du es mir erzählst, finde ich vielleicht eine Lösung.“

„Ich will zu Carries Pyjama-Party.“

Das hatte er kommen sehen. „Du bist ein bisschen zu jung dafür, Gracie.“

„Aber sie ist meine beste Freundin, und alle anderen gehen auch.“

Jetzt schaltete sich Jenny ein. „Beste Freunde sich wichtig. Hattest du keine, als du jünger warst, Evan?“

Er ignorierte sie. „Du kannst deine Freunde zu uns nach Hause einladen.“

„Wirklich?“ Gracie machte große Augen.

Evan nickte erleichtert. „Natürlich.“

„Oh! Ich bekomme meine eigene Pyjama-Party!“

So hatte Evan das nicht gemeint. „Ich weiß nicht, ob deine Freundinnen hier übernachten sollten, Gracie. Die anderen Mütter finden es vielleicht komisch, weil hier keine Frau im Haus wohnt.“

Gracie dachte einen Augenblick nach. Dann begann sie zu strahlen. „Was ist mit Jenny?“

Jenny zuckte zusammen. „Ich weiß nicht, ob das deinem Dad recht ist.“

Doch Evan beschloss, sich auf das Spiel einzulassen. „Warum nicht? Du könntest alles organisieren, was … kleine Mädchen eben gern so tun. Ich wette, du könntest viele der Mädels für deinen Nähkurs gewinnen. Vielleicht könntet ihr sogar an Gracies Quilt arbeiten.“

„Aber Daddy!“ Gracie schüttelte entschieden den Kopf. „Das macht man doch nicht bei einer Pyjama-Party! Da schminkt man sich und macht sich schöne Frisuren, und dann lackiert man sich die Fußnägel. Und wir bleiben die ganze Nacht auf und sehen Videos.“

„Hört sich … toll an.“ Er räusperte sich. „Aber es sollte trotzdem eine Erwachsene dabei sein.“

Natürlich war das verrückt. Noch vor wenigen Minuten wollte er diese Frau aus seinem Leben vertreiben. Doch er war verzweifelt. Und ratlos. Es gab nun einmal Dinge, die Gracie brauchte – und von denen er nicht die geringste Ahnung hatte. „Natürlich nur, wenn Jenny einverstanden ist“, sagte er.

Jenny drehte sich zu ihm um. „Du hältst dich für wohl für sehr gerissen, was?“

Dann wandte sie sich wieder an Gracie und lächelte. „Ich glaube, das müssen dein Daddy und ich erst mal besprechen. Allein.“ Sie beugte sich über das Bett und gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn. „Schlaf schön.“

„Okay. Gute Nacht, Jenny. Gute Nacht, Daddy.“

Evan gab ihr einen flüchtigen Kuss, deckte sie zu und löschte das Licht. Dann folgte er Jenny.

Sie war bereits die Treppe hinuntergegangen und griff nach ihrer Tasche. Erst auf der Veranda gelang es Evan, sie einzuholen.

„Was ist hier eigentlich los? Du kommst hierher, tust alles, um in Gracies Leben einzugreifen, und sobald sie anhänglich wird, bekommst du kalte Füße.“

„Das ist nicht wahr. Ich kann es nur nicht leiden, wenn Männer voreingenommen sind. Ich wette, wenn du einen Sohn hättest, würdest du ihm sofort erlauben, über Nacht bei seinen Freunden zu bleiben.“

Er zögerte. „Mag sein.“

„Siehst du.“ Sie sah ihn triumphierend an. „Ich habe das schon so oft gehört, dass ich schreien könnte. Und weißt du was? Wenn es darum ginge, dass dein Sohn jede Woche zum Baseballspielen geht, würdest du es ihm auch erlauben. Was für ihn Baseballspielen wäre, ist für Gracie eben der Nähkurs. Erlaub es ihr einfach. Du wirst es sicher nicht bereuen.“

Plötzlich kam Evan sich sehr dumm vor. „Na gut. Gracie wird nächsten Samstag da sein.“

Sie lächelte ihn an. „Nur keine Angst, Evan. Das wird schon nicht wehtun.“

Da war es wieder, das seltsame Ziehen in seinem Bauch. Jedenfalls hatte sie in diesem Punkt unrecht: Es würde wehtun.

4. KAPITEL

Am folgenden Samstagnachmittag stand Jenny inmitten einer plappernden und kichernden Gruppe kleiner Mädchen und fragte sich, ob der Kurs tatsächlich eine so gute Idee war.

Alle Mädchen waren im Alter zwischen acht und zwölf Jahren und schienen zunächst alles andere als Nähen im Kopf zu haben. Jenny war froh, dass sie zumindest die Unterstützung der Mütter und ihrer Freunde hatte, um die Gruppe zu bändigen.

Gerade, als Jenny um Ruhe bitten wollte, kam Allison herein. Ihre Freundin sah sich staunend um und nickte anerkennend. „Unglaublich, was du aus dem Laden gemacht hast.“ Sie betrachtete die Wandregale und den offenen Schrank mit den Namensschildchen für die Schülerinnen.

„Ohne Millie hätte ich das gar nicht geschafft.“ Jenny deutete auf den großen, runden Tisch. „Und hier siehst du Quilter’s Corner.“

Allison strahlte. „Du bist toll, Jenny. Ich hätte mir keine bessere Managerin für meinen Laden wünschen können. Wurde Quilter’s Corner denn schon genutzt?“

Jenny nickte. „Ja. Gestern haben Millie und ihre Freundinnen hier Kaffee getrunken und Schnittmuster ausgetauscht.“

„Schön. Wer weiß, wie sich das Ganze noch entwickelt.“

„Zum Guten, hoffe ich. Und jetzt wird es Zeit, loszulegen.“ Plötzlich wurde es still.

„Hallo, Mädels“, sagte Jenny freundlich. „Und willkommen, liebe Mütter. Schön, dass ihr alle gekommen seid.“

Beim Anblick der vielen erwartungsvollen Gesichter musste Jenny an ihre Schüler in San Antonio denken, die sie verlassen hatte. „Heute werden wir vielleicht noch nicht zum Nähen kommen, aber zum Zuschneiden.“

Während die einzelnen Teams mit der Arbeit begannen, ging Jenny von Platz zu Platz und wechselte mit jedem ein paar Worte.

Insgesamt waren es zehn Paare. Jenny freute sich, die Schulleiterin Lillian Perry und ihre Tochter Kasey zu sehen. Sie waren zusammen mit ihrer Großmutter, Millies guter Freundin Beth Staley, erschienen.

Auch Allisons Tochter Cherry war gekommen. Jenny war erleichtert, weil sie mit Allison eine Expertin im Quilt-Nähen an ihrer Seite hatte.

Allerdings stellte Jenny enttäuscht fest, dass Gracie sich nicht unter den Mädchen befand. Evan hatte also nicht Wort gehalten.

„Ich weiß, du willst immer allen helfen“, versuchte Allison sie zu trösten, „aber es gibt eben auch Menschen, die keine Hilfe wollen.“

In diesem Moment stürmte Gracie in den Raum. „Bin ich zu spät?“, fragte sie atemlos.

„Aber nein“, versicherte Jenny und deutete auf einen freien Platz. „Du kannst hier sitzen.“

Strahlend nahm das kleine Mädchen neben Allisons Tochter Cherry Platz.

Evan Rafferty erschien im Türrahmen. In den zerschlissenen Jeans, dem blauen T-Shirt und den staubigen Stiefeln sah er umwerfend aus.

Das schien auch den anderen Frauen im Raum nicht entgangen zu sein.

Evan kam herein und drückte Jenny eine große Einkaufstasche in die Hand. „Das wird sie brauchen.“

Wie erwartet fand Jenny darin den Quilt von Gracies Mutter. „Danke, dass du Gracie erlaubst, an meinem Kurs teilzunehmen.“

„Ich habe mein Wort gehalten, Jenny. Ich hoffe, du wirst auch deins halten und Gracie nicht enttäuschen.

„Natürlich nicht.“ Jenny warf einen Blick zurück in den Werkraum und sah zu, wie Millie gerade Gracie half, den Quilt auf der Arbeitsfläche auszubreiten. „Sieh nur“, sagte sie lächelnd, „wie glücklich sie wirkt. Sie braucht eben Freundinnen, nicht nur ein Haus voller Männer. Und sie scheint wild entschlossen zu sein, ihr Projekt erfolgreich zu beenden.“

„In manchen Dingen ist sie ihrer Mutter ziemlich ähnlich“, sagte Evan nachdenklich. Seit dem Tag, an dem er von Megans Krankheit erfahren hatte, hatte er sich hilflos gefühlt. Am schlimmsten war, dass er seine Tochter nicht vor dem Verlust ihrer Mutter bewahren konnte. Seitdem hatte er Gracie vor allem beschützen wollen – doch nun hatte er das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben.

Er betrachtete Jenny. Diese Frau hatte ihn die ganze Woche über beschäftigt. Sie hatte das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst und trug ein gelbes Stricktop über einem langen Rock, der bei jedem Schritt sanft um ihre Hüften schwang. „Gracie hat die ganze Woche lang nur von dir und der Pyjama-Party geredet“, sagte er. „Wenn du also keine Zeit haben solltest, lass es mich gleich wissen.“

Seine direkte Art überraschte Jenny, doch sie fing sich schnell wieder und sah ihn herausfordernd an. „Bist du denn bereit für ein halbes Dutzend kleiner Mädchen und mich?“

Nein. Absolut nicht. „Ich werde es versuchen.“

„Sehr gut. Um drei Uhr kannst du Gracie wieder abholen.“

Evan nickte, verabschiedete sich von Gracie und ging hinaus.

Jenny sah ihm nach. Dem Mann schien nicht einmal aufzufallen, wie er die Blicke der Frauen auf sich zog.

Allison erschien an Jennys Seite. „Okay, was geht da vor? Erzähl mir alles!“

Jenny fühlte sich ertappt. „Da gibt es nichts zu erzählen. Evan wollte nur wissen, wann er Gracie wieder abholen kann.“

Allison verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich spreche von den Funken, die da zwischen euch geflogen sind.“

Jenny schüttelte den Kopf. „Unsinn. Ich kenne ihn ja kaum. Außerdem lasse ich mich nicht noch einmal mit einem Cowboy ein.“

Vor zwei Jahren hätte sie fast alles aufgegeben, um mit dem Vorarbeiter der Casalis Ranch zusammen zu sein.

„Brian war nicht der Richtige für dich.“ Allisons grüne Augen funkelten. „Aber mit jemandem wie Evan Rafferty könnte ich mir dich gut vorstellen. Er sieht gut aus. Und er hat dieses entzückende kleine Mädchen. Außerdem ist er ganz offensichtlich an dir interessiert.“

Jenny wusste, dass das nicht stimmte. „Wie kommst du überhaupt dazu, anderen Männern nachzusehen, Allison?“

Allison lachte. „Ich bin mit einem heißen Italiener verheiratet. Da erkenne ich sofort, wenn sich Menschen zueinander hingezogen fühlen.“

Jenny senkte die Stimme. „Zwischen mir und Rafferty ist gar nichts – und da wird auch nichts sein. Der Mann ist erst vor Kurzem Witwer geworden. Und außerdem“, sagte sie nachdrücklich, „gehe ich bald zurück nach San Antonio.“

Allison wurde ernst. „Ich hatte gehofft, du würdest es dir noch einmal überlegen und hierbleiben. Vielleicht schafft es ja doch noch ein toller Mann, dich zu halten.“

Vor einigen Jahren hatte Allison ihren Mann Alex Casali kennengelernt. Mit ihm hatte sie das große Los gezogen. Er war in der dunkelsten Stunde ihres Lebens aufgetaucht und hatte sie praktisch gerettet, nachdem ihre Tochter einen furchtbaren Unfall erlitten und Allison fast alles an ihren Exmann verloren hatte.

Für Allison hatte alles ein gutes Ende genommen – fast wie in einem Märchen.

Der gut aussehende, vermögende Rancher hatte sich unsterblich in die alleinerziehende Mutter verliebt. Und kurze Zeit nach der Heirat hatte Allison entzückende Zwillinge zur Welt gebracht, um das Glück vollkommen zu machen.

Insgeheim wünschte Jenny sich dasselbe. Mit zweiunddreißig Jahren fühlte sie sich bereit, eine Familie zu gründen. Doch langsam wurde ihr klar, dass ihr Traum womöglich niemals in Erfüllung gehen würde.

Die Zeit verging wie im Flug. Am Ende des Kurses war Jenny zwar erschöpft, doch die Begeisterung der Mädchen war so ansteckend, dass sie gern noch länger mit ihnen gearbeitet hätte.

Nur gut, dass ihr Expertinnen zur Seite standen, die die vielen Fragen der Mädchen beantworten konnten. Doch eines bereitete Jenny Sorgen. Das Ehering-Muster auf Gracies Quilt war sogar für sie fast zu kompliziert.

Während die Mädchen ihre Arbeitsplätze aufräumten, sah Jenny, wie Gracie und Cherry die Köpfe zusammensteckten und kicherten.

Cherry wandte sich an ihre Mutter: „Mommy, darf Gracie morgen mit uns reiten gehen?“

Allison zögerte. Dann lächelte sie. „Natürlich, wenn ihr Vater nichts dagegen hat.“

Gracie machte ein ernstes Gesicht. „Mein Daddy wird es bestimmt nicht erlauben, weil ich nirgendwo allein hingehen darf.“

„Warum fragen wir ihn nicht einfach?“, schlug Jenny vor.

„Mich was fragen?“

Alle wandten sich um. Evan kam herein.

„Daddy.“ Gracie griff nach seiner Hand und zog ihn zu der kleinen Gruppe hinüber. „Das ist meine Freundin Cherry.“

Evan nickte dem kleinen Mädchen mit den rotblonden Locken freundlich zu. „Hallo, Cherry.“

Die Kleine lächelte. „Hallo, Mr Rafferty.“

„Und? Wie lief es?“, fragte Evan und sah Jenny an.

„Gut. Natürlich ist aller Anfang schwer.“ Sie hoffte inständig, dass Evan ihr nicht die Bedenken ansah, die sie wegen Gracies Quilt hatte. „Aber wir schaffen das schon. Dank Allison. Allison, das ist Evan Rafferty. Evan, Allison Casali.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Casali. Ich bin Ihrem Mann schon einige Male begegnet.“

Allison schüttelte seine Hand. „Bitte nennen Sie mich Allison. Wahrscheinlich hat mein Mann nicht allzu viel bei Ihren Treffen geredet. Alex ist kein Mann der vielen Worte.“

Der Anflug eines Lächelns huschte über Evans Gesicht. „Das braucht er auch nicht.“

Die beiden Mädchen sahen noch immer erwartungsvoll zu den Erwachsenen auf. „Daddy“, sagte Gracie, „Cherry hat mich gefragt, ob ich mit ihr ausreiten will. Darf ich?“

Evans Gesicht verdunkelte sich, doch bevor er etwas erwidern konnte, sprang Allison ein: „Gracie, Cherry, räumt ihr bitte eure Nähsachen auf?“

Nachdem die Mädchen gegangen waren, wandte sich Allison wieder an Evan. „Die beiden werden natürlich nicht allein ausreiten. Für gewöhnlich macht unsere ganze Familie sonntags einen Ausflug zum Lucky Creek. Ursprünglich sollte das Reiten eine Belohnung für Cherrys Therapieerfolg sein. Seit dem Autounfall vor drei Jahren hat sie so hart daran gearbeitet, wieder richtig gehen zu können.“

Allison lächelte Evan entwaffnend an. „Sie würde sich sehr freuen, wenn Gracie mitkommen würde. Und Alex würde sich auch freuen. Wenn ich den Sonntag nicht zum Familientag erklärt hätte, würde der Mann nichts anderes tun als arbeiten.“

Sie deutete auf Jenny. „Genau wie meine Freundin. Jenny braucht ebenfalls ein bisschen Freizeit – deswegen wird sie am Sonntag auch mitkommen. Wir machen uns alle einen schönen Tag.“

Evan zögerte. „Mal sehen.“

Allison schrieb ihre Telefonnummer auf einen kleinen Papierfetzen und reichte ihn Evan. „Wir werden am Sonntag gegen elf Uhr aufbrechen.“

Evan fühlte sich von Allisons freundlicher Einladung überrumpelt. Unauffällig musterte er Jenny. Auf keinen Fall durfte er noch mehr Zeit mit dieser Frau verbringen.

In diesem Augenblick kamen die Mädchen zurück. Beide sahen Evan erwartungsvoll an.

Evan bemerkte ein Funkeln in Gracies Augen, das er schon seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen. Es bedurfte gar nicht viel, um sie glücklich zu machen. „Ich glaube, morgen können wir es einrichten.“

„Wirklich?“

„Ja, wirklich“, versprach er.

Gracie schlang die Arme um seine Hüften. „Danke, Daddy“, flüsterte sie.

„Gern, Gracie.“

Sie löste sich von ihm und nahm Cherrys Hand. Glücklich verschwanden die beiden neuen Freundinnen im Nebenraum.

Evan fiel auf, wie Jenny ihn beobachtete. Sie sah zufrieden aus.

„Scheint, als würde sich Gracies Freundeskreis ständig vergrößern, seit du aufgetaucht bist.“ Er sah ihr in die Augen. Plötzlich hatte er Angst, sich darin zu verlieren. „Aber erwarte nicht, dass es bei mir genauso ist.“

Jenny hob die Schultern. Ihre Augen glitzerten amüsiert. „Du hast bereits die Einladung der Casalis angenommen. Pass bloß auf, Evan. Am Ende hast du sogar Spaß daran.“

Evan konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so viel Spaß gehabt hatte. Plötzlich wurde ihm klar, dass er sich tatsächlich auf morgen freute.

Die Sonne stand strahlend am Himmel, als Jenny am nächsten Morgen auf der A Bar A Ranch ankam. Während sie den Wagen parkte, fragte sie sich, ob das eine gute Idee war. Wenn sie klug gewesen wäre, hätte sie Allisons Einladung ausgeschlagen – und sich so weit wie möglich von Evan ferngehalten.

Stattdessen stahl sich bei dem Gedanken an die kommenden Stunden ein Lächeln in ihr Gesicht.

Als sie auf den Stall zuging, erschien Brian Perkins am anderen Ende der Koppel. Er hatte den sicheren, bedächtigen Gang eines Mannes, der genau weiß, wohin er will – und was er will. Als er Jenny bemerkte, kam er auf sie zu.

Es kam ihr vor, als hätte er sich kein bisschen verändert. Neun Monate war es her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Doch das vertraute, kleine Stechen in der Brust, das sie bei seinem Anblick erwartet hatte, blieb dieses Mal aus.

Er lächelte, und um seine dunklen Augen spielten erste, kleine Fältchen. Er war mehr als zehn Jahre älter als Jenny, doch noch immer ein verdammt attraktiver Mann. „Hey, meine Hübsche!“, rief er ihr zu. „Wie schön, dich zu sehen.“

„Hey, Cowboy. Ich freue mich auch.“ Und es stimmte. Es war schön, ihn wiederzusehen – als Freund, nicht als verflossene Liebe.

Er überraschte sie, indem er sie in eine herzliche Umarmung zog. Dann ließ er sie los und sah ihr direkt in die Augen. „Hasst du mich noch?“

Sie blinzelte. „Soll das eine Entschuldigung werden?“

Er wurde ernst. „Ich wollte dir nie wehtun.“

Vor zwei Jahren, als Jenny eine Weile in Kerry Springs gelebt hatte, um Allison bei ihrer Fernseh-Show zu helfen, hatte sie Brian auf der Ranch kennengelernt. Sie waren einige Monate miteinander ausgegangen. Es war eine kurze, intensive Beziehung gewesen, doch bald hatte sich das Gefühl eingestellt, dass irgendetwas fehlte.

Jenny hatte sich dennoch Hoffnungen gemacht, den Mann fürs Leben getroffen zu haben.

Doch als Brian mit ihr Schluss gemacht hatte, war es ihr Stolz, der gebrochen wurde – nicht ihr Herz. Ernüchtert war sie nach San Antonio zurückgekehrt, um ihren Job als Lehrerin wieder aufzunehmen. „Keine Sorge, Brian. Ich bin schon lange über dich hinweg. Irgendwann lässt eben auch deine umwerfende Wirkung nach.“

Er lächelte schief.

Es machte ihr nichts mehr aus. Jetzt verstand sie, was Brian ihr damals hatte sagen wollen: Sie befanden sich an völlig unterschiedlichen Punkten in ihrem Leben und wollten völlig verschiedene Dinge.

Er war bereits geschieden und hatte aus erster Ehe zwei erwachsene Kinder, mit denen er mehr Zeit verbringen wollte. Jenny dagegen wollte eine Familie gründen.

Brian streckte die Hand aus und berührte ihre Wange. „Der Mann, der eines Tages dein Herz gewinnt, hat das große Los gezogen.“

Bevor sie antworten konnte, hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um und sah Gracie, die aufgeregt auf sie zurannte. Ein finsterer Evan folgte ihr in einigem Abstand.

„Hi, Gracie“, sagte Jenny und bückte sich, um das kleine Mädchen zu umarmen. „Hallo, Evan.“

Plötzlich fühlte sich Jenny seltsam unwohl. Sie richtete sich auf und stellte die beiden Männer einander vor. „Brian Perkins, das sind Evan Rafferty und seine Tochter Gracie. Brian ist hier der Vorarbeiter und Alex’ Partner im Rinderzuchtbetrieb.“

Die beiden schüttelten sich die Hände. „Freut mich, Evan. Ihr habt euch einen guten Tag zum Reiten ausgesucht.“

Evan nickte knapp. „Ja, scheint so.“

Die beiden Männer starrten sich schweigend an.

Das läuft ja prima, dachte Jenny verzweifelt.

In diesem Moment stürmte Cherry aus dem Haupthaus. Erleichtert wandte Jenny sich um und sah zu, wie Alex und Allison ihrer Tochter folgten.

Es war erstaunlich, wie schnell Cherry wieder gehen gelernt hatte. Davon, dass sie vor knapp zwei Jahren noch auf den Rollstuhl angewiesen war, war nun kaum noch etwas zu bemerken.

Die Drei begrüßten die anderen herzlich.

Alex wandte sich an Jenny und umarmte sie. „Jenny! Es ist schon wieder viel zu lange her. Die Zwillinge fragen schon, wann du ihnen wieder mal Geschichten vorliest.“

„Ich habe euch auch vermisst.“ Jenny mochte Alex sehr. Vor allem, da er ihrer Freundin jeden Wunsch von den Augen ablas und Allison wie eine Prinzessin behandelte.

Jetzt reichte er Evan die Hand. „Schön, dass du uns mal besuchst, Evan.“

„Vielen Dank für die Einladung. Gracie hat sich sehr darauf gefreut.“

Ebenso wie er. Die A Bar A Ranch war umwerfend. Evan spürte, wie viel Arbeit Alex in das Unternehmen gesteckt haben musste – und wie viel Liebe.

Liebevoll schienen allerdings auch Jenny und der Vorarbeiter miteinander umzugehen. Na und? Es ging ihn nichts an.

Die Mädchen waren bereits auf dem Weg zum Stall und kicherten. Alex legte einen Arm um Allison. Sie gingen den Mädchen nach.

Jenny und Evan folgten ihnen.

„Reitest du oft aus?“

„Keine Sorge“, gab Evan zurück, „ich werde schon nicht runterfallen – auch wenn meine Zeit als wilder Cowboy schon eine Weile zurückliegt.“

Er deutete auf Brian. „Kommt dein Freund nicht mit uns?“

Jenny warf einen schnellen Blick über die Schulter. „Ich glaube nicht.“ Dann ging sie schneller, um Allison und die anderen einzuholen.

Evan fluchte. Sieh zu, dass du Jenny Collins aus deinem Kopf verbannst. Heute geht es nur um Gracie.

5. KAPITEL

Evan folgte den anderen zum Stall. Er zählte sechs Pferde. Die hübschen Quarter Horses aus Alex eigener Zucht waren bereits gesattelt, aufgezäumt und an der Stallwand angebunden.

„Das ist Cinnamon“, erklärte Cherry stolz und zeigte auf eine kleine, rotbraune Stute. „Sie gehört mir. Und du darfst Speckles reiten“, sagte sie zu Gracie und deutete auf ein schwarz-weiß geschecktes Pferd.

„Oh, ist die süß!“ Gracie suchte Evans Blick. „Daddy, wie findest du sie?“

Evan zögerte. Gracie hatte schon lange nicht mehr auf einem Pferd gesessen.

Brian gesellte sich zu ihnen. Er schien Evans Gedanken zu erraten. „Speckles ist ganz lieb“, sagte er. „Ich habe sie selbst eingeritten.“

„Das ist wirklich beruhigend, aber ich bleibe trotzdem gern in Gracies Nähe“, gab Evan zurück.

Brian lächelte. „Klar. Ich würde es genauso machen, wenn sie meine Tochter wäre. Der ist übrigens für dich, Evan. Sein Name ist Diego.“

Evan folgte Brians Blick und betrachtete den großen, schwarzen Hengst.

„Er ist sehr schnell und sicher im Gelände.“

„Hast du den auch eingeritten?“, fragte Evan spöttisch.

„Ich habe so ziemlich jedes Pferd hier ausgebildet.“ Brian musterte ihn aufmerksam.

„Und da du dich bestimmt fragst, was ich sonst noch so treibe“, sagte Brian und deutete zu den anderen, „kann ich es auch gleich sagen. Jenny und ich sind ein paar Mal miteinander ausgegangen, aber das ist schon eine Weile her. Jetzt sind wir Freunde.“

Er sah Evan scharf an. „Von ihrer Familie hatte sie nie etwas zu erwarten. Deshalb passen ihre Freunde jetzt auf sie auf. Und ich lasse nicht zu, dass ihr jemand wehtut.“

Das war deutlich.

Evan nickte. „Zu dumm, dass du deine Chance vertan hast.“

Brian machte auf dem Absatz kehrt, um den Mädchen beim Aufsteigen zu helfen.

Evan atmete erleichtert auf. Was zur Hölle ging hier eigentlich vor?

„Ich habe keine Zeit für so einen Unsinn“, murmelte er und zog den Sattelgurt nach.

Dann hörte er die anderen lachen und wandte sich um.

„Na los, Evan!“, rief Jenny und sah ihn herausfordernd an. „Wir wollen heute noch ankommen.“

Er verzog das Gesicht, schwang sich in den Sattel und trieb Diego an.

Gracie lächelte glücklich. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so gelächelt hatte.

Zwanzig Minuten später erreichten sie den Picknickplatz. Sie folgten einem kleinen Bach bis zu einer mächtigen, alten Eiche, die ihre langen, knorrigen Äste über das Wasser reckte.

Jenny war bisher nur ein einziges Mal hier gewesen, doch den Zauber dieses Ortes hatte sie nie vergessen.

Alex und Allison sprachen leise miteinander. Jenny beobachtete, wie vertraut und liebevoll die beiden miteinander umgingen. Ob sie irgendwann auch jemanden finden würde, mit dem sie alles teilen konnte? Verstohlen sah sie zu Evan.

Er war gerade dabei, den Mädchen beim Absteigen zu helfen, doch er bemerkte ihren Blick. Ja, den Funken, von dem Allison gesprochen hatte, schien es wirklich zu geben. Ob er es bemerkte?

Nein! Das war definitiv kein guter Zeitpunkt – für keinen von ihnen. Evan war noch nicht bereit, etwas Neues anzufangen. Und sie selbst wollte ja nicht einmal in der Stadt bleiben.

„Komm, Jenny! Wir wollen essen!“, rief Gracie.

Allison hatte eine Decke im Schatten der Eiche ausgebreitet und den Proviant aus den Satteltaschen geholt.

„Bin gespannt, was Tilda für uns eingepackt hat“, sagte sie fröhlich.

Tilda Emerson war weit mehr als nur die Haushälterin auf der A Bar A Ranch. Nach Jahrzehnten im Dienst der Casalis gehörte sie mittlerweile zur Familie. Sie beriet Alex bei seinem Hilfsprojekt für behinderte Kinder und hatte inzwischen die gesamte Buchführung übernommen. Und sie konnte fantastisch kochen.

Alex reichte jedem Erdnussbutter-Sandwiches, Geflügelsalat und Äpfel.

„Ich habe gehört, dass du wieder aktiver in der Rinderzucht bist“, sagte er zu Evan. „Möchtest du immer noch deine eigene Kelterei haben?“

„Schon. Eines Tages möchte ich meine eigene Marke produzieren“, sagte Evan. Jenny hörte den leisen Stolz in seiner Stimme.

„Aber nachdem mein Bruder aus der Armee zurückkam, hat er angeboten, mir bei der Rinderzucht zu helfen. Er würde das gern noch mehr vorantreiben, aber mein Hauptanliegen ist der Weinberg.“

„Hey, Jungs“, fuhr Allison dazwischen. „Ihr wollt euch doch nicht wirklich heute übers Geschäft unterhalten, oder?“

„Nein, du hast recht.“ Alex lächelte seine Frau liebevoll an. Dann streckte er sich und blinzelte in die Nachmittagssonne. „Das ist ein Leben, was?“ Er reichte Allison die Hand. „Lass uns ein Stück am Bach entlang spazieren.“

Sie erhoben sich. „Wir behalten die Mädchen im Auge“, sagte Allison mit einem Blick auf Gracie und Cherry, die aufgesprungen waren, um Kiesel im Bachbett zu suchen.

Jenny hatte das Gefühl, dass die beiden sie mit Absicht mit Evan allein gelassen hatten.

Evan saß auf einem großen Stein und wirkte angespannt.

Am liebsten hätte sie die Hände ausgestreckt, um etwas von der Spannung aus seinem Rücken zu massieren. Stattdessen fragte sie: „Gefällt es dir hier?“

Er nickte. „Alles an der A Bar A Ranch ist schön. Wenn man genug Geld hat, kann man klotzen statt kleckern.“

Jenny lachte.

„Was ist so lustig?“

„Wenn du Alex besser kennen würdest, würdest du nicht so reden.“

„Ich weiß nur, dass seine Familie aus Italien stammt.“

„Sein Vater, ja. Seine Mutter war Amerikanerin, aber sie hat sich nie um Alex und seinen Zwillingsbruder Angelo gekümmert. Die beiden waren sich selbst überlassen und lebten praktisch auf der Straße. Alex hat sich alles hart erarbeitet.“

Evan sah Alex nach, der den Arm um Allisons Hüfte gelegt hatte. „Harte Arbeit ist einfacher, wenn man jemanden an seiner Seite hat.“

Dachte er gerade an Megan?

„Und du?“, fragte er plötzlich. „Wie ernst war es zwischen dir und Perkins?“

Jenny sah überrascht auf. „Brian? Als ich damals nach San Antonio zurückgegangen bin, brach der Kontakt erst mal ab. Inzwischen sind wir gute Freunde.“

Evan sah sie eindringlich an. „Du unterrichtest in San Antonio, richtig?“

Jenny nickte. „Ja, ich gebe Englischunterricht an der Highschool.“

Er verzog das Gesicht. „Das war nicht gerade mein Lieblingsfach.“ Ihre Blicke trafen sich. Seine Stimme wurde rau. „Aber wenn ich eine Lehrerin wie dich gehabt hätte, wäre ich vielleicht anderer Meinung gewesen.“

Jenny fühlte, wie die Hitze in ihre Wangen stieg. Schnell sah sie in die andere Richtung.

„Warum bist du jetzt nicht mehr in San Antonio?“

„Ich musste mir eine Auszeit nehmen, aber ich werde bald zurückgehen.“

„Was ist passiert?“

Jenny seufzte und erzählte Evan von Luis, für den sie sich so vehement eingesetzt hatte.

Er beugte sich vor und berührte ihre Hand. „Du würdest dich für jedes Kind in Not einsetzen. Aber wer setzt sich für dich ein, Jenny?“

„Meine Freunde“, sagte sie leise. „Allison, zum Beispiel.“

„Und deine Familie?“

„Meinen richtigen Vater habe ich nie kennengelernt.“

Evan sah sie liebevoll an. „Und später? Gab es denn nie diesen besonderen Menschen in deinem Leben, der dich in allem unterstützt hat?“

„Nein.“

Ein Lächeln huschte über Evans Gesicht. „Dann waren sie alle verdammt blind. Du bist eine wunderschöne Frau – und du kannst einen wirklich aus der Fassung bringen.“

Das bezweifelte sie. Es war eher umgekehrt. Wenn sie jetzt nicht aufpasste, würde sie ihr Herz verlieren. „Flirtest du etwa mit mir?“, fragte sie betont heiter.

Er zog hastig die Hand zurück. Im selben Moment kamen die Mädchen zurück. Atemlos warfen sie sich auf die Picknickdecke und kicherten. Sie beknieten Evan so lange, bis er Gracie erlaubte, heute Nacht bei den Casalis zu bleiben.

Alex sah Evan verständnisvoll an. „Ich weiß genau, was das für ein Gefühl ist. Mir ist es anfangs auch schwergefallen, Cherry gehen zu lassen.“

„Sie wollte noch nie zuvor weg.“ Evan kickte einen Kiesel in den Bach.

Alex lächelte. „Verstehe einer die Frauen!“

Evan nickte. Er vermied es, in Jennys Richtung zu sehen.

Wenige Stunden später saß Evan in Rory’s Bar und sah zu, wie sein Vater hinter der Theke arbeitete. Er war froh, dass an diesem Sonntagabend nicht viel los war. Langsam trank er einen Schluck aus der Bierflasche und ließ sich von dem Carrie Underwood Song einlullen, der aus der Jukebox drang.

Es hatte ihn selbst überrascht, dass er heute Abend noch ausgegangen war. Doch ohne Gracie war das Haus ungewohnt still, und Evan wurde seltsam ruhelos, sodass er sich in den Truck gesetzt und in die Stadt gefahren war.

Sean kam zu ihm und deutete auf die Flasche. „Kann ich dir noch eine bringen?“

„Nein, danke. Ich lasse es langsam angehen.“

Sein Vater nickte. „Schön, dass du mal wieder vorbeischaust. Du warst schon so lange nicht mehr hier.“

Evan zuckte die Schultern. „Du weißt doch, ich bin nie oft in Bars gegangen.“

Sean musterte ihn. „Du hast jung geheiratet. Und dann kam Gracie.“

Richtig. Evan dachte an die Zeit zurück, als Megan vom College zurückgekommen war. Sie hatte einen guten Abschluss und den Kopf voll großer Pläne für die Zukunft.

Evan arbeitete auf der Merrick Ranch und sparte das Geld, um eines Tages seine eigene Ranch zu haben.

Sie waren nur ein paar Mal miteinander ausgegangen, bevor sie die erste gemeinsame Nacht verbracht hatten. Nur wenige Monate später hatte Evan die schwangere Megan vor den Traualtar geführt. Nach der Geburt waren sie in ein kleines Häuschen auf dem Grundstück von Megans Eltern gezogen.

„Tja. Sieht so aus, als sollte ich mich in Zukunft besser von allen fernhalten.“

Sean lächelte. „Aber nein. Selbst du bist schließlich nicht nur älter geworden – sondern auch weiser.“

Autor

Patricia Thayer
Als zweites von acht Kindern wurde Patricia Thayer in Muncie, Indiana geboren. Sie besuchte die Ball State University und wenig später ging sie in den Westen. Orange County in Kalifornien wurde für viele Jahre ihre Heimat. Sie genoss dort nicht nur das warme Klima, sondern auch die Gesellschaft und Unterstützung...
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